Selbstsucht

Sag mir, was du willst, hatte der Lord der Finsternis gesagt. Etwas Besseres für die Welt, hatte ich geantwortet. Aber auch ...

Am Morgen ging ich zeitig zum Salon, bevor die Sitzung des Konsortiums begann. Ich hoffte, Ras Onchi zu finden. Vorher sah ich aber Wohi Ubm, die andere Adlige aus Hochnord, die auf der breiten, von Säulen gesäumten Treppe des Salons eintraf.

»Oh«, sagte sie nach einer unbeholfenen Vorstellung und meiner Nachfrage. Sobald ich den mitleidigen Ausdruck in ihren Augen sah, wusste ich es. »Ihr habt es noch nicht vernommen. Ras starb im Schlaf vor zwei Nächten.« Sie seufzte. »Ich kann es immer noch nicht glauben. Aber nun ja, sie war alt.« Ich kehrte nach Elysium zurück.

Für eine Weile lief ich durch die Flure und dachte über den Tod nach.

Diener nickten mir zu, als sie an mir vorbeigingen, und ich nickte zurück. Höflinge — meine Hochblutkollegen — ignorierten mich entweder oder starrten mich mit offener Neugier an.

Es musste sich herumgesprochen haben, dass ich als Erbin nicht mehr in Frage kam und in aller Öffentlichkeit von Scimina geschlagen worden war. Nicht alle Blicke waren freundlich. Ich neigte auch vor ihnen meinen Kopf. Ich war nicht so engstirnig wie sie.

Auf einer der unteren Etagen überraschte ich T’vril, der auf einem schattigen Balkon stand, ein Notizbrett vom Finger baumeln ließ und eine vorüberziehende Wolke beobachtete. Als ich ihn berührte, zuckte er schuldbewusst zusammen — fing das Notizbrett glücklicherweise aber noch auf —, was ich so deutete, dass er an mich gedacht hatte.

»Der Ball wird morgen in der Abenddämmerung beginnen«, sagte er. Ich war neben ihn an das Geländer getreten, nahm die Aussicht und den Trost seiner Gegenwart schweigend in mich auf. »Er wird bis zum Morgengrauen des nächsten Tages dauern. So ist die Tradition vor einer Nachfolgezeremonie. Morgen ist Neumond — diese Nächte waren früher den Anhängern von Nahadoth heilig. Also feiern sie jetzt hindurch.«

Ich fand das ziemlich gehässig von ihnen. Oder gehässig von Itempas.

»Direkt nach dem Ball wird der Stein der Erde durch den Zentralschacht des Palastes zum Ritualgemach im Solariumturm geschickt.«

»Ah. Ich habe gehört, wie du letzte Woche die Bediensteten davor gewarnt hast.«

T’vril drehte das Notizbrett vorsichtig zwischen seinen Fingern und sah mich nicht an. »Ja. Wenn man ihm nur flüchtig ausgesetzt ist, sollte es keine Probleme geben, aber ...« Er zuckte mit den Schultern. »Es ist ein Gegenstand der Götter. Da hält man sich am besten fern.«

Ich konnte nicht anders, ich musste lachen. »Ja, da stimme ich dir zu!«

T’vril sah mich merkwürdig an und hatte ein unsicheres Lächeln auf den Lippen. »Du scheinst dich ... wohlzufühlen.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Es liegt mir nicht, mir die ganze Zeit Sorgen zu machen. Was geschehen ist, ist geschehen.« Nahadoths Worte.

T’vril trat unbehaglich von einem Bein auf das andere und schnippte ein paar Haare, die der Wind ihm ins Gesicht geblasen hatte, weg. »Ich ... hörte, dass eine Armee sich an dem Pass, der von Menchey nach Darr führt, sammelt.«

Ich legte meine Fingerspitzen aneinander und betrachtete sie, um die Stimme, die in mir aufschrie, zum Schweigen zu bringen. Scimina hatte ihr Spiel gut gespielt. Für den Fall, dass ich sie nicht wählte, hatte sie Gemd zweifellos Anweisungen hinterlassen, mit dem Abschlachten zu beginnen. Möglicherweise würde Gemd das ohnehin tun, sobald ich die Enefadeh freigelassen hatte, aber ich zählte darauf, dass die Welt nach dem Ausbruch eines erneuten Krieges der Götter zu sehr mit Uberleben beschäftigt sein würde. Si’eh hatte versprochen, dass Darr während dieser Katastrophe sicher sein würde. Ich war mir nicht sicher, ob ich dem Versprechen in vollem Umfang vertraute, aber es war besser als nichts.

Zum wahrscheinlich hundertsten Male überlegte ich, ob ich an Relad herantreten sollte, und verwarf den Gedanken wieder. Seiminas Leute waren auf dem Boden, ihr Messer war an Darrs Kehle. Wenn ich während der Zeremonie Relad wählte, konnte er etwas unternehmen, bevor das Messer eine tödliche Wunde hervorrief? Ich konnte die Zukunft meines Volkes nicht von einem Mann abhängig machen, den ich nicht einmal respektierte.

Nur die Götter konnten mir jetzt noch helfen.

»Relad hat sich in seinen Gemächern eingeschlossen«, sagte T’vril, der offensichtlich genauso dachte wie ich. »Er empfängt keine Besuche und lässt niemanden hinein, nicht einmal die Diener. Weiß der Vater, was er isst — oder trinkt. Es laufen Wetten bei denen von hohem Geblüt, dass er sich noch vor dem Ball das Leben nimmt.«

»Ich vermute, es gibt wenig anderes, das interessant ist und auf das man wetten könnte.«

T’vril warf mir einen Blick zu und überlegte wahrscheinlich, ob er noch mehr sagen sollte. »Es gibt auch Wetten, dass du dir das Leben nimmst.«

Ich lachte in die Brise hinein. »Wie stehen die Chancen? Glaubst du, dass sie mich auch wetten lassen würden?«

T’vril drehte sich zu mir herum, und seine Augen hatten plötzlich einen eifrigen Ausdruck. »Yeine ... wenn, wenn du ...« Er brach ab, schwieg und schaute weg, seine Stimme klang bei dem letzten Wort sehr erstickt.

Ich ergriff seine Hand und hielt sie, während er den Kopf hängen ließ, zitterte und nach Fassung rang. Er führte und beschützte die Diener hier — Tränen hätten ihn schwach aussehen lassen. Männer waren da schon immer sehr zerbrechlich.

Einige Momente später atmete er tief ein. Seine Stimme war höher als sonst, als er sagte: »Soll ich dich zu dem Ball morgen Abend begleiten?«

Als Viraine mir dasselbe angeboten hatte, hatte ich ihn gehasst. T’vrils Angebot ließ mich ihn noch ein wenig mehr lieben. »Nein, T’vril. Ich möchte keine Begleitung.«

»Es könnte helfen, einen Freund dort zu haben.«

»Vielleicht. Aber so etwas werde ich nicht von meinen neuen Freunden verlangen.«

»Du verlangst nicht — ich biete es an.«

Ich trat näher zu ihm und lehnte mich gegen seinen Arm. »Ich werde schon zurechtkommen, T’vril.«

Er betrachtete mich lange, dann schüttelte er langsam den Kopf. »Das wirst du, nicht wahr? Ach, Yeine. Ich werde dich vermissen.«

»Du solltest von hier fortgehen, T’vril. Such dir eine nette Frau, die sich um dich kümmert und dich mit Seide und Juwelen überhäuft.«

T’vril starrte mich an und brach dann in Gelächter aus. Diesmal war es nicht verkrampft. »Eine Darrefrau?«

»Nein, bist du verrückt? Du hast doch gesehen, wie wir sind. Such dir ein Ken-Mädchen. Vielleicht vererben sich die hübschen Flecken, die du hast.«

»Hübsche ... Sommersprossen, du Barbarin! Man nennt sie Sommersprossen.«

»Wie auch immer.« Ich hob seine Hand, küsste ihren Rücken und ließ ihn los. »Leb wohl, mein Freund.«

Ich ließ ihn dort stehen. Er lachte immer noch, als ich ging.

Aber...?

Aber das war nicht alles, was ich wollte.

Die Unterredung half mir, mich zu entscheiden, was ich als Nächstes tun wollte. Ich suchte Viraine auf.

Seit meiner Unterhaltung mit Nahadoth in der Nacht zuvor war ich hin- und hergerissen, ob ich ihn zur Rede stellen sollte. Ich war jetzt davon überzeugt, dass Viraine und nicht Dekarta meine Mutter getötet hatte. Verstehen konnte ich es aber immer noch nicht: Wenn er sie liebte, warum hatte er sie dann umgebracht? Und warum jetzt, zwanzig Jahre, nachdem sie ihm das Herz gebrochen hatte? Ein Teil von mir dürstete nach Verstehen.

Dem anderen Teil von mir war es egal, ob er es getan hatte. Dieser Teil von mir wollte Blut sehen, und ich wusste, wenn ich ihm folgte, würde ich etwas Dummes tun. Es würde viel Blut fließen, wenn ich Rache an den Arameri übte — einen zweiten Krieg der Götter zu entfesseln hieße Entsetzen und Tod zu bringen. So viel Blut hätte mir genügen müssen ... aber ich würde nicht mehr leben, um es zu sehen. Wir sind da sehr selbstsüchtig, wir Sterblichen.

Also suchte ich Viraine auf.

Er antwortete nicht, als ich an die Tür seiner Werkstatt klopfte. Einen Moment lang zögerte ich und überlegte, ob ich die Sache weiterverfolgen sollte. Dann hörte ich von drinnen einen schwachen, gedämpften Laut.

Die Türen in Elysium kann man nicht abschließen. Rang und Politik verschaffen denen vom hohen Geblüt mehr Sicherheit als genug, denn nur diejenigen, die gegen Vergeltungsschläge immun sind, wagen es, in die Privatsphäre eines anderen einzudringen. Ich, die dazu verdammt war, in etwas weniger als einem Tag zu sterben, war genau deswegen immun, und so schob ich die Tür ein wenig zur Seite.

Zuerst sah ich Viraine nicht. Da war der Arbeitstisch, an dem ich gezeichnet worden war, und er war leer. Alle Arbeitstische waren leer, was mir seltsam erschien. Ebenso wie die Tierkäfige hinten im Raum, was noch seltsamer war. Erst dann bemerkte ich Viraine. Zum Teil, weil er so still stand, und zum Teil, weil er mit seinem weißen Haar und seiner weißen Kleidung so perfekt zu seiner blitzblanken, sterilen Umgebung passte.

Er stand in der Nähe der großen Kristallkugel hinten im Zimmer. Erst dachte ich, dass er sich an sie gelehnt hatte, um in ihre durchsichtigen Tiefen zu schauen. Vielleicht hatte er mir so während meiner einsamen, fehlgeschlagenen Unterhaltung mit den mir unterstellten Nationen nachspioniert. Aber dann bemerkte ich, dass er vornübergebeugt stand und sich mit einer Hand auf der polierten Oberfläche der Kugel abstützte. Sein Kopf hing herab. Ich konnte seine freie Hand durch den weißen Vorhang seines Haares nicht sehen, aber irgendetwas an seinen verstohlenen Bewegungen erkannte ich sofort. Er schniefte, und das bestätigte meinen Verdacht: Allein in seiner Werkstatt, am Vorabend der einmaligen Triumphbeteuerung seines Gottes, weinte Viraine.

Eine Schwäche, die einer Darrefrau nicht würdig war, dämpfte meinen Ärger. Ich wusste nicht, warum er weinte. Vielleicht hatten all seine Missetaten die Überbleibsel seines Gewissens für einen Moment wiederbelebt. Vielleicht hatte er sich den Zeh gestoßen. Aber in dem Moment, als ich dastand und ihn beim Weinen beobachtete — etwas, das T’vril erfolgreich vermieden hatte —, da konnte ich nicht anders, als mich zu fragen: Was wäre, wenn auch nur eine dieser Tränen für meine Mutter war? Es gab nur wenige Menschen, die außer mir um sie getrauert hatten.

Ich schloss dieTür und ging.

Wie dumm von mir.

Ja. Selbst dann verschließt du dich noch der Wahrheit.

Kenne ich sie?

Jetzt, ja. Damals, nein.

Warum ...

Du stirbst. Deine Seele befindet sich im Krieg. Und ein anderes Gedächtnis lenkt dich ab.

Sag mir, was du willst, hatte der Lord der Finsternis gesagt.

Scimina war in ihrem Quartier und hatte eine Anprobe für ihr Ballkleid. Es war weiß — eine Farbe, die ihr nicht besonders gut stand. Zwischen dem Material und ihrer hellen Haut gab es nicht genug Kontrast, und das Ergebnis war, dass sie blass aussah. Immerhin, das Kleid war schön und bestand aus glänzendem Material, das durch winzige Diamanten, die das Mieder zierten, und das Futter des Rocks noch großartiger wurde. Alles glitzerte im Licht, als sie sich auf dem Podest für die Schneider drehte.

Ich wartete geduldig, während sie sie mit Anweisungen bedachte. Aul der anderen Seite des Zimmers saß die menschliche Version von Nahadoth auf der Fensterbank und schaute hinaus in die Nachmittagssonne. Falls er gehört hatte, dass ich eintrat, so gab er es nicht zu erkennen und sah nicht auf.

»Ich gebe zu, ich bin neugierig«, sagte Scimina und wandte sich mir schließlich zu. Ich verspürte flüchtig eine gehässige Befriedigung, als ich den großen Bluterguss auf ihrem Kieferknochen bemerkte. Gab es keine magische Möglichkeit, so kleine Wunden zu heilen? Ach, wie schade. »Was könnte dich dazu bringen, mich hier zu besuchen? Gedenkst du, für deine Nation um Gnade zu flehen?«

Ich schüttelte den Kopf. »Das würde nichts nützen.«

Sie lächelte beinahe liebenswürdig. »Stimmt. Nun denn. Was willst du?«

»Dein Angebot annehmen«, sagte ich. »Ich hoffe, es steht noch?«

Wieder eine kleine Befriedigung: der verständnislose Ausdruck auf ihrem Gesicht. »Welches Angebot meinst du, Cousine?«

Ich nickte an ihr vorbei zu der schweigenden Figur am Fenster. Er war bekleidet. Ich sah ein einfaches schwarzes Hemd, Hosen und zur Abwechslung ein schlichtes Eisenhalsband. Das war gut. Ich fand ihn nackt wesentlich geschmackloser. »Du hast gesagt, dass ich mir dein Haustier einmal ausleihen könnte.«

Hinter Scimina drehte sich Naha zu mir um und starrte mich an. Seine braunen Augen waren geweitet. Auch Scimina starrte kurz auf mich und brach dann in Gelächter aus.

»So ist das!« Zum Entsetzen der Schneider verlagerte sie ihr Gewicht auf eine Seite und legte eine Hand auf ihre Hüfte. »Ich kann dir deine Wahl nicht verdenken, Cousine. Mit ihm hat man mehr Spaß als mit T’vril. Aber - verzeih mir - du bist so ein kleines Wesen. Und mein Naha ist so ungeheuer ... stark. Bist du sicher?«

Ihre Beleidigungen waberten wie Luft an mir vorbei, und ich bemerkte sie kaum. »Das bin ich.«

Scimina schüttelte irritiert den Kopf. »Also gut. Ich kann ihn im Moment sowieso nicht gebrauchen, er ist heute schwach. Wahrscheinlich genau richtig für dich also.« Sie hielt inne und warf einen Blick zu den Fenstern, um die Position der Sonne zu bestimmen. »Natürlich weißt du, dass du dich vor Sonnenuntergang hüten musst.«

»Natürlich.« Ich lächelte, was mir ein Stirnrunzeln von ihr eintrug. »Ich gedenke nicht, früher als nötig zu sterben.«

Etwas wie Misstrauen flackerte kurz in Seiminas Augen auf, und ich spürte, wie die Spannung meinen Magen umdrehte. Aber dann zuckte sie mit den Schultern.

»Geh mit ihr«, sagte sie, und Nahadoth erhob sich.

»Für wie lange?«, fragte er, und seine Stimme klang neutral.

»Bis sie tot ist.« Scimina lächelte und breitete ihre Arme in einer großherzigen Geste aus. »Wer bin ich, dass ich einen letzten Wunsch verweigern würde? Aber wenn du schon dabei bist, Nahadoth, achte darauf, dass sie nichts tut, das zu anstrengend ist — zumindest nichts, das sie handlungsunfähig machen würde. Wir brauchen sie übermorgen wohlauf.«

Die eiserne Kette war mit einer Wand in der Nähe verbunden gewesen. Sie fiel bei Seiminas Worten herunter. Naha hob das abgetrennte Ende auf. Dann stand er da und beobachtete mich mit ausdrucksloser Miene.

Ich neigte meinen Kopf vor Scimina. Sie ignorierte mich und wandte ihre Aufmerksamkeit mit einem verärgerten Knurren wieder den Schneidern zu — einer von ihnen hatte den Saum schlecht abgesteckt. Ich ging und kümmerte mich nicht darum, ob Nahadoth mir jetzt oder später folgte.

Was würde ich wollen, wenn ich frei sein könnte?

Sicherheit für Darr.

Dass der Tod meiner Mutter etwas zu bedeuten hatte.

Änderungen für die Welt.

Und für mich selbst ...

Ich verstehe jetzt. Ich habe gewählt, wer mich formen wird.

»Sie hat recht«, sagte Naha, als wir in meiner Wohnung standen. »Ich bin zu nicht viel zu gebrauchen im Moment.« Er sagte es regungslos, mit keinerlei Gefühl in der Stimme, aber ich erriet seine Bitterkeit.

»Fein«, sagte ich. »Ich habe ohnehin kein Interesse.« Ich stellte mich ans Fenster.

Hinter mir war lange Zeit Schweigen, dann kam er herüber.

»Etwas hat sich verändert.« Das Licht reichte nicht, um seine Spiegelung zu sehen, aber ich konnte mir seinen misstrauischen Ausdruck vorstellen. »Du bist anders.«

»Viel ist geschehen, seit wir uns zum letzten Mal begegnet sind.«

Er berührte meine Schulter. Als ich seine Hand nicht abwehrte, nahm er auch die andere und drehte mich sanft herum, bis ich ihn ansah. Ich ließ ihn gewähren. Er starrte mich an und versuchte, in meinen Augen zu lesen — vielleicht auch, mich einzuschüchtern.

Nur war er auf so kurze Entfernung alles andere als einschüchternd. Tiefe Müdigkeitsfalten gingen von seinen eingefallenen Augen aus; die Augen waren blutunterlaufen und sahen noch gewöhnlicher aus als vorher. Seine Haltung war gekrümmt und seltsam. Erst jetzt verstand ich, dass er kaum in der Lage war, zu stehen. Nahadoths Folter hatte auch ihn in Mitleidenschaft gezogen.

Mein Gesicht muss Mitleid gezeigt haben, weil er plötzlich die Stirn runzelte und sich aufrichtete. »Warum hast du mich hergebracht?«

»Setz dich«, sagte ich und zeigte auf das Bett. Ich versuchte, mich wieder dem Fenster zuzuwenden, aber seine Finger umklammerten meine Schultern. Wenn er im vollen Besitz seiner Kräfte gewesen wäre, hätte er mir wehgetan. Das wusste ich jetzt. Er war ein Sklave, eine Hure, dem man nicht einmal zeitweilig Kontrolle über seinen eigenen Körper erlaubte. Er hatte nur die Macht, die er über seine Geliebten und seine Benutzer ausüben konnte. Das war nicht viel.

»Wartest du auf ihn?«, fragte er. Die Art, wie er »ihn« aussprach, drückte tiefste Abneigung aus. »Ist es das?«

Ich löste seine Hände von meinen Schultern und schob sie energisch fort. »Setz dich. Jetzt.«

Das »jetzt« zwang ihn dazu, mich loszulassen, die paar Schritte zu meinem Bett zu gehen und sich hinzusetzen. Er tat es und starrte die ganze Zeit wütend vor sich hin. Ich drehte mich wieder zu dem Fenster um und ließ seinen Hass an meinem Rücken ohne Wirkung verpuffen. »Ja«, sagte ich. »Ich warte auf ihn.«

Eine verblüffte Pause. »Du bist in ihn verliebt. Du warst es bisher nicht, aber jetzt bist du es. Nicht wahr?«

Du verschließt dich der Wahrheit.

Ich ließ mir die Frage durch den Kopf gehen.

»In ihn verliebt?« Ich sprach es langsam aus. Der Satz fühlte sich seltsam an, als ich darüber nachdachte. Wie ein Gedicht, das man zu oft gelesen hatte. »In ihn verliebt.«

Eine weitere Erinnerung lenkt dich ab.

Ich war überrascht, echte Angst in Nahas Stimme zu hören. »Sei kein Dummkopf. Du weißt nicht, wie oft ich neben einer Leiche aufgewacht bin. Wenn du stark bist, kannst du ihm widerstehen.« »Ich weiß. Ich habe schon einmal Nein zu ihm gesagt.« »Dann ...« Verwirrung.

Ich hatte eine plötzliche Erleuchtung, wie sein Leben bisher verlaufen sein musste, das Leben des anderen, ungewollten Nahadoth. Jeden Tag war er ein Spielzeug der Arameri. Jede Nacht gab es keinen Schlaf, sondern Vergessen, das so nah am Tod war, wie ein Sterblicher diesem Ereignis kommen kann. Kein Frieden, keine wahre Erholung. Jeden Morgen schreckliche Überraschungen: ominöse Verletzungen. Tote Geliebte. Und die seelenzermürbende Gewissheit, dass es immer so weitergehen würde.

»Träumst du?«, fragte ich.

»Was?«

»Träumen. Nachts, wenn du ... bei ihm bist. Tust du’s?«

Nahadoth runzelte einen Moment lang die Stirn, als ob er versuchte, die Falle in meiner Frage herauszufinden. Schließlich sagte er: »Nein.«

»Überhaupt nicht?«

»Manchmal blitzen Bilder auf.« Er gestikulierte vage und sah mich nicht an. »Erinnerungen vielleicht. Ich weiß nicht, was das ist.«

Ich lächelte und fühlte ihm gegenüber plötzliche Wärme. Er war wie ich. Zwei Seelen oder doch zumindest zwei Identitäten in einem Körper. Vielleicht hatten die Enefadeh daher ihre Idee.

»Du siehst müde aus«, sagte ich. »Du solltest ein bisschen schlafen.«

Er stutzte. »Nein. Ich schlafe nachts genug.«

»Schlaf jetzt«, sagte ich, und er fiel so schnell auf die Seite, dass ich unter anderen Umständen gelacht hätte. Ich ging hinüber zum Bett, hob seine Beine hinein und legte ihn bequem hin. Dann kniete ich mich neben das Bett und legte meinen Mund an sein Ohr.

»Hab angenehme Träume«, befahl ich ihm. Das Stirnrunzeln auf seinem Gesicht veränderte sich leicht, wurde weicher und glättete sich.

Zufrieden stand ich auf und ging zurück zum Fenster und wartete.

Warum kann ich mich nicht daran erinnern, was als Nächstes geschah?

Du erinnerst dich doch ...

Nein, warum kann ich mich jetzt nicht daran erinnern? Während ich darüber spreche, kehrt es zu mir zurück, aber nur dann. Ohne das befindet sich dort ein leerer Raum. Ein großes schwarzes Loch.

Du erinnerst dich doch.

In dem Moment, als die rote Rundung der Sonne hinter dem Horizont verschwand, bebte der gesamte Palast und mit ihm das Zimmer. Auf so kurze Entfernung war die Vibration kräftig genug, dass meine Zähne klapperten. Eine Linie schien durch mein Zimmer hindurchzugleiten. Sie bewegte sich hinter meinem Rücken vorwärts, und als sie vorüber war, war das Zimmer dunkler. Ich wartete, und als die Haare in meinem Nacken sich aufstellten, sprach ich. »Guten Abend, Lord Nahadoth. Geht es Euch heute besser?«

Die einzige Antwort, die ich erhielt, war ein tiefes, erschauerndes Ausatmen. Der Abendhimmel war immer noch von Sonnenlichtstrahlen durchzogen. Die Farben Gold, Rot und Violett waren so intensiv, als ob sie Juwelen wären. Er war noch nicht er selbst.

Ich drehte mich um. Er saß aufrecht. Er sah immer noch menschlich aus, normal, aber ich konnte sehen, wie sein Haar ihn umwehte, obwohl es keine Brise gab. Während ich zusah, wurde es dicker, länger, dunkler und wob sich zu dem Umhang der Nacht. Fazinierend und wunderschön. Er wandte sein Gesicht von dem verbleibenden Sonnenlicht ab und sah nicht, dass ich näher kam, bis ich direkt vor ihm stand. Dann sah er auf und hob eine Hand, als ob er sich abschirmen wollte. Vor mir?, fragte ich mich und lächelte.

Seine Hand zitterte, während ich ihn beobachtete. Ich nahm sie und fühlte mich von der kühlen Trockenheit seiner Haut beschwichtigt. Seine Haut war jetzt braun, wie ich bemerkte. War das meinetwegen? Er beobachtete mich zwischen seinen Fingern hindurch. Seine Augen waren schwarz, und er blinzelte nicht. Sie waren wie die eines Tieres, ohne Gedanken.

Ich legte meine Hand um seine Wange und wollte, dass er zu Verstand kam. Er blinzelte, runzelte leicht die Stirn und starrte mich dann an, als seine Verwirrung sich lichtete. Seine Hand in meiner hielt auf einmal inne.

Als ich den Moment für gekommen hielt, ließ ich seine Hand los, öffnete meine Bluse und ließ sie von meinen Schultern gleiten. Ich machte meinen Rock los und ließ ihn zusammen mit meiner Unterwäsche fallen. Nackt stand ich da und bot mich an.

Загрузка...