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»Ich sehe keinen großen Sinn darin, sich darüber zu streiten, was in der Vergangenheit war«, sagte Frigate. »Wir sollten vielmehr etwas unternehmen, was uns in unserer jetzigen Lage nützt.«

Burton erhob sich. »Sie haben recht, Yank! Was wir brauchen, sind Dächer über dem Kopf, Werkzeuge und weiß Gott was sonst noch alles! Aber zunächst, glaube ich, sollten wir einen Blick auf die Ebene werfen und nachsehen, was die Bürger dort unten treiben.«

In diesem Moment erschien unter den Bäumen Alice Hargreaves. Frigate, der sie als erster sah, brach in Gelächter aus. »Die allerneueste Mode für die Dame!« rief er.

Alice hatte unter Zuhilfenahme ihrer Schere eine Menge langer Grashalme abgeschnitten und sich daraus eine Art zweiteiliges Kleid gebastelt. Das Oberteil bedeckte in der Art eines Ponchos ihre Brüste, während das andere eine Art Rock darstellte, der ihr bis zu den Waden reichte.

Der Effekt, den sie damit erzielte, war ein komischer, und das hätte sie voraussehen müssen. Solange sie noch nackt gewesen war, hatte der kahle Schädel ihrer weiblichen Schönheit keinerlei Abbruch getan, aber im Zusammenhang mit den faserigen, grünen Umhängen, die sie jetzt trug, schien er plötzlich maskulin und häßlich.

Die anderen Frauen umringten sie und untersuchten das Graskleid und den Gürtel, der den Rock am Rutschen hinderte.

»Es kratzt und ist furchtbar unbequem«, sagte Alice, »aber es ist schicklich, und mehr soll es auch nicht sein.«

»Offenbar haben Sie das, was Sie über Ihre Nacktheit im Land der Unbekleideten sagten, doch nicht so ernst gemeint«, sagte Burton.

Alice maß ihn mit kühlem Blick und erwiderte: »Ich erwarte, daß alle diese Kleider tragen werden. Zumindest jeder Mann und jede Frau, die sich für anständig halten.«

»Ich nehme eher an, daß sich in Ihnen irgendeine alte Anstandstante regt«, entgegnete Burton spöttisch.

»Es war ein Schock, plötzlich unter so vielen nackten Menschen aufzuwachen«, sagte Frigate, »auch wenn Nacktheit am Strand und in den eigenen vier Wänden in den achtziger Jahren bereits weit verbreitet war. Aber es war noch nicht lange genug üblich, daß jeder seine Erfahrungen damit machen konnte. Die hoffnungslos Neurotischen machten sie jedenfalls nie, denke ich.«

Burton wandte sich um und sagte zu den anderen Frauen: »Was ist mit Ihnen, meine Damen? Haben Sie auch vor, diese häßlichen, kratzenden Dinger zu tragen, weil Sie plötzlich entdeckt haben, daß die Eigenheit Ihres Geschlechts einer Verhüllung bedarf? Kann jemand, der vor aller Augen nackt aufgetreten ist, sich plötzlich wieder in so etwas wie eine Intimsphäre zurückziehen?«

Da er Italienisch sprach, verstanden Loghu, Tanya und Alice ihn natürlich nicht. Für die beiden letzteren übersetzte er seine Frage in Englisch.

Alice schoß das Blut ins Gesicht. Sie sagte: »Es ist ganz allein meine Sache, was ich trage. Wenn jemand es nicht für unanständig hält, nackt zu gehen, während ich bekleidet bin, nun…«

Loghu hatte nicht ein Wort verstanden, aber offensichtlich begriff sie, was hier vor sich ging. Lachend wandte sie sich ab. Die übrigen Frauen schienen darauf zu warten, was die anderen zu tun beabsichtigten. Die Häßlichkeit und Unbequemlichkeit des Graskleides schienen dabei keine große Rolle zu spielen.

»Während ihr Frauen euch noch darüber klar werden müßt, was ihr wollt, wäre es nett, wenn ihr in der Zwischenzeit einen Bambusbehälter nehmen und mit uns zum Fluß hinuntergehen würdet. Wir könnten dort baden, die Behälter neu füllen, uns über die Situation auf der Ebene informieren und dann hierher zurückkehren. Wenn wir uns anstrengen, könnten wir es durchaus schaffen, uns einige Unterstände zu bauen, bevor die Nacht hereinbricht.«

Sie gingen in Richtung Fluß, bahnten sich einen Weg durch das hohe Gras und trugen Bambusstangen, Speere, Eimer und Steinwaffen mit sich. Schon nach kurzer Zeit stießen sie auf eine andere Menschengruppe. Allem Anschein nach hatten sich viele entschlossen, die Ebene zu verlassen. Aber das war nicht alles: Eine ganze Reihe von ihnen war mittlerweile mit Steinwerkzeugen und Waffen ausgerüstet. Das bedeutete, daß sie die Kunst der Steinbearbeitung von irgendwelchen anderen Primitiven erlernt hatten. Bisher hatte Burton lediglich die Bekanntschaft von zwei Wesen, die nicht der Gattung Homo sapiens angehörten, gemacht — und diese beiden befanden sich bei ihm. Aber wer immer auch den anderen Leute diese Techniken gelehrt hatte — er hatte nicht versagt. Sie kamen an zwei halbfertigen runden Bambushütten vorbei, die aus einem einzigen Raum bestanden und, wenn sie fertig waren, über konisch zulaufende Dächer verfügen würden, aus dem Astwerk der Eisenbäume hergestellt und mit langem Gras bedeckt. Ein Mann, der eine Steinaxt schwang, war damit beschäftigt, aus Bambusstäben ein Bett zu bauen.

Abgesehen von einer Reihe ziemlich baufällig aussehender Hütten oder Schutzdächern aus Holz und Blattwerk und einigen Leuten, die sich im Wasser tummelten, schien die weite Ebene verlassen zu sein. Man hatte die Leichen der bei den Gewalttätigkeiten der letzten Nacht ums Leben gekommenen Menschen beseitigt. Bis jetzt schien hier aber noch niemand auf die Idee gekommen zu sein, sich aus Gras Bekleidung zu basteln, denn eine ganze Reihe Leute brach bei Alices Erscheinen in Gelächter aus, zeigte mit den Fingern auf sie und machte obszöne Bemerkungen. Alice wurde rot, aber sie machte keinerlei Anstalten, sich ihres selbstentworfenen Kleides wieder zu entledigen. Die Hitze wurde immer größer, und bald begann sie sich heimlich unter ihrem gräsernen Gewand zu kratzen. Es wäre ihr sicher nie in den Sinn gekommen, dies in aller Öffentlichkeit zu tun: schließlich war sie Aristokratin und hatte eine viktorianische Erziehung genossen.

Als sie allerdings das Flußufer erreichten, stießen sie auf etwa ein Dutzend Grasmatten, die wie selbstgefertigte Kleider aussahen. Offensichtlich gehörten sie den Männern und Frauen, die sich im Moment lachend, spritzend und schwimmend im Wasser vergnügten.

Für Burton stellte der Anblick eine Neuheit dar. Hier hatte er die gleichen Menschen vor sich, die in ihrem früheren Leben von den Fersen bis zum Hals bedeckt gewesen waren, wenn sie in die Fluten stiegen. Sie waren Produkte ihrer Umwelt gewesen, die ihnen keine andere Wahl gelassen hatte, und sie hatten deren Regeln widerspruchslos akzeptiert. Und jetzt, nur einen Tag nach ihrem Erwachen, schwammen sie nackt. Und es machte ihnen Spaß.

Ein Großteil ihrer Bereitschaft, die Nacktheit zu akzeptieren, hatte natürlich mit dem Schock der plötzlichen Wiedererweckung zu tun. Zudem hatten sie am ersten Tag wirklich keine Möglichkeiten gehabt, sich groß darüber Gedanken zu machen. Viele von ihnen gehörten völlig fremden Kulturkreisen an. Man hatte zivilisierte mit barbarischen Geschöpfen gemischt, und eine ganze Reihe derjenigen, die hier erwacht waren, stammten aus tropischen Gefilden, wo Nacktheit ohnehin fast etwas Natürliches war.

Burton sprach eine Frau an, die bis zu den Hüften im Wasser stand. Sie hatte ein hübsches Gesicht und leuchtend blaue Augen.

»Das ist die Frau, die Sir Robert Smithson angriff«, erklärte Lev Ruach.

»Ich glaube, sie heißt Wilfreda Allport.«

Burton musterte neugierig ihren ausladenden Busen und rief: »Wie ist das Wasser?«

»Herrlich!« rief sie lächelnd zurück.

Er löste den Gral von seinem Handgelenk, legte den Behälter ab, in dem sich sein Messer und die Steinaxt befanden, und watete mit einem Stück grüner Seife in der Hand ins Wasser. Die Wassertemperatur lag bei etwa 25 Grad.

Während er versuchte, sich mit Wilfreda zu unterhalten, seifte er sich ein.

Wenn sie Smithson gegenüber noch immer Haßgefühle hegte, so ließ sie es sich zumindest nicht anmerken. Ihr Akzent deutete darauf hin, daß sie aus dem Norden, möglicherweise aus Cumberland, stammte.

Burton sagte: »Ich habe von Ihrer Auseinandersetzung mit diesem Großkapitalisten gehört. An sich sollten Sie sich jetzt glücklicher fühlen.

Sie sind gesund, jung und hübsch und brauchen sich wegen ein paar Lebensmitteln nicht mehr den Kopf zu zerbrechen. Und was Sie früher für Geld tun mußten, können Sie jetzt aus Liebe tun.«

Er sah keinen Grund, warum er in Gegenwart eines Mädchens aus der Arbeiterklasse lang um den heißen Brei herumreden sollte.

Wilfreda warf ihm einen kühlen Blick zu, der ebenso gut hätte von Alice Hargreaves kommen können, und erwiderte: »Na, siehmal einer an! Sie sind Engländer, wie? Aber ich komme mit Ihrem Akzent nicht klar. Sie könnten Londoner sein, würde ich sagen, aber irgendwas an Ihnen wirkt ein wenig ausländisch.«

»Sie sind der Wahrheit ziemlich nahe«, entgegnete er. »Mein Name ist übrigens Richard Burton. Hätten Sie Lust, bei unserer Gruppe zu bleiben? Wir haben uns zusammengeschlossen, um uns gegenseitig besser helfen zu können, und wollen heute Nachmittag damit beginnen, ein paar Hütten zu bauen. Oben in den Hügeln haben wir einen Gralstein für uns ganz allein.«

Wilfreda musterte den Neandertaler und Monat. »Die beiden gehören wohl auch zu Ihrer Bande, wie? Ich habe von ihnen gehört; man sagt, daß das Monster von einem anderen Stern kommt. Es soll um das Jahr 2000 herum auf der Erde gelandet sein.«

»Er wird Ihnen nichts tun«, versicherte Burton. »Ebenso wenig wie der Vormensch. Was sagen Sie zu meinem Angebot?«

»Ich bin nur eine Frau«, sagte sie. »Was kann ich Ihnen schon bieten?«

»Alles, was eine Frau anzubieten hat«, sagte Burton und grinste.

Überraschenderweise brach sie in lautes Lachen aus. Dann berührte sie seine Brust und sagte: »Gehören Sie etwa nicht zu den cleveren Burschen? Welchen Fehler haben Sie, daß Sie noch kein eigenes Weibchen haben?«

»Ich hatte eine Frau und verlor sie wieder«, erwiderte Burton, obwohl das nicht ganz der Wahrheit entsprach. Er wußte noch immer nicht, was Alice zu tun beabsichtigte, und verstand keinesfalls, weshalb sie die Gruppe nicht verließ, wenn sie sie wirklich abstoßend und entsetzlich fand. Aber möglicherweise lag ihr Bleiben nur daran, daß sie das bekannte Schlechte dem Unbekannten vorzog. Burton selbst fühlte im Moment nichts anderes als eine Art Ekel vor ihrer Dummheit, aber dennoch wünschte er sich, daß sie mit ihnen ging. Auch wenn das Gefühl der Liebe, das er in der vergangenen Nacht kennen gelernt hatte, möglicherweise in großem Maße von der Wirkung der Droge abhängig gewesen war, hatten sich seine Sehnsüchte nicht in ihr Gegenteil verkehrt. Irgend etwas war noch in ihm. Aber warum bat er dann diese Frau, sich seiner Gruppe anzuschließen? Vielleicht nur, um Alice eifersüchtig zu machen, aber möglicherweise auch nur deswegen, damit er jemanden hatte, auf den er zurückgreifen konnte, wenn Alice sich ihm auch in der kommenden Nacht verweigerte. Vielleicht… Burton kam zu dem Schluß, daß er keine Ahnung hatte, warum er es tat.

Alice stand am Ufer und probierte mit den Zehen das Wasser. An dieser Stelle erhob sich das Land nur knappe fünf Zentimeter über die Wasserfläche. Das kurze Gras, das die gesamte Ebene bedeckte, wuchs bis in den Fluß hinein und bildete unter Burtons nackten Füßen einen festen Teppich. Er warf die Seife ans Ufer, schwamm etwa fünfzehn Meter weit in den Fluß hinaus und tauchte unter. Die Strömung war hier stärker und das Becken tiefer. Mit offenen Augen bahnte er sich einen Weg nach unten, bis es um ihn herum dunkel wurde und er einen schmerzhaften Druck auf den Ohren verspürte. Dennoch gab er nicht eher auf, bis seine Fingerspitzen den Grund berührten. Auch hier wuchs das kurze Gras noch.

Als er wieder auftauchte und ihm das Wasser nur noch bis an die Hüften reichte, stellte er fest, daß Alice sich ihrer Bekleidung entledigt hatte.

Sie hielt sich in Ufernähe auf, schien aber im Wasser zu sitzen, da nur noch ihr Kopf aus den Fluten ragte. Sie war soeben dabei, sich Kopf und Gesicht einzuseifen.

»Warum kommen Sie nicht auch herein?« fragte Burton den am Ufer stehenden Frigate.

»Ich passe solange auf die Grale auf.«

»Ausgezeichnet!«

Er hätte selbst auf den Gedanken kommen sollen, daß jemand zurückblieb und auf die Grale achtete, während die anderen badeten, dachte er. Es war kein gutes Zeichen für einen Führer, wenn er den Dingen erlaubte, einfach ihren Lauf zu nehmen. Auf der Erde war er als Leiter vieler Expeditionen bekanntgeworden, von denen sich ebenfalls keine dadurch ausgezeichnet hatte, daß sie unter einer allzu strengen Leitung stand. Dennoch, während des Krim-Krieges, als er Beatsons Freischärler angeführt und die wilde türkische Kavallerie trainiert und die Bashi-Bazouks ausgebildet hatte… Niemand konnte ihm etwas nachsagen. Er hatte seine Arbeit gut gemacht, viel besser als die meisten anderen. Vielleicht war er einfach zu streng mit sich selbst…

Lev Ruach tauchte aus dem Wasser auf und rieb sich mit beiden Händen die Wassertropfen von seinem knochigen Körper. Burton folgte ihm und setzte sich. Alice wandte ihm den Rücken zu. War es Absicht oder Zufall?

»Es ist nicht allein die neu errungene Jugend, die mir Spaß macht«, sagte Ruach in seinem stark akzentuierten Englisch. »Ich freue mich, daß ich dieses Bein wieder besitze.«

Er klopfte auf sein rechtes Knie.

»Ich verlor es bei einem Verkehrsunfall in New Jersey, als ich fünfzig Jahre alt war.« Er lachte und fuhr fort: »Es war irgendwie eine Ironie des Schicksals, daß mir das passierte. Zwei Jahre vorher, als ich in der Negev-Wüste nach Mineralien suchte, wurde ich von den Arabern gefangengenommen, verstehen Sie?«

»Sprechen Sie von Palästina?« fragte Burton.

»Die Juden gründeten 1948 einen eigenen unabhängigen Staat«, erklärte Lev.

»Natürlich können Sie davon nichts wissen. Irgendwann könnte ich Ihnen die ganze Geschichte erzählen. Jedenfalls wurde ich gefangengenommen und von den arabischen Guerillas gefoltert. Ich habe keine Lust, in die einzelnen Details zu gehen; mir wird schlecht, wenn ich nur daran denke. In der gleichen Nacht gelang es mir, zu entfliehen. Ich ging allerdings nicht, ohne vorher den beiden Folterknechten mit einem Stein den Schädel eingeschlagen und zwei weitere erschossen zu haben. Die anderen machten sich sofort aus dem Staub, und so entkam ich. Ich hatte einfach Glück. Eine Patrouille der Armee las mich auf. Jedenfalls zwei Jahre später, als ich mich in den Staaten aufhielt und mich durch den Verkehr zu wursteln versuchte, raste einer von diesen riesigen Sattelschleppern in meinen Wagen und zerquetschte ihn auf der Stelle. Ich war ziemlich schwer verletzt, und man mußte mir das rechte Bein bis zum Knie hinauf abnehmen. Aber der Witz an der ganzen Geschichte war, daß der Lastwagenfahrer ein geborener Syrer war. Sie sehen also, daß die Araber mich letztlich doch noch erwischten, auch wenn ich dabei nicht draufging. Meinen Tod verdanke ich unserem Freund von Tau Ceti, auch wenn ich dazu sagen muß, daß er der Menschheit nicht mehr antat, als daß er ihren Untergang etwas beschleunigte.«

»Was meinen Sie damit?« fragte Burton.

»Millionen starben damals an einer weltweiten Hungersnot, und selbst die Vereinigten Staaten hatten eine Lebensmittelrationierung angeordnet. Das Wasser war vergiftet und das Land, und viele Menschen starben einfach an der Verschmutzung der Luft. Die Wissenschaftler behaupteten, daß zehn Jahre später der Sauerstoffgehalt der Erde um fünfzig Prozent reduziert sein würde, weil das Phytoplankton der Ozeane — das die Welt mit der Hälfte des benötigten Sauerstoffs versorgte — dabei wäre, abzusterben. Die Meere waren ebenfalls vergiftet.«

»Die Meere?«

»Sie glauben mir wohl nicht? Nun, Sie starben 1890, und da kann ich mir vorstellen, daß das für Sie unglaublich klingt. Aber es gab schon 1968 Leute, die genau das voraussagten, was 2008 eintraf. Ich glaubte ihnen, schließlich war ich selbst Biochemiker. Aber der größte Teil der Bevölkerung, speziell jener, auf den es ankam, nämlich die Politiker, weigerten sich, daran zu glauben, bis es zu spät war. Man versuchte in letzter Minute etwas gegen die drohende Katastrophe zu unternehmen, aber alles, was man tat, war entweder zu wenig oder zu ineffizient und wurde sogar noch von bestimmten Gruppen sabotiert, denen es an den Geldbeutel gegangen wäre. Es ist eine lange und traurige Geschichte«, seufzte er. »Aber wenn wir wirklich vorhaben, heute noch ein paar Unterstände zu bauen, sollten wir damit sofort nach dem Mittagessen beginnen.«

Alice kam aus dem Wasser und wischte mit den Händen das Wasser vom Körper.

Die Sonne und die Brise trockneten sie schnell. Zwar hob sie ihre Graskleider vom Boden auf, legte sie aber nicht an. Wilfreda erkundigte sich nach dem Grund, und sie erwiderte, daß sie zu arg kratzen würden, um sie ständig zu tragen. Auf jeden Fall aber wolle sie sie behalten, falls es in den Nächten zu kühl würde. Sie war zu dem Mädchen zwar freundlich, blieb jedoch zurückhaltend. Zwar hatte sie einen Großteil der morgendlichen Konversation am Lagerfeuer überhört, aber daß Wilfreda ein Arbeitermädchen und später eine Hure gewesen war, die an Syphilis starb, schien sie zu wissen. Zumindest glaubte Wilfreda, daß die Syphilis ihren Tod verursacht hatte, denn Genaues wußte sie nicht. Sie erinnerte sich nicht an ihren Tod, da sie vorher den Verstand verloren hatte.

Als Alice dies erfuhr, zog sie sich noch weiter von ihr zurück. Burton grinste und fragte sich, wie sie sich wohl verhalten würde, wenn sie erführe, daß er an genau der gleichen Krankheit gestorben war. Er hatte sich die Syphilis von einem Sklavenmädchen geholt, dem er während seiner Reise als falscher Moslem nach Mekka im Jahre 1853 begegnet war. Obwohl man ihn „geheilt“ hatte und sein Gehirn nicht angegriffen wurde, waren die Folgen dieser Infektion gleichwohl schrecklich genug gewesen. Aber was jetzt zählte, war die Tatsache, daß er über einen neuen, jungen, kräftigen Körper verfügte. Was er auf der Erde gewesen war, sollte jedem anderen völlig egal sein und sein Verhalten ihm gegenüber nicht beeinflussen.

Aber sollte bedeutete offenbar nicht, daß man es nicht konnte.

Er konnte Alice Hargreaves wirklich keinen Vorwurf machen. Sie war das Produkt ihrer Umwelt — und wie alle Frauen stellte sie das dar, was Männer aus ihr gemacht hatten, auch wenn sie über einen starken Charakter verfügte und flexibel genug schien, sich selbst über gewisse Erscheinungen ihrer Zeit und Klasse zu erheben. Sie hatte sich mit der allgemeinen Nacktheit mehr schlecht als recht abgefunden und zeigte sich dem anderen Mädchen gegenüber weder offen feindselig noch ablehnend. Was sie nicht verwinden konnte, war, daß sie sich mit Burton auf Dinge eingelassen hatte, die extrem dem widersprachen, was man ihr ein Leben lang eingetrichtert hatte. Und daß dies ausgerechnet in der ersten Nacht passierte, nachdem sie von den Toten auferstanden war, in der sie eigentlich hätte niederknien und Hosianna singen sollen, weil sie ihr Leben lang »gesündigt« hatte.

Als sie über die Ebene wanderten, dachte Burton weiter über sie nach. Dann und wann drehte er sich um und blickte sie an. Während der kahle Kopf sie viel älter machte, als sie war, erweckte sie unterhalb des Nabels einen eher kindlichen Eindruck. Aber es war dieser Widerspruch, der sie einte: Daß sie alle oberhalb des Halses aussahen wie Greise und kindlich unterhalb des Nabels.

Er blieb etwas zurück, bis er wieder an ihrer Seite ging. Vor ihm befanden sich Frigate und Loghu, und auch wenn sein Gespräch mit Alice zu nichts führen würde, der Anblick Loghus entschädigte ihn auf jeden Fall. Sie besaß wohlgerundete Formen und ein reizendes Hinterteil. Und sie bewegte sich mit der gleichen Grazie wie Alice.

Mit leiser Stimme sagte Burton: »Wenn die letzte Nacht mit mir Sie so mitgenommen hat, warum bleiben Sie dann bei mir?«

Ihr hübsches Gesicht verzerrte sich augenblicklich zu einer häßlichen Fratze.

»Ich bleibe nicht bei ihnen! Ich bleibe bei der Gruppe! Außerdem habe ich über die Nacht nachgedacht, auch wenn mir das einige Schmerzen bereitete.

Ich will ganz ehrlich sein. Es hat an diesem Narkotikum gelegen, das schuld daran war, daß wir uns so… benahmen. Zumindest weiß ich jetzt, daß mein Benehmen schuld war. Ich bin bereit, Ihnen in dieser Beziehung meinen Irrtum einzugestehen.«

»Aber es besteht keine Hoffnung auf eine Wiederholung?«

»Was erlauben Sie sich? Natürlich nicht! Wie können Sie es nur wagen?«

»Ich habe Sie zu nichts gezwungen«, sagte Burton. »Wie ich bereits sagte, haben Sie nur das getan, was Sie getan hätten, wenn Sie nicht Ihren eigenen Hemmungen unterlegen gewesen wären. Solche Hemmungen haben manchmal auch ihre guten Seiten — unter gewissen Umständen. Wenn Sie zum Beispiel die gesetzlich angetraute Ehefrau eines von Ihnen geliebten Mannes in England auf der Erde sind. Aber die Erde, wie wir sie kannten, existiert nicht mehr.

Ebenso wenig die englische Gesellschaft. Und wenn die gesamte Menschheit wiedererweckt worden ist und an diesem Fluß verstreut lebt, werden Sie Ihren Mann möglicherweise niemals wiedersehen. Sie sind nicht mehr verheiratet.

Erinnern Sie sich? Bis daß der Tod uns scheidet? Sie sind gestorben — und damit geschieden. Und außerdem: Im Himmel werden keine Ehen geschlossen.«

»Sie sind ein Ketzer, Mr. Burton. Ich habe über Sie in den Zeitungen gelesen und auch einige Ihrer Bücher über Afrika, Indien und die Mormonen in den Vereinigten Staaten studiert. Mir sind unglaubliche Geschichten über Sie zu Ohren gekommen. Reginald war ziemlich entsetzt, als er Ihr Buch Kasidah las.

Er sagte, er hätte noch nie in seinem Leben ein solch schmutziges und atheistisches Werk in seinem Hause gehabt. Er hat daraufhin alle Ihre Bücher in den Kamin geworfen.«

»Wenn Sie mich für einen Unhold und sich selbst für ein gefallenes Mädchen halten, warum verlassen Sie uns dann nicht?«

»Haben Sie mir eben nicht zugehört? Wer sagt mir, daß ich in der nächsten Gruppe nicht auf noch größere Unholde stoße. Und außerdem haben Sie — wie Sie eben so freundlich ausführten — mich zu nichts gezwungen. Ich glaube, daß sich unter dem harten Kern, den Sie öffentlich herauskehren, doch noch so etwas wie ein Herz befindet. Ich habe gesehen, daß Sie weinten, als Sie Gwenafra auf den Armen trugen und sie sich an Sie klammerte.«

»Sie haben mich also durchschaut«, sagte Burton und lächelte. »Na gut. Von mir aus. Ich werde mich ritterlich verhalten und von nun an keinen Versuch mehr unternehmen, Sie in irgendeiner Weise zu belästigen oder zu Dingen zu verleiten, die Ihnen nicht gefallen. Aber wenn Sie mich das nächste Mal ein Stück Gummi kauen sehen, stünde es Ihnen gut, wenn Sie sich versteckten. Was das Jetzt anbetrifft, so kann ich Ihnen versichern, daß Sie zumindest so lange nichts von mir zu befürchten haben, solange ich nicht unter dem Einfluß der Droge stehe.«

Mit aufgerissenen Augen blieb sie stehen. »Sie haben vor… diese Droge noch einmal zu sich zu nehmen?«

»Warum nicht? Im Gegensatz zu einigen anderen hat sie aus mir keine tobende Bestie gemacht. Ich habe nicht das Gefühl, daß ich sie dringend benötigen würde, also kann man davon ausgehen, daß es nicht suchterzeugend wirkt.

Früher pflegte ich dann und wann eine Pfeife Opium zu rauchen, wissen Sie?

Auch davon bin ich nie süchtig geworden. Ich bin also allem Anschein nach nicht anfällig für Drogen.«

»Ich habe gehört, daß Sie sich sehr oft in die tiefsten Niederungen der menschlichen Seele hinabbegeben haben, Mr. Burton. Sie und diese widerliche Kreatur namens Swinburne…«

Sie schwieg plötzlich. Ein Mann rief ihr etwas zu, und obwohl sie sein Italienisch nicht verstand, kapierte sie doch seine eindeutige Geste. Mit feuerrotem Gesicht stampfte sie von dannen, während Burton den Mann in Augenschein nahm. Es war ein gutgebauter, braunhäutiger Bursche mit einer großen Nase, einem weichen Kinn und einem Schlafzimmerblick. Sein Akzent deutete darauf hin, daß er aus der Gegend von Bologna stammte und dem Lumpenproletariat zuzurechnen war. Burton hatte sich während seines Medizinstudiums lange in dieser Stadt aufgehalten. Hinter dem Mann standen zehn andere, von denen jeder einzelne die gleiche gefährliche Aura ausstrahlte wie ihr Anführer. Burton sah fünf Frauen bei ihnen und kam zu dem Schluß, daß die Bande damit offensichtlich nicht genug hatte. Ebenso offensichtlich erschien es ihm, daß sie auf die Waffen, die er und seine Leute bei sich trugen, scharf waren. Die anderen verfügten selbst lediglich über ihre Grale und ein paar Bambusknüppel.

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