EINS

Kaum zu glauben, dass er noch imstande war, ein solches Chaos auszulösen. Aber vieles von dem, was er da unten sah, ging auf sein Konto. Und das war erfreulich. Er war einundneunzig, halb gelähmt, an einen Rollstuhl gefesselt und auf Sauerstoffzufuhr angewiesen. Sein zweiter Schlaganfall vor sieben Jahren hatte ihm beinahe den Rest gegeben. Dennoch war Richter Abraham Rosenberg nach wie vor am Leben, und selbst mit Schläuchen in der Nase führte er im Obersten Bundesgericht immer noch ein gewichtigeres Wort als seine acht Kollegen. Er war die einzige Legende, die dem Gericht geblieben war; und allein der Umstand, dass er immer noch atmete, brachte den größten Teil des Mobs da unten auf der Straße in Aufruhr.

Er saß in seinem Rollstuhl in seinem Büro im Gebäude des Gerichts. Seine Füße berührten die Fensterkante, und er beugte sich vor, als der Lärm anschwoll. Er hasste Polizisten, aber zu sehen, wie sie in dichten, ordentlichen Reihen dastanden, war doch ein wenig beruhigend. Sie standen unerschütterlich da, während der Mob, mindestens fünfzigtausend Menschen, nach Blut schrie.

«So viele waren es noch nie!«krächzte Rosenberg, ohne sich umzusehen. Er war fast taub. Jason Kline, sein ältester Mitarbeiter, stand hinter ihm. Der erste Montag im Oktober, der Eröffnungstag der neuen Sitzungsperiode, war zu einer traditionellen Feier des Ersten Verfassungszusatzes ausgeartet — einer grandiosen Feier. Rosenberg war begeistert. Für ihn war Redefreiheit gleichbedeutend mit Freiheit zu Demonstration und Aufruhr.

«Sind die Indianer dabei?«fragte er laut.

Jason Kline beugte sich zu seinem rechten Ohr.»Ja!«

«In voller Kriegsbemalung?«

«Ja! Mit allem, was dazugehört.«

«Tanzen sie?«

«Ja!«

Die Indianer, die Schwarzen, Weißen, Braunen, Frauen, Schwulen, Naturschützer, Christen, Abtreibungsaktivisten, Arier, Nazis, Atheisten, Jäger, Tierfreunde, weiße Suprematisten, schwarze Suprematisten, Steuerverweigerer, Farmer — es war ein gewaltiges Meer des Protestes. Und die Einsatzkommandos der Polizei umklammerten ihre schwarzen Stöcke.

«Die Indianer sollten mich lieben!«

«Das tun sie bestimmt. «Kline nickte und lächelte den gebrechlichen kleinen Mann mit den geballten Fäusten an. Seine Ideologie war simpel: die Regierung rangierte vor dem Geschäft, der Einzelne vor der Regierung und die Umwelt vor allem anderen. Und was die Indianer betraf — gebt ihnen, was immer sie haben wollen.

Das Beten, Singen, Skandieren, Rufen und Schreien wurde lauter. Die Polizisten rückten näher zusammen. Der Mob war größer und wütender als in den vorausgegangenen Jahren. Die Atmosphäre war gespannter. Gewalt war an der Tagesordnung. Auf Abtreibungskliniken waren Bombenattentate verübt worden. Ärzte hatte man angegriffen und verprügelt. In Pensacola war einer umgebracht worden, geknebelt, in der Position eines Fetus zusammengeschnürt und mit Säure verätzt. Allwöchentlich kam es zu Straßenschlachten. Militante Schwule hatten Geistliche und Kirchen attackiert. Weiße Suprematisten hatten sich zu einem Dutzend bekannter, finsterer paramilitärischer Organisationen formiert und waren bei ihren Angriffen auf Schwarze, Lateinamerikaner und Asiaten wesentlich kühner geworden. Hass war Amerikas beliebtester Zeitvertreib.

Und natürlich war das Gericht eine bequeme Zielscheibe. Drohungen, ernstzunehmende Drohungen gegen die Richter hatten sich seit 1990 verzehnfacht. Der Polizeischutz des Obersten Bundesgerichts war verdreifacht worden. Mindestens zwei FBI-Agenten waren mit der Bewachung jedes Richters beauftragt und weitere fünfzig damit beschäftigt, den Drohungen nachzugehen.

«Sie hassen mich, nicht wahr?«sagte er laut und schaute aus dem Fenster.

«Ja, etliche von ihnen tun das«, erwiderte Kline belustigt.

Rosenberg freute sich, das zu hören. Er lächelte und inhalierte tief. Achtzig Prozent der Drohungen waren gegen ihn gerichtet.

«Haben sie auch Transparente bei sich?«fragte er. Er war fast blind.

«Eine ganze Menge.«

«Was steht drauf?«

«Das Übliche. Rosenberg soll zurücktreten. Nieder mit Rosenberg. Schluss mit dem Sauerstoff.«

«Solche blöden Sprüche klopfen sie schon seit Jahren. Warum lassen sie sich nicht mal was Neues einfallen?«

Kline antwortete nicht. Abe hätte schon vor Jahren zurücktreten sollen, aber eines Tages würden sie ihn auf einer Bahre hinaustragen. Seine drei Mitarbeiter erledigten den größten Teil der Recherchen, aber Rosenberg bestand darauf, seine Urteile selbst zu schreiben. Er tat es mit einem dicken Filzstift und kritzelte seine Worte auf große Kanzleibögen, ungefähr wie ein ABC-Schütze, der gerade schreiben lernt. Es war ein langsames Arbeiten, aber was macht das schon, wenn man auf Lebenszeit in sein Amt berufen ist? Die Mitarbeiter überprüften seine Urteile und fanden selten einen Fehler.

Rosenberg kicherte.»Wir sollten den Indianern Runyan zum Fraß vorwerfen. «John Runyan war der Gerichtspräsident, ein zäher Konservativer, von einem Republikaner ernannt und bei den Indianern und den meisten anderen Minderheiten unbeliebt. Sieben der neun Richter waren von republikanischen Präsidenten ernannt worden. Seit fünfzehn Jahren wartete Rosenberg auf einen Demokraten im Weißen Haus. Er wollte aufhören, musste aufhören, aber den Gedanken, dass ein Stockkonservativer vom Typ Runyans seinen Sitz einnehmen könnte, ertrug er nicht.

Er konnte warten. Er konnte hier in seinem Rollstuhl sitzen und Sauerstoff atmen und für die Indianer, die Schwarzen, die Frauen, die Armen, die Behinderten und den Umweltschutz eintreten, bis er hundertfünf war. Und kein Mensch auf der Welt konnte auch nur das mindeste dagegen unternehmen, es sei denn, man brachte ihn um. Und das wäre nicht einmal die schlechteste Lösung.

Sein Kopf schwankte, dann taumelte er und sank auf seine Schulter. Er war eingeschlafen. Kline zog sich leise zurück und machte sich wieder an seine Recherchen in der Bibliothek. Er würde in einer halben Stunde wiederkommen, um den Sauerstoff zu überprüfen und Abe seine Medikamente zu geben.

Das Büro des Gerichtspräsidenten liegt im Hauptgeschoss und ist größer und besser ausgestattet als die anderen acht. Der äußere Raum wird für kleine Empfänge und formelle Veranstaltungen benutzt; im inneren arbeitet der Präsident.

Die Tür zum inneren Büro war geschlossen. Im Raum befanden sich der Präsident, seine drei Mitarbeiter, der Chef der Polizei des Obersten Bundesgerichts, drei FBI-Agenten und K. O. Lewis, der stellvertretende Direktor des FBI. Die Stimmung war ernst, alle bemühten sich, den Lärm von der Straße unten zu ignorieren. Es war schwierig. Der Präsident und Lewis erörterten die jüngste Serie von Morddrohungen, und alle anderen hörten zu. Die Mitarbeiter machten sich Notizen.

In den letzten sechzig Tagen hatte das FBI mehr als zweihundert Drohungen registriert, ein neuer Rekord. Es gab das übliche Sortiment von» Sprengt das Gericht in die Luft«-Drohungen, aber viele waren gezielt und bezogen sich auf Namen, Fälle und Urteile.

Runyan unternahm keinen Versuch, seine Besorgnisse zu verheimlichen. Er las ein vertrauliches FBI-Resümee, in dem die Namen der Organisationen aufgeführt waren, die als Urheber der Drohungen in Frage kamen. Der Ku Klux Klan, die Arier, die Nazis, die Palästinenser, die schwarzen Separatisten, die Abtreibungsgegner, die Homosexuellenhasser. Sogar die IRA. Alle, wie es schien, ausgenommen die Rotarier und die Pfadfinder. Eine vom Iran unterstützte Gruppe im Mittleren Osten hatte mit Blutvergießen auf amerikanischem Boden als Vergeltung für den Tod von zwei Justizbeamten in Teheran gedroht. Es gab absolut keinen Beweis dafür, dass die Vereinigten Staaten irgend etwas mit den Morden zu tun hatten. Eine neue, kürzlich zu Ruhm gelangte inländische Terrororganisation, die sogenannte Underground Army, hatte in Texas einen Bundesrichter mit einer Autobombe umgebracht. Niemand war verhaftet worden, aber die UA behauptete, für den Anschlag verantwortlich zu sein. Sie war auch die Hauptverdächtige bei einem Dutzend Bombenattentaten auf Büros der American Civil Liberties Union, aber man konnte ihr nichts nachweisen.

«Was ist mit diesen puertoricanischen Terroristen?«fragte Runyan, ohne aufzuschauen.

«Leichtgewichte. Die machen uns keine Sorgen«, erwiderte Lewis gelassen.»Sie drohen schon seit zwanzig Jahren.«

«Nun, vielleicht ist jetzt für sie die Zeit gekommen, etwas zu tun. Das Klima ist gerade richtig, meinen Sie nicht?«

«Die Puertoricaner können Sie vergessen, Chief «Runyan ließ sich gerne Chief nennen. Nicht Chief Justice, nicht Mr.

Chief Justice. Einfach Chief.»Sie drohen nur, weil alle anderen es auch tun.«

«Sehr komisch«, sagte der Chief, ohne zu lächeln.»Sehr komisch. Ich möchte nicht, dass irgendeine Gruppe außer acht gelassen wird. «Runyan warf das Resümee auf seinen Schreibtisch und rieb sich die Schläfen.»Reden wir über die Sicherheitsvorkehrungen. «Er schloss die Augen.

K. O. Lewis legte seine Kopie des Resümees gleichfalls auf den Schreibtisch.»Also, der Direktor ist der Ansicht, dass wir jedem Richter vier Agenten zuordnen sollten, zumindest während der nächsten neunzig Tage. Für die Fahrten zum Gericht und zurück werden Limousinen mit Eskorte eingesetzt. Die Polizei des Obersten Bundesgerichts unterstützt uns und bewacht dieses Gebäude.«

«Was ist mit Reisen?«

«Keine gute Idee, zumindest im Augenblick. Der Direktor findet, die Richter sollten bis Ende des Jahres hier in Washington bleiben.«

«Sind Sie verrückt? Ist er verrückt? Wenn ich meine Kollegen aufforderte, dieser Bitte nachzukommen, würden sie alle noch heute abend die Stadt verlassen und den ganzen nächsten Monat herumreisen. Das ist absurd. «Runyan warf seinen Mitarbeitern einen finsteren Blick zu; sie schüttelten entrüstet die Köpfe. Wirklich absurd.

Lewis war unbeeindruckt. Das war zu erwarten gewesen.»Wie Sie wünschen. Es war nur ein Vorschlag.«

«Ein törichter Vorschlag.«

«Der Direktor hat in dieser Hinsicht nicht mit Ihrer Kooperation gerechnet. Er erwartet jedoch, dass er im voraus über alle Reisepläne informiert wird, damit wir unsere Vorkehrungen treffen können.«

«Soll das heißen, dass Sie vorhaben, jeden Richter zu eskortieren, wenn er die Stadt verlässt?«

«Ja, Chief. Genau das haben wir vor.«

«Unmöglich. Diese Leute sind es nicht gewohnt, rund um die Uhr beaufsichtigt zu werden.«

«Ja, Sir. Und sie sind es auch nicht gewohnt, dass sich jemand an sie heranmacht. Wir versuchen nur, Sie und Ihre ehrenwerten Kollegen zu beschützen, Sir. Natürlich sagt uns niemand, dass wir irgend etwas tun müssen. Ich glaube, Sir, Sie selbst waren es, der uns gerufen hat. Wenn Sie es wünschen, können wir wieder gehen.«

Runyan rückte auf seinem Stuhl nach vorn und attackierte eine Büroklammer, zog sie auseinander und versuchte, den Draht vollkommen gerade zu biegen.»Und hier?«

Lewis seufzte und hätte beinahe gelächelt.»Das Gebäude macht uns keine Sorgen, Chief. Das lässt sich mühelos sichern. Hier rechnen wir nicht mit Problemen.«

«Wo dann?«

Lewis nickte zum Fenster hinüber. Der Lärm war wieder lauter geworden.»Irgendwo da draußen. Auf den Straßen wimmelt es von Idioten, Verrückten und Fanatikern.«

«Und alle hassen uns.«

«Offensichtlich. Wir machen uns große Sorgen um Richter Rosenberg, Chief. Er weigert sich nach wie vor, unsere Leute in sein Haus zu lassen; sie müssen die ganze Nacht auf der Straße verbringen. Er gestattet einem der Polizisten des Obersten Bundesgerichts, den er besonders schätzt — wie heißt er? Ferguson —, draußen an der Hintertür zu sitzen, aber nur von zehn Uhr abends bis sechs Uhr morgens. Niemand darf hinein außer Richter Rosenberg und seinem Pfleger. Das Haus ist nicht sicher.«

Runyan stocherte mit der Büroklammer auf seiner Schreibunterlage herum und lächelte in sich hinein. Rosenbergs

Tod, wie immer er auch eintreten mochte, wäre eine Erleichterung. Nein, er wäre ein grandioses Ereignis. Der Chief würde Schwarz tragen und eine Nachrede halten müssen, aber hinter verschlossenen Türen würde er mit seinen Mitarbeitern kichern. Der Gedanke behagte Runyan.

«Was schlagen Sie vor?«fragte er.

«Können Sie mit ihm reden?«

«Ich habe es versucht. Ich habe ihm erklärt, dass er vermutlich der meistgehasste Mann in Amerika ist, dass Millionen von Menschen ihn tagtäglich verfluchen, dass die meisten Leute ihn am liebsten tot sähen, dass er viermal soviel Hassbriefe bekommt wie alle anderen Richter zusammen, und dass er für einen Mörder eine ideale und leichte Zielscheibe ist.«

Lewis wartete.»Und?«

«Er hat gesagt, ich könnte ihn am Arsch lecken. Dann ist er eingeschlafen.«

Die Mitarbeiter kicherten, wie es sich gehörte; erst dann begriffen auch die FBI-Agenten, dass Humor erlaubt war, und schlossen sich mit einem kurzen Auflachen an.

«Also was unternehmen wir?«fragte Lewis ungerührt.

«Sie beschützen ihn, so gut Sie können, halten es schriftlich fest und zerbrechen sich deswegen nicht den Kopf. Er fürchtet sich vor nichts, auch nicht vor dem Tod, und wenn er nicht nervös ist, warum sollten Sie es dann sein?«

«Der Direktor ist nervös, also bin ich auch nervös, Chief. Es ist ganz simpel. Wenn einem von Ihnen etwas zustößt, muss das FBI es ausbaden.«

Der Chief schaukelte auf seinem Stuhl. Der Lärm von draußen war entnervend. Diese Zusammenkunft hatte sich lange genug hingezogen.»Vergessen wir Rosenberg. Vielleicht stirbt er im Schlaf. Ich mache mir mehr Sorgen um Jensen.«

«Jensen ist ein Problem«, sagte Lewis und blätterte in seinen

Papieren.

«Ich weiß, dass er ein Problem ist«, sagte Runyan langsam.»Er ist eine Pest. Manchmal hält er sich für einen Liberalen und votiert in der Hälfte der Fälle wie Roserberg. Einen Monat später ist er ein weißer Suprematist und unterstützt die Rassentrennung in den Schulen. Dann entdeckt er seine Liebe zu den Indianern und möchte ihnen Montana schenken. Es ist, als hätte man es mit einem zurückgebliebenen Kind zu tun.«

«Er ist wegen Depressionen in Behandlung.«

«Ich weiß, ich weiß. Er erzählt mir davon. Ich bin seine Vaterfigur. Welches Medikament?«

«Prozac.«

Der Chief stocherte unter seinen Fingernägeln herum.»Was ist mit dieser Aerobic-Lehrerin, mit der er sich immer getroffen hat? Läuft das noch?«

«Eigentlich nicht, Chief. Ich glaube, er macht sich nicht viel aus Frauen. «Lewis war mit sich zufrieden. Er wusste mehr. Er warf einem seiner Agenten einen Blick zu und bestätigte diesen pikanten kleinen Leckerbissen.

Runyan wollte davon nichts hören.»Kooperiert er?«

«Natürlich nicht. In vielem ist er schlimmer als Rosenberg. Er lässt zu, dass wir ihn zu dem Haus begleiten, in dem er wohnt. Aber dann lässt er uns die ganze Nacht auf dem Parkplatz sitzen. Er wohnt im siebten Stock, wie Sie vielleicht wissen. Wir dürfen uns nicht einmal in der Eingangshalle aufhalten. Das stört die Mitbewohner, sagt er. Also sitzen wir in unseren Wagen. Das Gebäude hat zehn Ein- und Ausgänge, und es ist unmöglich, ihn zu beschützen. Er spielt Verstecken mit uns. Er schleicht die ganze Zeit herum, und wir wissen nie, ob er im Haus ist oder nicht. Bei Rosenberg wissen wir wenigstens, dass er die ganze Nacht über da ist. Jensen ist unmöglich.«

«Großartig. Wenn Sie ihm nicht folgen können, wie kann es dann ein Mörder?«

Der Gedanke war Lewis noch nicht gekommen. Die Ironie entging ihm.»Der Direktor macht sich große Sorgen um Jensens Sicherheit.«

«Er bekommt nicht so viele Drohbriefe.«

«Er ist Nummer sechs auf der Liste, nur ein paar weniger als Sie, Chief.«

«Oh. Also stehe ich auf dem fünften Platz.«

«Ja. Gleich hinter Richter Manning. Der kooperiert übrigens. Voll und ganz.«

«Er fürchtet sich vor seinem eigenen Schatten«, sagte Runyan, dann zögerte er.»Das hätte ich nicht sagen sollen. Tut mir leid.«

Lewis ignorierte es.»Überhaupt ist die Zusammenarbeit einigermaßen gut, von Rosenberg und Jensen abgesehen. Richter Stone beschwert sich dauernd, aber er hört auf uns.«

«Er beschwert sich über alles mögliche, also nehmen Sie es nicht persönlich. Was glauben Sie, wo Jensen sich hinschleicht?«

Lewis warf einem seiner Agenten einen Blick zu.»Wir haben keine Ahnung.«

Ein großer Teil des Mobs vereinigte sich plötzlich zu einem hemmungslosen Chor, und alle Leute auf der Straße schienen einzufallen. Der Chief konnte es nicht länger ignorieren. Er stand auf und beendete die Zusammenkunft.

Das Büro von Richter Glenn Jensen lag im zweiten Stock, der Straße und dem Lärm abgewandt. Es war ein geräumiges Zimmer, aber das kleinste von den neun. Jensen war unter den Bundesrichtern der jüngste und konnte von Glück sagen, dass er überhaupt ein Büro hatte. Als er sechs Jahre zuvor im Alter von zweiundvierzig Jahren nominiert worden war, galt er als strenger, gesetzestreuer Jurist mit ausgesprochen konservativen Ansichten, genau wie der Mann, der ihn nominiert hatte. Seine Bestätigung durch den Senat war eine Schlacht gewesen. Vor dem Komitee hatte Jensen eine schlechte Figur gemacht. Bei heiklen Themen suchte er Ausflüchte, und beide Seiten fielen über ihn her. Die Republikaner waren peinlich berührt. Die Demokraten rochen Blut. Der Präsident hatte getan, was er nur irgend konnte, und Jensen war mit einer Mehrheit von nur einer sehr widerwilligen Stimme bestätigt worden.

Aber er hatte es geschafft, auf Lebenszeit. In seinen sechs Jahren im Amt hatte er es niemandem recht gemacht. Tief verletzt vom Resultat seiner Anhörung hatte er sich geschworen, Mitleid zu empfinden und entsprechend zu urteilen. Das hatte die Republikaner aufgebracht. Sie fühlten sich betrogen, vor allem, als er eine latente Leidenschaft für die Rechte der Kriminellen in sich entdeckte. Fast ohne jeden ideologischen Gewaltakt verließ er schnell die Rechte und rückte zuerst in die Mitte und dann auf die Linke. Und dann, während sich die Rechtsgelehrten die Spitzbärte rauften, schoss Jensen zurück auf die Rechte und schloss sich Richter Sloan bei einem seiner abscheulichen Minderheitsvoten gegen die Rechte der Frauen an. Jensen mochte keine Frauen. Er war neutral, was Gebete anging, skeptisch in bezug auf Redefreiheit, mitfühlend bei Steuerprotestlern, gleichgültig gegenüber den Indianern, ängstlich gegenüber Schwarzen, hart gegen Verfasser pornographischer Schriften, weich gegen Kriminelle und einigermaßen konsequent, was den Umweltschutz anging. Und schließlich hatte Jensen, zur weiteren Bestürzung der Republikaner, die Blut vergossen hatten, um seine Bestätigung durchzusetzen, eine beunruhigende Sympathie für die Rechte der Homosexuellen an den Tag gelegt.

Auf seinen Wunsch hin war ihm der unerfreuliche Fall eines Mannes namens Dumond übertragen worden. Ronald Dumond hatte acht Jahre mit seinem Freund zusammengelebt. Sie waren ein glückliches Paar gewesen, einander treu ergeben und vollauf zufrieden, die Erfahrungen des Lebens gemeinsam machen zu können. Sie wollten heiraten, aber die Gesetze von Ohio verboten eine derartige Verbindung. Dann bekam der Freund AIDS und starb eines grässlichen Todes. Ronald wusste genau, wie er ihn begraben wollte, aber dann mischte sich die Familie des Freundes ein und ließ nicht zu, dass Ronald an der Trauerfeier und der Beerdigung teilnahm. Ronald hatte die Familie verklagt und behauptet, emotionelle und psychische Schäden davongetragen zu haben. Der Fall war sechs Jahre lang vor den unteren Instanzen verhandelt worden und nun plötzlich auf Jensens Schreibtisch gelandet.

Zur Debatte standen die Rechte der» Ehegatten «von Schwulen. Dumond war zum Schlachtruf homosexueller Aktivisten geworden. Schon die bloße Erwähnung von Dumond löste Straßenschlachten aus.

Und Jensen hatte den Fall. Die Tür zu seinem kleineren Büro war geschlossen. Jensen und seine drei Mitarbeiter saßen am Konferenztisch. Sie hatten zwei Stunden über Dumond verbracht und waren nicht weitergekommen. Sie hatten das Diskutieren satt. Einer der Mitarbeiter, ein Liberaler von der Universität Cornell, wollte eine eindeutige Stellungnahme, die schwulen Partnern weitreichende Rechte einräumte. Die wollte Jensen auch, aber er war nicht bereit, das zuzugeben. Die anderen beiden Mitarbeiter waren skeptisch. Sie wussten, genau wie Jensen, dass es unmöglich sein würde, eine Mehrheit von fünf zu erreichen.

Das Gespräch wendete sich anderen Dingen zu.

«Der Chief ist sauer auf Sie, Glenn«, sagte einer der Mitarbeiter. Wenn sie unter sich waren, nannten sie ihn beim Vornamen.»Richter «war so ein lästiger Titel.

Glenn rieb sich die Augen.»Was gibt es denn nun schon wieder?«

«Einer seiner Leute hat mich wissen lassen, dass der Chief und das FBI sich Sorgen machen wegen Ihrer Sicherheit. Er sagte, dass Sie nicht kooperierten und dass der Chief sehr beunruhigt sei. Er hat mich gebeten, das an Sie weiterzugeben. «Alles wurde durch das Netzwerk der Mitarbeiter weitergegeben. Alles.

«Soll er sich doch Sorgen machen. Das ist sein Job.«

«Er möchte, dass Ihnen zwei weitere Fibbies als Leibwächter zugewiesen werden. Sie wollen Zutritt zu Ihrer Wohnung. Und das FBI möchte Sie zum Gericht und wieder zurück fahren. Außerdem wollen sie, dass Sie Ihre Reisen einschränken.«

«Das habe ich bereits gehört.«

«Ja, das wissen wir. Aber der Mitarbeiter des Chief hat gesagt, der Chief wünscht, dass wir Sie noch einmal ausdrücklich darum bitten sollen, mit dem FBI zu kooperieren, damit die Ihr Leben retten können.«

«Ich verstehe.«

«Und deshalb bitten wir Sie darum.«

«Danke. Schaltet euch wieder ins Netzwerk ein und sagt dem Mitarbeiter des Chief, dass ihr mich nicht nur darum gebeten, sondern mir regelrecht die Hölle heiß gemacht habt, und dass ich euer Bitten und Hölleheißmachen zu würdigen wusste, aber dass es zu einem Ohr hinein und zum anderen wieder hinausgegangen ist. Sagt ihm, Glenn Jensen findet, dass er schon ein großer Junge ist.«

«Wird gemacht, Glenn. Sie haben wohl keine Angst?«

«Nicht die geringste.«

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