Rote Morgennebel berührten sanft seine Lider.
Er stand auf und wußte, daß seine Wunden verheilt und sein Körper gesund sein mußte, obwohl es ihm schwerfiel, daran zu glauben. In der Nähe stand ein Gral, daneben lagen sechs sauber aufgeschichtete und zusammengefaltete Kleidungsstücke in verschiedenen Größen und Farben.
Vier Meter von ihm entfernt erhob sich ein anderer, ebenfalls nackter Mann aus dem Gras. Es lief Burton kalt über den Rücken. Das blonde Haar, das breitflächige Gesicht und die hellblauen Augen… Es war Hermann Göring.
Der Deutsche schien nicht weniger überrascht zu sein als Burton selbst. Mit schwerer Zunge, als erwache er aus einem tiefen Schlaf, sagte er: »Irgend etwas stimmt hier nicht.«
»Es ist in der Tat etwas faul hier«, erwiderte Burton, obwohl auch er nicht mehr über die Erweckungszeremonie wußte als jeder andere Mensch am Fluß auch. Er hatte zwar selbst noch nie mit eigenen Augen die Materialisation eines Wiedererweckten gesehen, wußte allerdings durch die Erzählungen anderer darüber Bescheid. Normalerweise fand sie im Morgengrauen und immer in der unmittelbaren Nähe eines Gralsteins statt. Die Luft begann zu schimmern, und innerhalb eines Sekundenbruchteils tauchte der Körper eines nackten Mannes oder einer Frau aus dem Nichts auf und lag im Gras, während neben ihm ein Stapel Kleidungsstücke und der Gral materialisierten.
In einem Flußtal, dessen geschätzte Länge zwischen zwanzig und vierzig Millionen Kilometer betrug und von fünfunddreißig bis sechsunddreißig Milliarden Menschen bevölkert wurde, konnte es pro Tag durchaus eine Million Tote geben. Obwohl es Krankheiten (ausgenommen geistige) nicht gab und auch keine Statistiken existierten, war es nicht unmöglich, daß während der Myriaden von Kleinkriegen, durch Verbrechen, Selbstmorde oder Exekutionen — und Unfälle — alle vierundzwanzig Stunden eine derartige Zahl von Menschen das Leben verlor. Ständig materialisierten jene Leute, die die »kleine Wiedererweckung«, wie man das zweite oder dritte Erwachen bezeichnete, am eigenen Leibe erfuhren.
Aber Burton hatte niemals davon gehört, daß zwei Menschen, die am gleichen Ort gestorben waren, auch gemeinsam wieder erwachten. Die Auswahl ihrer neuen Umgebung war dem Zufall unterworfen — zumindest hatte er das bisher angenommen.
Natürlich war es nicht unmöglich, daß ein solches Phänomen einmal eintrat — aber auch hier standen die Chancen nur eins zu einer Million. Wenn dies gleich zweimal hintereinander geschah, konnte man nur von einem Wunder sprechen.
Und an Wunder glaubte Burton nicht. Alles war physikalisch erklärbar — vorausgesetzt, man verfügte über die zu einer Erklärung nötigen Fakten.
Aber gerade die besaß Burton nicht, also gab es für ihn auch keinen Grund, sich über dieses Zusammentreffen den Kopf zu zerbrechen. Die Lösung eines viel wichtigeren Problems erforderte jetzt all seine Konzentration. Was sollte er mit Göring anfangen?
Der Mann kannte ihn — er würde in der Lage sein, ihn an jeden Ethiker, der nach ihm suchte, zu verraten.
Er schaute sich rasch um und stellte fest, daß sich ihnen eine offensichtlich freundliche Gruppe von Männern und Frauen näherte. Er hatte gerade noch genügend Zeit, einige Worte mit dem Deutschen zu wechseln.
»Göring, ich kann entweder Sie oder mich selbst umbringen. Aber ich möchte beides nicht tun — im Moment jedenfalls nicht. Sie wissen, aus welchen Gründen Sie eine Gefahr für mich darstellen, und ich sollte einer verräterischen Hyäne wie Ihnen eigentlich nicht eine zweite Chance gewähren.
Aber irgend etwas hat sich an Ihnen verändert, das ich noch nicht verstehen kann…«
Göring, dessen Unverwüstlichkeit beinahe berüchtigt war, schien den Schock jetzt überwunden zu haben. Mit einem listigen Grinsen erwiderte er: »Das nimmt Sie ganz schön mit, was?«
Burton knurrte wütend, und Göring hob hastig die Hand und sagte: »Ich schwöre, daß ich niemanden über Ihre wahre Identität informieren werde! Sie können sich auf mich verlassen. Wir sind zwar keine Freunde, aber letztlich kennen wir einander und halten uns in fremder Umgebung auf. Es ist nicht schlecht, wenn man zumindest ein bekanntes Gesicht in der Nähe hat. Ich weiß, daß ich zu lange in der Einsamkeit gewesen bin. Ich dachte, ich würde verrückt werden. Das ist einer der Gründe, weswegen ich Traumgummi kaute.
Glauben Sie mir, ich habe nicht die Absicht, Ihnen irgendwie zu schaden.«
Burton glaubte ihm kein Wort. Aber vielleicht war es möglich, Göring für einen begrenzten Zeitraum über den Weg zu trauen. Der Mann suchte einen potentiellen Verbündeten, und das zumindest so lange, bis er die Leute, die in diesem Gebiet lebten, gut genug kannte, um zu wissen, was er sich ihnen gegenüber herausnehmen konnte. Und vielleicht hatte sich doch irgend etwas in ihm wirklich zum Besseren hin verändert.
Nein, sagte sich Burton. Nein. Du bist schon wieder auf dem besten Wege, dich hereinlegen zu lassen. Trotz deines verbalen Zynismus hast du den Leuten immer viel zu schnell vergeben, warst stets zu schnell bereit, dich selbst zu vergessen, um anderen eine zweite Chance zu geben. Benimm dich jetzt nicht schon wieder wie ein Trottel, Burton.
Drei Tage später war er sich über Göring noch immer im unklaren.
Burton hatte inzwischen die Identität eines gewissen Abdul Ibn Harun angenommen. Dieser Mann hatte im neunzehnten Jahrhundert in Kairo gelebt. Es gab eine ganze Reihe von Gründen, warum sich Burton ausgerechnet diese Persönlichkeit zugelegt hatte: Er sprach ausgezeichnet Arabisch, und außerdem lieferte ihm diese angenommene Herkunft ein gutes Motiv, seinen Kopf mit einem Turban zu verhüllen, was einen weiteren Teil seiner Verkleidung darstellte. Göring hatte bisher noch kein verdächtiges Wort gegenüber anderen Leuten fallen lassen. Es wäre auch unmöglich gewesen, da er die meiste Zeit in Burtons Nähe verbrachte. Man stellte ihnen eine gemeinsame Hütte zur Verfügung, damit sie die lokalen Sitten kennen lernten, um später in den Probandenstatus aufzurücken. Ein Teil ihrer Ausbildung bestand aus militärischem Unterricht, der Burton, einem der besten Schwertkämpfer seiner Zeit, nicht schwerfiel. Nachdem er während einiger Prüfungen seine Fähigkeiten unter Beweis gestellt hatte, machte man ihn zum Rekruten und versprach ihm, daß er, sobald er das Idiom gut genug beherrschte, zum Ausbilder aufrücken würde.
Göring verschaffte sich den Respekt der Leute beinahe ebenso schnell. Mochte er auch eine Reihe von Fehlern haben — er besaß Courage, das konnte ihm niemand absprechen. Er war stark, konnte mit Waffen umgehen und gab sich jovial und sympathisch, wenn es seinen Zielen zuträglich war. Und gleich Burton eignete er sich rasch umfassende Sprachkenntnisse an. So wurde er nach und nach zu einer Autorität, die der des ehemaligen Reichsmarschalls im Dritten Reich ziemlich nahekam.
Die Uferzone, in der sie jetzt lebten, wurde von einem Volk bewohnt, dessen Sprache sogar dem weitgereisten Linguisten Burton fremd war. Als er genug gelernt hatte, um Fragen zu stellen, fand er heraus, daß die Leute der frühen Bronzezeit entstammen mußten und irgendwo in Mitteleuropa zu Hause gewesen waren. Sie besaßen eine ganze Anzahl seltsamer Bräuche, von denen einer das öffentliche Kopulieren war. Und das versetzte selbst Burton, der Mitbegründer der königlich-anthropologischen Gesellschaft von 1863 gewesen war und auf seinen vielen Expeditionen eine Menge gesehen hatte, in höchstes Erstaunen. Obwohl er daran nicht persönlich teilnahm, konnte man nicht sagen, daß er über diese Sitte entsetzt gewesen wäre.
Einen Brauch, den Burton mit Freuden annahm, war der der angemalten Bärte.
Da die männlichen Angehörigen des Bronzezeitvolkes gegen die totale Bartlosigkeit nichts tun konnten, waren sie auf die Idee gekommen, mittels einer Paste, die in der Hauptsache aus Asche bestand, den nichtvorhandenen Bartwuchs vorzutäuschen. Sie verwendeten diese Farbe, der sie noch einige andere Stoffe beimengten, um ihre Gesichter zu bemalen, so daß sie — zumindest aus der Ferne — bärtig wirkten. Die abgehärtetsten Männer zogen es allerdings vor, sich einer schmerzhaften Tätowierung zu unterziehen, um ihre Manneszier bis in alle Ewigkeit zu erhalten.
Burton fühlte sich jetzt doppelt gut getarnt, wenngleich er wohl oder übel noch immer dem Mann ausgeliefert war, von dem er am wenigsten Gnade erwarten durfte. Und er brannte darauf, einem der Ethiker über den Weg zu laufen, um herauszufinden, ob man ihn, so wie er jetzt aussah, noch erkannte.
Er hatte das Gefühl, als müsse er einfach den Versuch wagen, bevor man ihn erneut ausfindig machte und er sich in den Netzen der Verfolger verstrickte.
Ihm war auch bewußt, daß er sich auf ein gefährliches Spiel — das man nur noch mit einem Seiltanz über einer Wolfsgrube vergleichen konnte — einzulassen im Begriff war. Aber er mußte es versuchen! Und er würde nur dann die Flucht ergreifen, wenn sie absolut unumgänglich war. Dann galt es, vom Gejagten in die Position des Jägers überzuwechseln.
Und hinter jedem Gedanken, den Burton faßte, schwebte nebelhaft die Vision des finsteren Turmes, jenes Großen Grals, von dem die Legende berichtete.
Warum sollte er noch länger das Katz-und-Maus-Spiel fortsetzen, wo es ihm vielleicht ebenso gut möglich war, die Wälle, hinter denen er das Hauptquartier der Ethiker vermutete, zu erstürmen? Sollte das nicht zu realisieren sein, stand es ihm immer noch frei, sich in den Turm hineinzuschleichen wie eine Maus. Wenn die Katze aus dem Haus war, gab es für eine Maus keine Schwierigkeiten mehr — und wenn sie die Mauern einmal überwunden hatte, konnte sie sich sehr leicht in einen Tiger verwandeln.
Der Gedanke daran brachte ihn zum Lachen, und die beiden Hüttenmitbewohner warfen ihm erstaunte Blicke zu. Neben Göring befand sich noch ein dritter Mann in der Unterkunft: der aus dem siebzehnten Jahrhundert stammende John Collop. Burtons Gelächter galt allerdings sich selbst. Es war wirklich lustig, sich vorzustellen, daß die Kräfte eines Tigers dazu ausreichten, gegen eine Gruppe von Wesen anzukämpfen, die nicht nur mehrere Milliarden Menschen ins Leben zurückgerufen, sondern auch einen ganzen Planeten nach ihren Wünschen gestaltet hatten. Aber dennoch mußte das Geheimnis, das zum Untergang der Ethiker führen konnte, sich irgendwo zwischen seinen Händen und dem Gehirn befinden, das ihre Bewegungen steuerte. Irgend etwas war in ihm, vor dem die Ethiker sich fürchteten. Und er mußte es unbedingt herausfinden…
Aber das Gelächter Burtons war nicht nur Belustigung über sich selbst gewesen. Er glaubte tatsächlich zu einem gewissen Teil daran, daß er unter den anderen Menschen eine Art Tiger darstellte. Ein Mann ist das, dachte er, wofür er sich hält.
Göring sagte plötzlich: »Sie haben eine ziemlich seltsame Lache, werter Freund. Ein wenig feminin für einen harten Burschen wie Sie. Es hörte sich an wie… wie ein Felsen, den man über einen zugefrorenen See schiebt. Oder wie ein Schakal.«
»Ich habe sicher etwas von einem Schakal oder einer Hyäne an mir«, erwiderte Burton. »Jedenfalls wurden meine Feinde niemals müde, das zu behaupten. Aber ich bin mehr als das.«
Er stand von seinem Bett auf und machte ein wenig Morgengymnastik, um den Schlaf aus den Muskeln zu vertreiben. In wenigen Minuten würde er mit den anderen zum Gralstein hinuntergehen und die Nahrungsbehälter füllen lassen.
Anschließend warteten Reinigungsarbeiten auf sie, später militärischer Drill und Ausbildung mit der Lanze, der Keule, der Schlinge, dem Schwert, Pfeil und Bogen und der Streitaxt. Des weiteren war ein Kursus über den Kampf mit bloßen Händen und Füßen angesetzt. In der anschließenden, einstündigen Pause konnte man entweder ruhen, essen oder sich unterhalten. Später erwarteten sie zwei harte Arbeitsstunden an den Wällen, die die Grenzen ihres kleinen Reiches bildeten. Nach einer weiteren halbstündigen Pause folgte der obligatorische, einen Kilometer lange Rücklauf zum Lager. Nach dem Abendessen begann dann für diejenigen, die weder zum Wachdienst noch zu anderen Aufgaben eingeteilt worden waren, die heißersehnte Freizeit.
Was die anderen Zwergstaaten — ob sie nun flußauf- oder flußabwärts lagen — anbetraf, sah es dort nicht anders aus. Nahezu überall befand man sich im Krieg oder bereitete sich auf bewaffnete Auseinandersetzungen vor. Man legte großen Wert darauf, daß die Bevölkerung in Form blieb und ihren Fähigkeiten gemäß an den unterschiedlichsten Waffen ausgebildet wurde. Deswegen bestand der größte Teil des Tages aus Übungen. Wie monoton der tägliche Dienst auch ablief — den meisten schien er immer noch interessanter zu sein, als einfach herumzusitzen und nach Möglichkeiten der Zerstreuung zu suchen. Aber dennoch hatte sich die Tatsache, daß man sich weder um Nahrungsbeschaffung noch Mieten oder Rechnungen mehr zu kümmern brauchte, nicht in jedem Fall als segensreich erwiesen. Überall wurde eine große Schlacht gegen die Langeweile geschlagen, und die Hauptaufgabe der einzelnen Stammesführer bestand darin, sich Beschäftigungsmöglichkeiten für ihre Leute auszudenken.
Obwohl man das Flußtal mit Leichtigkeit in ein Paradies hätte verwandeln können, herrschte überall nur Krieg, Krieg, Krieg. Von anderen Dingen abgesehen war der Krieg (wenn man manchen Leuten Glauben schenken konnte) eine wunderbare Sache. Zumindest auf dieser Welt vergeudete er keine Menschenleben und vertrieb außerdem die Langeweile. Die Menschheit, so sagten sie, hatte sich damit ein Ventil geschaffen, durch das sie sich ihrer Aggressivität entledigen konnte.
Nach dem Abendessen blieb es den Männern und Frauen des kleinen Reiches selbst überlassen, womit sie sich beschäftigten — vorausgesetzt, sie brachen keine Gesetze. Man konnte dann Tauschgeschäften nachgehen und mit den überzähligen Zigaretten und Getränken, die die Grale lieferten, manch nützlichen Gegenstand erwerben. Manche handelten sich mit Narkotika oder im Fluß gefangenen Fischen einen besseren Bogen oder Pfeile ein; andere Schilde, Becher, Tassen, Tische, Stühle, Bambusflöten oder Tonpfeifen. Aber es gab auch aus Menschen- oder Fischhaut gefertigte Trommeln, seltene Steine (die eine wirkliche Rarität darstellten); Halsketten aus den bemerkenswert schönen bunten Knochen von Fischen, aus Jade oder Holz; Obsidianspiegel, Sandalen und Schuhwerk, Kohlezeichnungen oder beinahe unerschwingliches Bambuspapier; Tinte und Fischgrätenschreibgeräte, Hüte aus langem, zähfaserigem Gras; kleine Wagen, in denen man die Hügel hinabfahren konnte, Harfen aus Holz und den Sehnen des Drachenfisches, aus Eichenholz gefertigte Finger- und Zehenringe, Töpferwaren und zahlreiche andere Dinge, die man nutzbar oder als Zierrat verwenden konnte.
Und später fanden natürlich die Orgien statt, an denen Burton und seine Hüttengefährten erst dann würden teilnehmen dürfen, wenn man ihnen den Status eines Bürgers zugestanden hatte. Erst dann durften sie sich auch Frauen nehmen und mit ihnen allein in einer Hütte leben.
John Collop war ein kleiner und schlanker Jüngling mit langem, blondem Haar, einem hageren, aber durchaus ansehnlichen Gesicht und großen blauen Augen, über denen sich seidige, schwarze Wimpern krümmten. Während seines ersten Gesprächs mit Burton hatte er sich vorgestellt und gesagt: »Ich wurde aus der Dunkelheit in meiner Mutter Schoß — wessen auch sonst? — im Jahre 1625 in das Licht von Gottes schöner Welt hinübergeführt. Meiner Meinung nach landete ich alsbald — und viel zu schnell — erneut in einem Schoß. Diesmal war es der von Mutter Natur. Ich war natürlich auf das ewige Leben vorbereitet und keinesfalls überrascht, wie Sie sich vorstellen können.
Dennoch will ich nicht verschweigen, daß es nicht allzu viel mit dem Leben zu tun hatte, das die Pfaffen mir beschrieben. Aber ach! Wie sollten sie auch nur die Wahrheit erahnen, wo sie selber auch nur Blinde sind, die eine Herde von Blinden lenken!«
Etwas später berichtete Collop Burton, daß er ein Mitglied der Kirche der Zweiten Chance sei.
Burtons Augenbrauen hoben sich. Er war dieser neuen Religion bereits an vielen Orten begegnet. Obwohl er zu den Ungläubigen zählte, interessierten ihn derartige Bewegungen immer, und er hatte es sich nie nehmen lassen, Nachforschungen über sie anzustellen. Seine Devise lautete: Wenn du etwas über einen Menschen erfahren willst, lerne zuerst seine Religion kennen.
Damit weißt du die Hälfte über ihn. Die andere kannst du leicht von seiner Frau erfahren.
Diese Kirche verbreitete nur wenige einfache Thesen, von denen manche auf Tatsachen, die meisten aber auf Glauben und Hoffnungen basierten. Darin unterschieden sie sich von keiner Religion der Erde. Was die Kirche der Zweiten Chance allerdings über die Lehren sämtlicher Glaubensgemeinschaften der Vergangenheit hinaushob, war die Tatsache, daß sie ein Leben nach dem Tode vorhersagen konnte, ohne sich auf irgendwelche Vermutungen zu stützen.
Es gab schließlich ein Weiterleben — und nicht einmal dieses war auf Einmaligkeit beschränkt.
»Warum hat man der Menschheit eine zweite Chance gegeben?« fragte Collop mit leiser, ernster Stimme. »Hat sie sie überhaupt verdient? Nein. Von wenigen Ausnahmen abgesehen ist der Mensch gemein, mies, engstirnig, neidisch und egoistisch. Er ist streitsüchtig und verbringt einen Großteil seiner Zeit damit, anderen an die Kehle zu fahren. Die ihn beobachtenden Götter — oder der Gott — müßte sich eigentlich bei ihrem Anblick übergeben. Aber selbst in seinem göttlichen Erbrechen findet sich, wenn Sie mir diesen Ausdruck verzeihen wollen — ein Klümpchen Mitgefühl. Die Menschheit, egal auf welche Abstammung sie sich auch berufen mag, hat in sich den Silberdraht der Göttlichkeit. Es ist nicht einfach eine selbstgefällige Phrase, daß der Mensch nach dem Ebenbilde Gottes geschaffen wurde. Es existiert in jedem von uns etwas — und das sogar unter dem schlechtesten Vertreter unserer Spezies —, das es wert ist, bewahrt zu werden; das es wert ist, aus ihm einen neuen Menschen zu machen. Und wer immer uns die Möglichkeit gegeben hat, unsere Seelen zu retten, ist über diese Wahrheit informiert. Man hat uns in dieses Flußtal gebracht — auf einen fremden Planeten, dessen Himmel nicht der unsere ist —, damit wir unser Seelenheil wiedergewinnen. Ich habe keine Ahnung, welche zeitliche Grenze man uns setzt. Nicht einmal die Führer unserer Kirche wagen es, darüber Spekulationen anzustellen. Möglicherweise haben wir die Ewigkeit, vielleicht aber auch nur ein paar hundert oder tausend Jahre, diese Aufgabe zu bewältigen. Aber wir sollten jede Sekunde dieser Zeit nutzen, mein Freund.«
Burton sagte: »Hast du nicht einmal auf einem Altar Odins gelegen und auf Nordmänner einzuwirken versucht, die dich ihm opfern wollten und die ihrem alten Glauben immer noch anhingen, obwohl sie inzwischen wußten, daß diese Welt hier nichts mit dem Walhalla zu tun hat, auf die sie ihre Priester vorbereiteten? Glaubst du nicht, daß du deine Zeit vergeudet hast, indem du zu ihnen sprachst und sie zu bekehren versuchtest? Sie glauben noch heute an die gleichen alten Götter, und das einzige, was sich an ihrer Theologie verändert hat, sind die Auswirkungen der Umwelt, denen sie jetzt gegenüberstehen. Ebenso wie du an deinem alten Glauben hingst.«
»Die Nordmänner haben keinerlei Erklärung für die neue Umgebung, in der sie sich jetzt befinden«, erwiderte Collop.
»Aber ich. Ich bin im Besitz einer vernünftigen Erklärung, die auch die Nordmänner eines Tages genauso akzeptieren werden wie ich. Sie haben mich zwar umgebracht, aber eines Tages wird ein anderes Mitglied unserer Kirche kommen und zu ihnen sprechen können, bevor sie es auf ihren Altar legen und sein Herz herausreißen. Und wenn dieser es nicht schafft, sie zu überzeugen, wird es der nächste Missionar tun. Schon auf der Erde ist das Blut der Märtyrer stets die Saat der Kirche gewesen. Auch hier wird sich diese Überzeugung als richtig erweisen. Wenn man einen Mann tötet, um ihm den Mund zu verschließen, wird er an einem anderen Ort wiedergeboren. Und ein Mann, der hunderttausend Kilometer entfernt den Märtyrertod starb, wird kommen und den Platz seines Vorgängers übernehmen. Im Endeffekt wird die Kirche siegen.
Dann wird der Mensch sich von seinen haßerzeugenden Kriegen abwenden und seiner wirklichen Bestimmung entgegenstreben: der Rettung seiner Seele.«
»Was du über die Märtyrer gesagt hast«, sagte Burton, »mag zwar stimmen.
Aber jeder andere Bösewicht, der umgebracht wird, erwacht ebenso wieder an einem anderen Ort.«
»Gott wird die Oberhand erringen; die Wahrheit setzt sich immer durch«, entgegnete Collop.
»Ich weiß nicht, wie viel du während deines Lebens von der Erde gesehen hast«, meinte Burton, »aber es muß sehr wenig gewesen sein. Sonst wärst du nicht dermaßen blind. Ich weiß es besser.«
Collop erwiderte: »Die Kirche ist nicht auf blinden Glauben allein errichtet worden. Sie verfügt über etwas sehr Grundsätzliches, auf das sich ihre Lehren aufbauen. Sag mir, Freund Abdul, hast du jemals davon gehört, daß jemand wiedererweckt wurde und dennoch tot war?«
»Das ist paradox!« rief Burton aus. »Was meinst du damit: wiedererweckt und dennoch tot?«
»Es gibt mindestens drei beeidete Fälle und vier weitere, von denen die Kirche zwar hörte, aber niemanden fand, der dabeigewesen ist. Es handelte sich bei diesen Personen um Menschen, die irgendwo getötet wurden und dann an anderen Orten auftauchten. Seltsamerweise befanden sich ihre Körper in unversehrtem Zustand. Aber es war kein Leben in ihnen. Nun, was sagst du dazu?«
»Ich kann es mir nicht vorstellen!« sagte Burton laut. »Aber erzähle mir davon. Ich will dir gerne zuhören.«
Natürlich konnte er es sich doch vorstellen, denn die gleiche Geschichte hatte er bereits anderswo aufgeschnappt. Jetzt ging es für ihn nur noch darum, ob sich Collops Bericht mit dem anderen deckte.
Und das tat er. Sogar die Namen der in totem Zustand materialisierten Personen stimmten überein. Alle waren von Menschen identifiziert worden, die ihnen bereits zu Lebzeiten auf der Erde begegnet waren. In jedem einzelnen Fall hatte es sich um prominente Persönlichkeiten gehandelt, die entweder heiliggesprochen worden waren oder einer solchen Ehrung ziemlich nahestanden. Und so nahm es nicht wunder, daß bald die Theorie Anhänger fand, es gäbe Menschen, die aufgrund eines bestimmten Lebenswandels das „Fegefeuer“ — als das man den Flußplaneten ansah — nicht mehr zu durchlaufen brauchten. Ihre Seelen hatten sich auf den Weg zu einem anderen Ort begeben.
Was übrigblieb, war lediglich ihre leere Hülle.
Schon bald, behauptete die Kirche, würden weitere Menschen in das Stadium der Beinahe-Heiligkeit aufrücken. Dann würden auch ihre Seelen sich aufmachen und nichts als tote Körper zurücklassen. Eventuell konnte dann — nach einer gewissen Zeit — die Bevölkerungsanzahl verringert werden. Ein jeder habe die Chance, sich auf sich selbst zu besinnen und auf Gottes Erleuchtung zu warten. Selbst die hoffnungslosesten Fälle würden die Fähigkeit erlangen, sich ihrer Körperhüllen zu entledigen, wenn sie sich darum bemühten, ihre Herzen mit Liebe zu erfüllen.
Burton seufzte, brach in lautes Gelächter aus und sagte: »Plus ça cange, plus c’est la même chose. Schon wieder ein neues Märchen, um den Menschen Hoffnung zu machen. Die alten Religionen haben sich selbst diskreditiert — obwohl einige Leute das immer noch nicht eingesehen haben —, also ist es an der Zeit, ein paar neue zu erfinden.«
»Aber es steckt ein Sinn dahinter«, verteidigte sich Collop. »Hast du eine bessere Erklärung dafür, aus welchem Grund wir uns hier aufhalten?«
»Vielleicht. Ich bräuchte dazu nur ein paar andere Märchen zu erfinden.«
Natürlich besaß Burton eine solche Erklärung, aber er würde sich hüten, sie Collop anzuvertrauen. Spruce hatte vor seinem Tod immerhin einiges über die Identität, Geschichte und Ziele seiner Gruppe durchblicken lassen. Und einiges davon deckte sich in der Tat mit Collops Theologie.
Allerdings war Spruce gestorben, bevor er eine Erklärung über das, was man „Seele“ nannte, hatte abgeben können. Offenbar stellte die „Seele“ einen wichtigen Faktor im Gesamtbild der Wiedererweckung dar. Erreichte der menschliche Körper jedoch den Zustand des »Heils«, entledigte sich die Seele ihrer Umhüllung. Da man das post-terrestrische Leben lediglich in physikalischen Termini erklären konnte, mußte die »Seele« ebenfalls eine physikalische Entität darstellen, die man nicht mit der Bezeichnung »übersinnlich«, wie es auf der Erde stets der Fall gewesen war, umschreiben konnte.
Aber es gab immer noch genug, was Burton nicht wußte. Immerhin war es ihm vergönnt gewesen, einen tieferen Einblick in den Aufbau des Flußplaneten zu tun, als den meisten anderen Menschen möglich gewesen war.
Mit dem wenigen Wissen, das er besaß, war er dennoch bereit, seinen weiteren Weg zu gehen. Und irgendwann würde er den dunklen Turm erreichen, selbst wenn er einen erneuten Selbstmord begehen mußte, um schneller dort anzukommen. Zuerst mußte ihn allerdings einer der Ethiker entdecken. Burton würde den Mann überrumpeln, dafür sorgen, daß er sich nicht selbst umbrachte, und dann die erforderlichen Informationen aus ihm herauspressen.
Bis dahin würde er weiterhin die Rolle Abdul Ibn Haruns spielen und sich als ägyptischer Physiker des neunzehnten Jahrhunderts ausgeben, der jetzt zu den Bürgern des Staates Bargawhwdzys zählte. Und als solcher, entschied er sich, würde er auch der Kirche der Zweiten Chance beitreten. Er brauchte Collop gegenüber nur durchblicken zu lassen, daß die Lehren Mohammeds ihn frustriert hätten. Schneller als Burton war in diesem Gebiet noch kein Mensch zu einem anderen Glauben konvertiert.
»Und nun«, sagte Collop, »mußt du schwören, daß du niemals wieder eine Waffe gegen einen anderen Menschen erheben wirst — nicht einmal zur Selbstverteidigung.«
Wütend entgegnete Burton, daß er es keinem Menschen ungestraft gestatten werde, Hand an ihn zu legen.
»Es ist nichts Unnatürliches, was ich von dir verlange«, sagte Collop freundlich. »Anders ja, das gebe ich zu. Aber ein Mensch, der beschlossen hat, besser zu werden als der, der er einst war, kann dies nur erreichen, wenn er die Kraft und den Willen an das Gute im Menschen auch aufbringt.«
Burton warf ihm ein entschiedenes »Nein!« an den Kopf und marschierte von dannen. Collop schüttelte zwar traurig den Kopf, blieb aber zuvorkommend und artig wie immer. Daß er Burton gelegentlich als einen „Fünf-Minuten-Konvertierten“ bezeichnete, zeugte sogar von einem gewissen Humor. Allerdings spielte er mit den fünf Minuten nicht auf die Zeit an, die er Burton agitiert hatte, sondern auf jene, die der Täufling benötigt hatte, um sich von seinem neuen Glauben wieder abzusetzen.
Der zweite Mann, der zur Kirche der Zweiten Chance überwechselte, war Göring, obwohl er zuerst nichts als Hohn und Spott für Collop übriggehabt hatte. Schließlich waren nach zu häufigem Traumgummikonsum die Alpträume wiedergekehrt.
Zwei Nächte lang hielt Göring Burton und Collop mit seinem Geheule, Gestöhne und Herumgewälze wach. Am Abend des dritten Tages fragte er Collop schließlich, ob es möglich sei, daß er ein Mitglied seiner Kirche werden könnte. Eine Beichte blieb ihm allerdings nicht erspart, da Collop darauf bestand, von ihm zu erfahren, wer und was er auf der Erde gewesen war.
Der junge Engländer hörte sich Görings mit Selbstmitleid und heftigen Selbstbeschuldigungen vermischte Worte an und sagte dann: »Freund, mich interessiert nicht, wer du früher gewesen bist. Ich will nur wissen, was du jetzt bist und was du werden willst. Nur weil eine Beichte gut für die Seele ist, habe ich dich aufgefordert, mir dein Leben zu erzählen. Ich sehe jetzt, daß du dich dessen, was du tatest, schämst; gleichzeitig sehe ich aber auch, daß du gelegentlich mit Genuß daran zurückdenkst, welch mächtiger Mann du einst unter deinesgleichen warst. Viel von dem, was du mir berichtetest, verstehe ich nicht, da ich nicht viel über die Zeit weiß, der du entstammst.
Aber auch das spielt keine Rolle. Nur das Heute und das Morgen betreffen uns, und jeder folgende Tag wird für sich selbst zählen.«
Burton hatte den Eindruck, daß es Collop weder interessierte, was Göring einst gewesen war, noch daß er dem Deutschen seine Geschichte überhaupt abnahm. Es gab zu diesen Zeiten so viele Spinner, daß die wirklichen Helden und Schurken ihnen gegenüber tatsächlich weit in der Minderheit waren.
Burton selbst hatte inzwischen die Bekanntschaft von zwei Leuten, die sich für Jesus Christus hielten, gemacht. Des weiteren kannte er drei Abrahams, sechs Attilas, ein Dutzend Judasse (von denen nur einer in der Lage war, aramäisch zu sprechen), einen George Washington, zwei Lord Byrons, drei Jesse James’, jede Menge Napoleons, einen General Custer (mit einem wunderhübschen Yorkshire-Akzent), einen Finn MacCool (der kein mittelalterliches Irisch konnte), einen Tschaka (der allerdings den falschen Zulu-Dialekt beherrschte) und nicht weniger als sechs Leute, die für sich in Anspruch nahmen, Richard Löwenherz zu sein.
Egal, was man auf der Erde dargestellt hatte: Jedermann mußte sich auf dieser Welt seinen Platz erkämpfen. Und das war nicht leicht, zumal sich die Voraussetzungen entscheidend geändert hatten. Die Großen und Wichtigen der Erde waren aus diesen Gründen ebenso wie die Spinner ständigen Demütigungen ausgesetzt und weigerten sich daher meist, ihre wahren Identitäten preiszugeben.
Für Collop stellte die Erniedrigung allerdings so etwas wie einen Segen dar.
Erst die Erniedrigung, dann die Demut, so lautete seine Devise. Und irgendwann würde dann die Menschlichkeit von selber kommen.
Und Göring hatte sich in dem Großen Plan — wie Burton es nannte — verfangen, weil es seiner Natur entsprach, sich übermäßigem Genuß hinzugeben, wie sein großer Drogenkonsum bewies. Obwohl er genau darüber Bescheid wußte, daß Dinge wie Traumgummi an seinen Wurzeln zerrten, sein Innerstes nach außen stülpten und die finsteren Kräfte, die tief in seinem Innern schlummerten, an die Oberfläche trieben, ihn zerrissen und wankelmütig machten, kaute er dennoch soviel, wie er bekommen konnte. Er war nach der neuen Erweckung zeitweise stark genug gewesen, sich dem Ruf der Droge zu widersetzen. Aber bereits ein paar Wochen nach der Ankunft in diesem Gebiet hatte sie sich als stärker erwiesen. Göring kaute wieder. Es dauerte nicht lange, dann wurde die Stille der Nacht wieder von seinem Geschrei zerrissen: »Hermann Göring, ich hasse dich!«
»Wenn das so weitergeht«, sagte Burton zu Collop, »wird er bald durchdrehen.
Oder er wird sich umbringen. Vielleicht kann er auch einen anderen so weit treiben, ihn zu töten, damit er weiter vor sich davonlaufen kann. Aber auch der Tod kann ihm keinen Nutzen bringen; es wird immer so weitergehen. Sag mir, ist das nicht doch die Hölle?«
»Es ist das Fegefeuer«, sagte Collop. »Und im Fegefeuer gibt es immer noch die Hoffnung.«