Zwielicht und Dämmenung

Ich weiß jetzt wieder, wer ich bin.

Ich habe an mir festgehalten und werde dieses Wissen nicht wieder loslassen.

Ich trage in mir die Wahrheit, zukünftig und vergangen — untrennbar.

Ich werde das hier zu Ende bringen.


In dem Zimmer mit den gläsernen Wänden geschehen viele Dinge auf einmal. Ich bewege mich zwischen meinen früheren Begleitern. Ich bin unsichtbar; aber ich sehe alles.

Mein Körper fällt zu Boden und bewegt sich nicht. Nur eine Blutlache breitet sich darum aus. Dekarta starrt mich an, vielleicht sieht er andere tote Frauen. Relad und Scimina schreien Viraine mit verzerrten Gesichtern an. Ich kann ihre Worte nicht hören. Viraine starrt mit seltsam leerem Gesichtsausdruck auf mich herab und schreit ebenfalls etwas. Alle Enefadeh stehen wie angewurzelt da. Si’eh zittert, seine Katzenmuskeln krampfen sich zusammen und sind zum Zerreißen gespannt. Zhakkarn zittert ebenfalls, und ihre gewaltigen Fäuste sind geballt. Ich bemerke, dass zwei von ihnen keine Anstalten machen, sich zu bewegen, und weil ich es bemerke, schaue ich genauer hin. Kurue steht kerzengerade, und sie sieht ruhig, aber resigniert aus. Ein Schatten von Traurigkeit legt sich wie der Umhang, den ihre Flügel bilden, um sie. Die anderen können ihn nicht sehen.

Nahadoth — ah. Sein Ausdruck ist erst geschockt und dann voller Qual, während er mich anstarrt. Mich, die auf dem Boden liegt und ihr Herzblut vergießt, nicht mich, die ihn beobachtet. Wie kann ich nur beides sein 1, frage ich michßüchtig, bevor ich die Frage beiseiteschiebe. Sie ist unwichtig.

Wichtig ist der aufrichtige Schmerz in Nahadoths Augen, der weit über das Entsetzen hinausgeht, dass eine Chance auf Freiheit verlorenging. Sein Schmerz gilt aber nicht mir allein, denn auch er sieht andere tote Frauen. Würde er um mich trauern, wenn ich nicht die Seele seiner Schwester in mir trüge?

Das ist eine unfaire Frage und sehr kleinlich von mir.

Viraine bückt sich und reißt das Messer aus meiner Leiche. Daraufhinßießt noch mehr Blut, aber nicht viel. Mein Herz hat bereits aufgehört zu schlagen. Ich bin auf die Seite gefallen und liege halb zusammengerollt wie im Schlaf. Aber ich bin keine Göttin. Ich werde nicht wieder aufwachen.

»Viraine.« Jemand. Dekarta. »Erkläre dich.«

Viraine steht auf und schaut hoch zum Himmel. Die Sonne steht zu drei Vierteln über dem Horizont. Ein seltsamer Ausdruck geht über sein Gesicht — ein Anflug von Angst. Dann ist er wieder verschwunden, und Viraine schaut auf das blutige Messer in seiner Hand. Er lässt es auf den Boden fallen. Das klappernde Geräusch ist weit entfernt, aber mein Blick konzentriert sich auf seine Hand. Mein Blut ist über seine Finger gespritzt. Sie zittern leicht.

»Es war unumgänglich«, sagt er, halb zu sich selbst. Dann reißt er sich zusammen und sagt: »Sie war eine Waffe, Mylord. Lady Kinneths letzter Schlag gegen Euch, und die Enefadeh waren insgeheim einverstanden. Ich habe nicht genug Zeit, um alles zu erklären. Es muss genügen, wenn ich sage, dass die ganze Welt den Preis gezahlt hätte, wenn sie den Stein berührt und ihren Wunsch geäußert hätte.«

Si’eh hat es geschafft, sich gerade hinzustellen, vielleicht weil er nicht mehr versucht, Viraine zu töten. Seine Stimme ist in der Katzenform tiefer und ein halbes Knurren. »Woher wusstest du das?«

»Ich habe es ihm gesagt.«

Kurue.

Die anderen starren sie ungläubig an. Aber sie ist eine Göttin. Selbst als Verräterin wird sie ihre Würde nicht aufgeben.

»Ihr habt Euch vergessen«, sagt sie und schaut jeden ihrer Mit-Enefadeh der Reihe nach an. »Wir sind zu lange der Gnade anderer Wesen ausgeliefert gewesen. Es gab eine Zeit, da wären wir nicht so tief gesunken, uns auf einen Sterblichen zu verlassen — erst recht nicht auf einen Nachkommen ausgerechnet des Sterblichen, der uns verraten hat.« Wenn sie auf meine Leiche sieht, hat sie Shahar Arameri vor Augen. Ich trage die Last so vieler toter Frauen. »Ich würde lieber sterben, als sie um meine Freiheit zu bitten. Ich würde sie lieber töten und mit ihrem Tod die Gnade von Itempas erkaufen.«

Nach ihren Worten entsteht atemlose Stille. Nicht aus Schock, sondern aus Zorn.

Si’eh durchbricht sie als Erster und knurrt ein leises, bitteres Lachen. »Ich verstehe. Du hast Kinnethgetötet.«

Alle Menschen im Zimmer schrecken auf, nur Viraine nicht. Dekarta lässt seinen Stock fallen, weil seine knorrigen Finger sich halb zu Fäusten geballt haben. Er sagt etwas. Ich höre es nicht.

Kurue scheint ihn auch nicht zu hören, obwohl sie ihren Kopf Richtung Si’eh neigt. »Das war das einzig Vernünftige. Das Mädchen musste hier in der Dämmerung sterben.« Sie zeigt auf den Stein. »Die Seele wird in der Nähe der fleischlichen Uberreste verweilen. Und bald wird Itempas eintreffen, um sie endlich zu holen und zu zerstören.«

»Und damit unsere Hoffnungen«, sagt Zhakkarn mit zusammengebissenen Zähnen.

Kurue seufzt. »Unsere Mutter ist tot, Schwester. Itempas hat gewonnen. Ich hasse es ebenfalls, aber es wird Zeit, dass wir es akzeptieren. Was glaubst du denn, was passiert wäre, wenn wir es geschafft hätten, uns zu befreien? Nur wir vier gegen den Lord Bright und Dutzende unserer Brüder und Schwestern? Und was den Stein angeht — wir haben niemanden, der ihn für uns benutzen könnte, aber Itempas hat seine Arameri-Schoßhündchen. Wir würden wieder in der Sklaverei enden oder noch schlimmer. Nein.«

Dann dreht sie sich zu Nahadoth um und schaut ihn zornig an. Wie hatte ich nur diesen Ausdruck in ihren Augen übersehen können? Er war schon immer dort. Sie sah Nahadoth an, wie meine Mutter wahrscheinlich Dekarta angesehen hatte: mit Trauer und Verachtung in einem. Das hätte mich eigentlich warnen müssen.

»Wenn du willst, hass mich dafür, Naha. Aber denk daran, wenn du deinen lächerlichen Stolz geschluckt und Itempas das gegeben hättest, was er wollte, wäre keiner von uns hier. Jetzt werde ich ihm geben, was er will, und er hat mir versprochen, mich dafür freizulassen.«

Nahadoth sprach sehr leise. »Du bist eine Närrin, Kurue, wenn du glaubst, dass Itempas etwas anderes außer meiner Unterwerfung akzeptieren wird.«

Dann sieht er hoch. Ich habe kein Fleisch in dieser Vision, diesem Traum, aber ich habe das Bedürfnis, zu zittern. Seine Augen sind schwärzer als schwarz. Die Haut um sie herum ist mit Falten und Rissen übersät wie eine Porzellanmaske, die kurz davor ist, zu zerplatzen. Durch diese Risse schimmert weder Blut noch Fleisch, sondern ein unmögliches Schwarz, das wie ein Herzschlag pulsiert. Als er lächelt, kann ich seine Zähne nicht sehen.

»Nicht wahr ... Bruder?« In seiner Stimme hallt Leere wider. Er schaut Viraine an.

Viraine, der durch die aufgehende Sonne wie eine Silhouette wirkt, dreht sich zu Nahadoth um — aber er scheint in meine Augen zu blicken. In die des beobachtenden, schwebenden Ichs. Er lächelt. Die Trauer und die Angst, die in dem Lächeln liegen, sind etwas, das ich als Einzige in diesem Zimmer verstehen kann. Ich weiß das instinktiv, aber ich weiß nicht, warum.

Dann, kurz bevor die unterste Rundung der Sonne sich vom Horizont löst, erkenne ich, was ich in ihm gesehen habe. Zwei Seelen. Itempas hat wie seine beiden Geschwister ein zweites Ich.

Viraine legt seinen Kopf zurück und schreit. Aus seiner Kehle ergießt sich glühend heißes, weißes Licht. Es durchßutet das Zimmer und blendet mich. Ich stelle mir vor; wie die Menschen in der Stadt und den umliegenden Ländereien unter uns dieses Licht noch meilenweit entfernt sehen. Sie werden denken, dass eine Sonne auf die Erde gekommen ist, und sie haben recht.

In der Helligkeit höre ich, wie die Arameri aufschreien — außer Dekarta. Er allein hat dem schon einmal beigewohnt. Als das Licht verblasst, erblicke ich Bright Itempas, den Elysiumvater.

Das Relief in der Bibliothek war überraschend präzise, obwohl die Unterschiede prägnant sind. Sein Gesicht ist noch perfekter, die Linien und die Gleichmäßigkeit darin sind von Bildhauerkunst nicht zu erfassen. Seine Augen haben das Gold der gleißenden Mittagssonne. Obwohl sein Haar genauso weiß ist wie Viraines, ist es noch kürzer und wesentlich dichter gelockt als meins. Seine Haut ist ebenfalls etwas dunkler, matt glänzend und makellos. Das überrascht mich, obwohl es das nicht tun sollte. Es muss die Amn maßlos ärgern. Auf den ersten Blick ist mir bereits klar, warum Naha ihn liebt.

In Itempas’Augen liegt auch Liebe, als er um meine Leiche und ihren Heiligenschein aus gerinnendem Blut herumgeht. »Nahadoth«, sagt er, lächelt und streckt seine Hände aus. Sogar in meinem fleischlosen Zustand erschauere ich. Was seine Zunge mit diesen Silben anstellt! Er ist gekommen, um den Gott der Verführung zu verführen, und er ist gut vorbereitet!

Nahadoth kommt plötzlich frei und kann sich hinstellen, was er auch tut. Aber er ergreift nicht die dargebotenen Hände. Ergeht an Itempas vorbei zu meinem Körper. Meine Leiche ist von allen Seiten mit Blut besudelt, aber er kniet nieder und hebt mich trotzdem hoch. Er drückt mich an sich und schützt meinen Kopf, damit er nicht an meinem schlaffen Nacken nach hinten fällt. Sein Gesicht ist ausdruckslos. Er schaut mich einfach nur an.

Wenn diese Geste eine Beleidigung sein sollte, so hat sie ihre Wirkung nicht verfehlt. Itempas senkt langsam seine Hände, und sein Lächeln verblasst.

»Allvater.« Dekarta verbeugt sich würdevoll, aber unsicher ohne seinen Stab. »Wir fühlen uns durch Eure Anwesenheit wieder einmal geehrt.« Gemurmel ertönt an den Seiten des Zimmers; Relad und Scimina entbieten ebenfalls ihren Gruß. Sie sind mir egal. Ich verbanne sie aus meiner Wahrnehmung.

Einen Moment lang glaube ich, dass Itempas nicht antworten wird. Dann sagt er, während sein Blick immer noch auf Nahadoths Rücken ruht: »Du trägst immer noch das Siegel, Dekarta. Ruf einen Diener und beende das Ritual.«

»Sofort, Vater. Aber ...«

Itempas sieht Dekarta an. Dieser verstummt unter diesem Blick, der wie die Wüste brennt. Ich kann es ihm nicht verübeln. Aber Dekarta ist ein Arameri; Götter jagen ihm nicht lange Angst ein.

»Viraine«, sagt er. »Du warst ... ein Teil von ihm.«

Itempas lässt ihn in der Stille zappeln und sagt dann: »Seit deine Tochter Elysium verlassen hat.«

Dekarta schaut hinüber zu Kurue. »Du wusstest das?«

Sie neigt majestätisch ihren Kopf. »Nicht sofort. Aber Viraine kam eines Tages zu mir und ließ mich wissen, dass ich nicht auf alle Ewigkeit zu dieser irdischen Hölle verdammt sein muss. Unser Vater könnte uns immer noch vergeben, wenn wir unter Beweis stellen, dass wir ihm treu ergeben sind.« Sie wirft Itempas einen kurzen Blick zu, und auch ihre Würde kann ihre Angst nicht verbergen. Sie weiß, wie flatterhaß seine Gunst sein kann. »Selbst dann war ich nicht sicher; obwohl ich es vermutete. Zu dem Zeitpunkt habe ich meinen Plan gefasst.«

»Aber ... das bedeutet...« Dekarta hält inne, und in schneller Abfolge huschen Begreifen, Zorn und Resignation über sein Gesicht. Ich kann seine Gedanken erraten: Bright Itempas hat den Tod von Kinneth inszeniert.

Mein Großvater schließt seine Augen; vielleicht trauert er dem Verlust seines Glaubens nach. »Warum?«

»Viraines Herz war gebrochen.« Und ist sich der Allvater dessen bewusst, dass seine Augen sich auf Nahadoth richten, als er dies sagt? Weiß er, was dieser Blick enthüllt? »Er wollte Kinneth zurück und hat alles angeboten, wenn ich ihm helfen würde, das Ziel zu erreichen. Ich habe sein Fleisch als Bezahlung akzeptiert.«

»Das war vorhersehbar.« Ich begebe mich zu mir, die in Nahadoths Armen liegt. Nahadoth spricht über mir. »Du hast ihn benutzt.«

»Wenn es mir möglich gewesen wäre, ihm das zugeben, was er wollte, so hätte ich es getan«, antwortet Itempas mit einem sehr menschlich anmutenden Schulterzucken. »Aber Enefa hat diesen Wesen die Macht gegeben, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. Sogar wir können ihre Meinung nicht ändern, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt haben. Viraine war ein Narr, darum zu bitten.«

Das Lächeln,- das Nahadoths Lippen umspielt, ist verächtlich. »Nein, Tempa, das meinte ich nicht. Du weißt das.«

Und irgendwie, wahrscheinlich weil ich nicht länger lebe und nicht länger mit einem weltlichen Gehirn denke, verstehe ich. Enefa ist tot. Auch wenn ein Überbleibsel ihrer selbst verweilt — es ist nur ein Schatten dessen, was sie früher einmal wirklich war.

Viraine allerdings hatte die Essenz eines lebendigen Gottes in sich aufgenommen. Ich erschauere, als mir klar wird: In dem Moment, in dem Itempas Gestalt angenommen hat, ist Viraine gestorben. Wusste er, was ihm bevorstand? Zurückblickend wurde so viel klar, was seine seltsame Art anging.

Aber davor konnte Itempas Nahadoth in der Verkleidung von Viraines Geist und Seele wie ein Voyeur beobachten. Er konnte Nahadoth Befehle erteilen und sich an seinem Gehorsam ergötzen. Er konnte vorgeben, Dekartas Willen zu folgen und dabei die Ereignisse so lenken, dass er unterschwellig Druck auf Nahadoth ausübte. Alles ohne Nahadoths Wissen.

Itempas’Ausdruck verändert sich nicht, aber irgendetwas an ihm deutet auf Zorn hin. Vielleicht scheinen seine Augen noch etwas glänzender poliert zu sein. »Immer so melodramatisch, Naha.« Er macht einen Schritt näher heran — nah genug, dass die weiße Aura, die ihn umgibt, mit Nahadoths schwelendem Schatten kollidiert. Wo die beiden Mächte sich berühren, verschwinden sowohl Licht als auch Dunkelheit, und es bleibt nichts übrig.

»Du klammerst dich an das Stück Fleisch, als ob es etwas bedeutete«, sagt Itempas.

»Das tut es.«

»Ja, ja, ein Gefäß, ich weiß — aber ihr Zweck ist jetzt erfüllt. Sie hat eure Freiheit mit ihrem Leben erkauft. Willst du nicht herkommen und deine Belohnung abholen?«

Mit langsamen Bewegungen legt Nahadoth meinen Körper ab. Außer mir scheint niemand zu spüren, wie seine Wut sich aufbaut. Sogar Itempas sieht überrascht aus, als Nahadoth seine Fäuste ballt und auf den Boden hämmert. Mein Blut spritzt in zwei kleinen Fontänen hoch. Der Boden knackt merkwürdig, und einige der Risse ziehen sich die Glaswände hinauf. Glücklicherweise überziehen die Risse die Glaswände nur mit spinnwebartigen Mustern und zerschmettern sie nicht. Wie zum Ausgleich zerbricht stattdessen der Sockel in der Mitte des Zimmers. Dadurch fällt der Stein auf den Boden, und alle werden mit glitzernden weißen Flecken überschüttet.

»Mehr«, schnauft Nahadoth. Seine Haut ist noch weiter aufgeplatzt; er wird kaum noch von dem Fleisch, das sein Gefängnis ist, festgehalten. Als er sich erhebt und umdreht, tropft von seinen Händen etwas, das zu dunkel ist, um Blut zu sein. Der Umhang, der ihn umgibt, peitscht die Luft wie winzige Tornados.

»Sie ... war ... mehr!« Er ist kaum noch zu verstehen. Er hat Unendlichkeiten gelebt, bevor es Sprache gab. Vielleicht ist es sein Instinkt, in Augenblicken, in denen es zum Äußersten kommt, auf Sprache völlig zu verzichten und seinen Zorn nur hinauszubrüllen. »Mehr als nur ein Gefäß. Sie war meine letzte Hoffnung. Und deine.«

Kurue — mein Blick wendet sich ihr gegen meinen Willen zu — macht einen Schritt nach vorne und öffnet ihren Mund, um zu protestieren. Zhakkarn packt sie warnend am Arm. Weise, denke ich, oder immerhin weiser als Kurue. Nahadoth sieht aus, als ob er völlig durchdreht.

Itempas allerdings auch, während er Nahadoths Wüten beobachtet. In seinen Augen steht unverblümte Lust. Neben der Anspannung des Kriegers ist sie unverkennbar. Natürlich: Wie viele Ewigkeiten haben sie damit zugebracht, sich zu bekämpfen — rohe Gewalt, die den Weg freimachte für andere, seltsamere Gelüste? Oder vielleicht ist Itempas einfach so lange ohne Nahadoths Liebe gewesen, dass er alles — sogar Hass — an ihrer statt akzeptieren wird.

»Naha«, sagt er leise. »Schau dich an. All das wegen einer Sterblichen?« Er seufzt und schüttelt seinen Kopf. »Ich hatte gehofft, dass du, wenn du erst einmal unter diesem Gesindel lebst, deine Fehler einsiehst. Jetzt sehe ich, dass du dich nur an die Gefangenschaftgewöhnt hast.«

Er macht einen Schritt nach vorne und tut das, was jeder andere in diesem Zimmer für Selbstmord gehalten hätte: Er berührt Nahadoth. Es ist eine kurze Geste, seine Finger streifen nur leicht über das rissige Porzellan von Nahadoths Gesicht. In dieser Berührung liegt so viel Sehnsucht, dass mir das Herz schmerzt.

Aber macht das noch einen Unterschied? Itempas hat Enefa getötet, er hat seine eigenen Kinder getötet, er hat mich getötet. Er hat ebenfalls etwas in Nahadoth getötet. Kann er das nicht sehen?

Vielleicht sieht er es, denn sein weicher Ausdruck verschwindet, und kurz darauf nimmt er seine Hand fort.

»So sei es«, sagt er und wird kalt. »Das hier ermüdet mich. Enefa war eine Plage, Nahadoth. Sie hat das reine, vollkommene Universum, das du und ich erschaffen hatten, genommen und es beschmutzt. Ich habe den Stein behalten, weil ich sie wirklich mochte, egal, was du denkst ... und weil ich dachte, es würde helfen, deine Meinung zu ändern.«

Er macht eine Pause und schaut hinunter auf meine Leiche. Der Stein ist in mein Blut gefallen, weniger als eine Handbreit von meiner Schulter entfernt. Obwohl Nahadoth vorsichtig war, als er mich ablegte, ist mein Kopf haltlos zur Seite gekippt. Ein Arm ist nach oben gebogen, als ob er versuchen wollte, den Stein zu umarmen und näher zu mir hin zu ziehen. Das Bild ist voller Ironie: eine sterbliche Frau, die bei dem Versuch getötet wurde, sich der Macht einer Göttin zu bemächtigen. Und die Geliebte eines Gottes zu werden.

Ich glaube, Itempas wird mich in eine ganz besonders schreckliche Hölle werfen.

»Ich denke, es ist Zeit, dass unsere Schwester vollends stirbt«, sagt Itempas. Ich kann nicht sagen, ob er den Stein ansieht oder mich. »Lass ihre Plage mit ihr sterben, und dann kann unser Leben wieder so sein, wie es einmal war. Hast du diese Zeiten nicht vermisst?«

Ich bemerke, wie Dekarta sich bei diesen Worten versteift. Er scheint der einzige der drei Sterblichen zu sein, der begreift, was Itempas meint.

»Ich werde dich auch dann nicht weniger hassen, Tempa«, stößt Nahadoth hervor, »wenn wir die letzten Überlebenden in diesem Universum sind.«

Dann wird er zu einem brausenden schwarzen Sturm, der angreift, und Itempas ist ein knisterndes weißes Feuer, das sich wappnet, um ihm zu begegnen. Durch die Erschütterung ihres Aufeinandertreffens zerbricht das Glas des Ritualzimmers. Sterbliche schreien, und ihre Stimmen sind fast nicht zu hören, als kalte, dünne Luft hereinheult, um die Leere zu füllen. Sie fallen zu Boden, während Nahadoth und Itempas in die Höhe schnellen. Aber meine Aufmerksamkeit wird kurz auf Scimina gelenkt. Ihr Blick fällt auf das Messer; das mich getötet hat — Viraines Messer, das nicht weit von ihr entfernt liegt. Relad liegt ausgehreitet und benebelt zwischen Glassplittern und Trümmern des zerbrochenen Sockels. Scimina kneift ihre Augen zusammen.

Si’eh brüllt auf seine Stimme ist ein Echo von Nahadoths Kampfschrei. Zhak- kam dreht sich zu Kurue um, und ihr Speer erscheint in ihrer Hand.

Im Zentrum des Ganzen liegen unbemerkt und unberührt mein Körper und der Stein, die sich nicht bewegen.


Da sind wir nun.

Ja.

Verstehst du, was geschehen ist?

Ich bin tot.

Ja. In der Anwesenheit des Steins, der das, was von meiner Macht noch übrig ist, beherbergt.

Ist das der Grund, warum ich noch hier bin und all diese Dinge sehen kann?

Ja. Der Stein tötet die Lebenden. Du bist tot.

Du meinst ... ich kann wieder ins Leben zurückkehren? Erstaunlich. Wie praktisch, dass Viraine sich gegen mich gewandt hat.

Ich ziehe es vor, das als Schicksal anzusehen.

Also was nun?

Dein Körper muss sich verändern. Er wird nicht länger in der Lage sein, zwei Seelen in sich zu tragen; das ist eine Fähigkeit, die nur Sterbliche besitzen. Ich habe euch so erschaffen, mit Talenten, die wir nicht besitzen. Aber ich habe mir nie träumen lassen, dass es dich so stark machen würde. Stark genug, mich zu schlagen, trotz all meiner Anstrengungen. Stark genug, um an meine Stelle zu treten.

Was? Nein. Ich will nicht an deine Stelle treten. Du bist du. Ich bin ich. Dafür habe ich gekämpft.

Und gut gekämpft. Aber meine Essenz, alles, was ich bin, ist notwendig, damit diese Welt fortbestehen kann. Wenn ich nicht diejenige sein kann, die diese Essenz wiederherstellt, dann musst du das tun.

Aber ...

Ich bereue nichts, Tochter, kleine Schwester, würdige Erbin. Das solltest du auch nicht tun. Ich wünschte nur ...

Ich kenne deinen Wunsch.

Tust du das wirklich?

Ja. Sie sind blind vor Stolz, aber darunter ist immer noch Liebe. Die Drei sind dazu bestimmt, zusammen zu sein. Ich werde dafür sorgen, dass es geschieht.

Ich danke dir.

Ich danke dir. Und leb wohl.

Ich kann eine Ewigkeit lang nachdenken. Ich bin tot. Ich habe alle Zeit der Welt.

Aber ich war noch nie besonders geduldig.

In und um das Glaszimmer herum — das kein Glas mehr hat und -wahrscheinlich auch nicht länger als Zimmer durchgeht — tobt der Kampf.

Itempas und Nahadoth haben ihren Kampf in den Himmel verlagert, den sie sich einst geteilt haben. Uber den Staubpartikeln, zu denen sie geworden sind, brechen dunkle Streifen in die Helligkeit der Dämmerung ein, wie Streifen der Nacht, die sich über den Morgen legen. Ein gleißender weißer Strahl, wie von der Sonne, nur tausendmal heller, schießt über sie hinweg, um sie zu zerstören. Es ist sinnlos. Es ist Tag. Nahadoth würde bereits in seinem menschlichen Gefängnis schlafen, wenn er nicht Freigang von Itempas gewährt bekommen hätte. Itempas kann diesen Freigang jederzeit nach Belieben widerrufen. Er muss wohl Spaß haben.

Scimina hat Viraines Messer an sich genommen. Sie hat sich auf Reladgeworfen und versucht, ihn aufzuschlitzen. Er ist stärker, aber sie ist in der besseren Position, und die Stärke des Wahnsinns verschafft ihr einen Vorteil. Relads Augen sind entsetzt geweitet, vielleicht hat er schon immer vor so etwas Angst gehabt.

Si’eh, Zhakkarn und Kurue umkreisen sich mit Ausfallschritten in einem tödlichen Metall-und-Klauen-Tanz. Kurue hat ein paar glänzende Bronzeschwerter herbeigezaubert, um sich zu verteidigen. Auch dieser Wettbewerb ist bereits entschieden; Zhakkarn ist der Inbegriff des Kampfes, und Si’eh hat die Macht der grausamen Kinder. Aber Kurue ist gerissen, und sie kann die Freiheit bereits schmecken. Sie wird nicht so einfach sterben.

Inmitten all dieser Vorgänge bewegt sich Dekarta zu meinem Körper. Er hält an und kämpft sich auf die Knie; schließlich rutscht er in meinem Blut aus und fällt mit schmerzverzerrtem Gesicht halb auf mich. Dann wird sein Ausdruck härter. Er schaut zum Himmel auf, wo sein Gott kämpft, dann hinunter. Auf den Stein. Er ist die Quelle der Macht des Arameri-Clans; die Verkörperung ihrer Pßicht. Vielleicht hofft er, dass er, wenn er diese Pßicht erfüllt, Itempas an den Wert des Lebens erinnern wird. Vielleicht hat er sich noch ein kleines bisschen Glauben erhalten. Vielleicht liegt es nur daran, dass er vor vierzig Jahren seine Frau getötet hat, um zu beweisen, wie ernst er es meint. Jetzt etwas anderes zu tun, das würde ihren Tod verhöhnen.

Ergreift nach dem Stein.

Dieser ist verschwunden.

Aber gerade war er noch da und lag in meinem Blut. Dekarta stutzt und sieht sich um. Sein Blick wird von einer Bewegung angezogen. Das Loch in meiner Brust, das er durch den zerrissenen Stoß meines Mieders sehen kann: die Ränder der Wunde bewegen sich aufeinander zu und schließen sich. Als die Linie der Wunde schrumpft, erhascht Dekarta ein kurzes Aufblitzen von grauem Licht. In mir.

Dann werde ich nach vorne gezogen, nach unten ...

Ja. Genug von diesem körperlosen Seelen-Blödsinn. Es wird Zeit, wieder zum Leben zu erwachen.


Ich öffnete meine Augen und setzte mich auf.

Dekarta hinter mir machte ein Geräusch, das zwischen Verschlucken und Ersticken lag. Niemand sonst bemerkte, wie ich aufstand, also drehte ich mich um und sah ihn an.

»W... was in aller Götter Namen ...« Sein Mund funktionierte. Er starrte.

»Nicht alle Götter«, sagte ich. Und weil ich trotz allem immer noch ich war, beugte ich mich vor, um ihm ins Gesicht zu lächeln. »Nur ich.«

Dann schloss ich meine Augen und berührte meine Brust. Nichts schlug unter meinen Fingern, mein Herz war zerstört. Trotzdem war dort etwas und gab meinem Fleisch Leben. Ich konnte es fühlen. Der Stein. Ein Gegenstand des Lebens, geboren aus dem Tod, erfüllt mit unberechenbarem Leistungsvermögen. Ein Samen.

»Wachse«, flüsterte ich.

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