Die Arena

Alles, was aus der Zeit vor dem Krieg der Götter übrig geblieben ist, sind geflüsterte Mythen und halbvergessene Legenden. Die Priester bestrafen schnell jeden, der diese Geschichten erzählt und dabei erwischt wird. Es gab nichts vor Itempas, sagen sie; selbst im Zeitalter der Drei war er der Erste und Größte. Aber die Legenden halten sich hartnäckig.

Ein Beispiel: Es wird gesagt, dass den Dreien einstmals Menschenopfer gebracht wurden. Sie füllten ein Zimmer mit Freiwilligen. Jung, alt, weiblich, männlich, arm, reich, gesund, krank — die ganze Vielfalt und Reichhaltigkeit der Menschheit. Bei einer Gelegenheit, die allen drei heilig war — dieser Teil ist im Laufe der Zeit verloren gegangen —, riefen sie ihre Götter an und baten darum, am Festmahl teilnehmen zu dürfen.

Enefa, so sagt man, beanspruchte die älteren und kranken — den Inbegriff der Sterblichkeit. Sie ließ ihnen die Wahl: Heilung oder einen sanften, friedvollen Tod. Die Geschichten besagen, dass viele das Zweite wählten, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, wieso.

Itempas nahm, was er jetzt auch nimmt — die reifsten und nobelsten, die intelligentesten und talentiertesten. Sie wurden seine

Priester, stellten Pflicht und Anstand über alles, liebten ihn und unterwarfen sich ihm in allen Dingen.

Nahadoth bevorzugte die jungen, wilden, zügellosen — obwohl er auch den ein oder anderen Erwachsenen beanspruchte. Jeden, der sich dem Moment hingab. Er verführte sie und wurde von ihnen verführt; er ergötzte sich an ihrer Hemmungslosigkeit und gab ihnen alles von sich.

Die Angst der Itempaner, über diese Zeit zu sprechen, lässt die Menschen wieder danach verlangen, und sie wenden sich der Ketzerei zu. Ich denke, dass sie die Gefahr überschätzen. So sehr ich es auch versuche, ich kann mir nicht vorstellen, wie es gewesen sein muss, in einer solchen Welt zu leben, und ich habe nicht das Verlangen, dorthin zurückzukehren. Wir haben genug Arger mit einem Gott — warum zum Mahlstrom sollte man wieder unter dreien leben wollen?

Ich verschwendete den nächsten Tag — ein Viertel meines restlichen Lebens. Ich hatte das nicht beabsichtigt. Aber ich war erst in den frühen Morgenstunden in mein Zimmer zurückgekehrt, ich hatte meine zweite Nacht mit wenig Schlaf hinter mir, und mein Körper verlangte Wiedergutmachung, indem ich bis zum Nachmittag schlief. Ich träumte von Tausenden Gesichtern, stellvertretend für Millionen, die alle vor Schmerzen, Entsetzen oder Verzweiflung verzerrt waren. Ich roch Blut und verbranntes Fleisch. Ich sah eine Wüste, die mit gefallenen Bäumen übersät war, weil sie einst ein Wald gewesen war. Ich wachte weinend auf, so schwer wog meine Schuld.

Am späten Nachmittag klopfte es an der Tür. Ich fühlte mich einsam und vernachlässigt — nicht einmal Si’eh hatte mich besucht — und öffnete sie, in der Hoffnung, einen Freund zu sehen.

Es war Relad.

»Was im Namen aller nutzlosen Götter hast du getan?«, verlangte er zu wissen.

Die Arena, hatte Relad mir gesagt. Wo die von hohem Geblüt Krieg spielten.

Dort würde ich Scimina finden, die irgendwie herausgefunden hatte, dass ich mich bemühte, ihre Einmischung zu verhindern. Er hatte das zwischen Flüchen, Obszönitäten und vielen Verleumdungen meiner minderwertigen Halbblutlinie von sich gegeben, aber so viel hatte ich verstanden. Was genau Scimina herausgefunden hatte, schien Relad nicht zu wissen, was mir etwas Hoffnung gab — aber nicht viel.

Ich zitterte vor Spannung, als ich aus dem Aufzug trat und mitten in einer Menge Rücken stand. Diejenigen, die dem Aufzug am nächsten waren, hatten etwas Platz gelassen — wahrscheinlich, weil sie von Neuankömmlingen hinten immer wieder geschubst worden waren —, aber ansonsten war das eine solide Mauer aus Menschen. Die meisten waren weiß gekleidete Bedienstete. Einige waren besser gekleidet und trugen die Zeichen der Viertel- oder Achtelblüter. Hier und da traf ich auf etwas Brokat oder Seide, als ich meine Höflichkeit über Bord warf und mich einfach hindurchdrängte. Ich kam nur langsam voran, weil die meisten größer waren als ich. Außerdem waren sie völlig fixiert darauf, was sich in der Mitte des Raums abspielte.

Ich hörte Geschrei von dort.

Möglicherweise wäre ich nie dort angekommen, wenn sich nicht jemand herumgedreht, mich erkannt und jemandem in der Nähe etwas zugeraunt hätte. Das Raunen setzte sich durch die ganze Menge fort, und plötzlich wurde ich von Dutzenden angespannter Augen angestarrt. Ich blieb stolpernd stehen und war verunsichert, aber der Weg vor mir wurde schlagartig frei, als alle zur Seite gingen. Ich eilte vor und blieb dann schockiert stehen.

Auf dem Boden kniete ein dünner, alter Mann nackt und angekettet in einer Blutlache. Sein weißes, langes Haar hing strähnig in sein Gesicht und verdeckte es zum Teil. Ich konnte hören, dass er rasselnd nach Atem rang. Seine Haut war mit Platzwunden übersät. Wenn nur sein Rücken betroffen gewesen wäre, hätte ich vermutet, dass man ihn ausgepeitscht hatte. Aber es war nicht nur sein Rücken, es waren seine Beine, seine Arme, seine Wangen und sein Kinn. Er kniete, und jetzt sah ich Schnitte auf den Sohlen seiner Füße. Er drückte sich mit den Außenseiten seiner Handgelenke schwankend hoch, und ich konnte erkennen, dass beide ein Loch aufwiesen, durch das man deutlich Knochen und Sehnen erkennen konnte.

Noch ein Ketzer?, fragte ich mich verwirrt.

»Ich habe mich schon gefragt, wie viel Blut ich vergießen muss, bevor jemand nach dir schickt«, sagte eine grausame Stimme neben mir, und als ich mich herumdrehte, kam etwas auf mein Gesicht zu. Ich riss meine Hände instinktiv hoch und fühlte, wie sich ein dünner, heißer Strich über meine Handflächen zog; etwas hatte mich geschnitten.

Ich wartete nicht lange genug, um den genauen Schaden festzustellen, sprang zurück und zog mein Messer. Meine Hände funktionierten noch, obwohl der Griff wegen des Blutes rutschig war. Ich verlagerte ihn in eine verteidigende Haltung und duckte mich, bereit zum Kampf.

Mir gegenüber stand Scimina, gewandet in glänzendes, weißgraues Satin. Die Blutflecken, die auf ihr Kleid gespritzt waren, wirkten wie winzige Rubine. Die Flecken auf ihrem Gesicht sahen allerdings nur wie Blut aus. In ihren Händen befand sich etwas, das ich nicht sofort als Waffe erkannte — ein langer, silberner Stab, der reich verziert und etwa drei Fuß lang war. Aber an der Spitze befand sich eine kurze, zweiseitige Klinge, die so dünn war wie das Skalpell eines Chirurgen und aus Glas bestand. Das

Ganze war zu kurz und hatte die falsche Gewichtsverteilung, um ein Speer zu sein. Es sah eher wie ein aufwändig gestalteter Füllfederhalter aus. War das eine Amn-Waffe?

Scimina grinste wegen meiner gezogenen Klinge. Anstatt aber ihre Waffe zu erheben, wandte sie sich ab und lief weiterhin in dem Kreis, den die Menge um den alten Mann herum gebildet hatte. »Ach, wie barbarisch. Du kannst kein Messer gegen mich benutzen, Cousine; es würde zerbrechen. Unsere Blutsiegel verhindern lebensbedrohliche Angriffe. Ehrlich, du bist so unwissend. Was machen wir nur mit dir?«

Ich blieb in der Hocke und hielt trotzdem mein Messer fest, dabei drehte ich mich, um sie im Auge zu behalten, während sie sich bewegte. Dadurch bemerkte ich Gesichter in der Menge, die ich erkannte. Einige der Diener, die auf der Feuertagsparty gewesen waren. Einige von Dekartas Höflingen. T’vril, mit blutleeren Lippen und steif; sein Blick hatte sich irgendwie warnend auf mich geheftet. Viraine stand ein Stück vor dem Rest der Menge. Er hatte die Arme verschränkt und starrte gelangweilt in die Ferne.

Zhakkarn und Kurue. Warum waren sie hier? Sie beobachteten mich ebenfalls. Zhakkarns Ausdruck war hart und kalt. Ich hatte sie noch nie so deutlich Ärger zeigen sehen. Kurue war auch wütend — ihre Nasenflügel bebten, und sie hielt die Hände an ihre Seite gedrückt. Der Ausdruck in ihren Augen hätte mich zerfetzt, wenn sie gekonnt hätte. Aber Scimina zerfetzte bereits jemanden, also konzentrierte ich mich erst einmal auf die größere Bedrohung.

»Setz dich hin!«, brüllte Scimina, und der alte Mann zuckte hoch, als ob er an Fäden hinge. Ich konnte jetzt sehen, dass auf seinem Körper weniger Schnitte waren. Aber während ich hinsah, ging Scimina an ihm vorbei, machte eine kurze Bewegung mit dem Stab, und ein weiterer langer, tiefer Schnitt öffnete sich am Bauch des alten Mannes. Er schrie erneut auf, seine Stimme war heiser. Dann öffnete er die Augen, die er vorher instinktiv als Reaktion auf den Schmerz geschlossen hatte. In dem Moment stockte mir der Atem, weil die Augen des alten Mannes grün waren. Dann dämmerte es mir, dass die Form des Gesichtes mir bekannt vorkommen würde, wenn es sechzig Jahre jünger wäre ... Liebste Götter, liebster Elysiumvater — es war Si’eh.

»Ah«, sagte Scimina, die mein Keuchen richtig interpretierte. »Das spart Zeit. Du hattest recht, T’vril, sie ist hingerissen von ihm. Hast du einen deiner Leute geschickt, um sie zu holen? Sag dem Narren, er soll nächstes Mal schneller sein.«

Ich starrte T’vril wütend an, der offensichtlich nicht nach mir geschickt hatte. Sein Gesicht war noch blasser als sonst, aber die seltsame Warnung stand immer noch in seinen Augen. Ich hätte beinahe verwirrt die Stirn gerunzelt, aber ich spürte Sci- minas Blick wie einen Geier, der über meinem Gesichtsausdruck schwebte und bereit war, über die Gefühle, die ans Licht kamen, herzufallen. Also übte ich mich in Ruhe, wie meine Mutter es mir beigebracht hatte. Ich erhob mich aus der Kampfhaltung, aber ich senkte das Messer nur und steckte es nicht wieder in die Scheide zurück. Scimina wusste das wahrscheinlich nicht, aber unter Darre war das ein Zeichen von Respektlosigkeit — ein Zeichen, dass ich ihr nicht zutraute, sich wie eine Frau zu benehmen.

»Ich bin jetzt hier«, sagte ich zu ihr. »Also sag, was du willst.«

Scimina stieß ein kurzes, scharfes Lachen aus. Sie blieb die ganze Zeit nicht stehen. »Sagen, was ich will. Sie klingt so kämpferisch, nicht wahr?« Sie schaute sich in der Menge um, aber niemand antwortete ihr. »So stark. Winziges, schlecht erzogenes, lächerliches kleines Ding — was DENKST du denn, was ich will, du Närrin?« Das Letzte schrie sie mir entgegen. Sie hatte ihre Fäuste geballt, und der seltsame Stab zitterte. Ihre Haare lösten sich allmählich aus der aufwändigen Frisur, die aber immer noch schön anzusehen war. Sie sah auf exquisite Weise verrückt aus.

»Ich denke, dass du Dekartas Erbin sein willst«, sagte ich leise, »und mögen die Götter der ganzen Welt helfen, sollte das eintreten.«

Blitzschnell wandelte Scimina sich von der kreischenden Irren zu lächelndem Charme. »Stimmt. Und ich wollte mit deinem Land anfangen und es gründlich vom Angesicht der Erde löschen. Ich hätte damit inzwischen sogar schon angefangen, wenn das Bündnis, das ich in dieser Region so sorgfältig eingefädelt hatte, nicht gerade dabei wäre, zu zerfallen.« Sie marschierte weiter, warf mir über die Schulter einen Blick zu und drehte den Stab vorsichtig in ihren Händen. »Ich dachte zunächst, das Problem wäre die alte Hochnordfrau, die du im Salon getroffen hast. Aber ich habe das nachgeprüft — sie hat dir nur Informationen gegeben, die meisten davon unnütz. Also hast du etwas anderes angerichtet. Würdest du mir das erklären?«

Mir gefror das Blut in den Adern. Was hatte Scimina mit Ras Onchi gemacht? Dann schaute ich Si’eh an, der sich ein wenig erholt hatte, obwohl er immer noch schwach und von Schmerzen benebelt wirkte. Er heilte nicht, was keinen Sinn ergab. Ich hatte Nahadoth mitten ins Herz gestochen, und das war für ihn kaum ein Ärgernis gewesen. Trotzdem hatte es eine Zeit gedauert, bis er heilte, erkannte ich, und mir wurde eiskalt. Vielleicht, wenn man ihn eine Zeit lang in Ruhe ließ, würde Si’eh sich auch erholen. Es sei denn ... Itempas hatte die Enefadeh in menschlicher Form gefangen, damit sie alle Schrecken der Sterblichkeit erlitten. Schloss das den Tod ein? Schweiß brannte in den Schnitten an meinen Händen. Es gab Dinge, die war ich nicht bereit zu erdulden.

Aber dann erzitterte der Palast. Einen Moment lang fragte ich mich, ob diese Erschütterung eine neue Bedrohung darstellte, aber dann fiel es mir ein.

Sonnenuntergang.

»Oh, Dämonen«, murmelte Viraine in dem allgemeinen Schweigen. Kurz darauf wurden ich und jede Person in dem Raum von einem bitterkalten, schmerzhaften Windstoß zu Boden geschleudert.

Ich brauchte einen Moment, um mich wieder hochzukämpfen. Als es mir gelungen war, war mein Messer weg. Um mich herum herrschte Chaos — ich hörte schmerzerfülltes Stöhnen, Flüche und Alarmrufe. Als ich einen Blick Richtung Aufzug warf, konnte ich einige Menschen sehen, die sich durch die Öffnung zwängten und versuchten, sich hineinzudrängeln. Aber all das war vergessen, als ich in die Mitte des Raumes schaute.

Es war schwer, Nahadoths Gesicht zu sehen. Er kauerte bei Si’eh, sein Kopf war gebeugt, und die Schwärze seiner Aura war so, wie sie in meiner ersten Nacht in Elysium gewesen war — so finster, dass es im Kopf schmerzte. Ich konzentrierte mich auf den Boden, wo die Ketten, die Si’eh gefangen gehalten hatten, zerschmettert lagen. Ihre Glieder waren mit Reif überzogen. Si’eh selber konnte ich nicht sehen — nur eine seiner Hände, die schlaff herunterhing. Dann legte sich Nahadoths Umhang um ihn, und die Dunkelheit verschluckte ihn.

»Scimina.« Da war wieder dieses Hohle, Hallende in Nahadoths Stimme. Hatte der Wahnsinn ihn wieder? Nein, das war schlicht und einfach Wut.

Aber Scimina, die auch auf den Boden geschleudert worden war, stellte sich auf ihre stöckelbeschuhten Füße und nahm sich zusammen. »Nahadoth«, sagte sie, ruhiger, als ich es mir hätte vorstellen können. Ihre Waffe war ebenfalls verschwunden, aber sie war eine wahre Arameri und hatte keine Angst vor dem Zorn des Gottes. »Wie nett, dass du dich auch schon zu uns gesellst. Setz ihn ab.«

Nahadoth stand da und warf seinen Umhang zurück. Si’eh, der jetzt ein junger Mann war — in einem Stück, bekleidet und hellwach — stand neben ihm und starrte Scimina trotzig an. Irgendwo tief in mir ließ die Anspannung etwas nach.

»Wir hatten eine Abmachung«, sagte Nahadoth, und in seiner Stimme lag immer noch Mordlust.

»In der Tat«, sagte Scimina, und jetzt war es ihr Lächeln, das mir Angst machte. »Du und Si’eh, ihr werdet beide diesem Zweck dienen. Knie nieder.« Sie zeigte auf die Blutlache und die leeren Ketten.

Das Gefühl der Macht schwoll für einen kurzen Moment in dem Raum an, so wie Druck sich auf ein Trommelfell legt. Die Wände knarrten. Ich erschauerte und fragte mich, ob dies das Ende war. Scimina hatte einen Fehler gemacht, hatte eine Lücke gelassen, und jetzt würde Nahadoth uns alle wie Insekten zerquetschen.

Aber dann bewegte Nahadoth sich zu meinem Entsetzen von Si’eh weg und ging in die Mitte des Raums. Er kniete sich hin.

Scimina drehte sich dorthin um, wo ich immer noch halb auf dem Boden lag. Beschämt stand ich auf. Ich war überrascht zu sehen, dass wir immer noch Zuschauer hatten, wenn auch wenige. T’vril, Viraine, eine Handvoll Diener und etwa zwanzig von hohem Geblüt. Ich vermute, dass die von hohem Geblüt sich von Seiminas Furchtlosigkeit inspirieren ließen.

»Das wird dir eine Lehre sein, Cousine«, sagte sie in dem süßen, höflichen Ton, den ich so sehr hasste. Sie nahm ihre Wanderung wieder auf und beobachtete Nahadoth mit einem Ausdruck, der beinahe begeistert war. »Wenn du hier in Elysium aufgewachsen wärest oder wenn deine Mutter dich vernünftig erzogen hätte, dann würdest du das wissen ... aber erlaube mir, zu erklären. Es ist schwer, einen Enefadeh zu verletzen. Ihre menschlichen Körper reparieren sich ständig und schnell, dank des Wohlwollens unseres Vaters Itempas. Aber sie haben Schwächen, Cousine, man muss sie nur verstehen. Viraine.«

Viraine war ebenfalls aufgestanden, obwohl er sein linkes Handgelenk zu schonen schien. Er sah Scimina misstrauisch an. »Ihr übernehmt bei Dekarta die Verantwortung?«

Blitzschnell drehte sie sich zu ihm um. Wäre der Stab noch in ihrer Hand gewesen, hätte Viraine eine tödliche Wunde erleiden können. »Dekarta wird in einigen Tagen tot sein, Viraine. Er ist es nicht, vor dem du dich fürchten solltest.«

Viraine gab nicht nach. »Ich tue nur meine Arbeit, Scimina, und weise Euch auf die Konsequenzen hin. Es könnte Wochen dauern, bevor er wieder einsatzfähig ist ...«

Scimina gab ein Geräusch primitiver Frustration von sich.»Sehe ich so aus, als ob mich das kümmert?«

Einen spannungsgeladenen Moment lang standen die beiden sich gegenüber, und ich dachte wirklich, dass Viraine eine Chance hatte. Sie waren beide Vollblut-Arameri. Aber Viraine war nicht in der Linie der Thronfolger, Scimina aber war es — am Ende hatte Scimina recht. Dekartas Wille zählte nicht mehr.

Ich schaute zu Si’eh, der Nahadoth anstarrte. Auf seinem viel zu alten Gesicht lag ein nicht zu deutender Ausdruck. Beide waren Götter, die älter waren als das Leben auf der Erde. Ich konnte mir die Spanne einer solchen Existenz nicht vorstellen. Ein Tag voller Schmerzen war vielleicht nicht von Bedeutung für sie — aber für mich.

»Genug«, sagte ich leise. Das Wort war in der ganzen Arena zu hören. Viraine und Scimina schauten mich überrascht an. Si’eh wirbelte ebenfalls herum und starrte mich verwirrt an. Und Nahadoth ... nein. Ich konnte ihn nicht ansehen. Er würde mich für das hier als schwach ansehen.

Nicht schwach, ermahnte ich mich. Menschlich. Wenigstens bin ich das noch.

»Genug«, sagte ich noch einmal und hob meinen Kopf mit dem wenigen mir verbliebenen Stolz. »Hör auf damit. Ich sage dir, was du wissen willst.«

»Yeine«, sagte Si’eh und klang entsetzt.

Scimina grinste. »Selbst wenn du nicht das Opfer wärest, Cousine, hättest du nie Großvaters Erbin sein können.«

Ich starrte sie wütend an. »Das sehe ich als Kompliment an, Cousine, wenn du das Vorbild bist, dem ich folgen sollte.«

Seiminas Gesicht zog sich zusammen, und einen Augenblick glaubte ich, sie würde mich anspucken. Stattdessen wandte sie sich ab und lief um Nahadoth herum, diesmal aber langsamer. »An welches Mitglied des Bündnisses bist du herangetreten?«

»Minister Gemd von Menchey.«

»Gemd?« Scimina stutzte. »Wie hast du ihn überredet? Er wollte diese Chance noch mehr als alle anderen.«

Ich atmete tief ein. »Ich hatte Nahadoth bei mir. Seine Überredungskünste sind ... beeindruckend, wie du sicherlich weißt.«

Scimina lachte auf — aber ihr Blick war nachdenklich, als sie erst mich ansah und dann ihn. Nahadoth blickte ins Leere, wie er es die ganze Zeit getan hatte, seit er kniete. Er hätte über Angelegenheiten, die außerhalb des menschlichen Denkvermögens lagen, genauso gut nachdenken können wie über die Farben von T’vrils Hose.

»Interessant«, sagte Scimina. »Zumal ich sicher bin, dass Großvater den Enefadeh nicht den Befehl gegeben hätte, das für dich zu tun. Das bedeutet, dass unser Lord der Finsternis eigenmächtig beschlossen hat, dir zu helfen. Wie um alles in der Welt hast du das geschafft?«

Ich zuckte mit den Schultern, obwohl ich mich plötzlich alles andere als entspannt fühlte. Dumm, dumm. Ich hätte die Gefahr dieser Fragenkette erkennen müssen. »Er schien es belustigend zu finden. Es gab ... einige Todesfälle.« Ich versuchte, unbehaglich dreinzuschauen, und das war nicht weiter schwer. »Ich hatte das nicht beabsichtigt, aber sie waren wirkungsvoll.«

»Ich verstehe.« Scimina blieb stehen, verschränkte ihre Arme und trommelte mit den Fingern. Mir gefiel der Ausdruck in ihren Augen nicht, obwohl er Nahadoth galt. »Und was hast du noch getan?«

Ich runzelte die Stirn. »Was noch?«

»Wir halten die Enefadeh an der kurzen Leine, Cousine, und die von Nahadoth ist die kürzeste. Wenn er den Palast verlässt, weiß Viraine davon. Und Viraine sagt mir, dass er zweimal fortgegangen ist, in zwei verschiedenen Nächten.«

Dämonen. Warum im Namen des Vaters hatten die Enefadeh mir nichts davon gesagt? Verdammte Geheimniskrämerei... »Ich bin nach Darr gegangen, um meine Großmutter zu besuchen.«

»Zu welchem Zweck?«

Um zu begreifen, warum meine Mutter mich an die Enefadeh verkauft hat .. .

Ich riss meine Gedanken davon los und verschränkte meine Arme. »Weil ich sie vermisse. Nicht, dass du so etwas verstehen würdest.«

Sie drehte sich herum, um mich anzusehen. Ein träges Lächeln umspielte langsam ihre Lippen, und plötzlich wurde mir klar, dass ich einen Fehler gemacht hatte. Aber welchen? Hatte meine Beleidigung sie so getroffen? Nein, es war etwas anderes.

»Du hast nicht deinen Verstand für eine Reise mit dem Lord der Finsternis aufs Spiel gesetzt, um mit einer alten Hexe Freundlichkeiten auszutauschen«, sagte Scimina. »Sag mir, warum du wirklich dorthin gegangen bist.«

»Um mir den Kriegsantrag bestätigen zu lassen und das Bündnis gegen Darr.«

»Und? Das ist alles?«

Ich dachte schnell nach, aber nicht schnell genug. Vielleicht war es aber auch mein verunsicherter Ausdruck, der sie aufmerksam werden ließ. Sie warf mir ein »tss« entgegen. »Du verschweigst mir etwas. Und ich will wissen, was. Viraine!«

Viraine seufzte und wandte sich Nahadoth zu. Ein seltsamer, beinahe versonnener Ausdruck huschte über sein Gesicht. »Ich würde nicht so entscheiden«, sagte er leise.

Nahadoths Blick flog zu ihm und ruhte kurz auf ihm; er sah ein wenig überrascht aus. »Du musst das tun, was dein Lord verlangt.« Dieser »Lord« war nicht Dekarta, sondern Itempas.

»Das ist nicht sein Wille«, sagte Viraine und schaute finster. Dann schien er sich selbst zur Ordnung zu rufen, warf Scimina einen letzten, wütenden Blick zu und schüttelte seinen Kopf. »Also gut.«

Er griff in eine der Taschen seines Umhangs und ging neben Nahadoth in die Hocke. Auf seinen Oberschenkel legte er ein kleines Papierviereck. Darauf war wie ein Spinnennetz ein flüssiges Gottessiegel gemalt. Irgendwie — ich weigerte mich, darüber nachzudenken, woher — wusste ich, dass dort eine Linie fehlte. Dann zog Viraine einen Pinsel mit abgedeckter Spitze hervor.

Mir war übel. Ich machte einen Schritt vor und hob eine blutverschmierte Hand, um zu protestieren — und hielt inne, als meine Augen Nahadoths trafen. Sein Gesicht war leidenschaftslos, der Blick träge und uninteressiert, aber mein Mund wurde trotzdem trocken. Er wusste noch viel besser als ich, was nun folgte. Er wusste, dass ich es aufhalten konnte. Aber das konnte ich nur, wenn ich das Geheimnis von Enefas Seele preisgab.

Aber die Alternative ...

Scimina beobachtete diesen Austausch und lachte. Dann kam sie zu mir herüber und nahm mich bei der Schulter. Wie ekelhaft. »Ich muss deinen Geschmack loben, Cousine. Er ist großartig, nicht wahr? Ich habe mich oft gefragt, ob es einen Weg gibt ... aber natürlich gibt es den nicht.«

Sie beobachtete Viraine, der das viereckige Papierstück neben Nahadoth auf einen Fleck des Bodens legte, der nicht von Si’ehs Blut verunziert war. Dann nahm Viraine die Kappe von dem Pinsel, beugte sich über das Viereck und zeichnete sehr sorgfältig eine einzige Linie.

Licht flutete von der Decke herab, als ob jemand genau zur Mittagszeit ein riesiges Fenster geöffnet hätte. Es gab allerdings keine Öffnung in der Decke, dies war allein die Macht der Götter, die den physikalischen Gesetzen des Menschenreichs trotzte und aus Nichts etwas erschaffen konnte. Nach dem relativ gedämpften Licht der sanften, blassen Wände Elysiums war das hier viel zu hell. Ich legte eine Hand vor meine Augen und hörte unbehagliches Gemurmel von den verbliebenen Zuschauern.

Nahadoth kniete im Zentrum des Lichts, sein Schatten unbeweglich zwischen den Ketten und dem Blut. Ich hatte seinen Schatten noch nie gesehen. Zunächst schien das Licht ihm nicht zu schaden — aber dann wurde mir klar, was sich verändert hatte. Ich hatte seinen Schatten schon einmal gesehen. Der lebende Nimbus, der ihn sonst umgab, ließ das durch sein ständiges Drehen, Umherpeitschen und Überlappen nicht zu. Er setzte sich eigentlich nicht von seiner Umgebung ab, sondern verschmolz damit. Aber jetzt war dieser Nimbus nur noch langes schwarzes Haar, das sich über seinen Rücken legte und wie ein ausladender Umhang wirkte, der sich über seine Schultern ergoss. Sein ganzer Körper war bewegungslos.

Dann stieß Nahadoth ein leises Geräusch aus, das fast wie ein Stöhnen klang, und sein Haar und sein Umhang fingen an zu kochen.

»Pass genau auf«, murmelte Scimina an meinem Ohr. Sie war hinter mich getreten und lehnte sich wie eine liebe Gefährtin an meine Schulter. Ich konnte den Genuss in ihrer Stimme hören. »Schau, woraus deine Götter bestehen.«

Da ich wusste, dass sie dort stand, sorgte ich dafür, dass mein Gesicht keine Regung zeigte. Ich reagierte nicht, als die Oberfläche von Nahadoths Rücken Blasen warf und sich wie heißer Teer verflüssigte. Schwarze Fäden kringelten sich um ihn herum in die Luft und verdunsteten mit rasselndem Zischen. Nahadoth kippte langsam nach vorne und drückte sich an den Boden, als ob das Licht ihn durch ein unsichtbares Gewicht zerquetschte. Seine Hände landeten in Si’ehs Blut, und ich sah, dass sie ebenfalls kochten. Die unnatürlich weiße Haut wellte sich und drehte sich dann wie blasse, pilzartige Tentakel auf. Entfernt hörte ich, wie einer der Zuschauer würgte. Ich konnte Nahadoths Gesicht nicht unter dem herabhängenden, schmelzenden Haar sehen — aber wollte ich das überhaupt? Er hatte keine richtige Form. Ich wusste, dass alles, was ich von ihm gesehen hatte, eine Hülle war. Aber liebster Vater, liebstes Elysium, ich mochte diese Hülle und fand sie wunderschön. Ich konnte es nicht ertragen, jetzt ihre Ruine zu sehen.

Etwas Weißes schimmerte durch seine Schulter. Zuerst dachte ich, es wäre Knochen, und mir wurde speiübel. Aber es war kein Knochen, es war Haut. Blass wie die von T’vril, aber ohne die Flecken. Und sie bewegte sich, als sie sich durch die geschmolzene Schwärze nach oben schob.

Und dann sah ich ...


Und sah nicht.

Eine strahlende Cestalt — die mein Geist nicht sah — stand über einer formlosen schwarzen Masse — die mein Geist nicht sehen konnte — und tauchte ihre Hände immer wieder in diese Masse. Sie riss sie nicht auseinander. Sie hämmerte — schlug — brutalisierte sie in Form. Die Masse schrie und wehrte sich verzweifelt, aber die glänzenden Hände kannten keine Gnade. Sie tauchten erneut hinein und rissen Arme heraus. Sie quetschten die formlose Schwärze, bis sie Beine bekam. Sie stießen in die Mitte und zerrten einen Torso heraus. Dann, während die Hand noch bis zum Handgelenk im Bauch steckte; griff sie zu, um ein Rückgrat herbeizuzwingen. Als Letztes wurde ein Kopf hervorgerissen, der kaum menschliche Züge und eine Glatze hatte. Ansonsten war er unkenntlich. Sein Mund war offen und kreischte, in seinen Augen stand der blanke Wahnsinn, verursacht durch Schmerzen jenseits dessen, was Sterbliche ertragen konnten. Aber natürlich war dies kein Sterblicher.

Das ist es, was du willst, knurrte der Strahlende, seine Stimme ist wild, aber dies sind keine Worte, und ich höre sie nicht. Es ist Wissen, das sich in meinem Kopf befindet. Diese Abscheulichkeit, die sie erschaffen hat. Du würdest sie mir vorziehen? Dann nimm ihr »Geschenk« ... nimm es ... nimm es und vergiss nie, dass du ... das hier ... gewählt hast ...


Ich bemerkte, dass der Strahlende sogar bei der Ausführung dieser Gewalttat weinte.

Und irgendwo tief in mir drin schrie jemand, aber ich war es nicht, obwohl ich auch schrie. Und wir konnten uns kein Gehör verschaffen. Die Schreie der neu erschaffenen Kreatur, die auf dem Boden lag, waren zu laut, und ihr Leiden hatte gerade erst begonnen ...


Der Arm renkte sich mit einem Laut aus Nahadoth heraus, der mich an gekochtes Fleisch erinnerte. Dasselbe saftige, ploppen- de Geräusch ertönt, wenn man eine Haxe abreißt. Nahadoth war auf allen vieren und zitterte am ganzen Körper, als der zusätzliche Arm blindlings herumzappelte und dann Halt auf dem Boden neben ihm fand. Ich konnte jetzt sehen, dass er blass war, aber nicht das Mondweiß, das ich kannte. Dies war ein viel banaleres, menschliches Weiß. Dies war sein Tages-Ich, das sich einen Weg durch die Gottesfassade bahnte, mit der es bei Nacht bedeckt war. Es war eine grausige Parodie auf eine Geburt.

Ich bemerkte, dass er nicht schrie. Außer dem ersten, unvollkommenen Geräusch blieb Nahadoth still, obwohl sich ein anderer Körper aus seinem schälte. Das machte es irgendwie schlimmer, weil sein Schmerz so offensichtlich war. Ein Schrei hätte mein Entsetzen gemildert, aber wohl nicht seine Qual.

Viraine stand neben ihm und beobachtete ihn einen Moment, dann schloss er die Augen und seufzte.

»Das kann noch Stunden dauern«, sagte Scimina. »Es würde natürlich schneller gehen, wenn das hier echtes Sonnenlicht wäre, aber darüber kann einzig und allein der Elysiumvater verfügen. Dies ist nur eine armselige Imitation.« Sie warf Viraine einen verächtlichen Blick zu. »Mehr als genug allerdings für meine Zwecke, wie du siehst.«

Ich biss mir auf die Zähne. Auf der anderen Seite des Kreises, durch die Lichtsäule und den Nebel, der durch Nahadoths dampfendes Gottesfleisch entstanden war, konnte ich Kurue sehen. Sie sah mich einmal verbittert an und schaute dann weg. Zhakkarns Blick ruhte auf Nahadoth. So zeigten Krieger, dass sie Leiden anerkannten und respektierten; sie würde den Blick nicht abwenden. Ich ebenfalls nicht. Aber Götter, Götter!

Si’eh ging in den Lichtkreis, fing dabei meinen Blick auf und ließ ihn nicht mehr los. Das Licht konnte ihm nichts anhaben, da es nicht seine Schwäche war. Er kniete neben Nahadoth und hielt den sich auflösenden Kopf an seine Brust. Dann umschlang er mit seinen Armen die bebenden Schultern — alle drei. Während der ganzen Zeit beobachtete Si’eh mich mit einem Ausdruck, den die anderen wahrscheinlich für Hass hielten. Ich wusste es besser.

Sieh her, sagten die grünen Augen, die meinen so ähnlich waren, aber so viel älter. Schau, was wir erdulden. Und dann lass uns frei.

Das werde ich, antwortete ich aus ganzer Seele — auch aus Ene- fas. Das werde ich.

Ich wusste es nicht. Egal, was sonst noch geschah, Itempas liebte Naha. Ich hätte nie gedacht, dass sich das in Hass verwandeln könnte.

»Wie zur unendlichen Hölle kommst du darauf, dass das Hass war?«

Ich warf Scimina einen Blick zu und seufzte.

»Versuchst du, in mir so viel Übelkeit zu erregen, dass ich antworte?«, fragte ich. »Noch mehr Dreck auf dem Boden? Das ist alles, was diese Farce bringen wird.«

Sie lehnte sich zurück und hob eine Augenbraue. »Kein Mitleid für deinen Verbündeten?«

»Der Lord der Finsternis ist nicht mein Verbündeter«, fuhr ich sie an. »Wie jeder in diesem Albtraumnest mich wiederholt gewarnt hat, ist er ein Ungeheuer. Aber da er sich nicht von dem Rest von euch, der mich tot sehen will, unterscheidet, dachte ich, dass ich wenigstens seine Macht ausnutzen kann, um meinem Volk zu helfen.«

Scimina sah skeptisch aus. »Und welche Hilfe hat er dir ange- deihen lassen? Du hast dich doch in der nächsten Nacht in Men- chey bemüht.«

»Keine, die Dämmerung kam zu schnell. Aber ...« Ich zögerte an dieser Stelle, dachte an die Arme meiner Großmutter und den Geruch der feuchten Darr-Luft in jener Nacht. Ich vermiss- te sie wirklich und Darr und den ganzen Frieden, den ich dort einmal gekannt hatte. Vor Elysium. Vor dem Tod meiner Mutter.

Ich senkte meine Augen und ließ meinen echten Schmerz durchscheinen. Nur das würde Scimina beschwichtigen.

»Wir haben über meine Mutter gesprochen«, sagte ich ein wenig leiser. »Und andere Dinge, persönliche Dinge — nichts davon wäre irgendwie wichtig für dich.« Mit diesen Worten sah ich sie wütend an. »Und selbst wenn du diese Kreatur die ganze Nacht hindurch röstest, werde ich dir diese Dinge nicht mitteilen.«

Scimina schaute mich lange an. Ihr Lächeln war verschwunden, ihre Augen analysierten mein Gesicht. Schließlich gab Nahadoth zwischen uns einen weiteren Ton von sich. Durch seine Zähne hindurch knurrte er wie ein Tier. Dann folgten noch mehr furchtbare, reißende Geräusche. Ich verhinderte, dass ich mich darum scherte, indem ich Scimina hasste.

Schließlich seufzte sie und ging von mir weg. »So sei es denn«, sagte sie. »Es war ein kläglicher Versuch, Cousine. Dir muss doch klar gewesen sein, dass er so gut wie keine Aussicht auf Erfolg hatte. Ich werde mich mit Gemd in Verbindung setzen und ihm sagen, dass er den Angriff fortsetzen soll. Sie werden eure Hauptstadt übernehmen und jeglichen Widerstand im Keim ersticken. Obwohl ich ihnen sagen werde, dass sie dein Volk momentan noch nicht abschlachten sollen — jedenfalls nicht mehr als nötig.«

Jetzt lagen die Karten also auf dem Tisch: Ich musste ihr zu Willen sein, oder sie würde die Mencheyev loslassen, um mein Volk auszulöschen. Ich runzelte die Stirn. »Welche Garantie habe ich, dass du sie nicht trotzdem töten wirst?«

»Gar keine. Nach dieser Torheit bin ich versucht, das aus reiner Bosheit zu tun. Aber wenn ich so darüber nachdenke, ist es mir glaube ich lieber, dass die Darre überleben. Ich vermute, dass ihr Leben wenig angenehm sein wird. Das ist Sklaverei selten — obwohl wir das natürlich anders nennen werden.« Sie warf Nahadoth einen amüsierten Blick zu. »Aber sie werden leben, Cousine, und wo Leben ist, da ist Hoffnung. Ist dir das nichts wert? Eine ganze Welt vielleicht?«

Ich nickte langsam, obwohl mein Magen sich erneut umdrehte. Ich würde nicht kriechen. »Das wird für den Moment reichen.«

»Für den Moment?« Scimina starrte mich ungläubig an und fing dann an zu lachen. »Oh, Cousine. Manchmal wünschte ich, dass deine Mutter noch am Leben wäre. Sie hätte mir wenigstens eine echte Herausforderung geboten.«

Ich hatte mein Messer verloren, aber ich war immer noch Darre. Ich wirbelte herum und schlug sie so fest, dass sie einen ihrer hochhackigen Schuhe verlor, als sie auf dem Boden aufschlug.

»Möglich«, sagte ich, während sie noch blinzelte, weil sie schockiert war und hoffentlich eine Gehirnerschütterung hatte. »Aber meine Mutter war zivilisiert.«

Ich hielt meine Fäuste so fest an meinen Seiten geballt, dass sie wehtaten, wandte der ganzen Arena den Rücken zu und ging hinaus.

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