Es war jetzt bereits das zweite Mal, daß Burton von den Nazis und den Namen Hitler hörte. Er nahm sich vor, mehr über diesen Mann herauszufinden, aber im Moment war es wohl wichtiger, das Gespräch abzubrechen und die Hütten wieder instandzusetzen. Glücklicherweise sahen die Beschädigungen aus der Nähe weniger schlimm aus als auf den ersten Blick. Mit Scheren, Steinbeilen und Messern bewaffnet, schnitten sie Äste, Zweige und hohes Gras und machten sich daran, die Unterkünfte mit Dächern auszustatten. Was dabei herauskam, befriedigte Burton zwar nicht hundertprozentig, aber für den Anfang würde es schon genügen. Vielleicht stießen sie irgendwann auf einen herumstreunenden Dachdecker, der ihnen zur Hand gehen konnte. Die fehlenden Betten würden — zumindest für einige Zeit — durch Grashaufen ersetzt werden müssen, und mit dem gleichen Material konnte man sich auch zudecken, sollte es zu kalt werden.
»Wir können Gott — oder wem auch immer wir dieses Leben zu verdanken haben — dafür dankbar sein, daß es hier keine Insekten gibt«, sagte Burton.
Er hob den kleinen Metallbehälter, der noch immer einige Schlucke von dem ausgezeichnet schmeckenden Scotch enthielt.
»Ich möchte auf ihn anstoßen. Hätte er uns auf einer Welt, die ein exaktes Duplikat der Erde gewesen wäre, ins Leben zurückgerufen, müßten wir unsere Betten jetzt mit einer Armee von beißendem, kneifendem, stechendem und blutsaugendem Getier teilen.«
Sie nahmen um ein rasch entzündetes Feuer Platz, an dem sie noch für eine Weile rauchten, tranken und sich unterhielten. Die Schatten verdunkelten sich allmählich, der Himmel verlor die Bläue, und die großen Sterne tauchten wie vor dem Hintergrund eines nachtschwarzen Tuches am Firmament auf. Sie leuchteten in allen Farben des Spektrums. Es war ein atemberaubender Anblick.
»Wie eine Zeichnung von Sime«, sagte Frigate.
Burton hatte den Namen Sime noch nie gehört, also war es kein Wunder, daß die Hälfte jeglicher Konversation mit den Leuten aus dem neunzehnten Jahrhundert daraus bestand, ihnen bestimmte Dinge und Ausdrücke zu erklären.
Schließlich stand Burton auf, ging um das Feuer herum und hockte sich neben Alice auf den Boden. Sie war gerade aus der benachbarten Hütte zurückgekehrt, wo sie Gwenafra zu Bett gebracht hatte.
Burton bot ihr ein Stück Kaugummi an und sagte: »Ich habe nur eine Hälfte genommen. Wollen Sie die andere?«
Sie sah ihn ausdruckslos an und erwiderte: »Nein, danke.«
»Wir haben hier acht Hütten«, sagte Burton, »und es gibt keinen Zweifel daran, wer mit wem unter einem Dach schlafen wird — ausgenommen Wilfreda, Sie und ich.«
»Ich glaube, es gibt auch über uns drei keine Zweifel«, entgegnete Alice.
»Sie schlafen also bei Gwenafra?«
Sie wandte das Gesicht von ihm ab. Burton blieb noch einige Sekunden lang neben ihr hocken, dann stand er auf, kehrte an seinen alten Platz zurück und setzte sich neben Wilfreda.
»Sie können gleich weitergehen, Sir Richard«, sagte das Mädchen zu ihm. Sie preßte die Lippen aufeinander. »Der Herr möge mir verzeihen, aber ich habe keine Lust, hier als Notlösung angesehen zu werden. Es wäre besser gewesen, Sie hätten sie gefragt, wenn niemand Ihnen hätte zuhören können. Schließlich habe auch ich meinen Stolz.«
Burton schwieg betreten. Hätte er seinem ersten Impuls nachgegeben, wäre sie jetzt wahrscheinlich noch mehr beleidigt. Er war zu geringschätzig mit ihr umgegangen. Selbst wenn sie in ihrem vorherigen Leben eine Hure gewesen war, hatte sie ein Recht auf menschenwürdige Behandlung, ganz besonders seit er wußte, daß es der Hunger gewesen war, der sie auf die Straße getrieben hatte, was er anfangs nicht so einfach hatte glauben können. Viele Prostituierte suchten nach einer Entschuldigung für ihren Beruf — und es hatte immer eine Menge gegeben, die sich davon eine Menge versprochen hatten. Aber ihre Wut auf Smithson und das Verhalten, das sie ihm selbst gegenüber an den Tag legte, deuteten darauf hin, daß sie es ehrlich meinte.
Er stand auf und sagte: »Ich hatte nicht vor, Ihre Gefühle zu verletzen.«
»Lieben Sie sie?« fragte Wilfreda und sah zu ihm auf.
»Ich habe in meinem Leben nur einer einzigen Frau gesagt, daß ich sie liebe«, wich Burton aus.
»Ihrer Frau?«
»Nein. Das Mädchen starb, bevor ich sie heiraten konnte.«
»Und wie lange waren Sie verheiratet?«
»Neunundzwanzig Jahre, aber das gehört wohl nicht hierher.«
»Gott verzeihe mir! Sie waren so lange verheiratet, ohne Ihrer Frau einmal zu sagen, daß Sie sie liebten?«
»Es war nicht nötig«, erwiderte Burton und ließ sie stehen. Die Hütte, in die er ging, war von Kazz und Monat besetzt. Während Kazz bereits selig schnarchte, lag Monat auf einen Ellbogen gelehnt und paffte eine Marihuanazigarette. Er gab diesem Stoff dem Tabak gegenüber den Vorzug, weil es dem Tabak, den er von seinem Heimatplaneten kannte, ähnlicher war.
Jedenfalls wirkte die Droge so gut wie überhaupt nicht auf ihn. Irdischer Tabak hingegen gaukelte ihm, wie er sagte, gelegentlich farbige Visionen vor.
Burton entschloß sich, den Rest des — wie er es nannte — Traumgummis aufzuheben. Statt dessen zündete er sich eine Zigarette an, er sagte sich wohl, daß Marihuana seine unterdrückte Wut und Frustration nur noch verschlimmern würde, aber es war ihm gleichgültig. Er stellte Monat einige Fragen über seinen Heimatplaneten Ghuurrk. Obwohl ihn das Thema interessierte, begann das Marihuana allmählich zu wirken. Monats Stimme wurde leiser und schien sich immer weiter von ihm zu entfernen.
»… und jetzt, Jungs«, sagte Gilchrist in seinem breiten, schottischen Akzent, »Haltet euch die Augen zu!«
Richard musterte Edward. Edward grinste. Er bedeckte zwar die Augen mit den Händen, ließ es sich aber nicht nehmen, zwischen den Fingern hindurchzulugen. Richard tat es ihm gleich und blieb weiterhin auf den Zehenspitzen stehen. Obwohl er und sein Bruder auf zwei Kisten standen, mußten sie trotzdem den Kopf recken, wenn er über die Köpfe der vor ihnen stehenden Erwachsenen hinweg etwas sehen wollten.
Der Kopf der Frau lag jetzt auf dem Block, und das lange, braune Haar fiel ihr übers Gesicht. Richard wünschte sich, jetzt in ihr Gesicht zu sehen. Er fragte sich, welchen Ausdruck es Angesichts des Korbes zeigte, der direkt vor ihr stand und auf sie — oder vielmehr ihren Kopf — wartete.
»Guckt jetzt nicht hin, Jungs!« sagte Gilchrist erneut.
Trommelwirbel setzte ein. Irgend jemand stieß einen Schrei aus. Die Klinge schoß nach unten. Die Menge brüllte auf, und da und dort stöhnte jemand. Der Kopf fiel nach vorn. Blut spritzte aus dem offenen Hals und würde niemals versiegen. Es floß über die Menge hinweg, hüllte sie ein, bedeckte sie völlig, obwohl sie mindestens zwanzig Meter vom Ort des Geschehens entfernt stand. Es benetzte Richards Hände, floß über seine Finger, lief über sein Gesicht in die Augen hinein und blendete ihn, er schmeckte es auf den Lippen. Es war salzig. Entsetzt schrie er auf…
»Aufwachen, Dick!« sagte Monat und schüttelte Burtons Schulter. »Wach auf!
Hast du einen Alptraum gehabt?«
Schluchzend und zitternd setzte Burton sich auf. Er rieb aufgeregt die Hände aneinander und berührte dann sein Gesicht. Alles fühlte sich feucht an. Aber es war nur Schweiß, kein Blut.
»Ich habe geträumt«, sagte er. »Ich war sechs Jahre alt und befand mich in Tours. In Frankreich, wo wir damals lebten. Mein Privatlehrer, John Gilchrist, nahm mich und meinen Bruder Edward zur Hinrichtung einer Frau mit, die ihre ganze Familie vergiftet hatte. Es sei ein Vergnügen, sagte er.
Ich war natürlich neugierig, und als die letzten Sekunden anbrachen und er uns bat, nicht hinzusehen, wie die Guillotine herabsauste, schaute ich durch meine Finger. Ich konnte einfach nicht anders. Ich erinnere mich, daß mir ein klein wenig übel wurde, aber das war alles, was diese schreckliche Szene in mir an Wirkung auslöste. Irgendwie schien ich bei dieser Sache gar nicht richtig anwesend zu sein; mir schien, als sähe ich alles durch eine dicke Glasscheibe. Es war irgendwie unwirklich. Vielleicht war ich auch wirklich nicht da. Auf jeden Fall hat es mir keinen großen Schreck eingejagt.«
Monat zündete sich ein weiteres Marihuanastäbchen an. Das Licht der Zigarette gab genug Helligkeit ab, daß Burton ihn den Kopf schütteln sah.
»Wie barbarisch! Ihr habt eure Kriminellen also nicht nur getötet, sondern ihnen auch noch die Köpfe abgeschlagen! Und das in aller Öffentlichkeit! Und habt auch noch zugelassen, daß Kinder dabei zusahen!«
»In England war man ein bißchen humaner«, sagte Burton. »Da hat man die Verbrecher gehenkt.«
»Zumindest die Franzosen erlaubten dem Volk, dabei zu sein, wenn sie das Blut von Verbrechern vergossen«, sagte Monat. »Das Blut war damit auch an ihren Händen. Aber offenbar ist das niemandem bewußt geworden. Und jetzt, viele Jahre — sind es dreiundsechzig? — später sitzt du hier, rauchst etwas Marihuana und erschreckst dich über ein Ereignis, von dem du glaubtest, es würde dir niemals Probleme bereiten. Und erlebst plötzlich das Entsetzen, von dem du damals nichts bemerktest. Du hast geschrieen wie ein verängstigtes Kind. Ich glaube, daß die Droge in dir eine Mauer zum Einsturz gebracht hat, die du bereits vor dreiundsechzig Jahren in deinem Kopf errichtet hast, um dieses Erlebnis zu verdrängen.«
»Vielleicht«, gab Burton zu.
Er blieb ruhig sitzen. In der Ferne war rollender Donner zu vernehmen. Es blitzte. Dann rauschte der Regen herab und prasselte auf das blätterbedeckte Hüttendach. Auch in der vergangenen Nacht hatte es um diese Zeit — Burton schätzte sie auf drei Uhr morgens — zu regnen begonnen. Das vom Himmel herabstürzende Wasser machte dem Dach der Hütte arg zu schaffen, aber da man beim Bau mit äußerster Sorgfalt zu Werke gegangen war, regnete es nicht durch. Was den Boden anbetraf, so sah es ein wenig anders aus: Von der dem Hügel zugewandten Seite drang Wasser ein, auch wenn es nicht genug war, um sie ernsthaft zu durchnässen. Zum Glück hatten sie ihre Lagerstätten so hoch gemacht, daß das Regenwasser sie nicht erreichte.
Burton unterhielt sich mit Monat, bis der Regen eine halbe Stunde später aufhörte. Dann schlief Monat ein; Kazz war überhaupt nicht aufgewacht.
Obwohl sich Burton bemühte, wieder einzuschlafen, gelang es ihm nicht. Noch nie im Leben hatte er sich so einsam gefühlt und sich davor gefürchtet, wieder in einen Alptraum zu sinken. Nach einer Weile stand er auf, ging hinaus und auf die Hütte zu, die Wilfreda sich ausgesucht hatte. Noch bevor er über die Schwelle trat, roch er den Duft von Marihuana. Die Spitze einer Zigarette glühte in der Finsternis. Auf der aus Gräsern und Zweigen aufgeschütteten Lagerstatt saß eine nur in Umrissen erkenntliche Gestalt.
»Hallo«, sagte sie. »Ich habe darauf gehofft, daß du doch noch kommst.«
»Es ist einfach eine Sache des Instinkts, persönliches Eigentum zu besitzen«, sagte Burton.
»Ich bezweifle, daß es überhaupt irgendwelche Instinkte im Menschen gibt«, erwiderte Frigate. »In den sechziger Jahren — des zwanzigsten Jahrhunderts natürlich — gab es einige Leute, die zu beweisen versuchten, daß der Mensch über Instinkt verfügt, den sie den Territorialen Imperativ nannten. Aber…«
»Der Ausdruck gefällt mir«, sagte Burton.
»Ich dachte mir, daß er Ihnen gefällt«, meinte Frigate. »Aber Ardrey und andere versuchten nicht nur zu beweisen, daß der Mensch einem Instinkt folgte, wenn er gewisse Gebiete für sich selbst beanspruchte, sondern auch, daß er von einem Killer-Affen abstammte, was nationalen Grenzen, National- und Lokalpatriotismus, Kapitalismus, Kriege, Morde, Kriminalität und so weiter erklären sollte. Aber es gab auch eine Gegenseite, und die war der Ansicht, daß all diese Dinge lediglich eine natürliche Folge der kontinuierlichen Entwicklung der Menschen und ihrer Gesellschaftssysteme seien, die sich schon von Anbeginn der Zeit mit Kriegen, Morden, Kriminalität und so weiter hätten auseinandersetzen müssen. Ändere die Kultur, und der Killer-Affe wird von selbst verschwinden. Und zwar deswegen, weil es ihn ebenso wenig je gegeben hat wie den kleinen Mann auf der Straße.
Der Killer ist nichts anderes als die Gesellschaft selbst, die mit jedem Schwung Neugeborenen weitere Killer hervorbringt. Allerdings hat es Formen gesellschaftlichen Zusammenlebens gegeben, in denen diese Phänomene nicht aufgetreten sind. Gut, es hat sich dabei um analphabetische Kulturen gehandelt, aber immerhin — sie standen als Beweis dafür an, daß der Mensch sich nicht auf einen Killer-Affen als Vorfahr berufen konnte. Vielleicht sollte ich besser sagen, daß er im Laufe seiner Entwicklung seine Tötungsinstinkte verlor, ebenso wie er sich in seinem Aussehen weitgehend veränderte.«
»Das scheint mir alles sehr interessant zu sein«, sagte Burton. »Und wir sollten uns irgendwann, wenn wir mehr Zeit haben, etwas tiefer in diese Theorie hineinknien. Ich möchte jedenfalls dazu noch sagen, daß beinahe jedes Mitglied der wiedererweckten Menschheit einer Kultur zugehörig war, die Kriege, Morde, Kriminalität, Vergewaltigung und Wahnsinn förderte. Und daß es diese Leute sind, die uns umgeben und mit denen wir auszukommen haben. Möglicherweise wird es eines Tages ganz andere Generationen geben, ich weiß es nicht. Es ist zu früh, darüber etwas Endgültiges zu sagen, nachdem wir uns erst sieben Tage hier befinden. Aber ob es Ihnen gefällt oder nicht, wir befinden uns auf einer Welt, in der die meisten Menschen sich benehmen, als seien sie Killer-Affen. Und jetzt sollten wir uns wieder auf unser Modell konzentrieren.«
Sie saßen auf kleinen Bambusstühlen vor Burtons Hütte, und vor ihnen, auf einem aus dem gleichen Material gefertigten Tisch stand das Modell eines Bootes, das sie aus Pinienholz und Bambus gebastelt hatten. Das Boot verfügte über eine Reling, einen einzelnen Mast und eine Kommandobrücke, auf der ein Steuerrad zu sehen war. Sie hatten einige Zeit gebraucht, es zusammenzubekommen, und mit Hilfe ihrer Steinmesser und Scheren eine Menge Arbeit investiert. Sobald das Boot, das nach diesem Modell gebaut werden würde, vom Stapel lief, wollte Burton es Hadji nennen. Denn es würde sich auf eine Pilgerfahrt begeben, wenngleich das Ziel nicht Mekka war. Burton beabsichtigte, es soweit den Fluß hinauf zu steuern, wie es möglich war.
Das Gespräch über den Territorialen Imperativ war deswegen aufgekommen, weil die beiden einige Schwierigkeiten beim Bau des geplanten Bootes auf sich zukommen sahen. Die Leute in der Umgebung hatten sich mittlerweile zum größten Teil fest irgendwo niedergelassen und beschäftigten sich damit, ihre Besitztümer von anderen abzugrenzen. Einige Gemeinschaften waren mit dem Aufbau fester Siedlungen beschäftigt oder arbeiteten daran, solche anzulegen. Ansammlungen von einfachen Unterständen, Kolonien kleiner Bambushütten oder relativ große Holzhäuser, die teilweise sogar zwei Stockwerke aufwiesen. Die meisten dieser Gemeinschaften hatten das Gebiet um die Gralsteine am Fluß okkupiert, während andere den Fuß der Berge zu bevorzugen schienen. Eine Rundreise, die Burton zwei Tage zuvor abgeschlossen hatte, erbrachte das Resultat, daß sich auf nahezu jedem Quadratkilometer Land an die achtzig bis hundert Menschen tummelten. Jedem Quadratkilometer Flachland standen etwa zweieinhalb Quadratkilometer Hügelgelände gegenüber, das sich aber teilweise in solche Höhen erstreckte, daß es in Wirklichkeit gut dreimal soviel Raum bot wie die Ebene zu beiden Seiten des Flusses. In den drei Zonen, die Burton untersucht hatte, hatte sich ein Drittel der Menschen für Ansiedlungen in der Nähe der Gralsteine am Fluß entschieden, während ein weiteres Drittel es vorgezogen hatte, ein wenig weiter landeinwärts zu ziehen. Obwohl eine Bevölkerungsdichte von achtzig bis hundert Menschen pro Quadratkilometer in den Hügeln verhältnismäßig hoch war, fühlte man sich doch durch den dichten Baumbestand soweit voneinander getrennt, daß man sich beinahe isoliert vorkam. Aber auch die Flußebene erweckte — ausgenommen zu den Mahlzeiten — einen beinahe unbewohnten Eindruck, da die meisten Bewohner dieses Gebietes sich tagsüber in den Wäldern aufhielten, die es zu erforschen galt, oder sich die Zeit mit Fischen vertrieben. Einige waren dabei, Flöße oder Boote zu bauen, mit denen man in der Flußmitte auf Jagd gehen konnte. Oder — wie Burton — Pläne hegten, den Fluß selbst zu erforschen.
Die Bambusgewächse in der näheren Umgebung waren bereits verschwunden, obwohl es offensichtlich war, daß sie bald nachwachsen würden, denn das Zeug wuchs mit einer beinahe beängstigenden Schnelligkeit, und Burton schätzte, daß es nicht länger als zehn Tage benötigte, um sich vom Schößling bis zur ausgewachsenen, fünfzehn Meter hohen Pflanze zu entwickeln.
Die Gruppe hatte hart gearbeitet und alles herangeschleppt, was man zum Bau des Bootes benötigte. Um Diebe abzuhalten, war es unerläßlich, einen hohen Zaun um das Lager zu bauen: Also benötigten sie noch mehr Holz. Am Tag, als das Modell seiner Vollendung entgegenging, war auch die Umzäunung fertig.
Ärgerlich würde lediglich sein, daß sie das Boot auf der Ebene würden bauen müssen. Es war unmöglich, es nach Fertigstellung durch den Wald zum Fluß zu schleppen.
»Ja, aber wenn wir uns jetzt nach unten auf die Ebene absetzen und dort ein neues Lager errichten, würden wir schon in die ersten Schwierigkeiten hineingeraten«, hatte Frigate gesagt. »Es gibt dort unten keinen Quadratmeter mehr, den nicht schon jemand für sich in Anspruch genommen hätte. Bis jetzt hat sich noch niemand stur gestellt, wenn man ihr Gebiet durchquerte, aber die Lage kann sich jeden Tag ändern. Und wenn wir das Schiff am Waldrand bauen, müßten wir Tag und Nacht Wachen aufstellen, damit man uns das Baumaterial nicht stiehlt. Oder es zerstört. Sie kennen doch diese Barbaren.«
Er erinnerte Burton an einige Hütten, die Fremde eingerissen hatten, während ihre rechtmäßigen Besitzer sich anderswo aufhielten. Auch das unterhalb des Wasserfalls befindliche Becken stank mittlerweile zum Himmel. Manchen Leuten war einfach nicht beizubringen, daß sie ihre Notdurft an den dafür aufgestellten Waldtoiletten verrichteten.
»Wir bauen neue Häuser und einen Unterstand für das Boot«, erklärte Burton.
»Und zwar so nahe wie möglich am Waldrand. Dann fällen wir jeden Baum, der uns im Wege steht, und bahnen uns einen Weg an jedem vorbei, der uns das Recht, zum Fluß hinunterzugehen, streitig machen möchte.«
Es war Alice, die zu einigen Leuten, die ihre Hütten hart an der Grenze zwischen der Ebene und den Hügeln aufgestellt hatten, hinunterging und ihnen einen Handel anbot, ohne darüber zu reden, welche Ziele man wirklich verfolgte. Da sie drei Paare kennen gelernt hatte, die wenig glücklich darüber waren, daß sie ihre Unterkünfte mit einer Reihe anderer Leute zu teilen hatten, schlug sie ihnen einfach vor, zu Burtons Gruppe überzuwechseln, was sie am Donnerstag, dem zwölften Tag nach der Erweckung, dann auch taten. Man hatte sich inzwischen allgemein darauf geeinigt, den Erweckungstag als Sonntag anzuerkennen und mit dem Datum des Ersten zu versehen. Ruach hatte zwar vorgeschlagen, den ersten Tag entweder Samstag — oder noch besser — den Ersten Tag zu nennen, stieß damit aber in seiner vorwiegend christlichen Umgebung auf wenig Gegenliebe und gab schließlich auf. Er hatte einen Bambusstab organisiert, den er neben seiner Hütte in den Boden rammte. Jeden Morgen ritzte er in ihn eine Kerbe ein.
Allein der Transport des Bauholzes für das Schiff kostete sie vier volle Tage harter Arbeit. Danach behaupteten die italienischen Paare, genug Knochenarbeit geleistet zu haben. Warum sollten sie überhaupt an Bord eines Schiffes gehen und irgendwohin fahren, wenn es anderswo möglicherweise ebenso aussah wie hier? Sie gelangten zu der Ansicht, daß man sie deswegen wieder zum Leben erweckt hatte, damit sie es endlich genießen konnten. Und dafür schienen ihnen der Alkohol, die Zigaretten, das Marihuana, das Traumgummi und die Nacktheit zu genügen.
Sie verließen die Gruppe, ohne daß es deswegen zu Streitigkeiten gekommen wäre. Ganz im Gegenteil — man veranstaltete ihnen zu Ehren sogar eine Abschiedsparty. Am nächsten Tag, dem zwanzigsten des Jahres 1, geschahen zwei Dinge. Eins davon verursachte einige Verwirrung, und das andere fügte — auch wenn es nicht von Wichtigkeit war — noch weitere Konfusion hinzu.
Im Morgengrauen begab sich die Gruppe über die Ebene zu einem der Gralsteine hinab. In der Nähe des Felsens stießen sie auf zwei unbekannte Leute, die beide schliefen, jedoch schnell erwachten und einen gleichzeitig verstörten und gereizten Eindruck machten. Einer der beiden — ein großer, braunhäutiger Mann — benutzte eine unbekannte Sprache. Der andere war ebenfalls hochgewachsen, sah ziemlich gut aus, besaß starke Muskeln, graue Augen und schwarzes Haar. Die Sprache, derer er sich bediente, war zunächst allen unverständlich, bis Burton auffiel, daß es Englisch war — und zwar ein Dialekt, den man zur Zeit der Herrschaft König Edwards I. in Cumberland gesprochen hatte. Nachdem Burton und Frigate dies wußten und sich den Rest zusammenreimten, kam es endlich zu einer halbwegs verständlichen Konversation. Obwohl Frigate einige Leseerfahrung in frühem Mittelenglisch hatte, waren doch viele der Worte, die der Mann von sich gab, neu für ihn.
John de Greystock war in einem Landhaus seiner Familie in Cumberland County zur Welt gekommen. Er hatte König Edward bei seiner Invasion der Gascogne nach Frankreich begleitet und war dort, wenn man seinen Worten Glauben schenken konnte, zu Ruhm und Ehren gekommen. Nach seiner Rückkehr wurde er ins Parlament berufen. Später unternahm er einen weiteren Feldzug nach Frankreich, diesmal im Gefolge von Bischof Anthony Bec, dem Patriarchen von Jerusalem. Im achtundzwanzigsten und neunundzwanzigsten Jahr von Edwards Herrschaft hatte er gegen die Schotten gekämpft und war 1305 kinderlos gestorben. Sein Baronat hatte er auf seinen Vetter Ralph, einen Sohn des Lords Grimthorpe von Yorkshire, übertragen.
Dann war er irgendwo am Fluß aufgewacht — und zwar innerhalb einer Gruppe von Menschen, von denen neunzig Prozent sich in einem Englisch des vierzehnten Jahrhunderts oder Schottisch unterhalten hatten, während der Rest vorsintflutlichen Tischsitten huldigte. Die Leute auf der anderen Seite des Flusses waren eine Mischung aus Mongolen der Ära Kublai Khans und einer Ansammlung von Dunkelhäutigen, deren genaue Identität Greystock nicht herausfand. Seiner Beschreibung nach konnten es allerdings nordamerikanische Indianer sein.
Am neunten Tag des allgemeinen Erwachens waren die Barbaren von der anderen Flußseite zu ihnen herübergekommen und hatten sie angegriffen. Der Grund?
Greystock wußte keinen, außer daß sie vielleicht Lust auf einen guten Kampf hatten, den man ihnen dann auch liefern konnte. Da sich in der Umgebung der Schotten und Engländer so gut wie keine Steine befanden, mußte man sich mit Gralen und Knüppeln zur Wehr setzen. Zehn der Mongolen hatten den Kampf mit ihm nicht überstanden, dann war ein Gral von hinten gegen De Greystocks Schädel geprallt, und er war zu Boden gegangen. Jemand hatte ihn mit einer feuergehärteten Speerspitze durchbohrt. Er war ohnmächtig geworden, gestorben — und neben diesem Gralstein wieder zu sich gekommen.
Dem anderen Mann blieb nichts anderes übrig, als seine Erlebnisse mittels Zeichensprache und einer Art Pantomine zu verdeutlichen. Irgendein großer Fisch hatte ihn beim Angeln ins Wasser gerissen. Er war untergetaucht und auf dem Weg nach oben mit dem Kopf gegen die Unterseite seines Bootes geprallt. Dabei hatte er das Bewußtsein verloren und war ertrunken.
Damit schien die Frage, was mit den Menschen geschah, die in dieser Welt starben, gelöst zu sein. Aber aus der Erklärung erwuchs nun prompt eine neue Frage: Warum kamen sie beim zweiten Erwachen in einer völlig neuen Umgebung zu sich?
Das zweite seltsame Ereignis dieses Tages war, daß die Grale sich offensichtlich weigerten, ihnen eine Mittagsmahlzeit zu liefern. Statt dessen fanden sie in ihren Behältern sechs verschiedene Kleidungsstücke in unterschiedlichen Farbtönen, Größen und Mustern. Vier davon schienen dazu bestimmt zu sein, als Kilts getragen zu werden, und waren mit magnetischen Verschlüssen versehen. Die anderen beiden waren aus dünnerem Material und stellten wohl Büstenhalter dar, obwohl man sie auch für andere Zwecke verwenden konnte. Die Stoffe, aus denen die Kleidungsstücke bestanden, fühlten sich weich und bequem an, dennoch gelang es keinem, sie zu zerreißen oder zu zerschneiden.
Die Menschheit stieß über die Lieferung dieser Textilien einen kollektiven Jubelschrei aus. Auch wenn sie sich in der Zwischenzeit an die Nacktheit gewöhnt hatten — manche auch mit einem Seufzer der Ergebenheit —, schien ihnen dennoch diese Kompromißlösung in bezug auf Kleidung nicht unwillkommen zu sein. Jetzt besaßen sie Kilts, Büstenhalter und Turbane. Mit letzteren war es möglich, die Köpfe zumindest solange zu bedecken, bis das Haar wieder nachgewachsen war. Später würden die Turbane möglicherweise zu einem allgemein getragenen Kopfschmuck werden.
Und das Haar wuchs bereits — außer in ihren Gesichtern.
Burton war darüber ein bißchen frustriert. Er hatte zeit seines Lebens einen prächtigen Schnauzer und einen Kinnbart getragen, auf den er nicht wenig stolz gewesen war. Ohne Bart kam er sich jedenfalls nackter vor als ohne Hosen.
Aber Wilfreda lachte nur und sagte: »Ich bin froh, daß das Zeug nicht mehr wächst. Männer mit haarigen Gesichtern habe ich noch nie leiden können.
Jedes Mal wenn ich einen bärtigen Mann küßte, kam ich mir vor, als würde ich mein Gesicht in ein Gewirr zerbrochener Sprungfedern stecken.«