Der Ball

Ich sehe mein Land unter mir.

Die Wachtürme auf dem Bergpass wurden bereits überrannt. Die Darre-Truppen dort sind tot. Sie haben gut gekämpft und die Enge des Passes ausgenutzt, um ihre Minderzahl auszugleichen, aber am Ende waren es einfach zu viele Feinde. Die Darre konnten sich lange genug halten, um die Signalfeuer zu entzünden und eine Nachricht zu schicken: Der Feind kommt.

Die Wälder sind Darrs zweite Verteidigungslinie. Viele Feinde sind hier gescheitert. Sie wurden von Schlangen vergiftet, von Krankheiten geschwächt oder von zahllosen würgenden Luftwurzeln ermüdet. Mein Volk hat schon immer einen Vorteil daraus gezogen und den Wald mit Wahrsagerinnen gespickt, die wie Leoparden wussten, wie man sich versteckt, zuschlägt und dann wieder im Gebüsch verschwindet.

Aber diesmal hat der Feind eine besondere Waffe mitgebracht: einen Schreiber. Früher wäre das in Hochnord unmöglich gewesen; Magie ist in Amn etwas, das bei den meisten Barbaren als feige gilt. Zusätzlich sorgten die Amn dafür, dass die Nationen, die zu feigem Verhalten neigten, sich die teuren Schreiber nicht leisten konnten. Aber für die Arameri ist das natürlich kein Problem.

Ich bin so schrecklich dumm. Ich habe Geld. Ich hätte einen Schreiber entsenden können, der für Darr kämpft. Aber schließlich bin ich eine Barbarin — ich habe nicht daran gedacht, und jetzt ist es zu spät.

Der Schreiber — ein Zeitgenosse von Viraine — zeichnet Siegel auf Papier und kopiert sie dann auf einige Bäume. Dann tritt er zurück. Eine Säule aus weißem Feuer schießt in ungewöhnlich gerader Linie durch den Wald. Sie erstreckt sich über Meilen und schlägt schließlich in den Steinmauern Arrebaias ein. Ein kluger Schachzug; hätten sie den ganzen Wald angezündet, würde er monatelang brennen. Dies ist nur ein schmaler Pfad. Wenn er genug gebrannt hat, spricht der Schreiber noch ein paar heilige Wörter aus und das Feuer erlischt. Bis auf verkohlte Bäume und zur Unkenntlichkeit verbrannte Tierkadaver ist der Weg frei. Der Feind kann Arrebaia innerhalb eines Tages erreichen.

Am Rande des Waldes bewegt sich etwas. Jemand stolpert blindlings heraus und ist vom Rauch halb erstickt. Eine Wahrsagerin? Nein, es ist ein Mann ... ein Junge, nicht einmal alt genug, um Töchter zu zeugen. Was macht er hier draußen? Wir haben den jungen Burschen nie erlaubt, zu kämpfen. Und dann kommt die Erkenntnis: Mein Volk ist verzweifelt. Selbst Kinder müssen kämpfen, wenn wir überleben wollen.

Die feindlichen Soldaten schwärmen wie die Ameisen um ihn herum. Sie töten ihn nicht. Sie ketten ihn an einen Versorgungskarren und schleppen ihn auf ihrem Marsch mit. Wenn sie Arrebaia erreichen, wollen sie ihn vorführen, um uns bis ins Mark zu erschüttern — oh, und das werden sie. Unsere Männer waren immer unser bestgehütetes Gut. Sie werden ihm vielleicht sogar die Kehle aui den Stufen zu Sar-enna-nem aufschlitzen, nur um Salz in die Wunden zu streuen.

Ich hätte einen Schreiber entsenden sollen.

Der Ballsaal von Elysium: ein riesiger Saal mit hoher Decke, dessen Wände noch lebhafter wie Perlmutt schimmerten als der Rest des Palastes und eine leicht rosige Schattierung aufwiesen. Nach dem unnachgiebigen Weiß des restlichen Elysiums schien dieser Farbhauch beinahe erschreckend lebendig. Kronleuchter, die wie ein Sternenhimmel aussahen, drehten sich über unseren Köpfen, und Musik lag in der Luft. Ein Sextett spielte auf einem Podest in unserer Nähe komplizierte Amn-Melodien. Zu meiner Überraschung bestanden die Böden nicht aus dem üblichen Ely- siummaterial. Sie waren klar und golden, wie dunkler, polierter Bernstein. Es konnte sich aber nicht um Bernstein handeln, da nirgendwo Nähte zu sehen waren und ein zusammenhängendes Stück die Größe eines kleinen Hügels erfordert hätte. Trotzdem sah es so aus.

Menschen füllten diesen prächtigen Ort. Ich war erstaunt über die unglaubliche Anzahl der Anwesenden, allen war eine Ausnahmegenehmigung erteilt worden, um für diese eine Nacht in Elysium weilen zu dürfen. In der Halle befanden sich fast tausend Menschen: stolze Hochblüter und die übereifrigsten der Salonbeamten, Könige und Königinnen der Länder, die viel wichtiger waren als meins, berühmte Künstler und Mätressen, jeder, der etwas auf sich hielt. Ich war in den letzten Tagen so in meine Probleme vertieft gewesen, dass ich die Kutschen, die den ganzen Tag ankamen und wieder fortfuhren und so viele nach Elysium brachten, nicht bemerkt hatte. Mein Fehler.

Ich wäre gerne in den Saal gegangen und hätte mich unter die Menge gemischt, so gut es eben ging. Sie trugen alle Weiß, was traditionell die Farbe offizieller Anlässe in Elysium war. Nur ich trug Farbe. Aber ich hätte ohnehin nicht untertauchen können, denn als ich den Raum betrat und oben an der Treppe stehenblieb, räusperte sich ein Diener, der in meiner Nähe stand und eine merkwürdige weiße Livree trug, die ich noch nie zuvor gesehen hatte, und donnerte so lautstark, dass ich zusammenzuckte: »Die Lady Yeine Arameri, erwählte Erbin des Dekarta, wohlwollende Beschützerin des Königreichs der Hunderttausend! Unser Ehrengast!«

Das verpflichtete mich dazu, oben an der Treppe stehenzubleiben, während sich alle Blicke auf mich richteten.

Ich hatte noch nie in meinem Leben vor so einer Horde gestanden. Panik erfüllte mich für einen kurzen Moment. Außerdem war ich davon überzeugt, dass sie es wussten. Wie sollten sie es auch nicht wissen? Es gab höflichen, zurückhaltenden Applaus. Ich sah viele lächelnde Gesichter, aber keine wahre Freundlichkeit. Interesse, ja ... die Art Interesse, die man für eine preisgekrönte Färse hegte, die bald darauf geschlachtet wird und auf den Tellern der Privilegierten landete. Wie wird sie schmecken?, interpretierte ich in ihre strahlende, lebhafte Aufmerksamkeit hinein. Wenn wir doch nur einen Bissen bekommen könnten.

Mein Mund wurde trocken. Meine Knie rasteten ein, und das war das Einzige, das mich davon abhielt, mich auf meinen unbequem hohen Schuhen umzudrehen und davonzulaufen. Das und noch eine Erkenntnis: Meine Eltern hatten sich auf einem Ara- meri-Ball kennengelernt. Vielleicht in genau diesem Raum. Meine Mutter hatte auf denselben Treppenstufen gestanden. Sie hatte ebenfalls einen Raum voller Leute, die ihre Angst und ihren Hass hinter ihrem Lächeln verbargen, vor sich gesehen.

Sie hätte zurückgelächelt.

Also fixierte ich meinen Blick auf einen Punkt direkt über der Menge. Ich lächelte, hob meine Hand zu einem höflichen, königlichen Winken — und hasste sie zurück. Dadurch schrumpfte die Angst, und ich konnte die Treppen hinunterschreiten, ohne Angst zu haben, dass ich stolpern würde, oder mich fragen zu müssen, ob ich anmutig aussah.

Auf halbem Weg nach unten blickte ich durch den Ballsaal und sah Dekarta auf einem Podest gegenüber der Tür. Irgendwie hatten sie seinen riesigen Stuhl-nicht-Thron aus Stein aus dem Audienzzimmer hierhergewuchtet. Er beobachtete mich daraus mit seinen farblosen Augen.

Ich neigte meinen Kopf. Er blinzelte. Morgen, dachte ich. Morgen.

Die Menge teilte sich und schloss sich um mich herum wie Lippen.

Ich bahnte mir meinen Weg durch die Speichellecker, die versuchten, sich mit belanglosem Geschwätz einzuschleimen, und durch ehrlichere Leute, die mir nur kühl oder sarkastisch zunickten. Schließlich erreichte ich einen Bereich in der Nähe eines Tisches mit Erfrischungen, wo sich weniger Menschen befanden. Ich bekam ein Glas Wein von einem Diener, leerte es, bekam noch eins und bemerkte dann an der Seite bogenförmige Glastüren. Ich betete, dass sie sich öffneten und nicht nur Dekoration waren, und ging dorthin. Sie führten nach draußen, auf eine große Terrasse, auf der sich bereits einige Gäste eingefunden hatten, um sich an der magisch gefilterten und erwärmten Nachtluft zu erfreuen. Einige flüsterten untereinander, als ich vorbeiging, aber die meisten waren zu sehr mit ihren Geheimnissen, Verfuhrungen oder anderweitigen Aktivitäten beschäftigt, die in den schattigen Ecken derartiger Veranstaltungen stattfanden. Ich blieb nur am Geländer stehen, weil es dort war. Dann versuchte ich eine Zeit lang, meine zitternde Hand zu beruhigen, damit ich meinen Wein trinken konnte.

Von hinten kam eine Hand, bedeckte meine und half mir, das Glas ruhig zu halten. Ich wusste, wer da war, noch bevor ich die vertraute kühle Ruhe in meinem Rücken spürte.

»Sie wollen, dass diese Nacht dich bricht«, sagte der Lord der Finsternis. Sein Atem bewegte meine Haare, kitzelte mein Ohr und ließ meine Haut mit Dutzenden delikater Erinnerungen kribbeln. Ich schloss meine Augen und war dankbar für die Einfachheit des Begehrens.

»Es gelingt ihnen«, sagte ich.

»Nein. Kinneth hat dir mehr Stärke gegeben.« Er nahm das Glas aus meiner Hand und entfernte es aus meiner Sicht, als ob er es selbst trinken wollte. Dann gab er es mir zurück. Aus dem weißen Wein — eine unglaublich leichte Auslese, die beinahe farblos war und blumig schmeckte — war etwas Dunkelrotes geworden, das in dem Licht des Balkons fast schwarz erschien. Sogar als ich das Glas gegen den Himmel erhob, waren die Sterne nur als entferntes Glitzern durch die Linse des tiefen Burgunderrots zu erkennen. Ich nippte probeweise und erschauerte, als der Geschmack über meine Zunge rollte. Süß, aber mit einem Hauch beinahe metallischer Bitterkeit und einem salzigen Nachgeschmack, wie von Tränen.

»Und wir haben dich gestärkt«, sagte Nahadoth. Er sprach in meine Haare hinein, einer seiner Arme glitt von hinten um mich herum und zog mich dichter an ihn heran. Unwillkürlich lehnte ich mich entspannt an ihn.

Ich drehte mich in dem Halbkreis seines Arms herum und hielt überrascht an. Der Mann, der auf mich herunterblickte, sah nicht wie Nahadoth aus — in keiner seiner Formen, in denen ich ihn gesehen hatte. Er sah menschlich aus, Amn, und sein Haar war dunkelblond und fast so kurz wie meins. Sein Gesicht war recht gutaussehend, aber es war nicht das Gesicht, das er benutzte, um mich zufriedenzustellen, und auch nicht das Gesicht, das Scimi- na erschaffen hatte. Es war nur ein Gesicht. Und er trug Weiß. Das schockte mich noch mehr als alles andere und ließ mich verstummen.

Nahadoth — denn er war es, ich spurte das, egal, wie er aussah — sah belustigt aus. »Der Lord der Finsternis ist bei den Feiern der Diener des Itempas nicht willkommen.«

»Ich hätte nicht gedacht ...« Ich berührte seinen Ärmel. Er bestand nur aus edel verarbeitetem Stoff und war Teil einer Jacke, die entfernt militärisch aussah. Ich streichelte ihn und war enttäuscht, als er sich nicht zur Begrüßung um meine Finger ringelte.

»Ich habe das Material, aus dem das Universum besteht, hergestellt. Dachtest du, dass weiße Fäden für mich eine Herausforderung wären?«

Ich lachte auf und verfiel im nächsten Moment in erschrecktes Schweigen. Ich hatte noch nie gehört, dass er einen Witz machte. Was hatte das zu bedeuten?

Er hob eine Hand und legte sie ernüchtert an meine Wange. Es kam mir in den Sinn, dass er, obwohl er versuchte, sich wie ein Mensch zu benehmen, gar nichts mit seinem Tages-Ich gemeinsam hatte. Nichts an ihm außer seiner Erscheinung war menschlich — nicht seine Bewegungen, nicht die Geschwindigkeit, mit der er von einem Ausdruck zum anderen wechselte, und ganz besonders nicht seine Augen. Eine menschliche Maske reichte einfach nicht aus, um seine wahre Natur zu verbergen. In meinen Augen war es so offensichtlich, dass ich staunte, warum die anderen Leute auf dem Balkon nicht schreiend vor Angst wegrannten, weil sich der Lord der Finsternis in ihrer Nähe befand.

»Meine Kinder denken, dass ich den Verstand verliere«, sagte er und steichelte mein Gesicht äußerst zärtlich. »Kurue sagt, dass ich all unsere Hoffnungen deinetwegen aufs Spiel setze. Sie hat recht.«

Ich stutzte verwirrt. »Mein Leben gehört immer noch euch. Ich werde mich an unsere Abmachung halten, obwohl ich den Wettbewerb verloren habe. Ihr habt in gutem Glauben gehandelt.«

Er seufzte und beugte sich zu meiner Überraschung nach vorne, um seine Stirn an meine zu legen. »Sogar jetzt sprichst du von deinem Leben wie von einer Ware, die für unseren ›guten

Glauben‹ verkauft wurde. Was wir dir angetan haben, ist ekelerregend.«

Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte, ich war zu verblüfft. Plötzlich flackerte in mir die Einsicht auf, dass es genau das war, wovor Kurue Angst hatte — Nahadoths flatterhafter, leidenschaftlicher Sinn für Ehre. Er war in den Krieg gezogen, um seiner Trauer über Enefa Ausdruck zu verleihen; er hatte sich und seine Kinder aus reiner Sturheit in der Sklaverei belassen, anstatt seinem Bruder zu vergeben. Er hätte anders mit seinem Bruder umgehen können, damit nicht das ganze Universum und so viele Leben auf dem Spiel gestanden hätten. Aber das war das Problem: Wenn der Lord der Finsternis etwas mochte, dann wurden seine Entscheidungen unvernünftig und seine Handlungen drastisch.

Und entgegen aller Vernunft fing er an, mich zu mögen.

Schmeichelhaft. Beängstigend. Ich konnte nicht erraten, was er unter solchen Umständen tun würde. Aber was noch wichtiger war, ich erkannte, was das kurzfristig bedeutete. In einigen Stunden würde ich sterben, und er würde erneut trauernd zurückbleiben.

Wie seltsam, dass dieser Gedanke mein Herz ebenfalls schmerzen ließ.

Ich legte meine Hände um das Gesicht des Lords der Finsternis und seufzte. Ich schloss meine Augen, damit ich die Person hinter der Maske spüren konnte. »Es tut mir leid«, sagte ich. Und so war es auch. Ich hatte nie beabsichtigt, ihm Schmerzen zuzufügen.

Er bewegte sich nicht und ich auch nicht. Es fühlte sich gut an, sich an ihn zu lehnen und in seinen Armen auszuruhen. Es war eine Illusion, aber zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte ich mich sicher.

Ich weiß nicht, wie lange wir so dastanden, aber wir hörten es beide, als die Musik sich veränderte. Ich richtete mich auf und sah mich um. Die Handvoll Gäste, die sich mit uns auf der Terrasse befunden hatten, waren hineingegangen. Das bedeutete, dass es Mitternacht war — Zeit für den Haupttanz des Abends, den Höhepunkt des Balls.

»Willst du hineingehen?«, fragte Nahadoth.

»Nein, natürlich nicht. Mir geht es gut hier draußen.«

»Sie tanzen zu Ehren von Itempas.«

Ich sah ihn verwirrt an. »Warum sollte mir das etwas ausmachen?«

Sein Lächeln erwärmte mich von innen heraus. »Hast du dich so vollkommen von dem Glauben deiner Ahnen abgewendet?«

»Meine Ahnen haben dich verehrt.«

»Und Enefa und Itempas und unsere Kinder. Die Darre waren eine der wenigen Rassen, die uns alle ehrten.«

Ich seufzte. »Seitdem ist viel Zeit vergangen. Zu viel hat sich verändert.«

»Du hast dich verändert.«

Dazu konnte ich nichts sagen, es war die Wahrheit.

Einer plötzlichen Regung folgend, ging ich ein Stück von ihm weg, nahm seine Hände und zog ihn in eine Tanzposition. »Auf die Götter«, sagte ich. »Alle.«

Es war so erfreulich, ihn zu überraschen. »Ich habe noch nie zu meinen Ehren getanzt.«

»Na dann, jetzt aber.« Ich zuckte mit den Schultern und wartete auf einen neuen Refrain, bevor ich ihn mit meinen Schritten mitzog. »Einmal ist immer das erste Mal.«

Nahadoth sah belustigt aus, aber er bewegte sich leichtfüßig im Rhythmus mit mir trotz der komplizierten Schritte. Jedes adlige Kind lernte diese Tänze, aber ich hatte sie nie gemocht. Amn- Tänze erinnerten mich an die Amn selbst — kalt, steif und mehr auf Erscheinung als auf Freude bedacht. Aber hier, auf einem dunklen Balkon unter einem mondlosen Himmel mit einem Gott als Tanzpartner lächelte ich, während wir uns hin und her drehten. Es fiel nicht schwer, sich an die Schritte zu erinnern, während er sanft gegen meine Hände und meinen Rücken drückte, um die Führung zu übernehmen. Es war leicht, die Eleganz der Takte mit einem Partner zu genießen, der wie der Wind dahinglitt. Ich schloss meine Augen, legte mich in die Drehungen und seufzte vor Vergnügen, als die Musik anschwoll und sich meiner Stimmung anpasste.

Als die Musik aufhörte, lehnte ich mich an ihn und wünschte, die Nacht würde nie enden — und das nicht nur wegen dem, was mich bei Morgengrauen erwartete.

»Wirst du morgen bei mir sein?«, fragte ich und meinte den wahren Nahadoth und nicht sein Tages-Ich.

»Ich habe die Erlaubnis, während der gesamten Zeremonie ich selbst zu bleiben.«

»Damit Itempas dich fragen kann, ob du zu ihm zurückkehren willst.«

Sein Atem kitzelte weich und kühl mein Haar, als er lachte. »Und dieses Mal werde ich es tun, aber nicht so, wie er es erwartet.«

Ich nickte und lauschte dem langsamen, merkwürdigen Puls seines Herzens. Er klang entfernt und hallte, als ob man ihn über Meilen hinweg hörte. »Was wirst du tun, wenn ich gewinne? Ihn töten?«

Sein Schweigen warnte mich, bevor die eigentliche Antwort kam. »Ich weiß es nicht.«

»Du liebst ihn immer noch.«

Er antwortete nicht, obwohl er einmal über meinen Rücken streichelte. Ich machte mir nichts vor. Er wollte nicht mich beruhigen.

»Es ist in Ordnung«, sagte ich. »Ich verstehe.«

»Nein«, sagte er. »Kein Sterblicher könnte das verstehen.«

Ich sagte nichts mehr, und er sagte auch nichts mehr. Und so ging die lange Nacht vorüber.

Ich hatte zu viele Nächte mit zu wenig Schlaf durchgestanden. Ich musste im Stehen eingeschlafen sein, denn plötzlich blinzelte ich und hob meinen Kopf. Der Himmel hatte eine andere Farbe — ein verschwommenes Mittelding zwischen Schwarz und Grau. Der Neumond schwebte knapp über dem Horizont und war ein dunkler Fleck am langsam heller werdenden Himmel.

Nahadoths Finger drückten wieder sanft zu, und mir wurde klar, dass er mich geweckt hatte. Er schaute zur Balkontür hinüber. Viraine stand dort mit Scimina und Relad. Ihre weißen Gewänder schienen zu leuchten, so dass ihre Gesichter im Schatten lagen.

»Zeit«, sagte Viraine.

Ich horchte in mich hinein und war zufrieden, als ich Stille und keine Angst dort fand.

»Ja«, sagte ich. »Lasst uns gehen.«

Drinnen war der Ball noch in vollem Gange, obwohl ich schon weniger Menschen tanzen sah als vorher. Dekartas Thron auf der anderen Seite der Menge war leer. Vielleicht war er schon vorzei- tig gegangen, um sich vorzubereiten.

Nachdem wir die stillen und außergewöhnlich hellen Flure Ely- siums betreten hatten, gab Nahadoth seine Maskerade auf. Sein Haar wurde länger, und seine Kleidung veränderte die Farbe von einem Schritt zum anderen. Er hatte wieder blasse Haut; wahrscheinlich waren wohl zu viele meiner Verwandten in der Nähe. Wir nahmen einen Aufzug nach oben und verließen ihn auf der obersten Etage von Elysium, die ich inzwischen schon auf Anhieb erkannte. Als wir den Aufzug verließen, sah ich, dass die Türen zum Solarium offen standen. Der gepflegte Wald dahinter lag im Schatten und war ruhig. Das einzige Licht stammte vom Zentralturm des Palastes, der sich im Herzen des Solariums erhob und wie der Mond strahlte. Ein schwach erleuchteter Pfad führte von uns weg zwischen den Bäumen hindurch zum Fundament des Turms.

Aber ich war abgelenkt von den Gestalten, die rechts und links der Tür standen.

Kurue erkannte ich sofort. Ich hatte die Schönheit ihrer Gold- Silber-Platin-Flügel nicht vergessen. Zhakkarn war ebenfalls großartig in ihrer silbernen, mit eingravierten Siegeln überzogenen Rüstung; ihr Helm glänzte im Licht. Das letzte Mal hatte ich diese Rüstung in einem Traum gesehen.

Die dritte Gestalt, die zwischen ihnen stand, war weniger beeindruckend, aber dafür sehr seltsam: eine schlanke Katze mit schwarzem Fell, die den Leoparden meines Heimatlandes glich, aber bedeutend größer war. Allerdings hatte kein Wald diesen Leopard hervorgebracht. Sein Fell kräuselte sich wie Wellen in einem unsichtbaren Wind und schimmerte zwischen matt und einem vertrauten, unglaublich tiefen Schwarz. Also sah er doch wie sein Vater aus.

Ich musste einfach lächeln. Danke, formte ich mit meinen Lippen. Die Katze entblößte ihre Zähne als Antwort, und man konnte das beim besten Willen nicht als Drohgebärde ansehen. Gleichzeitig zwinkerte sie mir mit einem grüngeschlitzten Auge zu.

Ich machte mir nichts vor, was ihre Anwesenheit betraf. Zhakkarn war nicht in voller Kampfrüstung, nur um uns durch ihren Glanz allein zu beeindrucken. Der zweite Krieg der Götter würde bald beginnen, und sie waren bereit. Si’eh ... nun, Si’eh war wahrscheinlich meinetwegen hier. Und Nahadoth ...

Ich sah ihn über meine Schulter hinweg an. Er beobachtete weder mich noch seine Kinder. Stattdessen schaute er nach oben, zur Spitze des Turms.

Viraine schüttelte den Kopf und beschloss offenbar, keine Einwände zu erheben. Er warf Scimina einen Blick zu, die mit den

Schultern zuckte. Dann schaute er zu Relad, der ihn wütend anstarrte, als ob er sagen wollte: Warum sollte ich mich darum scheren?

Unsere Blicke trafen sich — meine und Relads. Er war blass, und Schweiß perlte auf seiner Oberlippe, aber er nickte mir leicht zu. Ich erwiderte das Nicken.

»So sei es«, sagte Viraine, und wir gingen alle ins Solarium auf den Zentralturm zu.

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