Magier

Während der Lord der Finsternis zu Boden sank, ließ er Si’eh fallen, und ich wäre auch beinahe gestürzt. Ich hatte keine Ahnung, warum ich noch lebte. In den Geschichten über die Waffen der Arameri wurde immer erzählt, wie sie ganze Armeen abschlachteten. Es gab keine Geschichten über verrückt gewordene Barbarinnen, die sich wehrten.

Zu meiner großen Erleichterung stemmte sich Si’eh hoch auf seine Ellenbogen. Ihm schien nichts zu fehlen, obwohl seine Augen beim Anblick von Nahadoths regungslosem Körper kugelrund wurden. »Schau, was du angerichtet hast!«

»Ich ...«, ich zitterte so sehr, dass ich fast nicht sprechen konnte. »Ich wollte nicht ... er war dabei, dich zu töten. Das konnte ich ...«, ich schluckte schwer, »... nicht zulassen.«

»Nahadoth hätte Si’eh nicht getötet«, sagte eine neue Stimme hinter mir. Das war zu viel für meine Nerven. Ich sprang auf und griff nach dem Messer, das sich nicht länger in seiner Scheide hinter meinem Rücken befand. Eine Frau löste sich aus dem geräuschlosen Dahintreiben von Si’ehs Spielzeugen. Als Erstes bemerkte ich, dass sie riesig war, wie die großen Kriegsschiffe der Ken. Sie war auch wie eins dieser Schiffe gebaut, breit und kraftvoll, aber gleichzeitig erstaunlich anmutig. Sie hatte kein Gramm Fett zu viel. Ihre Rasse konnte ich nicht erahnen, weil keine Frau irgendeiner Rasse, die ich kannte, so verdammt groß war.

Sie kniete sich hin, um Si’eh aufzuhelfen. Si’eh zitterte ebenfalls, allerdings vor Aufregung. »Hast du gesehen, was sie gemacht hat?«, fragte er die Neuangekommene. Er zeigte auf Nahadoth und grinste dabei.

»Ja, ich habe es gesehen.« Die Frau stellte Si’eh auf seine Füße und wandte sich mir zu, um mich für einen Moment anzuschauen. Selbst auf Knien war sie noch größer als Si’eh, der stand. Ihre Kleidung war einfach: graue Tunika, graue Hose — und ein graues Tuch bedeckte ihre Haare. Vielleicht lag es an diesem Grau, aber nach dem erbarmungslosen Schwarz des Lords der Finsternis schien sie mir eine im Wesentlichen sanfte Ausstrahlung zu haben.

»Es gibt keinen größeren Krieger als eine Mutter, die ihr Kind beschützt«, sagte die Frau. »Aber Si’eh ist bei Weitem nicht so zerbrechlich wie Ihr, Lady Yeine.«

Ich nickte langsam und ließ nicht zu, dass ich mir wie eine Närrin vorkam. Logik hatte mit dem, was ich getan hatte, nichts zu tun.

Si’eh kam herüber und nahm meine Hand. »Trotzdem danke«, sagte er schüchtern. Der violette, hässliche Handabdruck um seinen Hals verblasste zusehends.

Wir alle schauten hinüber zu Nahadoth. Er kniete immer noch so, wie er zusammengesackt war, das Messer steckte bis zum Heft in seiner Brust, und sein Kopf \Var vornübergefallen. Die graue Frau seufzte leise, ging zu ihm hin und zog das Messer heraus. Ich hatte gespürt, wie es sich in den Knochen bohrte, aber sie zog es mit Leichtigkeit heraus. Sie betrachtete es, schüttelte den Kopf und bot es mir dann mit dem Heft zuerst dar.

Ich zwang mich, es anzunehmen und meine Hand erneut mit dem Blut des Gottes zu besudeln. Meine Hand zitterte so sehr, dass ich der Meinung war, sie hielt die Klinge fester als notwendig. Aber während ich das Heft besser in den Griff bekam, glitten ihre Finger die Klinge entlang. Als ich das Messer wieder in der Hand hielt, bemerkte ich, dass es nicht nur vom Blut gesäubert war, sondern dass es auch eine andere Form hatte — gekrümmt und feingeschliffen.

»Das steht Euch besser«, sagte die Frau und nickte ernst, als ich sie anstarrte. Gedankenverloren steckte ich das Messer in seine Scheide, die sich hinter meinem Rücken befand; dabei hätte es dort nicht mehr hineinpassen dürfen. Es passte aber — die Scheide hatte ebenfalls ihre Form geändert.

»Aha, Zhakka, du magst sie.« Si’eh lehnte sich an mich, umschlang meine Taille mit seinen Armen, und sein Kopf ruhte an meiner Brust. Unsterblich oder nicht — es lag eine tiefe Unschuld darin, wie er das tat, so dass ich ihn nicht wegschob. Ohne nachzudenken legte ich meinen Arm um ihn, und er stieß einen tiefen, zufriedenen Seufzer aus.

»Ja«, sagte die Frau schlicht. Sie lehnte sich vor und schaute in Nahadoths Gesicht. »Vater?«

Ich sprang nicht auf, weil Si’eh sich an mich lehnte, aber er spürte, wie ich mich versteifte. »Schhhh«, sagte er und streichelte meinen Rücken. Der Berührung fehlte das Kindliche, so dass sie nicht allzu beruhigend wirkte. Kurz darauf bewegte sich Nahadoth.

»Du bist wieder da«, sagte Si’eh und richtete sich mit einem fröhlichen Lächeln auf. Ich ergriff die Gelegenheit und machte einen Schritt weg von Nahadoth. Si’eh ergriff schnell meine Hand und war sehr ernst. »Ist schon gut, Yeine. Er ist jetzt anders. Du bist sicher.«

»Sie wird dir nicht glauben.« Nahadoth klang wie ein Mann, der aus einem tiefen Schlaf erwachte. »Sie wird uns nicht trauen, jetzt nicht mehr.«

»Das ist nicht dein Fehler.« Si’eh klang unglücklich. »Wir müssen es ihr nur erklären, dann wird sie es verstehen.«

Nahadoth sah mich an, woraufhin ich wieder erschreckt aufsprang, obwohl sein Wahnsinn scheinbar verflogen war. Auch seinen anderen Ausdruck sah ich nicht — den, als er meine Hand in seinem Herzblut festhielt und leise, sehnsüchtige Worte flüsterte. Und der Kuss ... nein. Das hatte ich mir eingebildet. So viel war sicher, denn der Lord der Finsternis, der jetzt vor mir saß, wirkte gleichgültig, selbst auf seinen Knien noch majestätisch und voller Verachtung.

»Wirst du verstehen?«, fragte er mich.

Ich konnte nicht anders — als Antwort wich ich noch einen weiteren Schritt zurück.

Nahadoth schüttelte den Kopf, stand auf und nickte der Frau, die Si’eh Zhakka genannt hatte, würdevoll zu. Obwohl Zhakka Nahadoth überragte, gab es keine Frage, wer ranghöher und wer untergeordnet war.

»Wir haben dafür keine Zeit«, sagte Nahadoth. »Viraine wird nach ihr suchen. Gebt ihr das Siegel und lasst es gut sein.« Zhakka nickte und kam auf mich zu. Ich machte einen dritten Schritt zurück, weil mich die Entschlossenheit, die ich in ihren Augen sah, verunsicherte.

Si’eh ließ mich los und stand zwischen uns, ein Floh, der einem Hund die Stirn bot. Er reichte Zhakka kaum bis an die Hüfte. »Es war nicht geplant, dass wir es so tun. Wir hatten uns geeinigt, dass wir versuchen, sie zu überzeugen.«

»Das ist jetzt nicht mehr möglich«, erklärte Nahadoth.

»Und was sollte sie dann davon abhalten, das hier Viraine zu erzählen?«

Si’eh stemmte seine Hände in seine Hüften. Zhakka war stehengeblieben und wartete geduldig darauf, dass der Streit ein Ende fand. Ich fühlte mich vergessen und äußerst unwichtig — was wohl auch so war, wenn man bedenkt, dass ich mich in der Gegenwart dreier Götter befand. Die Bezeichnung ehemalige Götter wollte hier nicht so recht passen.

Nahadoths Gesichtsausdruck zeigte so etwas wie ein Lächeln. Er warf mir einen Blick zu. »Erzähle es Viraine, und wir werden dich töten.« Sein Blick kehrte zu Si’eh zurück. »Zufrieden?«

Ich muss müde gewesen sein. Nach so vielen Drohungen an diesem Abend zuckte ich nicht einmal mehr mit der Wimper.

Si’eh schaute finster drein und schüttelte den Kopf, aber er ließ Zhakka vorbei. »So hatten wir das nicht geplant«, sagte er mit einem Anflug von Gereiztheit.

»Pläne ändern sich«, sagte Zhakka. Dann stand sie vor mir.

»Was habt ihr vor?«, fragte ich. Trotz ihrer Größe fand ich sie nicht halb so beängstigend wie Nahadoth.

»Ich werde deine Stirn mit einem Siegel versehen«, sagte sie. »Einem, das unsichtbar ist. Es wird die Wirkung des Siegels, das du von Viraine bekommen sollst, beeinträchtigen. Du wirst wie eine von ihnen aussehen, aber in Wahrheit wirst du frei sein.«

»Sind sie ...« All die Arameri, die ein Siegel tragen? Meinte sie die? »... nicht frei?«

»Nicht mehr als wir, auch wenn sie das ganz anders sehen«, sagte Nahadoth. Da war es wieder, nur für diesen kurzen Moment, dieses Sanfte, das ich vorher an ihm erlebt hatte. Dann wandte er sich ab. »Beeilt euch.«

Zhakka nickte und berührte meine Stirn mit einer Fingerspitze. Ihre Fäuste waren so groß wie Teller, ihr Finger schien wie ein Brandeisen zu glühen, als er mich berührte. Ich schrie auf und versuchte, ihren Finger beiseitezuschlagen, aber sie nahm ihre Hand schon vorher weg. Sie war fertig.

Si’eh, der sein Schmollen vergessen hatte, schaute prüfend auf die Stelle und nickte weise. »Das wird reichen.«

»Dann bringt sie zu Viraine«, sagte Zhakka. Zum Abschied neigte sie höflich den Kopf vor mir, dann wandte sie sich ab und gesellte sich zu Nahadoth.

Si’eh nahm meine Hand. Ich war so verwirrt und aufgewühlt, dass ich keinen Widerstand leistete, als er mich zu der nächstgelegenen Wand führte. Trotzdem warf ich einmal einen Blick zurück über meine Schulter, um zu sehen, wie der Lord der Finsternis davonging.

Meine Mutter war die schönste Frau der Welt. Ich sage das nicht, weil ich ihre Tochter bin, und auch nicht, weil sie groß und anmutig war und Haare wie wolkenverhangenes Sonnenlicht hatte. Ich sage das, weil sie stark war. Vielleicht habe ich das von den Darre geerbt, aber in meinen Augen war Stärke schon immer ein Zeichen von Schönheit.

Mein Volk war nicht freundlich zu ihr. Niemand sagte es in Anwesenheit meines Vaters, aber ich hörte das Getuschel, wenn sie manchmal durch Arrebaia ging. Amnhure. Knochenblasses Luder. Sie spuckten hinter ihr auf den Boden, um die Straßen von ihrem Arameri-Makel zu reinigen. Trotz all dem bewahrte sie ihre Würde und behandelte genau die Leute mit ausgesuchter Höflichkeit, die sie ihr verweigerten. In einer der wenigen klaren Erinnerungen, die ich an meinen Vater habe, sagte er, dass sie ihnen dadurch überlegen war.

Ich weiß nicht, warum ich mich ausgerechnet jetzt daran erinnere, aber ich bin sicher, dass es irgendwie wichtig ist.

Nachdem wir den ungenutzten Raum verlassen hatten, ließ Si’eh mich rennen, damit ich außer Atem war, als wir Viraines Werkstatt erreichten.

Viraine öffnete nach Si’ehs drittem, ungeduldigem Klopfen die Tür und sah verwirrt aus. Der weißhaarige Mann von Dekartas Audienz, der mich »nicht hoffnungslos« fand.

»Si’eh? Was zum Dämonen — ah.« Er sah mich an und zog die Augenbrauen hoch. »Ja, ich dachte mir doch, dass T’vril zu lange braucht. Die Sonne ist vor fast einer Stunde untergegangen.«

»Scimina hat Naha auf sie gehetzt«, sagte Si’eh. Dann sah er zu mir hoch. »Aber das Spiel sollte zu Ende sein, wenn du es bis hierher schaffst, nicht wahr? Du bist jetzt in Sicherheit.«

Also so sah meine Rechtfertigung aus. »So hat T’vril es gesagt.« Ich warf einen Blick den Gang entlang, so als ob ich noch immer Angst hätte. Das war nicht schwer vorzutäuschen.

»Scimina wird ihm bestimmte Vorgaben gemacht haben«, sagte Viraine. Das sollte mich wohl beruhigen. »Sie weiß, wie er in dem Zustand ist. Tretet ein, Lady Yeine.«

Er ging beiseite, und ich betrat das Zimmer. Auch wenn ich nicht todmüde gewesen wäre, hätte ich an der Stelle innegehalten, weil ich mich in einem Raum befand, wie ich ihn noch nie zuvor gesehen hatte. Er war lang und oval, und entlang der beiden längeren Wände befanden sich Fenster, die vom Boden bis zur Decke reichten. Auf beiden Seiten des Zimmers befanden sich in Zweierreihen Arbeitstische — auf allen sah ich Bücher, Fläschchen und seltsame Gerätschaften. An der jenseitigen Wand standen Käfige, in einigen befanden sich Kaninchen und Vögel. In der Mitte des Zimmers war eine riesige weiße Kugel, die auf einem Sockel stand. Sie war so groß wie ich, und man konnte nicht hindurchsehen.

»Hier drüben«, sagte Viraine und ging zu einem der Arbeitstische. Davor standen zwei Hocker. Er wählte einen davon und klopfte mit der Hand auf den anderen, um zu zeigen, dass er für mich sei. Ich folgte ihm und zögerte dann.

»Ich fürchte, Ihr seid mir im Vorteil, Sir.«

Er sah überrascht aus, dann lächelte er und verbeugte sich lässig, beinahe ein wenig spöttisch. »Ah ja, Manieren. Ich bin Viraine, der Palastschreiber. Außerdem auf die ein oder andere Art auch mit Euch verwandt — viel zu weit entfernt, um es noch festzustellen, obwohl Lord Dekarta es für angebracht hielt, mich in den engsten Familienkreis aufzunehmen.« Er tippte an den schwarzen Kreis auf seiner Stirn.

Schreiber: Amn-Gelehrte, die die geschriebene Sprache der Götter studierten. Dieser Schreiber sah nicht wie die Asketen mit kalten Augen aus, die ich mir vorgestellt hatte. Zum einen war er jünger — vielleicht ein paar Jahre jünger, als meine Mutter gewesen war. Gewiss nicht alt genug für so weiße Haare. Vielleicht war er wie T’vril und ich — ein Amn-Mischling der etwas anderen Art.

»Ist mir ein Vergnügen«, sagte ich. »Obwohl ich mich doch frage, warum der Palast einen Schreiber benötigt. Warum studiert Ihr die Macht der Götter, wenn es hier doch echte Götter gibt?«

Er schien über meine Frage erfreut zu sein — vielleicht fragte man ihn nicht oft nach seiner Arbeit. »Nun, zum einen können sie nicht alles, und sie können auch nicht überall gleichzeitig sein. Es gibt Hunderte Menschen in diesem Palast, die täglich kleine Zaubereien ausführen. Wenn wir nun jedes Mal, sobald wir etwas brauchen, innehalten müssten, um einen Enefadeh zu rufen, würden wir hier kaum noch etwas geschafft bekommen. Der Aufzug zum Beispiel, der Euch zu dieser Etage des Palastes gebracht hat. Die Luft — so weit über dem Boden wäre sie normalerweise sehr dünn und kalt und somit schwer zu atmen. Magie sorgt dafür, dass es im Palast behaglich ist.«

Ich setzte mich vorsichtig auf einen der Hocker und beäugte den Arbeitstisch neben mir. Die Gegenstände darauf waren ordentlich hingelegt worden: diverse feine Pinsel, eine Tintenschale, ein kleiner, polierter Steinblock, auf dessen Oberseite ein seltsames, kompliziertes Zeichen aus Spitzen und Schnörkeln eingeritzt war. Das Zeichen war so völlig fremdartig und für das Auge irritierend, dass ich nicht lange hinschauen konnte. Der Drang, fortzuschauen, war ein Teil von ihm, da es sich um die Sprache der Götter handelte — ein Siegel.

Viraine nahm mir gegenüber Platz, während Si’eh sich unaufgefordert mir gegenüber an den Tisch setzte und sein Kinn auf die verschränkten Arme stützte.

»Zum anderen«, fuhr Viraine fort, »gibt es bestimmte Magien, die selbst die Enefadeh nicht benutzen können. Götter sind seltsame Geschöpfe, innerhalb ihres ›Einflussbereichs‹, um es einmal so zu nennen, sind sie ungeheuer mächtig, aber außerhalb sind sie eingeschränkt. Nahadoth ist bei Tag machtlos. Si’eh kann nicht still sein und sich anständig benehmen, es sei denn, er führt etwas im Schilde.« Er sah Si’eh an, der uns unschuldig anlächelte. »Auf viele Weisen sind wir Sterblichen ... wandlungsfähiger, ein anderer Ausdruck fällt mir dafür nicht ein. Wir sind vollständiger. Zum Beispiel — keiner von ihnen kann Leben erschaffen oder verlängern. Der einfache Akt, Kinder zu bekommen — etwas, das sogar eine glücklose Schankmaid oder ein nachlässiger Soldat tun kann —, ist eine Macht, die den Göttern seit Jahrtausenden abhandengekommen ist.«

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Si’ehs Lächeln verschwand.

»Leben verlängern?« Ich hatte Gerüchte darüber gehört, was manche der Schreiber mit ihrer Macht anstellten — schreckliche, ekelhafte Gerüchte. Plötzlich fiel mir ein, dass mein Großvater sehr, sehr alt war.

Viraine nickte, und seine Augen funkelten wegen der Missbilligung, die mein Tonfall zum Ausdruck brachte. »Das ist das größte Streben meiner Zunft. Vielleicht erreichen wir eines Tages sogar die Unsterblichkeit ...« Er sah das Entsetzen auf meinem Gesicht und lächelte. »Obwohl dieses Ziel nicht unumstritten ist.«

Meine Großmutter hatte immer gesagt, dass die Amn unnatürliche Menschen seien. Ich schaute weg. »T’vril sagte, dass Ihr mir das Siegel geben werdet.«

Er grinste und gab sich keine Mühe, seine Belustigung zu verbergen. Er lachte die primitive Barbarin aus. »Mmm-hmm.«

»Was bewirkt dieses Mal?«

»Unter anderem hält es die Enefadeh davon ab, Euch zu töten. Ihr habt ja gesehen, wie sie sein können.«

Ich leckte mir über die Lippen. »Ah. Ja. Ich ... wusste nicht, dass sie ...« Ich gestikulierte vage und wusste nicht, wie ich mich ausdrücken sollte, um Si’eh nicht zu beleidigen.

»Frei herumlaufen?«, fragte Si’eh vergnügt. In seinen Augen war eine gewisse Boshaftigkeit zu erkennen, er erfreute sich an meinem Unbehagen.

Ich zuckte zusammen. »Ja.«

»Die sterbliche Form ist ihr Gefängnis«, sagte Viraine und beachtete Si’eh gar nicht. »Und jede Seele in Elysium ist ihr Kerkermeister. Sie wurden von Bright Itempas dazu verpflichtet, den Nachkommen von Shahar Arameri, seiner besten Priesterin, zu dienen. Aber da es inzwischen Tausende von Shahars Abkömmlingen gibt ...« Er zeigte auf die Fenster, als ob die ganze Welt nur aus einer Sippe bestünde. Vielleicht meinte er auch einfach nur Elysium, die einzige Welt, die ihm wichtig war. »Unsere Ahnen beschlossen, der Situation mit einer geordneten Struktur zu begegnen. Das Siegel bestätigt den Enefadeh, dass Ihr Arameri seid; ohne dieses Siegel werden sie Euch nicht gehorchen. Außerdem verdeutlicht es Euren Rang innerhalb der Familie. Um genau zu sein: Es gibt an, wie nah Ihr der Hauptlinie der Nachfahren kommt, was wiederum festlegt, wie viel Befehlsmacht Ihr über sie habt.«

Er nahm einen Pinsel auf, tauchte ihn aber noch nicht in die Tinte. Stattdessen bewegte er seine Hand in Richtung meines Gesichtes und strich mir das Haar aus der Stirn. Mein Herz krampfte sich zusammen, während er mich prüfend betrachtete. Viraine war offensichtlich ein Experte — und er konnte Zhakkas

Siegel wirklich nicht sehen? Einen Moment lang dachte ich, das wäre doch der Fall, weil sein Blick für den Bruchteil einer Sekunde meinen fixierte. Aber scheinbar hatten die Götter ihre Arbeit gut gemacht, denn kurz darauf ließ Viraine mein Haar los und fing an, in der Tinte zu rühren.

»T’vril sagte, dass das Siegel dauerhaft ist«, sagte ich, hauptsächlich, um meine aufsteigende Nervosität zu bekämpfen. Die schwarze Flüssigkeit sah wie normale Schreibtinte aus, obwohl der Block mit dem Siegel offensichtlich kein normaler Tintenstempel war.

»Das stimmt, es sei denn, Dekarta befiehlt, dass es entfernt wird. Es ist wie eine Tätowierung, nur schmerzlos. Ihr werdet Euch daran gewöhnen.«

Ich war von einem dauerhaften Mal wenig begeistert, aber ich hütete mich, zu protestieren. Um mich abzulenken, fragte ich: »Warum nennt Ihr sie ›Enefadeh‹?«

Den Ausdruck, der flüchtig über Viraines Gesicht huschte, erkannte ich instinktiv: Berechnung. Ich hatte ihm gegenüber gerade eine erstaunliche Ignoranz an den Tag gelegt, und er gedachte, daraus einen Vorteil zu ziehen.

Beiläufig pikste er Si’eh, der die Gegentstände auf Viraines Arbeitstisch verstohlen musterte, mit dem Daumen. »So nennen sie sich selbst. Wir finden die Bezeichnung lediglich brauchbar.«

»Warum nennt man sie nicht ...«

»Wir nennen sie nicht Götter.« Viraine lächelte andeutungsweise. »Das wäre eine Beleidigung gegenüber dem Elysiumvater, unserem einzig wahren Gott, und den Kindern des Elysiumva- ters, die Ihm treu ergeben sind. Aber wir können sie auch nicht Sklaven nennen. Schließlich haben wir die Sklaverei vor Jahrhunderten abgeschafft.«

Das war es, warum man die Arameri hasste — wirklich hasste und ihnen nicht nur ihre Macht verübelte oder ihre Bereitschaft, diese zu nutzen. Sie fanden immer wieder neue Lügen für das, was sie taten. Es verhöhnte das Leiden ihrer Opfer.

»Warum bezeichnet man sie nicht als das, was sie sind?«, fragte ich.

»Waffen.«

Si’eh warf mir einen Blick zu, der in dem Moment sogar für den eines Kindes zu unbedarft war.

Viraine zuckte wie unter Schmerzen zusammen. »Gesprochen wie eine wahre Barbarin«, sagte er, und sein Lächeln half nicht, die Beleidigung abzuschwächen. »Ihr müsst verstehen, Lady Yei- ne, dass wir Arameri — wie unsere Vorfahrin Shahar — in erster Linie Diener des Elysi um vaters Itempas sind. In Seinem Namen haben wir das Zeitalter der Helligkeit in der Welt eingeläutet. Frieden, Ordnung, Erleuchtung.« Er spreizte seine Hände. »Die Diener von Itempas benutzen keine Waffen und brauchen sie auch nicht. Werkzeuge hingegen ...«

Ich hatte genug gehört. Ich kannte seinen Rang im Vergleich zu meinem nicht, aber ich war müde, verwirrt und fern der Heimat, und wenn barbarische Manieren mir besser dabei helfen würden, diesen ersten Tag zu überstehen, dann bitte.

»Bedeutet Enefadeh also Werkzeug‹?«, verlangte ich zu wissen. »Oder heißt es nur ›Sklave‹ in einer anderen Sprache?«

»Es bedeutet ›die, die sich an Enefa erinnern‹«, sagte Si’eh. Er stützte das Kinn auf seine Faust. Die Gegenstände auf Viraines Arbeitstisch sahen zwar immer noch genauso aus wie vorher, aber ich war sicher, dass er etwas mit ihnen angestellt hatte. »Sie war es, die von Itempas vor langer Zeit ermordet wurde. Wir haben Krieg gegen ihn geführt, um sie zu rächen.«

Enefa. Die Priester hatten ihren Namen nie erwähnt. »Die Verräterin«, murmelte ich, ohne darüber nachzudenken.

»Sie hat niemanden verraten«, versetzte Si’eh.

Viraine warf Si’eh einen Blick zu, der nicht zu deuten war.

»Stimmt. Die Machenschaften einer Hure kann man wohl kaum als Verrat bezeichnen, nicht wahr?«

Si’eh zischte. Sein Gesicht zeigte einen Lidschlag lang etwas Unmenschliches — etwas Durchtriebenes, Ungezähmtes —, dann war er wieder ganz Junge, rutschte von dem Hocker und zitterte vor Wut. Einen kurzen Moment lang glaubte ich, er würde seine Zunge herausstrecken, aber der Hass in seinen Augen war dafür zu alt.

»Ich werde darüber lachen, wenn du tot bist«, sagte er sanft. Die kleinen Härchen auf meiner Haut stellten sich auf, da seine Stimme jetzt die eines erwachsenen Mannes war, volltönende Böswilligkeit. »Ich werde dein Herz als mein Spielzeug benutzen und es für hundert Jahre herumtreten. Und wenn ich dann endlich frei bin, werde ich all deine Nachfahren aufspüren und dafür sorgen, dass ihre Kinder so werden wie ich.«

Damit verschwand er. Ich blinzelte. Viraine seufzte.

»Und das, Lady Yeine, ist der Grund, warum wir die Blutsiegel benutzen«, sagte er. »Auch wenn diese Drohung lächerlich war, er meinte jedes Wort ernst. Das Siegel verhindert, dass er sein Vorhaben ausführte, obwohl auch dieser Schutz seine Grenzen hat. Der Befehl eines höherrangigen Arameri oder Dummheit Eurerseits könnten Euch angreifbar machen.«

Ich runzelte die Stirn und erinnerte mich an den Moment, in dem T’vril mich gedrängt hatte, Viraine zu erreichen. Nur ein Vollblut kann ihn jetzt zurückrufen. Und T’vril war ein — wie nannte er es noch? — ein Halbblut.

»Dummheit meinerseits?«, fragte ich.

Viraine sah mich durchdringend an. »Sie müssen sich jeder unbedingten Anweisung von Euch fügen, Lady. Denkt einmal darüber nach, wie viele solcher Äußerungen wir unbedacht machen oder im übertragenen Sinne, ohne dass wir uns über andere Bedeutungen Gedanken machen.« Als ich anfing, darüber nachzugrübeln, rollte er mit den Augen. »Das gemeine Volk sagt gerne ›Zum Teufel mit dir!‹ Habt Ihr das auch schon einmal gesagt, im ersten Zorn?« Als ich langsam nickte, beugte er sich zu mir herüber. »Der Sinn des Satzes ist natürlich stillschweigend angedeutet; eigentlich meinen wir Du sollst dahingehen. Aber man könnte den Satz auch so verstehen: Ich will dahin gehen und du wirst mich dahin bringen.«

Er machte eine Pause, um zu sehen, ob ich verstanden hatte. Ich hatte verstanden. Als ich erschauerte, nickte er und lehnte sich zurück.

»Redet einfach nicht mit ihnen, wenn Ihr nicht unbedingt müsst«, sagte er.

»So. Sollen wir ...« Er griff nach der Tintenschale und fluchte, als sie umkippte, sobald seine Finger sie berührten. Irgendwie hatte Si’eh einen Pinsel daruntergeklemmt. Die Tinte ergoss sich über den Tisch wie

wie — und dann berührte Viraine meine Hand. »Lady Yeine? Geht es Euch gut?«

So war es passiert — ja. Beim ersten Mal.

Ich blinzelte. »Was?«

Er lächelte und war wieder ganz herablassende Freundlichkeit. »Es war ein harter Tag, nicht wahr? Nun, das hier wird nicht lange dauern.« Er säuberte alles von der vergossenen Tinte. Scheinbar war in der Schale genug übrig, dass wir weitermachen konnten. »Wenn Ihr Euer Haar für mich zurückstreichen würdet ...«

Ich bewegte mich nicht. »Warum hat Großvater Dekarta das getan, Schreiber Viraine? Warum hat er mich herkommen lassen?«

Er zog seine Augenbrauen hoch, als ob er überrascht wäre, dass ich so etwas fragte. »Ich bin nicht in seine Gedanken eingeweiht. Ich weiß es nicht.«

»Ist er senil?«

Er stöhnte. »Ihr seid wirklich eine Wilde. Nein, er ist nicht senil.«

»Warum dann?«

»Ich habe Euch gerade gesagt ...«

»Wenn er mich umbringen wollte, hätte er mich einfach hinrichten lassen können. Unter irgendeinem Vorwand, wenn er einen solchen überhaupt für nötig gehalten hätte. Oder er hätte mit mir dasselbe tun können wie mit meiner Mutter. Ein Meuchelmörder in der Nacht, Gift in meinem Schlaf.«

Endlich hatte ich es geschafft, ihn zu überraschen. Er wurde sehr still, sein Blick traf meinen, und dann schaute er fort. »Ich würde Dekarta an Eurer Stelle nicht mit diesen Beweisen konfrontieren.«

Wenigstens versuchte er nicht, es zu leugnen.

»Ich brauchte keine Beweise. Eine gesunde Frau um die vierzig stirbt nicht so einfach im Schlaf. Aber ich sorgte dafür, dass der Arzt ihre Leiche gründlich untersuchte. Es gab ein Mal, einen kleinen Einstich, an ihrer Stirn. Auf der ...« Ich brach kurz ab. Plötzlich wurde mir etwas klar, das ich nie in meinem Leben in Frage gestellt hatte. »Auf der Narbe, die sie hatte, genau hier.« Ich berührte meine eigene Stirn, wo das Arameri-Siegel seinen Platz finden würde.

Viraine sah mir nun geradewegs in die Augen, ernst und schweigend. »Wenn ein Arameri-Assassine eine Spur hinterlassen hat, die man sehen konnte — und wenn Ihr erwartet habt, sie zu sehen — dann, Lady Yeine, versteht Ihr weit mehr von Dekartas Absichten als jeder andere von uns. Warum, glaubt Ihr; hat er Euch herbringen lassen?«

Ich schüttelte langsam den Kopf. Ich hatte es während der ganzen Reise nach Elysium geahnt. Dekarta war wütend auf meine Mutter, hasste meinen Vater. Es konnte keinen erfreulichen

Grund für seine Einladung geben. Irgendwo im Hinterkopf hatte ich erwartet, bestenfalls hingerichtet zu werden — vielleicht, nachdem man mich auf den Stufen zum Salon gefoltert hatte. Meine Großmutter hatte Angst um mich gehabt. Wenn es auch nur eine entfernte Hoffnung gegeben hätte, wegzulaufen, hätte sie mich wohl dazu gedrängt. Aber man rennt vor den Arameri nicht davon.

Und eine Darre-Frau rennt nicht vor Rache davon.

»Dieses Zeichen«, sagte ich endlich. »Wird es mir helfen, hier zu überleben?«

»Ja. Die Enefadeh werden Euch nichts tun können, es sei denn, Ihr tut etwas Dummes. Was Scimina, Relad und andere Gefahren angeht ...«

Er zuckte mit den Schultern. »Nun ja. Magie kann auch nicht alles.«

Ich schloss meine Augen und ließ das Bild des Gesichts meiner Mutter zum zigtausendsten Mal vor meinem inneren Auge aufsteigen. Sie war mit Tränen auf den Wangen gestorben, vielleicht wusste sie, was mich erwartete.

»Dann lasst uns anfangen«, sagte ich.

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