DREIUNDDREISSIG

Die Limousine rollte geduldig durch den Feierabendverkehr auf dem Beltway. Es war bereits dunkel, und Matthew Barr las mit Hilfe einer Leselampe. Coal trank Perrier und beobachtete den Verkehr. Er kannte das Dossier auswendig und hätte Barr einfach erzählen können, was darin stand, aber er wollte sehen, wie er reagierte.

Barr reagierte nicht, bis er zu dem Foto kam, dann schüttelte er langsam den Kopf. Er legte das Dossier auf den Sitz und dachte einen Moment darüber nach.»Sehr unerfreulich«, sagte er.

Coal grunzte.

«Wie zutreffend ist es?«fragte Barr.

«Das wüsste ich auch gern.«

«Wann haben Sie es zum ersten Mal gesehen?«

«Letzten Freitag. Es kam vom FBI, zusammen mit dem täglichen Bericht.«

«Was hat der Präsident gesagt?«

«Er war nicht gerade selig darüber, aber es gab keinen Grund zur Aufregung. Nur einer von diesen Schüssen ins Blaue, dachten wir. Er redete mit Voyles, und Voyles erklärte sich bereit, die Sache eine Zeit lang auf sich beruhen zu lassen. Jetzt bin ich nicht mehr so sicher.«

«Hat der Präsident Voyles angewiesen, die Finger davon zu lassen?«Barr stellte die Frage langsam.

«Ja.«

«Das kommt einer Behinderung der Rechtsorgane verdammt nahe, vorausgesetzt natürlich, es stimmt, was in diesem Dossier steht.«

«Und was ist, wenn es stimmt?«

«Dann hat der Präsident Probleme. Ich bin einmal wegen Behinderung verurteilt worden, ich weiß also, wovon ich iede. Sie ist groß und breit und so leicht zu beweisen wie ein Postbetrug. Stecken Sie mit drin?«

«Was dachten Sie denn?«

«Dann haben Sie auch Probleme.«

Sie fuhren schweigend weiter und beobachteten den Verkehr. Coal hatte über den Behinderungs-Aspekt nachgedacht, aber er wollte Barrs Ansicht hören. Wegen einer Strafanzeige machte er sich keine Sorgen. Der Präsident hatte eine einzige, kurze Unterredung mit Voyles gehabt, ihn aufgefordert, sich eine Zeitlang mit anderen Dingen zu beschäftigen, und das war es auch schon. Das konnte man kaum als verbrecherische Tat bezeichnen. Aber Coal machte sich beträchtliche Sorgen um die Wiederwahl, und ein Skandal, in den ein großer Geldgeber wie Mattiece verwickelt war, würde sich verheerend auswirken. Das war ein Gedanke, bei dem einem schlecht werden konnte — ein Mann, den der Präsident kannte und von dem er Millionen genommen hatte, zahlte für die Beseitigung von zwei Richtern des Obersten Bundesgerichts, damit sein Kumpan, der Präsident, verständnisvollere Männer berufen und er sein Öl an Land ziehen konnte. Die Demokraten würden auf die Straße gehen und ein Freudengeheul anstimmen. Jeder Unterausschuss des Kongresses würde Anhörungen abhalten. Jede Zeitung würde ein Jahr lang täglich darüber berichten. Das Justizministerium würde gezwungen sein, der Sache nachzugehen. Coal würde gezwungen sein, die Schuld auf sich zu nehmen und zurückzutreten. Verdammt, mit Ausnahme des Präsidenten würde jeder im Weißen Haus seinen Hut nehmen müssen.

Es war ein Alptraum von grauenhaften Ausmaßen.

«Wir müssen herausfinden, ob es stimmt, was in dieser Akte steht«, sagte Coal zum Fenster.

«Wenn Leute sterben, dann stimmt es. Nennen Sie mir einen besseren Grund für den Tod von Callahan und Verheek.«

Es gab keinen anderen Grund, und Coal wusste es.»Ich möchte, dass Sie etwas tun.«

«Die Frau finden.«

«Nein. Sie ist entweder tot oder versteckt sich in irgendeiner Höhle. Ich möchte, dass Sie mit Mattiece reden.«

«Er steht bestimmt im Branchenbuch.«

«Sie können ihn finden. Wir müssen eine Verbindung herstellen, von der der Präsident nichts weiß. Wir müssen als erstes klären, wieviel von alledem stimmt.«

«Und Sie glauben, Mattiece würde mich ins Vertrauen ziehen und mir seine Geheimnisse verraten?«

«Ja. Irgendwann wird er es tun. Sie sind schließlich kein Polizist. Nehmen wir an, es stimmt, und er glaubt, dass er nahe daran ist, bloßgestellt zu werden. Er ist verzweifelt, und er bringt Leute um. Wie wäre es, wenn Sie ihm erzählten, die Presse hätte die Story und das Ende stünde nahe bevor, und wenn er die Absicht hätte, von der Bildfläche zu verschwinden, wäre jetzt der richtige Zeitpunkt? Schließlich kommen Sie aus Washington zu ihm. Als Insider. Vom Präsidenten, das wird er jedenfalls glauben. Er wird sich anhören, was Sie zu sagen haben.«

«Okay. Und was ist, wenn er sagt, es stimmt? Was steckt dann für uns drin?«

«Ich habe ein paar Ideen, alle in der Kategorie Schadensbegrenzung. Als erstes werden wir unverzüglich zwei Naturliebhaber für das Gericht nominieren. Richtig irre, radikale Vogelbeobachter. Das würde beweisen, dass wir im Grunde unseres Herzens gute Umweltschützer sind. Und damit wären Mattiece und seine Ölfelder gestorben. Das könnten wir binnen weniger Stunden tun. Praktisch gleichzeitig wird der Präsident mit Voyles und dem Justizminister reden und eine sofortige und gründliche Untersuchung von Mattiece und seinen Machenschaften verlangen. Wir werden jedem Reporter in der Stadt eine Kopie der Akte zuspielen und dann den Kopf einziehen und den Sturm über uns hinwegbrausen lassen.«

Barr lächelte bewundernd.

Coal fuhr fort.»Es wird nicht angenehm sein, aber immer noch besser, als einfach dazusitzen und zu hoffen, diese Akte wäre ein Phantasieprodukt.«

«Wie wollen Sie das Foto erklären?«

«Das können wir nicht. Es wird eine Weile schmerzen, aber das war vor sieben Jahren, und Leute verlieren den Verstand. Wir werden Mattiece so hinstellen, als wäre er damals ein guter Bürger gewesen, aber jetzt ein Irrer.«

«Er ist ein Irrer.«

«Ja, das ist er. Und im Augenblick ist er ein verletzter Hund, der sich in eine Ecke verkrochen hat. Sie müssen ihn überzeugen, dass er das Handtuch werfen und von der Bildfläche verschwinden muss. Ich glaube, er wird Ihnen zuhören. Und ich glaube auch, dass wir von ihm erfahren werden, ob es stimmt.«

«Und wie soll ich ihn finden?«

«Ich habe einen Mann, der daran arbeitet. Ich setze einige Hebel in Bewegung und stelle einen Kontakt her. Richten Sie sich darauf ein, am Sonntag abzureisen.«

Barr lächelte das Fenster an. Er würde Mattiece gern kennenlernen.

Der Verkehr stockte. Coal trank einen Schluck von seinem Wasser.»Irgend etwas Neues über Grantham?«

«Eigentlich nicht. Wir hören mit und beobachten ihn, aber es tut sich nichts. Er telefoniert mit seiner Mutter und ein paar

Frauen, aber nichts Berichtenswertes. Er arbeitet ziemlich viel. Am Mittwoch hat er die Stadt verlassen und ist Donnerstag zurückgekommen.«

«Wo war er?«

«In New York. Arbeitet vermutlich an irgendeiner Story.«

Cleve hätte eigentlich um genau zehn Uhr abends an der Ecke von Rhode Island Avenue und Sechster Straße sein sollen, aber er war nicht da. Gray sollte die Rhode Island Avenue entlang rasen, bis Cleve ihn stellte, damit jeder, der ihm vielleicht folgte, glauben würde, er wäre nur ein gewöhnlicher Temposünder. Er raste die Rhode Island Avenue entlang und mit achtzig Stundenkilometern durch die Sechste Straße und hielt nach einem Blaulicht Ausschau. Es war keins zu sehen. Er wendete, und eine Viertelstunde später raste er wieder die Rhode Island entlang. Da! Er sah Blaulicht und fuhr an den Bordstein.

Es war nicht Cleve. Es war ein weißer Polizist, der sehr aufgebracht war. Er riss Gray den Führerschein aus der Hand, studierte ihn und fragte, ob er getrunken hätte. Nein, Sir, sagte er. Der Polizist schrieb den Strafzettel und händigte ihn stolz Gray aus, der hinter dem Lenkrad saß und den Zettel anstarrte, bis er Stimmen hörte, die von seiner hinteren Stoßstange kamen.

Ein weiterer Polizist war auf der Bildfläche erschienen, und sie diskutierten. Es war Cleve; er forderte den weißen Polizisten auf, den Strafzettel zu vergessen, aber der weiße Polizist erklärte, dass er ihn bereits ausgeschrieben hätte; außerdem wäre dieser Idiot mit neunzig über die Kreuzung gefahren. Er ist ein Freund von mir, sagte Cleve. Dann bringen Sie ihm bei, wie man fährt, bevor er jemanden umbringt, sagte der weiße Polizist, während er in seinen Streifenwagen stieg und dann davonfuhr.

Cleve kicherte, als er durch das Fenster zu Gray hereinschaute.»Tut mir leid, dass das passiert ist«, sagte er lächelnd.

«Das ist einzig und allein Ihre Schuld.«

«Fahren Sie beim nächsten Mal etwas langsamer.«

Gray warf den Strafzettel auf den Boden.»Lassen Sie uns schnell machen. Sarge hat doch gesagt, die Leute im Westflügel redeten über mich. Richtig?«

«Richtig.«

«Okay. Ich muss von Sarge wissen, ob sie auch über andere Reporter reden, vor allem welche von der New York Times. Ich muss wissen, ob sie glauben, dass sonst noch jemand hinter der Story her ist.«

«Ist das alles?«

«Ja. Und ich muss es schnell wissen.«

«Fahren Sie in Zukunft langsamer«, sagte Cleve laut und ging zu seinem Wagen.

Darby bezahlte ihr Zimmer für die nächsten sieben Tage, teils, weil sie einen vertrauten Ort haben wollte, an den sie notfalls zurückkehren konnte, teils aber auch, um einige der neuen Kleidungsstücke zurücklassen zu können, die sie gekauft hatte. Es war sündhaft teuer, dieses Davonlaufen und Zurücklassen aller Sachen. Es war nichts Extravagantes, nur bessere Jurastudentenkluft, aber in New York waren diese Dinge noch teurer, und es wäre schön, sie behalten zu können. Sie würde ihretwegen kein Risiko eingehen, aber sie mochte das Zimmer, und sie mochte die Stadt, und sie wollte die Sachen.

Es war Zeit, wieder davonzulaufen, und sie würde mit leichtem Gepäck reisen. Sie hatte eine kleine Segeltuchtasche bei sich, als sie vor dem St. Moritz in ein wartendes Taxi stieg. Es war fast elf Uhr, Freitagabend, und auf dem Central Park South herrschte dichter Verkehr. Auf der anderen Straßenseite wartete eine Reihe von Pferdekutschen auf Kunden für kurze Fahrten durch den Park.

Das Taxi brauchte zehn Minuten, um bis zur Kreuzung von Zweiundsiebzigster Straße und Broadway zu gelangen. Es war die falsche Richtung, aber die ganze Fahrt sollte schwer zu verfolgen sein. Sie ging zehn Meter zu Fuß und verschwand in einer Station der U-Bahn. Sie hatte eine Karte und eine Broschüre studiert und hoffte, dass es einfach sein würde. Die U-Bahn widerstrebte ihr, weil sie noch nie mit ihr gefahren war und so mancherlei Geschichten über sie gehört hatte. Aber dies war die Broadway-Linie, die meistbefahrene Strecke in Manhattan; den Gerüchten zufolge war sie sicher, jedenfalls zeitweise. Und über der Erde sahen die Dinge auch nicht gerade rosig aus. Die U-Bahn konnte kaum schlimmer sein.

Sie wartete an der richtigen Stelle, zusammen mit einer Gruppe von betrunkenen, aber anständig gekleideten Teenagern, und ein paar Minuten später kam der Zug. Er war nicht überfüllt, und sie ließ sich auf einem Sitz in der Nähe der Mitteltüren nieder. Schau auf den Boden und halt deine Tasche fest, befahl sie sich immer wieder. Sie schaute auf den Boden, beobachtete aber durch ihre dunkle Brille die anderen Fahrgäste. Es war ihr Glücksabend. Keine Straßenpunks mit Messern. Keine Bettler. Keine Perversen, jedenfalls keine, denen man es ansah. Aber für einen Neuling war es trotzdem nervenaufreibend.

Die betrunkenen Kids stiegen am Times Square aus, und sie verließ an der nächsten Haltestelle schnell den Zug. Sie hatte die Penn Station noch nie gesehen, aber jetzt war nicht die Zeit für eine Besichtigung. Vielleicht konnte sie irgendwann wiederkommen und einen Monat hier verbringen und die Stadt bewundern, ohne ständig Ausschau halten zu müssen nach Stummel und dem dünnen Mann und irgendwelchen anderen Leuten, die hinter ihr her waren. Aber nicht jetzt.

Sie hatte fünf Minuten und fand ihren Zug, als gerade zum Einsteigen aufgefordert wurde. Diesmal setzte sie sich in den hinteren Teil des Wagens und beobachtete alle Mitreisenden. Sie fand keine bekannten Gesichter. Bestimmt, bitte, bestimmt hatten sie sich auf dieser Zickzack-Flucht nicht an sie gehängt. Ihr Fehler war wieder die Kreditkarte gewesen. Sie hatte in O’Hare vier Tickets mit American Express gekauft, und irgendwie wussten sie, dass sie in New York war. Sie war sicher, dass Stummel sie nicht gesehen hatte, aber er war in der Stadt, und natürlich hatte er Freunde. Es konnten zwanzig von ihnen sein. Aber sicher wusste sie überhaupt nichts.

Der Zug fuhr mit sechs Minuten Verspätung ab. Er war halb leer. Sie holte ein Paperback aus ihrer Tasche und tat, als läse sie.

Eine Viertelstunde später hielt der Zug in Newark, und sie stieg aus. Sie hatte Glück. Vor dem Bahnhof standen Taxis, und zehn Minuten später war sie am Flughafen.

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