VIERUNDZWANZIG

Seine üblichen offiziellen Quellen im Weißen Haus leugneten jede Kenntnis des Pelikan-Dossiers. Sarge hatte nie davon gehört. Auf gut Glück geführte Anrufe beim FBI förderten nichts zutage. Ein Freund im Justizministerium bestritt, je davon gehört zu haben. Er bohrte das ganze Wochenende über, ohne jeden Erfolg. Die Story über Callahan war verifiziert, als er ein Exemplar der Zeitung von New Orleans gefunden hatte. Als sie am Montag in der Redaktion anrief, hatte er nichts Neues zu berichten. Aber wenigstens rief sie an.

Sie sagte, sie wäre in einer Telefonzelle, er könnte sich also die Mühe des Nachforschens sparen

«Ich bin immer noch auf der Suche«, sagte er.»Wenn überhaupt ein solches Dossier in der Stadt ist, dann wird es streng geheimgehalten.«

«Ich versichere Ihnen, dass es da ist, und mir ist klar, weshalb es geheimgehalten wird.«

«Sie können mir bestimmt mehr erzählen.«

«Viel mehr. Das Dossier hat mich gestern beinahe das Leben gekostet. Es kann also sein, dass ich früher zum Reden bereit sein werde, als ich ursprünglich vorhatte. Ich muss mit der Sprache herausrücken, solange ich noch am Leben bin.«

«Wer versucht, Sie umzubringen?«

«Dieselben Leute, die Rosenberg und Jensen und Thomas Callahan umgebracht haben.«

«Kennen Sie ihre Namen?«

«Nein, aber seit Mittwoch habe ich mindestens vier von ihnen gesehen. Sie sind hier in New Orleans, schnüffeln herum und hoffen, dass ich irgend etwas Dummes tue und sie mich umbringen können.«

«Wie viele Leute wissen von dem Pelikan-Dossier?«

«Gute Frage. Callahan brachte es zum FBI, und ich glaube, von dort aus gelangte es ins Weiße Haus, wo es anscheinend für eine Menge Aufregung gesorgt hat, und von dort — wer weiß? Zwei Tage, nachdem er es dem FBI gegeben hatte, war Callahan tot. Und ich sollte natürlich mit ihm sterben.«

«Waren Sie zusammen?«

«Ich war ganz in der Nähe, aber nicht nahe genug.«

«Also sind Sie die unbekannte Frau am Tatort?«

«So wurde ich in der Zeitung bezeichnet.«

«Dann kennt die Polizei Ihren Namen?«

«Mein Name ist Darby Shaw. Ich bin Jurastudentin im zweiten Jahr in Tulane. Thomas Callahan war mein Professor. Ich schrieb das Dossier, gab es ihm, und den Rest kennen Sie. Haben Sie alles mitbekommen?«

Grantham machte sich hastig Notizen.»Ja. Ich höre.«

«Ich habe das French Quarter ziemlich satt, und ich habe vor, heute die Stadt zu verlassen. Morgen rufe ich Sie von irgendwo anders aus an. Haben Sie Zugang zu den Aufstellungen der Wahlkampfspenden?«

«Das sind öffentliche Unterlagen.«

«Das weiß ich. Aber wie schnell können Sie sich die Information beschaffen?«

«Welche Information?«

«Eine Liste aller Leute, die zum letzten Wahlkampf des Präsidenten große Beträge beigesteuert haben.«

«Das ist nicht schwierig. Die kann ich mir bis heute nachmittag besorgen.«

«Tun Sie das. Ich rufe Sie morgen früh wieder an.«

«Okay. Haben Sie eine Kopie des Dossiers?«

Sie zögerte.»Nein, aber ich kenne es auswendig.«

«Und Sie wissen, wer für die Morde verantwortlich ist?«

«Ja, und sobald ich es Ihnen gesagt habe, steht auch Ihr Name auf der Abschussliste.«

«Sagen Sie es mir jetzt.«

«Lassen wir’s langsam angehen. Ich rufe morgen wieder an.«

Grantham ließ sich kein Wort entgehen, dann legte er auf. Er nahm seinen Notizblock und bahnte sich seinen Weg durch das Labyrinth von Schreibtischen und Leuten zum gläsernen Büro seines Ressortchefs Smith Keen. Keen war ein gesunder und munterer Typ mit einer Politik der offenen Tür, die Chaos in seinem Büro gewährleistete. Er beendete gerade ein Telefongespräch, als Grantham hereinstürmte und die Tür hinter sich zumachte.

«Diese Tür bleibt offen«, sagte Keen scharf.

«Wir müssen reden, Smith.«

«Wir reden bei offener Tür. Machen Sie die verdammte Tür auf.«

«Ich mache sie in einer Sekunde auf. «Grantham sprach mit erhobenen Händen; beide Handflächen waren dem Redakteur zugewandt. Ja, es war ernst.»Lassen Sie uns reden.«

«Okay. Worum geht es?«

«Es ist eine große Sache, Smith.«

«Ich weiß, dass sie groß ist. Sie haben die verdammte Tür zugemacht, also weiß ich, dass sie groß ist.«

«Ich habe gerade mein zweites Telefongespräch mit einer jungen Dame namens Darby Shaw beendet, die weiß, wer Rosenberg und Jensen umgebracht hat.«

Keen richtete sich langsam auf und musterte Grantham.>Ja, mein Sohn, das ist eine große Sache. Aber woher wissen Sie das? Woher weiß sie es? Was können Sie beweisen?«»Ich habe noch keine Story, Smith, aber sie redet mit mir. Lesen Sie das. «Grantham gab ihm eine Kopie des Zeitungsberichts über Callahans Tod. Keen las ihn langsam.

«Okay. Wer ist Callahan?«

«Heute vor einer Woche hat er ein kleines Papier, das jetzt das Pelikan-Dossier genannt wird, dem FBI übergeben. Wie es scheint, wird in diesem Dossier irgendeine obskure Person mit den Morden in Verbindung gebracht. Das Dossier wird herumgereicht, gelangt ins Weiße Haus und von dort aus weiter zu Leuten, die niemand kennt. Zwei Tage später startet Callahan seinen Porsche zum letzten Mal. Darby Shaw behauptet, sie wäre die unidentifizierte Frau, die in dem Artikel erwähnt wird. Sie war mit Callahan zusammen und sollte eigentlich mit ihm sterben.«

«Weshalb sollte sie sterben?«

«Sie hat das Dossier geschrieben. Jedenfalls behauptet sie das.«

Keen versank tiefer in seinem Sessel und legte die Füße auf den Schreibtisch. Er betrachtete das Foto von Callahan.»Wo ist dieses Dossier?«

«Ich weiß es nicht.«

«Was steht drin?«

«Auch das weiß ich nicht.«

«Also wissen wir überhaupt nichts, oder?«

«Bisher nicht. Aber wenn sie mir alles erzählt, was darin steht?«

«Und wann wird sie das tun?«

Grantham zögerte einen Moment.»Bald, glaube ich. Ziemlich bald.«

Keen schüttelte den Kopf und warf den Zeitungsausschnitt auf den Schreibtisch.»Wenn wir das Dossier hätten, wäre das eine grandiose Story, Gray, aber wir könnten sie nicht bringen. Bevor wir sie bringen können, muss alles gründlich, einwandfrei und bis ins letzte Detail verifiziert sein.«

«Aber ich habe grünes Licht?«

«Ja, aber ich will stündlich informiert werden. Sie schreiben kein Wort, bevor wir miteinander gesprochen haben.«

Grantham lächelte und öffnete die Tür.

Das war keine Arbeit, die ihm vierzig Dollar pro Stunde einbrachte. Nicht einmal dreißig oder zwanzig. Croft wusste, dass er Glück hatte, wenn er aus Gray für diese verdammte Suche nach der Nadel im Heuhaufen fünfzehn herausschinden konnte. Wenn er andere Arbeit gehabt hätte, dann hätte er Grantham gesagt, er solle sich jemand anderen suchen oder, besser noch, sie selbst tun.

Aber die Geschäfte gingen schlecht, und fünfzehn Dollar pro Stunde waren besser als gar nichts. Er rauchte seinen Joint in der hintersten Kabine zu Ende, spülte den Stummel weg und öffnete die Tür. Er setzte sich die dunkle Sonnenbrille auf die Nase und trat hinaus auf den Flur, der zu einer Vorhalle führte, von der aus vier Fahrstühle tausend Anwälte in ihre kleinen Büros hinaufbeförderten, wo sie ihre Tage damit verbrachten, anderen Leuten die Hölle heiß zu machen. Er hatte sich Garcias Aussehen genau eingeprägt. Er träumte sogar von diesem jungen Mann mit dem intelligenten Gesicht und dem schlanken, mit einem teuren Anzug bekleideten Körper. Er würde ihn wiedererkennen, wenn er ihn sah.

Er stand an einer Säule, hielt eine Zeitung in den Händen und versuchte, alle Leute durch seine dunkle Brille zu mustern. Anwälte überall, eilig auf dem Weg nach oben mit ihren schmucken kleinen Gesichtern und ihren schmucken kleinen Aktenkoffern. Mann, wie er diese Anwälte hasste! Weshalb waren sie alle gleich gekleidet? Dunkle Anzüge. Dunkle Schuhe. Dunkle Gesichter. Hin und wieder ein Nonkonformist mit einer kühnen Fliege. Wo kamen die alle her? Die ersten

Anwälte direkt nach seiner Verhaftung wegen Drogenbesitzes waren eine Horde von wütenden, von der Post angeheuerten Sprachrohren gewesen. Dann hatte er sich selbst einen Anwalt genommen, einen unverschämt teuren Idioten, der den Gerichtssaal nicht finden konnte. Und der Ankläger war natürlich auch ein Anwalt gewesen. Anwälte, Anwälte.

Zwei Stunden am Morgen, zwei Stunden in der Lunchpause, zwei Stunden am Abend, und dann würde Grantham ein anderes Gebäude haben, das er überwachen sollte. Neunzig Dollar am Tag waren lausig, und er würde Schluss machen, sobald er etwas Besseres hatte. Er hatte Grantham gesagt, dass das ganze aussichtslos war, nichts als ein Schuss ins Blaue. Grantham hatte es zugegeben, aber gesagt, er sollte trotzdem weitermachen. Es war alles, was sie tun konnten. Er hatte gesagt, Garcia hätte Angst und würde nicht mehr anrufen. Sie mussten ihn finden.

In seiner Tasche steckten für alle Fälle zwei der Fotos, und aus dem Branchenverzeichnis hatte er sich eine Liste der in dem Gebäude ansässigen Firmen herausgeschrieben. Es war eine lange Liste. Das Gebäude hatte zwölf Stockwerke, in denen fast ausschließlich Firmen saßen, in denen diese geschniegelten Westentaschengentlemen arbeiteten. Eine Schlangengrube.

Halb zehn war der Hauptansturm vorbei, und einige der Gesichter kamen ihm bekannt vor, als sie in einem der Fahrstühle wieder unten einschwebten, zweifellos auf dem Weg zum Gericht oder zu einer Behörde oder einem Mandanten. Croft schob sich durch die Drehtür und wischte sich die Füße auf dem Gehsteig ab.

Vier Blocks entfernt wanderte Fletcher Coal vor dem Schreibtisch des Präsidenten hin und her und lauschte intensiv in den Telefonhörer an seinem Ohr. Er runzelte die Stirn und schloss die Augen; dann schaute er den Präsidenten an, als wollte er sagen:»Schlimme Neuigkeiten, Chef. Wirklich schlimme. «Der Präsident hielt einen Brief in der Hand und musterte Coal über seine Lesebrille hinweg. Dass Coal auf diese Weise herumwanderte, als wäre er der Führer, irritierte ihn, und er nahm sich vor, das gelegentlich zur Sprache zu bringen.

Coal knallte den Hörer auf die Gabel.

«Knallen Sie nicht mit den verdammten Telefonen herum!«sagte der Präsident.

Coal zuckte mit keiner Wimper.»Entschuldigung. Das war Zikman. Vor einer halben Stunde hat Gray Grantham bei ihm angerufen und ihn gefragt, ob er irgend etwas über die PelikanAkte wüsste.«

«Wundervoll. Grandios. Wie ist er an eine Kopie davon gekommen?«

Coal wanderte immer noch hin und her.»Zikman weiß nichts davon, seine Unwissenheit war also echt.«

«Seine Unwissenheit ist immer echt. Er ist der blödeste Kerl in meinem Stab, Fletcher, und ich will, dass er verschwindet.«

«Wie Sie wünschen. «Coal ließ sich in einem Sessel vor dem Schreibtisch nieder und legte die Fingerspitzen unter dem Kinn gegeneinander. Er war tief in Gedanken versunken, und der Präsident versuchte, ihn zu ignorieren. Beide dachten einen Moment lang nach.

«Hat Voyles es durchsickern lassen?«fragte der Präsident schließlich.

«Vielleicht, wenn überhaupt etwas durchgesickert ist. Grantham ist dafür bekannt, dass er gern blufft. Wir können nicht sicher sein, dass er die Akte gesehen hat. Vielleicht hat er nur davon gehört und versucht jetzt, mehr zu erfahren.«

«Vielleicht, vielleicht. Was ist, wenn sie irgendeine verrückte Story über dieses verdammte Ding bringen? Was dann?«Der Präsident stemmte die Hände auf den Schreibtisch und stand auf.»Was dann, Fletcher? Diese Zeitung hasst mich!«Er starrte zum Fenster hinaus.

«Sie können sie nicht bringen ohne eine andere Quelle, und eine andere Quelle kann es nicht geben, weil nichts dahintersteckt. Es ist nichts als eine verrückte Idee, der wesentlich mehr Beachtung geschenkt wird, als sie verdient.«

Der Präsident gab sich eine Weile seiner schlechten Laune hin und starrte durch das Glas.»Wie hat Grantham überhaupt davon erfahren?«

Coal stand auf und wanderte wieder herum, aber jetzt wesentlich langsamer. Er dachte immer noch angestrengt nach.»Keine Ahnung. Außer Ihnen und mir weiß hier niemand darüber Bescheid. Wir bekamen ein Exemplar, und das ist in meinem Büro eingeschlossen. Ich habe eigenhändig eine Kopie gemacht und sie Gminski gegeben. Ich habe ihn zur Geheimhaltung verpflichtet.«

Der Präsident schnaubte das Fenster an.

Coal fuhr fort.»Okay, Sie haben recht. Inzwischen könnten tausend Kopien im Umlauf sein. Aber es ist harmlos, es sei denn, unser Freund hätte diese schmutzigen Dinge tatsächlich getan, dann…«

«Dann sitze ich ganz tief in der Tinte.«

«Ja. Ich würde sagen, dann sitzen wir beide ganz tief in der Tinte.«

«Wieviel Geld haben wir genommen?«

«Millionen, direkt und indirekt. «Und legal und illegal. Der Präsident hatte kaum eine Ahnung von diesen Transaktionen, und Coal zog es vor, ihn im Ungewissen zu lassen.

Der Präsident ging langsam zur Couch.»Weshalb rufen Sie Grantham nicht an? Versuchen Sie herauszubekommen, was er weiß. Wenn er blufft, ist die Sache klar. Was meinen Sie?«

«Ich weiß nicht recht.«

«Sie haben doch schon öfters mit ihm gesprochen. Jeder kennt

Grantham.«

Jetzt wanderte Coal hinter der Couch herum.»Ja. Ich habe schon öfters mit ihm gesprochen. Aber wenn ich jetzt plötzlich aus dem Nirgendwo anrufe, wird das seinen Argwohn erregen.«

«Ja, da könnten Sie recht haben. «Der Präsident stand an einem Ende der Couch, Coal am anderen.

«Was ist die Kehrseite der Medaille?«fragte der Präsident schließlich.

«Unser Freund könnte dahinterstecken. Sie haben Voyles aufgefordert, die Finger von unserem Freund zu lassen. Unser Freund könnte von der Presse bloßgestellt werden. Voyles könnte sich aus der Affäre ziehen und erklären, Sie hätten ihn aufgefordert, anderen Verdächtigen nachzujagen und unseren Freund zu ignorieren. Die Post könnte sich mit einem weiteren Vertuschungsskandal überschlagen. Und die Wiederwahl könnten wir vergessen.«

«Sonst noch was?«

Coal dachte einen Augenblick nach.»Ja. Das ist alles an den Haaren herbeigezogen. Die Akte ist ein Phantasiegebilde. Grantham wird nichts finden, und ich komme zu spät zu einer Besprechung. «Er ging zur Tür.»In der Lunchpause spiele ich Squash. Um eins bin ich wieder hier.«

Der Präsident sah zu, wie die Tür geschlossen wurde, und atmete leichter. Am Nachmittag hatte er vor, achtzehn Löcher zu spielen. Also vergessen wir dieses Pelikan-Ding. Wenn Coal sich keine Sorgen machte, brauchte er sich auch keine zu machen.

Er tippte eine Nummer in sein Telefon ein, wartete geduldig und hatte schließlich Bob Gminski am Apparat. Der Direktor der CIA war ein grauenhafter Golfer, einer der wenigen, die der Präsident demütigen konnte, und er lud ihn ein, am Nachmittag mit ihm zu spielen. Gern, sagte Gminski, ein Mann, der tausend andere Dinge zu tun hatte, aber nun ja, er war der Präsident, es würde ihm also ein Vergnügen sein, mit ihm zu spielen.

«Übrigens, Bob, was ist mit diesem Pelikan-Ding in New Orleans?«

Gminski räusperte sich und versuchte, seine Stimme ganz beiläufig klingen zu lassen.»Also, Chef, ich habe Fletcher Coal am Freitag gesagt, dass es sehr einfallsreich ist und eine hübsche Geschichte. Ich meine, die Verfasserin sollte das Jurastudium aufgeben und statt dessen Romane schreiben. Ha, ha, ha.«

«Großartig, Bob. Es steckt also nichts dahinter?«

«Wir graben weiter.«

«Wir sehen uns um drei. «Der Präsident legte auf und steuerte auf seinen Golfschläger zu.

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