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Manchmal hielt Burton sich für einen planetarischen Grashüpfer, der mit vollem Bewußtsein in den Tod sprang, danach in einem anderen Kosmos erwachte, an einem Grashalm knabberte und mit einem Auge ständig die schattenhafte Umgebung nach einer tödlichen Gefahr absuchte — den Ethikern.

Er hatte auf dieser reichhaltigen Wiese, die die Menschheit darstellte, an vielen Grassorten geschnuppert, einige probiert und war schließlich dann doch immer weitergezogen.

Und es kam auch vor, daß er sich als ein Netz sah, das hie und da Musterexemplare der Menschheit aus einem großen See schöpfte. Gelegentlich gingen ihm große Exemplare ins Netz, aber die meisten waren einfache Sardinen, obwohl man von den kleinen Fischen ebensoviel — wenn nicht gar mehr — lernen konnte als von den großen.

Das Sinnbild des Netzes gefiel ihm weniger als das des Grashüpfers, und schuld daran war die Tatsache, daß er genau wußte, irgendwo über ihm schwebte ein noch größeres, das ganz allein ihm gewidmet war.

Mit welchen Umschreibungen man es auch ausdrücken wollte, Burton entwickelte sich zu einem Menschen, der viel herumkam. Er tauchte an unzähligen Orten auf, und bald begannen sich um sein Leben die ersten Legenden zu ranken, in denen er einmal als Burton der Zigeuner, ein anderes Mal als Richard der Wanderer, und ein drittes Mal als Ewiger Lazarus beschrieben wurde. Davon zu hören, bedrückte Burton etwas, denn es war zu befürchten, daß die Ethiker aufgrund der kursierenden Geschichten über einen geheimnisvollen Mann ihm schneller auf die Spur kamen. Vielleicht war es ihnen sogar möglich, aus seinen scheinbar ziellosen Sprüngen in die unterschiedlichsten Gebiete den Schluß zu ziehen, daß er nach etwas Bestimmtem suchte. Und das konnte böse für ihn ausgehen. Er mochte nicht daran denken, was geschähe, wenn er den letzten, alles entscheidenden Sprung hinter sich gebracht hatte und eine Gruppe bewaffneter Wächter auf ihn wartete.

Nachdem die sieben Jahre um waren, war Burton durch die ständige Beobachtung des Sternenhimmels sowie unzähliger Gespräche mit anderen Menschen nahezu in der Lage, eine geistige Landkarte über den Lauf des allesbeherrschenden Flusses anzufertigen.

Der Fluß war — wie er vermutete — kein Ding, das irgendwo entsprang und anderswo endete. Eher konnte man ihn mit einer Midgardschlange vergleichen; einem Geschöpf, dessen Kopf sich zwar am Nordpol befand, aber dessen Körper sich in wilden Zickzacklinien um den gesamten Globus spannte, um sich am Ende wieder in das eigene Hinterteil zu beißen. Die Quelle des Flusses lag am Nordpol und bildete einen See, und wenn man den Aussagen des Frühmenschen, der zufällig in diese Gegend verschlagen worden war, glauben konnte, hatte der dunkle Turm inmitten eines Sees in einer Nebelbank gelegen. Zwar hatte Burton diese Geschichte auch nur aus zweiter Hand, aber nachdem er in der Polregion persönlich den Titanthropen begegnet war, mochte er nicht mehr ausschließen, daß es einem dieser Giganten gelungen war, wirklich das Gebirge zu bezwingen. Und wenn es einem dieser Wesen gelungen war, das Gebirge zu durchqueren — wieso sollte er dann nicht auch dem See nahe genug gekommen sein? Das bedeutete: Wo ein Mensch einmal gewesen war, konnte auch ein zweiter hingelangen.

Doch wie bewegte sich der Fluß bergauf?

Seine Geschwindigkeit schien sogar dort konstant zu bleiben, wo er sich hätte eigentlich verlangsamen oder die Kraft verlieren müssen, weiterzufließen. Also mußten irgendwo Gravitationsfelder sein, die den Transport des Wasser solange übernahmen, bis er in ein Gebiet kam, wo wieder normale Bedingungen herrschten. Irgendwo — vielleicht sogar unterhalb des Flußbettes — befanden sich Anlagen, die diese Arbeit verrichteten. Die Kraftfelder mußten sich auf ein begrenztes Gebiet erstrecken, da die veränderte Erdanziehungskraft keinerlei Auswirkungen auf die in diesem Gebiet lebenden Menschen hatte.

Fragen über Fragen. Es würde ihm nichts anderes übrigbleiben, als seine Reise solange fortzusetzen, bis er sein Ziel erreicht hatte oder auf Wesen traf, die sie ihm beantworten konnten.

So unternahm Burton seinen siebenhundertsiebenundsiebzigsten „Sprung“ und verließ sich darauf, daß die Sieben sich als seine Glückszahl entpuppen würde. Nicht einmal die spöttischen Bemerkungen seiner aus dem zwanzigsten Jahrhundert stammenden Bekannten hatten ihn davon abbringen können, sich von den abergläubischen Ticks seiner irdischen Vergangenheit zu trennen. Obwohl er gelegentlich über ihre eigenen Schwächen in dieser Beziehung lachte, mochte er den Gedanken nicht missen, daß gewisse Zahlen auf sein Leben einen Einfluß hatten. So glaubte er auch weiterhin daran, daß kleine Silberstücke, auf die Augenlider gelegt, einem ermüdeten Körper neue Kräfte schenken, und an den zweiten Gesichtssinn, der ihn auf lauernde Gefahren aufmerksam machte. Natürlich gab es auf dieser mineralienarmen Welt kein Silber, aber wäre er darauf gestoßen, hätte er sich seiner Dienste versichert.

Den ganzen Tag über hielt er sich am Ufer des Flusses auf. Er schenkte den Leuten, die mit ihm ein Gespräch anzufangen versuchten, wenig Aufmerksamkeit, lächelte ihnen höchstens kurz zu. Im Gegensatz zu den Menschen in den meisten Gebieten, die er bereist hatte, waren diese hier nicht feindlich gesinnt. Die Sonne wanderte an den östlichen Bergrücken vorbei, als wolle sie nichts anderes, als das kantige Gestein mit ihren Strahlen erleuchten. Dann glitt der flammende Ball über das Tal hinweg. Er bewegte sich langsamer als je zuvor. Lediglich an jenem Tag, an dem Burton zwischen den Titanthropen gelandet war, hatte sie noch weniger Bewegung gezeigt. Sie überflutete das Flußtal einige Zeit mit Wärme und Licht und begann sich dann auf die westlichen Berge zuzubewegen. Es wurde schattig, die Luft kühler. Die Umgebung unterschied sich extrem von Gegenden, die er im Laufe der letzten Jahre besucht hatte. Schließlich nahm die Sonne wieder die gleiche Position ein, die sie innegehabt hatte, als Burton die Augen öffnete.

Ermüdet von der vierundzwanzigstündigen Beobachtung, aber glücklich, wandte er sich ab und beschloß, nach einer Unterkunft Ausschau zu halten. Ihm war jetzt klar, daß er sich in einer arktischen Zone aufhielt, aber nicht in der Nähe der Quellflüsse. Diesmal war er am Maul der Midgardschlange gelandet — genau am anderen Ende des Flusses.

Als Burton sich aufmachte, hörte er plötzlich eine Stimme. Sie war ihm bekannt, auch wenn er sie im ersten Moment nicht identifizieren konnte.

»Wohlauf, meine Seele, steig’ himmelan!

Der Erd’ gehörst du nicht.

Den Funken gab der Himmel dir;

Nun, Feuer, kehr’ zu ihm zurück.«

»John Collop!«

»Abdul Ibn Harun! Und da behauptet man, es gäbe keine Wunder! Was hast du erlebt, seit wir uns das letzte Mal sahen?«

»Ich starb in der gleichen Nacht wie du«, erwiderte Burton. »Und seither noch sehr viel öfter. Es gibt viele schlechte Menschen auf dieser Welt.«

»Das ist nur natürlich. Schließlich gab es sie auch schon auf der Erde. Dennoch behaupte ich, daß ihre Anzahl gesunken ist, seit die Kirche ihre Arbeit tut, Gott sei Dank. Zumindest was dieses Gebiet hier angeht. Aber komm mit mir, mein Freund, ich will dich meiner Gefährtin vorstellen. Sie ist eine liebreizende Frau und gläubig in einer Welt, die immer noch viel zuwenig Wert auf Rechtschaffenheit und Demut legt. Sie stammt aus dem zwanzigsten Jahrhundert und hat den größten Teil ihres Lebens Englisch gelehrt. Es ist seltsam, aber manchmal glaube ich, daß sie mich nicht um meiner selbst willen liebt, sondern deswegen, weil ich ihr soviel über die Sprache meiner Zeit beigebracht habe.«

Das kurze, nervöse Gelächter, das Collop ausstieß, zeigte Burton, daß er nur scherzte.

Sie überquerten die Ebene und hielten auf die Hügel zu, in denen auf steinernen Plattformen, die vor einer jeden Hütte standen, helle Feuer brannten. Die meisten der Männer und Frauen hatten, um der schattigen Kühle zu entgehen, ihre Bekleidungstücher eng um sich geschlungen.

»Ein trübseliger und zum Frösteln geeigneter Ort ist das hier«, sagte Burton. »Wie kann man nur auf die Idee kommen, sich hier niederzulassen?«

»Die meisten dieser Leute sind entweder Finnen oder Schweden aus dem späten zwanzigsten Jahrhundert. Sie sind an die Mitternachtssonne gewöhnt. Dennoch solltest du dich glücklich schätzen, hier zu sein. Ich erinnere mich an deine brennende Neugier, die Polarregion betreffend, und der Spekulationen, die du darüber anstelltest. Es hat schon eine ganze Reihe anderer Leute gegeben, die sich aufmachten, dem Strom flußabwärts zu folgen. Auch sie suchten nach einem persönlichen Ultima Thule oder — wenn du mir den Ausdruck verzeihen willst — nach dem goldenen Schlüsselchen am Ende des Regenbogens, nach dem nur Narren suchen. Aber entweder sind sie unterwegs verschollen oder kehrten zurück, weil unüberwindliche Hindernisse ein Weiterkommen unmöglich machten.«

»Welche Hindernisse waren das?« fragte Burton und zerrte aufgeregt an Collops Arm.

»Du tust mir weh, mein Freund. Es handelt sich um die Gralsteine, die plötzlich aufhören, so daß niemand mehr seinen Gral mit Nahrung füllen kann.

Des weiteren rücken die Berge plötzlich derart nahe an den Fluß heran, daß man nicht mehr weiß, wohin man den Fuß setzen soll. Der Fluß zieht sich dort in die Berge hinein und bahnt sich seinen Weg durch eiskalte Klüfte. Was dahinterliegt, weiß niemand, denn bis jetzt ist noch kein Mensch aus diesem Gebiet zurückgekehrt, um darüber zu berichten. Aber ich befürchte, daß sie das gleiche Ende ereilt hat wie alle, die die Sünde der Hybris begingen.«

»Wie weit ist das Gebiet, aus dem niemand zurückkehrte, von hier entfernt?«

»Wenn man die Flußwindungen berücksichtigt, sind es etwa vierzigtausend Kilometer. Mit einem guten Segelboot könntest du es in einem Jahr schaffen.

Aber der Allmächtige Vater allein weiß, wie weit du dann noch gehen mußt, um das wirkliche Ende des Flusses zu erreichen. Vor allen Dingen ist es unmöglich, vorherzusagen, wie viel Proviant du auf das Boot laden müßtest, nachdem du den letzten Gralstein hinter dich gebracht hast, um nicht des Hungers zu sterben.«

»Es gibt eine Möglichkeit, das herauszufinden«, sagte Burton.

»Es kann dich also nichts davon abhalten, Richard Burton?« fragte Collop.

»Du willst dieses fruchtlose Unterfangen also um keinen Preis aufgeben?«

Erneut griff Burton nach Collops Arm.

»Hast du mich gerade Burton genannt?«

»Ja. Vor einiger Zeit erzählte mir dein Freund Göring, daß dies dein wirklicher Name sei. Und er hat mir auch noch andere Dinge über dich gesagt.«

»Göring ist hier?«

Collop nickte. »Er ist jetzt seit zwei Jahren unter uns und lebt etwa eineinhalb Kilometer von hier entfernt. Wir können ihn morgen besuchen. Du wirst erstaunt sein, wenn du siehst, wie sehr er sich verändert hat. Er hat es geschafft, die Macht des Traumgummis zu brechen und aus sich einen völlig neuen Menschen zu machen. Er ist sogar zum Führer der Kirche in diesem Gebiet geworden, während du, mein Freund, einem imaginären Gral nachjagtest.

Er hat einen Heiligen Gral in sich selbst errichtet, obwohl er beinahe an seinem Wahnsinn zugrundegegangen ist und fast wieder soweit war, in die Bösartigkeit seiner irdischen Existenz zurückzufallen. Aber die Gnade Gottes und sein eigenes Bemühen, sich und uns zu beweisen, daß sogar er würdig ist, die Chance des zweiten Lebens zu erhalten… Nun, du kannst es morgen mit deinen eigenen Augen sehen. Und ich bete darum, daß auch du von seinem Beispiel profitierst.«

Collop erklärte ihm, was er meinte. Wie Burton hatte auch Göring fast die gleiche Anzahl von Selbstmorden aufzuweisen. Unfähig, mit den ihn plagenden Alpträumen und Selbstbeschuldigungen fertig zu werden, hatte er einen Freitod nach dem anderen praktiziert. Mit ständig gleichem Resultat: Wo er auch erwachte — die Alpträume blieben. Schließlich war er in diesem Gebiet aufgetaucht und hatte Collop, sein ehemaliges Opfer, um Hilfe gebeten. Und es war ihm gelungen, sich selbst zu besiegen.

»Das überrascht mich«, gab Burton zu. »Ich freue mich für ihn, aber ich verfolge selbst andere Ziele. Wirst du mir versprechen, meine wahre Identität weiterhin geheimzuhalten? Es ist unerläßlich, daß ich auch weiterhin als Abdul Ibn Harun auftrete.«

Collop versprach, auch weiterhin zu schweigen. Es tat ihm allerdings leid, daß Burton davon absehen wollte, Göring noch einmal zu sehen, da er so nicht erkennen würde, zu welchen Wundern Glaube und Liebe imstande waren, selbst wenn es sich um eine Seele handelte, die sich beinahe selbst aufgegeben hatte. Er nahm Burton mit in seine Hütte und stellte ihm seine Frau vor, eine kleine, zierliche Brünette, die sehr freundlich und entgegenkommend war, allerdings darauf bestand, die beiden Männer auf ihrem Weg zum örtlichen Bürgermeister, dem sogenannten Valkotukkainen, zu begleiten. (Das Wort bezeichnete ebenso einen Weißen Elefanten wie auch jemanden, der es zu Macht und Ansehen gebracht hatte.) Ville Ahonen entpuppte sich als großer Mann mit einer leisen Stimme, der Burton geduldig und aufmerksam zuhörte, als dieser ihm verriet, daß er ein Boot zu bauen und damit zum Ende des Flusses zu segeln gedenke. Daß er darüber hinaus Forschungen betreiben wollte, sagte er natürlich nicht. Aber Ahonen war offensichtlich schon vielen anderen Männern begegnet, die ihm ähnliche Geschichten vorgetragen hatten.

Mit einem wissenden Lächeln erwiderte er, daß er nichts dagegen habe, wenn Burton ein solches Schiff bauen wolle. Die Leute dieser Gemeinde seien allerdings konservativ und hielten nicht sonderlich viel davon, das Land seines Baumbestandes zu berauben. Eichen und Pinien durften um keinen Preis gefällt werden, im Gegensatz dazu sei allerdings Bambus verfügbar. Aber auch dieses Material müsse er sich gegen Zigaretten und Likör einzutauschen versuchen, was bedeutete, daß Burton einige Zeit seinen Privatkonsum einstellen mußte.

Nachdem er Ahonen gedankt hatte, ging Burton wieder, legte sich in einer Hütte nieder, die sich in der Nähe von Collops Behausung befand, ohne jedoch Schlaf zu finden.

Kurz bevor der obligatorische Nachtregen fiel, faßte er den Entschluß, hinauszugehen. Er wollte in die Berge, sein Quartier unter einem Felsüberhang aufschlagen und abwarten, bis der Regen aufhörte, die Wolkenbänke sich teilten und die ewige (wenn auch schwache) Sonne wieder sichtbar wurde. Jetzt, wo er seinem Ziel so nahe war, konnte er es nicht mehr riskieren, von den Ethikern überrascht zu werden. Und es erschien ihm plötzlich sehr logisch, daß es in diesem Gebiet nur so von ihren Spitzeln wimmeln mußte. Vielleicht war sogar Collops Frau eine der Fremden.

Burton hatte noch keine tausend Meter hinter sich gebracht, als der Regen auf ihn niederprasselte und ganz in seiner Nähe ein Blitz herabzuckte. Die plötzliche Helligkeit ließ ihn in einer Entfernung von etwa sieben Metern die Umrisse eines gerade materialisierten Objekts erkennen.

Sofort warf er sich herum und rannte auf ein kleines Wäldchen zu. Er hoffte, daß sie ihn noch nicht gesehen hatten und daß er sich dort verstecken konnte. Später würde er dann seinen Weg in die Berge fortsetzen. Und erst nachdem sie die ganze Gemeinde in einen künstlichen Tiefschlaf versetzt hatten, würden sie feststellen können, daß er ihnen erneut durch die Lappen gegangen war…

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