DREI

Er sah jedenfalls aus wie ein alter Farmer, mit Strohhut, sauberer Latzhose, ordentlich gebügeltem Khaki-Arbeitshemd, Stiefeln. Er kaute Tabak und spuckte in das schwarze Wasser unter der Mole. Er kaute wie ein Farmer. Sein Pickup, obwohl ein neueres Modell, war hinreichend verwittert und sah nach staubigen Straßen aus. Nummernschilder von North Carolina. Er stand, hundert Meter entfernt, im Sand am anderen Ende der Mole.

Es war Mitternacht an einem Montag, dem ersten Montag im Oktober, und die nächste halbe Stunde musste er in der dunklen Kühle an der menschenleeren Mole warten, nachdenklich kauend auf das Geländer gestützt, und dabei intensiv aufs Meer hinausschauen. Er war allein, und er hatte gewusst, dass es so sein würde. Es war so geplant. Um diese Zeit war die Mole immer menschenleer. Hin und wieder flackerten die Scheinwerfer eines Wagens an der Küste entlang, aber um diese Zeit hielten die Scheinwerfer nie an.

Er beobachtete die roten und blauen Fahrrinnenlichter weit draußen. Er sah auf die Uhr, ohne den Kopf zu bewegen. Die dichten Wolken hingen tief, und es würde schwierig sein, es zu sehen, bevor es die Mole fast erreicht hatte. Aber so war es geplant.

Der Pickup kam nicht aus North Carolina, und der Fahrer auch nicht. Die Nummernschilder waren von einem alten Laster auf einem Schrottplatz in der Nähe von Durham abmontiert worden. Der Pickup war in Baton Rouge gestohlen. Der Farmer war aus dem Nichts gekommen und hatte keinen der Diebstähle begangen. Er war ein Profi, und deshalb erledigte jemand anders die schmutzige Kleinarbeit.

Nachdem er zwanzig Minuten gewartet hatte, trieb ein dunkler Gegenstand auf die Mole zu. Ein leiser, gedämpfter Motor brummte und wurde lauter. Der Gegenstand wurde zu einem kleinen Fahrzeug, in dem ein geduckter Schatten den Motor bediente. Der Farmer verriet sich auch nicht mit der geringsten Bewegung. Das Brummen brach ab, und das schwarze Schlauchboot blieb zehn Meter von der Mole entfernt in dem ruhigen Wasser liegen. Auf der Küstenstraße waren keine Scheinwerfer zu sehen.

Der Farmer steckte eine Zigarette zwischen die Lippen, zündete sie an, paffte zweimal und warf sie dann in Richtung Schlauchboot ins Wasser.

«Welche Marke?«fragte der Schatten vom Wasser herauf. Er konnte den Umriss des Farmers am Geländer sehen, aber nicht sein Gesicht.

«Lucky Strike«, antwortete der Farmer. Diese Kennworte waren wirklich albern. Mit wie vielen anderen schwarzen Schlauchbooten war schon zu rechnen, die vom Atlantik hereindrifteten und genau um diese Zeit diese alte Mole ansteuerten? Albern, aber ach so wichtig.

«Luke?«kam die Stimme von dem Boot.

«Sam«, entgegnete der Farmer. Der Name war Khamel, nicht Sam, aber Sam würde es während der nächsten fünf Minuten tun, bis Khamel sein Boot festgemacht hatte.

Khamel antwortete nicht, das wurde ncht verlangt, sondern startete schnell den Motor und steuerte das Boot an der Mole entlang auf den Strand zu. Luke folgte ihm oben. Sie trafen sich am Pickup, ohne Händeschütteln. Khamel deponierte seine schwarze Adidas-Sporttasche zwischen ihnen auf dem Sitz, und der Pickup steuerte die Küstenstraße an.

Luke fuhr und Khamel rauchte, und beide leisteten ganze Arbeit darin, einander zu ignorieren. Ihre Augen wagten nicht, sich zu begegnen. Mit dem dichten Bart, der dunklen Brille und dem schwarzen Rollkragen war Khamels Gesicht unmöglich zu identifizieren. Luke wollte es nicht sehen. Er sollte diesen Fremden nicht nur von der See her in Empfang nehmen; zu seinem Auftrag gehörte auch, dass er ihn nicht anschauen durfte. Und das war nicht schwierig. Das Gesicht wurde in neun Ländern gesucht.

Als sie über die Brücke bei Manteo fuhren, zündete Luke sich eine weitere Lucky Strike an und kam zu dem Schluss, dass sie sich schon einmal begegnet waren. Es war eine kurze, aber zeitlich genau abgestimmte Begegnung auf cbm Flughafen in Rom gewesen, vor fünf oder sechs Jahren, wenn er sich recht erinnerte. Es hatte keinerlei Vorstellung gegeben. Die Begegnung hatte in einer Toilette stattgefunden. Luke, damals ein makellos gekleideter amerikanischer Manager, hatte einen Aktenkoffer neben dem Waschbecken, über dem er sich langsam die Hände wusch, an die Wand gestellt, und plötzlich war er verschwunden gewesen. Er hatte im Spiegel einen flüchtigen Blick auf den Mann werfen können — diesen Khamel, dessen war er sich jetzt sicher. Eine halbe Stunde später war der Aktenkoffer zwischen den Beinen des britischen Botschafters in Nigeria explodiert.

Nach allem, was Luke in seiner unsichtbaren Bruderschaft an vorsichtigem Geflüster gehört hatte, war Khamel ein Mann mit vielen Namen und Gesichtern und Sprachen, ein Mörder, der schnell zuschlug und keine Spuren hinterließ, ein sehr wählerischer Killer, der in der Welt herumstreifte, aber nie gestellt werden konnte. Während sie in der Dunkelheit nach Norden fuhren, ließ sich Luke tief in seinen Sitz sinken, wobei die Hutkrempe fast seine Nase berührte und die Hände locker auf dem Lenkrad lagen, und versuchte, sich an die Geschichten zu erinnern, die er über seinen Passagier gehört hatte. Erstaunliche Untaten. Da war der britische Botschafter. Der Hinterhalt, dem 1990 siebzehn israelische Soldaten in der West Bank zum Opfer fielen, war Khamel zugeschrieben worden. Er war der einzige Verdächtige bei der Ermordung eines reichen deutschen Bankiers und seiner Familie mit einer Autobombe 1985. Angeblich sollte er dafür ein Honorar von drei Millionen kassiert haben, bar auf die Hand. Die meisten GeheimdienstExperten waren überzeugt, dass er 1981 hinter dem Versuch der Ermordung des Papstes gesteckt hatte. Aber schließlich wurde Khamel für alle unaufgeklärten terroristischen Angriffe und Morde verantwortlich gemacht. Es war leicht, ihn dafür verantwortlich zu machen, weil niemand sicher war, ob es ihn überhaupt gab.

Das faszinierte Luke. Khamel war im Begriff, auf amerikanischem Boden zu operieren. Luke wusste nicht, wer die vorgesehenen Opfer waren, aber es mussten wichtige Leute sein.

Bei Tagesanbruch hielt der Pickup an der Ecke von Thirtyfirst und M Street im Washingtoner Stadtteil Georgetown. Khamel ergriff seine Sporttasche und stieg wortlos aus. Er wanderte ein paar Blocks nach Osten bis zum Four Seasons Hotel, kaufte im Foyer eine Post und fuhr dann mit dem Fahrstuhl in den siebten Stock. Genau um viertel nach sieben klopfte er an eine Tür am Ende des Flurs.»Ja?«fragte eine nervöse Stimme von drinnen.

«Ich suche Mr. Sneller«, sagte Khamel langsam in völlig akzentfreiem Amerikanisch und drückte dabei seinen Daumen auf den Spion in der Tür.

«Mr. Sneller?«

«Ja. Edwin F. Sneller.«

Der Türknauf klickte nicht und wurde auch nicht gedreht, und die Tür ging nicht auf. Ein paar Sekunden vergingen, dann wurde ein weißer Briefumschlag unter der Tür durchgeschoben. Khamel hob ihn auf.»Okay«, sagte er, gerade so laut, dass Sneller oder wer immer sonst da drinnen war, es hören konnte.

«Ihr Zimmer ist nebenan«, sagte Sneller.»Ich erwarte Ihren Anruf. «Er hörte sich an wie ein Amerikaner. Im Gegensatz zu

Luke hatte er Khamel noch nie gesehen und verspürte auch keinerlei Verlangen danach. Luke hatte ihn jetzt zweimal gesehen und konnte von Glück sagen, dass er noch lebte.

In Khamels Zimmer standen zwei Betten und ein kleiner Tisch am Fenster. Die dicken Vorhänge waren zugezogen; das Sonnenlicht hatte keine Chance. Er stellte seine Sporttasche auf eines der Betten neben zwei dicke Aktenkoffer. Er trat ans Fenster und warf einen Blick hinaus, dann ging er ans Telefon.

«Ich bin’s«, sagte er zu Sneller.»Was ist mit dem Wagen?«

«Steht draußen auf der Straße. Unauffälliger weißer Ford mit Connecticut-Kennzeichen. Die Schlüssel liegen auf dem Tisch.«

«Gestohlen?«

«Natürlich, aber desinfiziert. Er ist sauber.«

«Ich lasse ihn kurz nach Mitternacht am Dulles Airport stehen. Ich möchte, dass er vernichtet wird, okay?«Sein Amerikanisch war perfekt.

«So lauten meine Anweisungen. Ja. «Sneller war korrekt und tüchtig.

«Es ist sehr wichtig. Ich habe vor, die Waffe im Wagen zu lassen. Waffen hinterlassen Geschosse und Wagen werden gesehen, also ist es unerlässlich, den Wagen zu vernichten und alles, was darin ist. Verstanden?«

«So lauten meine Anweisungen«, wiederholte Sneller. Diese Lektion missfiel ihm. Er war kein Neuling im Mordgeschäft.

Khamel setzte sich auf die Bettkante.»Die vier Millionen sind vor einer Woche eingegangen, einen Tag zu spät, wenn ich das hinzufügen darf. Jetzt bin ich in Washington, also will ich die nächsten drei.«

«Sie werden vor Mittag überwiesen. Der Vereinbarung entsprechend.«

«Ja, aber ich traue der Vereinbarung nicht so recht. Vergessen Sie nicht — Sie hatten einen Tag Verspätung.«

Das ärgerte Sneller, und da der Killer im Nebenzimmer war und nicht vorhatte herauszukommen, konnte er es sich anmerken lassen, dass er ein bisschen verärgert war.»Das war nicht unsere Schuld, sondern die der Bank.«

Jetzt war Khamel verärgert.»Fein. Ich möchte, dass Sie und Ihre Bank die nächsten drei Millionen auf mein Konto in Zürich überweisen, sobald New York aufmacht. Das wird in ungefähr zwei Stunden der Fall sein. Ich werde es überprüfen.«

«Okay.«

«Und ich möchte keine Probleme, wenn der Job erledigt ist. Ich werde in vierundzwanzig Stunden in Paris sein, und von dort aus reise ich direkt nach Zürich weiter. Ich möchte, dass das ganze Geld dort auf mich wartet, wenn ich ankomme.«

«Es wird dort sein, wenn Sie den Job erledigt haben.«

Khamel lächelte.»Der Job wird erledigt, Mr. Sneller, bis Mitternacht. Das heißt, wenn Ihre Informationen stimmen.«

«Bis jetzt stimmen sie. Und für heute ist nicht mit irgendwelchen Änderungen zu rechnen. Unsere Leute sind auf den Straßen. Alles steckt in den beiden Aktenkoffern: Karten, Zeichnungen, Zeitpläne, die Werkzeuge und Gegenstände, die Sie haben wollten.«

Khamel warf einen Blick auf die Aktenkoffer hinter sich. Dann rieb er sich mit der rechten Hand die Augen.»Ich muss ein Nickerchen machen«, murmelte er ins Telefon.»Ich habe seit zwanzig Stunden nicht geschlafen.«

Darauf fiel Sneller keine Erwiderung ein. Wenn Khamel ein Nickerchen machen wollte, dann sollte er eines machen. Sie zahlten ihm zehn Millionen.

«Möchten Sie etwas zu essen?«fragte Sneller ein wenig unbeholfen.

«Nein. Rufen Sie mich in drei Stunden an, um halb elf. «Er legte den Hörer auf und streckte sich auf dem Bett aus.

Am zweiten Tag der herbstlichen Sitzungsperiode herrschte Ruhe auf den Straßen. Die Richter verbrachten ihn auf ihren Stühlen und hörten sich an, wie die Anwälte, einer nach dem anderen, komplizierte und ziemlich langweilige Fälle vortrugen. Rosenberg verschlief das meiste davon. Er erwachte kurz zum Leben, als der Justizminister von Texas forderte, dass dem Insassen einer Todeszelle Medikamente gegeben werden sollten, damit er bei klarem Verstand war, wenn er die tödliche Injektion erhielt. Wie kann er hingerichtet werden, wenn er geisteskrank ist? fragte Rosenberg fassungslos. Kein Problem, sagte der Justizminister von Texas, seine Krankheit kann mit Medikamenten kontrolliert werden. Also gebt ihm eine kleine Spritze, die ihn klar im Kopf macht, und dann noch eine, die ihn umbringt. Könnte alles ganz einfach und verfassungsgemäß sein. Rosenberg argumentierte und wetterte kurze Zeit, dann ging ihm der Dampf aus. In seinem kleinen Rollstuhl saß er viel tiefer als seine Kollegen auf ihren massiven Lederthronen. Er sah bemitleidenswert aus. In früheren Jahren war er ein Tiger gewesen, der selbst aus den gerissensten Anwälten Kleinholz gemacht hatte. Aber jetzt nicht mehr. Er begann zu murmeln, dann verstummte er. Der Justizminister bedachte ihn mit einem hämischen Blick und fuhr dann fort.

Während der letzten Anhörung des Tages, einem faden Rassentrennungsfall aus Virginia, begann Rosenberg zu schnarchen. Chief Runyan warf ihm einen finsteren Blick zu. Jason Kline, Rosenbergs ältester Mitarbeiter, verstand sofort. Er zog den Rollstuhl langsam vom Richtertisch zurück und aus dem Gerichtssaal heraus. Dann schob er ihn rasch den Flur entlang.

In seinem Büro kam der Richter wieder zu sich, nahm seine Medikamente und sagte Kline, dass er nach Hause wollte. Kline informierte das FBI, und Augenblicke später wurde Rosenberg auf die Ladefläche seines im Keller parkenden Transporters befördert. Zwei FBI-Agenten beobachteten den Vorgang. Ein Pfleger, Frederic, schnallte den Rollstuhl fest, und Sergeant Ferguson von der Polizei des Obersten Bundesgerichts setzte sich ans Steuer des Transporters. Der Richter duldete keine FBI-Agenten in seiner Nähe. Sie würden in ihrem eigenen Wagen folgen und sein Stadthaus von der Straße aus überwachen. Sie hatten Glück, dass sie so nahe herankommen durften. Er misstraute Polizisten, und FBI-Agenten misstraute er erst recht. Er brauchte keinen Schutz.

In der Volta Street in Georgetown verlangsamte der Transporter die Fahrt und setzte rückwärts in eine kurze Auffahrt. Der Pfleger Frederic und der Polizist Ferguson rollten den Richter sanft ins Haus. Die Agenten saßen in ihrem Dienstwagen, einem schwarzen Dodge Aries, und sahen von der Straße aus zu. Die Rasenfläche vor dem Stadthaus wir winzig und ihr Wagen kaum zwei Meter von der Haustür entfernt. Es war kurz vor vier Uhr nachmittags.

Ein paar Minuten später verließ Ferguson weisungsgemäß das Haus und sprach mit den Agenten. Nach langen Diskussionen hatte Rosenberg eine Woche zuvor nachgegeben und gestattet, dass Ferguson nach seiner Ankunft nachmittags sämtliche Räume oben und unten inspizierte. Danach musste Ferguson gehen, aber er durfte genau um zehn Uhr abends zurückkommen und bis genau sechs Uhr morgens vor der Hintertür sitzen. Niemand anders als Ferguson durfte es, und er hatte die Überstunden satt.

«Alles in Ordnung«, sagte er zu den Agenten.»Um zehn bin ich wieder hier.«

«Lebt er noch?«fragte einer der Agenten. Die Standardfrage.

«Leider. «Ferguson wirkte müde, als er zu dem Transporter ging. Frederic war rundlich und schwach, aber Kraft war beim Umgang mit seinem Patienten auch nicht erforderlich. Nachdem er die Kissen gerichtet hatte, hob er ihn aus dem Rollstuhl und setzte ihn behutsam auf die Couch, wo er die nächsten zwei Stunden bewegungslos verbringen, schlafen und CNN sehen würde. Frederic machte sich ein Schinken-Sandwich, stellte einen Teller mit Keksen bereit und blätterte am Küchentisch im National Enquirer. Rosenberg murmelte laut irgend etwas und wechselte mit Hilfe der Fernbedienung den Kanal.

Genau um sieben wurde sein Essen aus Hühnerbrühe, Pellkartoffeln und geschmorten Zwiebeln — Schlaganfall-Diät — auf den Tisch gestellt, und Frederic rollte ihn hin. Er bestand darauf, selbst zu essen, und es war kein schöner Anblick. Frederic sah fern. Er würde den Schweinkram später wegputzen.

Um neun war er gebadet, mit einem Nachthemd bekleidet und unter die Bettdecke gesteckt. Das Bett war ein schmales, verstellbares, hellgrünes Ding von der Art, wie sie in Militärkrankenhäusern verwendet wurden, mit einer harten Matratze, Bedienungsknöpfen und Klappgittern, von denen Rosenberg verlangte, dass sie unten blieben. Es stand in einem Zimmer hinter der Küche, das er vor seinem ersten Schlaganfall dreißig Jahre lang als kleines Arbeitszimmer benutzt hatte. Jetzt war das Zimmer klinisch sauber und roch nach Desinfektionsmitteln und nahem Tod. Neben dem Bett stand ein großer Tisch mit einer Krankenhauslampe und mindestens zwanzig Gläsern mit Tabletten. Überall im Zimmer waren dicke, schwere juristische Bücher aufgestapelt. Der Pfleger setzte sich auf einen abgeschabten Lehnstuhl und begann, aus einem Schriftsatz vorzulesen. Er würde lesen, bis er den Richter schnarchen hörte — das allabendliche Ritual. Er las langsam, schrie Rosenberg die Worte zu, der steif und bewegungslos dalag, aber zuhörte. Der Schriftsatz gehörte zu einem Fall, in dem er die Mehrheitsentscheidung schreiben würde. Er ließ sich kein Wort entgehen, eine Zeit lang.

Nach einer Stunde des Lesens und Schreiens war Frederic müde, und der Richter dämmerte langsam ein. Er hob die Hand leicht an, dann schloss er die Augen. Mit einem Knopf am Bett dämpfte er das Licht. Danach war es fast dunkel im Zimmer. Frederic legte den Schriftsatz auf den Boden und machte die Augen zu. Rosenberg schnarchte.

Er würde nicht lange schnarchen.

Kurz nach zehn, als das Haus dunkel und still war, wurde die Tür des Wandschranks in einem der oberen Schlafzimmer leise geöffnet, und Khamel schob sich heraus. Seine Armbandagen, die Nylonmütze und die Laufshorts waren königsblau. Das langärmelige Hemd, die Socken und die Reeboks waren weiß mit königsblauen Applikationen. Perfekte Farbabstimmung. Khamel der Jogger. Er war glattrasiert, und sein sehr kurzes Haar unter der Mütze war jetzt blond, fast weiß.

Das Schlafzimmer war dunkel, ebenso der Flur. Die Stufen knarrten leise unter seinen Reeboks. Er war einsfünfundsiebzig groß und wog weniger als siebzig Kilo, ohne eine Spur von Fett. Er sorgte dafür, dass er straff und leicht blieb, damit er sich schnell und lautlos bewegen konnte. Die Treppe endete nicht weit von der Haustür entfernt in einer Diele. Er wusste, dass zwei Agenten in einem Wagen am Bordstein saßen, die vermutlich das Haus nicht beobachteten. Er wusste, dass Ferguson sieben Minuten zuvor eingetroffen war. Er konnte das Schnarchen aus dem Hinterzimmer hören. Als er in dem Schrank wartete, hatte er daran gedacht, früher zuzuschlagen, bevor Ferguson kam, damit er ihn nicht umzubringen brauchte. Das Umbringen war kein Problem, aber es hinterließ eine weitere Leiche, um die man sich kümmern musste. Aber er vermutete, zu Unrecht, dass Ferguson womöglich bei dem Pfleger hereinschauen würde, wenn er seinen Dienst antrat. Wenn das der Fall war, dann würde Ferguson die Leichen finden, und er, Khamel, würde ein paar Stunden verlieren. Also hatte er bis jetzt gewartet.

Er glitt lautlos durch die Diele. In der Küche beleuchtete ein kleines Licht an der Dunstabzugshaube die Arbeitsfläche und machte die Dinge etwas gefährlicher. Khamel verfluchte sich selbst, weil er nicht nachgesehen und die Birne herausgedreht hatte. Solche kleinen Fehler waren unentschuldbar. Er duckte sich unter einem Fenster und warf einen Blick auf den Hinterhof. Er konnte Ferguson nicht sehen, aber er wusste, dass er einsfünfundachtzig groß und einundsechzig Jahre alt war, an grauem Star litt und mit seiner.375er Magnum nicht einmal ein Scheunentor traf.

Beide schnarchten. Khamel lächelte, als er auf der Schwelle niederkauerte und rasch die.22er Automatik und den Schalldämpfer aus der Ace-Bandage zog, die er um die Taille trug. Er schraubte die zehn Zentimeter lange Röhre auf den Lauf und betrat geduckt das Zimmer. Der Pfleger lag tief in seinem Lehnstuhl, mit herabhängenden Händen und offenem Mund. Khamel setzte das Ende des Schalldämpfers an seine rechte Schläfe und drückte dreimal ab. Die Hände bebten und die Füße zuckten, aber die Augen blieben geschlossen. Dann wendete sich Khamel rasch dem bleichen und verrunzelten Kopf von Richter Abraham Rosenberg zu und pumpte gleichfalls drei Kugeln hinein.

Das Zimmer war fensterlos. Er beobachtete die beiden Opfer und wartete eine volle Minute. Die Füße des Pflegers zuckten ein paar Mal, dann hörte das Zucken auf. Die Leichen regten sich nicht mehr.

Er wollte Ferguson im Haus töten. Es war elf Minuten nach zehn, genau die richtige Zeit für irgendeinen Nachbarn, vor dem Schlafengehen den Hund noch einmal auszuführen. Er schlich durch die Dunkelheit zur Hintertür und entdeckte den Polizisten, der ungefähr sechs Meter entfernt friedlich an dem hölzernen Gartenzaun entlang wanderte. Instinktiv öffnete Khamel die Hintertür, schaltete das Verandalicht ein und sagte laut» Ferguson«.

Er ließ die Tür offen und versteckte sich in einer dunklen Ecke neben dem Kühlschrank. Ferguson tappte bereitwillig über die kleine Veranda in die Küche. Das war nicht ungewöhnlich.

Frederic rief ihn oft herein, nachdem Seine Ehren eingeschlafen war. Dann tranken sie Pulverkaffee und spielten Romme.

Diesmal gab es keinen Kaffee, und Frederic wartete nicht auf ihn. Khamel feuerte drei Kugeln in seinen Hinterkopf, und er stürzte auf den Küchentisch.

Khamel schaltete das Verandalicht aus und schraubte den Schalldämpfer ab. Er wurde nicht mehr gebraucht. Schalldämpfer und Pistole verschwanden wieder in der Ace-Bandage. Khamel warf einen Blick durch das Vorderfenster. Die Innenbeleuchtung des schwarzen Dodge war eingeschaltet, und die Agenten lasen. Er stieg über Ferguson hinweg, machte die Hintertür hinter sich zu und verschwand in der Dunkelheit des kleinen Gartens hinter dem Haus. Er sprang lautlos über zwei Zäune und gelangte auf die Straße. Er begann zu laufen. Khamel der Jogger.

Auf dem dunklen Balkon des Montrose Theatre saß Glenn Jensen für sich allein und schaute den nackten und ziemlich aktiven Männern auf der Leinwand zu. Er aß Popcorn aus einer großen Schachtel und nahm nichts zur Kenntnis außer den Körpern. Er war unauffällig genug gekleidet: blaue Strickjacke, Baumwollhose, Mokassins. Eine große Sonnenbrille machte seine Augen unsichtbar, und ein breitkrempiger Hut bedeckte seinen Kopf. Er war gesegnet mit einem Gesicht, das man leicht wieder vergaß und, wenn es noch dazu getarnt gewesen war, nie wieder erkannte. Schon gar nicht um Mitternacht auf dem Balkon eines nahezu leeren Pornokinos für Schwule. Keine Ohrringe, Tücher, Goldketten oder anderer Schmuck, nichts, woraus man hätte schließen können, dass er abgeschleppt werden wollte.

Es war zu einer Art Sport geworden, dieses Katz-und-Maus-Spiel mit dem FBI und dem Rest der Welt. Auch an diesem Abend hatten sich die Agenten pflichtgemäß auf dem Parkplatz vor dem Haus postiert. Zwei weitere parkten neben dem Ausgang in der Nähe der Hinterveranda, und er ließ sie alle viereinhalb Stunden dort sitzen, bevor er sich verkleidete, in aller Gemütsruhe in die Tiefgarage hinunterfuhr und im Wagen eines Freundes davonrauschte. Das Gebäude hatte so viele Ausgänge, dass es den bedauernswerten Fibbies unmöglich war, ihn zu überwachen. Bis zu einem gewissen Grade taten sie ihm leid, aber es war sein eigenes Leben, das er leben wollte. Und wenn die Fibbies ihn nicht finden konnten, wie sollte es dann einem Killer gelingen?

Der Balkon war in drei kleine Abschnitte mit jeweils sechs Reihen unterteilt. Er war sehr dunkel; der dicke blaue Strahl von dem Projektor hinter ihm war die einzige Beleuchtung. An den Außengängen waren zerbrochene Sitze und zusammengeklappte Tische gestapelt. Die Samtvorhänge an den Wänden waren zerschlissen und heruntergesackt. Es war ein wundervoller Ort, um sich zu verstecken.

Früher hatte er befürchtet, entdeckt zu werden. In den Monaten nach seiner Ernennung hatte er eine Heidenangst gehabt. Er konnte sein Popcorn nicht essen und schon gar nicht die Filme genießen. Er sagte sich, wenn er erwischt oder erkannt oder auf irgendeine unerfreuliche Art bloßgestellt werden sollte, dann würde er einfach behaupten, dass er für irgendeinen anhängigen Obszönitätenfall recherchierte. Ein derartiger Fall stand immer auf der Tagesordnung, und vielleicht würde man ihm das abkaufen. Diese Ausrede konnte durchaus ihren Zweck erfüllen, sagte er sich immer wieder und wurde kühner. Aber eines Nachts im Jahre 1990 geriet ein Kino in Brand, und vier Menschen starben. Ihre Namen standen in der Zeitung. Große Story. Richter Glenn Jensen war zufällig auf der Toilette, als er die Schreie hörte und den Rauch roch. Er huschte auf die Straße hinaus und verschwand. Die Toten wurden auf dem Balkon, gefunden. Einen von ihnen hatte er gekannt. Zwei Monate verzichtete er auf die Kinobesuche, dann fing er wieder damit an. Er brauchte weitere Recherchen, redete er sich ein.

Und was war, wenn er erwischt wurde? Er war auf Lebenszeit ernannt. Die Wähler konnten ihn nicht nach Hause schicken.

Er mochte das Montrose, weil dienstags die ganze Nacht hindurch Filme gezeigt wurden, aber nie viele Leute da waren. Er mochte das Popcorn, und Bier vom Fass kostete fünfzig Cents.

Im mittleren Abschnitt saßen außerdem zwei alte Männer, die miteinander schmusten. Jensen warf ihnen hin und wieder einen Blick zu, konzentrierte sich dann aber auf den Film. Traurig, dachte er, wenn man siebzig ist, den Tod vor Augen und auf der Flucht vor AIDS, darauf angewiesen, sein Glück auf einem schmutzigen Balkon zu finden.

Ein vierter Mann erschien auf dem Balkon. Er warf einen Blick auf Jensen und die eng umschlungen dasitzenden Männer und ging mit seinem Fassbier und seinem Popcorn zur obersten Reihe des mittleren Abschnitts. Der Vorführraum lag direkt hinter ihm. Rechts von ihm und drei Reihen tiefer saß der Richter. Die grauhaarigen Liebenden waren vor ihm; sie küssten sich und flüsterten und kicherten, blind für die Welt.

Er war angemessen gekleidet. Enge Jeans, schwarzes Seidenhemd, Ohrring, horngefasster Augenschirm und das ordentlich geschnittene Kopf- und Barthaar des typischen Homosexuellen. Khamel der Schwule.

Er wartete ein paar Minuten, dann rückte er ein Stück nach rechts und setzte sich an den Gang. Niemand nahm es zur Kenntnis. Wen kümmerte es schon, wo er saß?

Zwanzig nach zwölf hatten die beiden alten Männer genug. Sie standen auf und schlichen Arm in Arm auf Zehenspitzen hinaus, immer noch flüsternd und kichernd. Jensen beachtete sie nicht. Er war völlig hingerissen von dem Film, einer tollen Orgie auf einer Jacht mitten in einem Hurrikan. Khamel bewegte sich wie eine Katze über den schmalen Gang zu einem

Platz drei Reihen hinter dem Richter. Er nippte an seinem Bier. Sie waren allein. Er wartete eine Minute und rutschte dann schnell noch eine Reihe tiefer. Jensen war zweieinhalb Meter entfernt.

Mit dem Sturm wurde auch die Orgie heftiger. Das Tosen des Windes und die Schreie der Beteiligten erfüllten das kleine Kino. Khamel stellte Bier und Popcorn auf den Boden und zog ein knapp meterlanges Stück gelbes Nylonseil aus dem Hosenbund. Er wickelte die Enden rasch um beide Hände und stieg über die Stuhlreihe vor sich. Sein Opfer atmete schwer. Die Popcornschachtel zitterte.

Der Angriff erfolgte schnell und brutal. Khamel schlang das Seil dicht unter den Kehlkopf und zerrte heftig. Er riss das Seil abwärts und mit ihm den Kopf über die Rücklehne des Sitzes. Das Genick brach Er legte die Seilenden zusammen und verknotete sie im Genick. Dann schob er eine fünfzehn Zentimeter lange Stahlstange durch den Knoten und drehte die Schlinge, bis das Fleisch aufplatzte und zu bluten begann. In zehn Sekunden war es vorüber.

Auf der Leinwand war auch der Hurrikan vorüber, und zur Feier des Ereignisses begann eine neue Orgie. Jensen sackte auf seinem Sitz zusammen. Sein Popcorn war um seine Schuhe herum verstreut. Es war nicht Khamels Art, seine Arbeit zu bewundern. Er verließ den Balkon, ging gelassen zwischen den Regalen mit Zeitschriften und Geräten im Foyer hindurch und verschwand dann hinaus auf den Gehsteig.

Er fuhr mit dem unauffälligen weißen Ford mit ConnecticutKennzeichen nach Dulles, zog sich in einem Waschraum um und wartete auf seine Maschine nach Paris.

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