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»Yaaaaaah!«

Der Schrei riß Burton vom Boden hoch, als läge er auf einem Trampolin. Im Gegensatz zu seinem ersten Erwachen fühlte er sich diesmal weder schwach noch desorientiert. Er wußte, was auf ihn zukam, daß er auf einem grasbewachsenen Ufer zu Füßen eines Gralsteins zu sich kommen würde. Auf was er allerdings nicht vorbereitet war, waren die Giganten, die sich um ihn herum eine wilde Schlacht lieferten.

Burtons erster Gedanke galt einer Waffe. Aber in seiner Nähe befand sich nichts anderes als der mit verschiedenfarbigen Kilts gefüllte Gral, der zu jedem Neuerwachten gehörte wie die Glieder seines Körpers. Er stand auf, machte einen Schritt, wog das Instrument prüfend in der Hand und wartete ab.

Wenn es sich nicht vermeiden ließ, würde ihm nichts anderes übrigbleiben, als den Gral wie eine Keule einzusetzen. Obwohl er sehr leicht war, bestand er aus einer ungewöhnlich harten Substanz und war praktisch unzerstörbar.

Die Monster, die Burton umgaben, erweckten in ihm allerdings den Eindruck, als könne er sie tagelang damit bearbeiten, ohne daß es ihnen großen Schaden zufügte.

Die meisten waren etwa zwei Meter vierzig groß; aber unter ihnen befanden sich auch solche, die die anderen um Haupteslänge und mehr überragten. Ihre Schulterbreite betrug zumindest einen Meter, während ihre Körper menschlich oder zumindest menschenähnlich genannt werden konnten. Bedeckt waren sie entweder mit rötlichem oder rötlichbraunem Fell. Sie glichen damit zwar nicht irgendwelchen Affen, ließen aber dennoch die behaartesten Menschen, denen Burton je begegnet war, als beinahe glattrasiert erscheinen.

Die vor Kampfeswut verzerrten Gesichter dieser Wesen waren allerdings dazu angetan, einen in Angst und Schrecken zu versetzen. Mächtige Knochenwülste, welche die Augen der seltsamen Gestalten überwölbten, wirkten wie tiefe, kreisförmige Höhlen. Obwohl die Augen im Verhältnis zu denen eines Menschen riesig waren, erschienen sie in den breitflächigen Gesichtern der Kämpfenden klein und unbedeutend. Die Backenknochen wölbten sich stark nach außen, um dann in schmale, eingefallene Wangen überzugehen. Ungewöhnlich aussehende Nasen gaben den Riesen das Aussehen vorsintflutlicher Affenmenschen.

Normalerweise hätte Burton sich über das Aussehen dieser Wesen mit Sicherheit amüsiert. Aber nicht jetzt. Das Gebrüll, das aus gorillaähnlichen Brustkästen drang und einem Löwen alle Ehre gemacht hätte, ernüchterte ihn auf der Stelle. Er sah Zähne, die selbst einen wütenden Kodiakbären das Fürchten gelehrt hätten. Mächtige Fäuste, von denen keine kleiner als sein Kopf zu sein schien, hielten Knüppel, die verdächtig Wagendeichseln ähnelten oder überdimensionalen Steinäxten. Sie drangen mit wütenden Schlägen aufeinander ein, und wenn sie trafen, brachen Knochen mit lautem Krachen oder erzeugten wilde Sturzbäche von Blut. Gelegentlich geschah es auch, daß einer der Knüppel brach.

Burton nutzte den Moment, um sich umzusehen. Das Licht war schwach. Die Sonne hatte sich gerade hinter die Spitzen der Berge auf der anderen Seite des Flusses geschoben, und die Luft war kälter als jede andere, mit der er bisher auf diesem Planeten in Berührung gekommen war. Sie ähnelte jedoch derjenigen, die er während verschiedener mißglückter Versuche, die Gebirgswildnis zu überwinden, kennen gelernt hatte.

Einer der Kämpfer, der sich nach einem neuen Gegner umsah, entdeckte ihn.

Er riß die Augen auf. Eine Sekunde lang starrte er Burton ebenso erstaunt an wie dieser ihn. Möglicherweise erschien er dem Fremden ebenso fremdartig.

Wenn das so war, brauchte er jedenfalls nicht lange, um seine Überraschung zu verwinden. Er stieß einen bellenden Laut aus, setzte mit einem Sprung über die Leiche eines erschlagenen Gegners hinweg und rannte auf Burton zu, eine gigantische Axt, die einen Elefanten hätte töten können, über dem Kopf wirbelnd.

Den Gral fest in der Hand, wandte sich Burton zur Flucht. Wenn er ihn verlor, war es aus mit ihm. Ohne den Gral würde er entweder verhungern oder sich von rohem Fisch und Bambussprossen ernähren müssen.

Er hätte es beinahe geschafft. Die Reihe der Körper öffnete sich einen Moment, als zwei der Giganten sich gegenseitig zu erwürgen versuchten und ein dritter vor einem vierten, der wild einen Knüppel schwang, zurückwich.

Burton versuchte sich zwischen den Gestalten der beiden Ringer hindurchzumogeln, aber sein Plan schlug fehl. Er brachte die Kämpfer irgendwie aus dem Gleichgewicht, und sie stolperten.

Leider war Burton nicht schnell genug. Der herabsausende Arm des einen Monsters krachte gegen seine linke Ferse und brachte ihn zu Fall. Burton schrie laut auf. Er zweifelte nicht daran, daß der Fuß gebrochen und einige Muskeln zerrissen waren, so hart war der Schlag ihm erschienen.

Dennoch versuchte er sich zu erheben und auf den Fluß zuzuhumpeln. Wenn er ihn erst einmal erreicht hatte, würde er fortschwimmen können, vorausgesetzt, er fiel vor Schmerz nicht in Ohnmacht. Er schaffte nicht mehr als zwei zaghafte Schritte, dann packte ihn etwas von hinten, riß ihn vom Boden hoch und wirbelte seinen Körper in der Luft herum.

Das titanenhafte Wesen hielt ihn mit ausgestrecktem Arm von sich und umklammerte Burtons Leib mit einer ungeheuer starken Faust. Er schnappte nach Luft und rechnete jeden Augenblick damit, daß das Wesen ihm die Rippen zerquetschte.

Der Gral fiel ihm wieder ein. Burton riß ihn hoch und schmetterte ihn gegen die Schulter seines Gegners. Mühelos, als verscheuche er eine Fliege, ließ der Titan seine Axt dagegen krachen. Der Behälter entfiel Burtons Griff.

Mit einem breiten Grinsen zog das haarige Wesen seinen Gefangenen näher an sich heran. Die einhundertachtzig Pfund Lebendgewicht, die Burton auf die Waage brachte, schienen es nicht einmal sonderlich anzustrengen.

Einen Moment lang sah Burton geradewegs in die blaßblauen, von knochigen Wülsten umrahmten Augen der Kreatur. Die Nase war augenscheinlich mehrere Male gebrochen gewesen, und die Unterlippe stand deswegen so weit ab, weil sich hinter ihr ein mächtiger, die Zähne nach vorne wölbender Unterkiefer befand.

Dann stieß der Titan erneut einen bellenden Schrei aus und hob Burton in die Lüfte empor, während dieser sich alle Mühe gab, mit wildem Trommeln seiner Fäuste dem ihn gepackt haltenden Arm energischen Widerstand entgegenzusetzen. Er kam sich vor wie ein gefangenes Kaninchen, daß trotz der Erkenntnis der Sinnlosigkeit des eigenen Tuns mit aller Macht das Letzte aus sich herausholt. Doch trotz der wütenden Konzentration, die er in die Faustschläge legte, blieb Burton nicht verborgen, daß die gesamte Umgebung einen ungewöhnlichen Eindruck auf ihn machte.

Im Augenblick seines Erwachens, das wußte er genau, hatte die Sonne sich gerade angeschickt, sich über die Berghöhen zu erheben. Obwohl seit dem Zeitpunkt erst fünf Minuten vergangen waren, hätte sie die Strecke dennoch längst zurücklegen müssen. Aber nichts dergleichen war der Fall; sie befand sich noch in der exakt gleichen Position wie vorher und schien sich um keinen Millimeter bewegt zu haben.

Des weiteren gestattete ihm die Höhe, in der er sich nun befand, einen Ausblick, der mindestens sieben Kilometer weit reichte. Der Gralstein, in dessen Umgebung sich die Schlacht abspielte, war der letzte. Hinter ihm waren nur noch das Tal und der in seiner Mitte sich dahinwälzende Fluß.

Er hatte das Ende der Reise erreicht — oder den Anfang des Flusses entdeckt.

Aber jetzt war nicht der richtige Augenblick, um darüber zu spekulieren, dazu tobten in Burtons Bewußtsein zuviel Schmerz, Wut und Furcht. Gerade in dem Moment, als der Gigant die Axt hob, um ihm den Schädel einzuschlagen, versteifte sich sein Körper. Ein Schrei ertönte, der Burton an das schrille Pfeifen einer Dampflokomotive erinnerte. Der Griff um seine Hüften löste sich, und Burton fiel zu Boden. Der Schmerz, der von seinem Fuß ausging, kostete ihn beinahe die Besinnung.

Als er halbwegs wieder klar denken konnte, mußte er die Zähne aufeinanderbeißen, um nicht gleich loszuschreien. Stöhnend setzte er sich hin. Der Schmerz, der wie Feuer in seinem Bein brannte, schien die Helligkeit vor seinen Augen zu verdunkeln. Die Schlacht um ihn herum ging ohne Unterbrechung weiter, aber glücklicherweise befand er sich jetzt in einer Ecke, in der wenig Aktivität herrschte. Der gewaltige Körper des haarigen Giganten, der ihn hatte umbringen wollen, lag direkt neben ihm, und eine tiefe Kerbe zeichnete sich an seinem Hinterkopf ab.

In der Nähe des elefantenhaft großen Wesens kroch auf allen vieren ein Exemplar einer anderen Gattung herum. Als Burton es entdeckte, vergaß er einen Moment lang all seine Schmerzen. Der übel zugerichtete Mann war niemand anderes als Hermann Göring.

Sie waren beide am gleichen Ort erwacht! Burton wußte, daß jetzt nicht der richtige Zeitpunkt war, um über das, was man daraus folgern konnte, nachzudenken. Darüber hinaus machten ihm die Schmerzen arg zu schaffen.

Göring setzte zum Sprechen an. Er machte einen so mitgenommenen Eindruck, daß Burton sich wunderte, warum er die letzten ihm verbliebenen Kräfte nicht für wichtigere Dinge aufsparte. Das Gesicht Görings war blutverschmiert, sein rechtes Auge ausgeschlagen und seine Wange bis zum Ohrläppchen aufgerissen. Während eine Hand zerschmettert zu sein schien, ragte aus dem Brustkorb eine Rippe. Es war unglaublich, daß er überhaupt noch lebte.

»Du… du…«, keuchte Göring mit heiserer Stimme und brach zusammen. Ein Blutfontäne schoß aus seinem Mund und benetzte Burtons Füße; glasig werdende Augen starrten ihn an.

Burton fragte sich, ob er jemals herausfinden würde, was Göring ihm hatte sagen wollen. Aber andererseits war es ihm auch egal. Es gab jetzt wichtigere Dinge, denen er seine Aufmerksamkeit widmen mußte.

Etwa drei Meter von ihm entfernt hielten sich zwei der Titanen auf. Sie drehten ihm die Rücken zu, keuchten schwer und schnappten röchelnd nach Luft, ehe sie wieder aufeinander losgingen. Plötzlich sprach der eine von den beiden.

Es gab keinen Zweifel. Der Riese stieß keine unartikulierten Laute aus, sondern benutzte eine Sprache.

Obwohl Burton keines der Worte verstand, wußte er doch, daß diese Töne der gegenseitigen Verständigung dienten. Es bedurfte nicht einmal der modulierten Erwiderung des anderen, um zu diesem Schluß zu gelangen.

Also waren diese Leute keine frühzeitlichen Affen, sondern Angehörige einer Vorstufe des Menschen. Mit ziemlicher Sicherheit mußte dieses Volk der irdischen Wissenschaft des einundzwanzigsten Jahrhunderts unbekannt geblieben sein. Frigate hatte ihm alle Fossilien, die im Jahre 2008 bekannt gewesen waren, detailliert beschrieben.

Burton lehnte sich rücklings gegen den mächtigen Brustkasten des gefallenen Riesen und strich sich das verschwitzte Haar aus dem Gesicht. Er führte immer noch einen steten Kampf gegen den reißenden Schmerz in seinem Bein.

Machte er zuviel Lärm, zöge er unweigerlich die Aufmerksamkeit der kämpfenden Titanen auf sich — und dann war es um ihn geschehen. Aber warum eigentlich nicht? Hatte er mit seinen zerrissenen Sehnen und dem gebrochenen Fuß in diesem Land der Ungeheuer überhaupt eine Überlebenschance?

Schlimmer als der Gedanke an den Schmerz war die Erinnerung daran, daß er schon auf dem ersten Teil des Weges, der ihn durch einen Selbstmord weitergeführt hatte, seinem angestrebten Ziel zum Greifen nahe gekommen war.

Die Chance, bis hierher zu kommen, hatte von Anfang an eins zu zehn Millionen gestanden. Es war ein reiner Glücksfall gewesen, der sich mit Sicherheit auch dann nicht wiederholen ließ, wenn er noch weitere zehntausendmal den Tod des Ertrinkens wählte. Er hatte sein Ziel gefunden und würde es bald wieder verlieren.

Die Sonne bewegte sich langsam hinter den Bergspitzen dahin. Dies war der Ort. Er war sicher gewesen, daß er existieren mußte; er hatte ihn mit dem ersten Versuch erreicht. Als Burtons Sehkraft schwächer wurde und der Schmerz verklang, wurde ihm bewußt, daß er sterben würde. Und damit hatte sein Beinbruch nichts zu tun. Er hatte starke, innere Verletzungen und schien innerlich zu verbluten.

Er versuchte sich noch einmal aufzurichten. Er wollte stehen, wenn auch nur auf einem Bein, den Giganten die Fäuste entgegenstrecken und sie verfluchen.

Er wollte mit einer Verwünschung auf den Lippen sterben.

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