Die Jagd begann im Morgengrauen. Der König wollte wilde Keiler zum abendlichen Fest. Prinz Joffrey ritt mit seinem Vater, so daß auch Robb gestattet wurde, sich den Jägern anzuschließen. Onkel Benjen, Jory, Theon Greyjoy, Ser Rodrik und sogar der komische kleine Bruder der Königin waren allesamt mit ihnen ausgeritten. Schließlich war es die letzte Jagd. Am nächsten Morgen wollten sie gen Süden aufbrechen.
Bran war mit Jon, den Mädchen und Rickon zu Hause geblieben. Aber Rickon war noch ein kleines Kind, die Mädchen waren eben Mädchen und Jon und sein Wolf nirgends aufzutreiben. Bran suchte ihn nicht gerade fieberhaft. Er glaubte, Jon sei ihm böse. In letzter Zeit schien Jon auf alle böse zu sein. Bran wußte nicht wieso. Er würde mit Onkel Ben zur Mauer gehen, um sich dort der Nachtwache anzuschließen. Das war fast genausogut, wie mit dem König gen Süden zu ziehen. Robb war es, der zurückbleiben würde, nicht Jon.
Tagelang konnte Bran es kaum erwarten, abzureisen. Auf einem eigenen Pferd würde er über die Kingsroad reiten, nicht auf einem Pony, sondern auf einem richtigen Pferd. Sein Vater würde die Rechte Hand des Königs sein, und sie würden in der roten Burg von King's Landing leben, der Burg, welche die Dragonlords errichtet hatten. Old Nan sagte, dort gäbe es Gespenster und Verliese, in denen schreckliche Dinge vor sich gegangen seien, und dazu Drachenköpfe auf den Mauern. Der bloße Gedanke daran ließ Bran einen Schauer über den Rücken rinnen, doch fürchtete er sich nicht. Wie konnte er sich fürchten? Sein Vater wäre bei ihm, und auch der König mit seinen Rittern und den Gefolgsleuten.
Eines Tages würde Bran selbst Ritter sein, einer aus der Königsgarde. Old Nan sagte, das seien die besten Krieger im ganzen Reich. Es gab nur sieben von ihnen, und sie trugen weiße Rüstungen und hatten weder Frauen noch Kinder, sondern lebten nur für den Dienst am König. Bran kannte sämtliche Geschichten. Ihre Namen waren wie Musik in seinen Ohren. Serwyn vom Spiegelschild. Ser Ryam Redwyne. Prinz Aemon der Drachentöter. Die Zwillinge Ser Erryk und Ser Arryk, die vor Jahrhunderten schon durch das Schwert des anderen gestorben waren, als Bruder und Schwester einander in einem Krieg bekämpften, den die Sänger als» Drachentanz «bezeichneten. Der Weiße Bulle Gerold Hightower. Ser Arthur Dayne, das Schwert des Morgens. Barristan, der Kühne.
Zwei aus der Königsgarde waren mit König Robert in den Norden gekommen. Voller Begeisterung hatte Bran sie beobachtet, doch nie gewagt, sie anzusprechen. Ser Boros war ein kahler Mann mit Hängebacken, und Ser Meryn hatte müde Augen und einen rostfarbenen Bart. Ser Jaime Lannister sah eher aus wie die Ritter in den Geschichten, und auch er gehörte der Königsgarde an, doch Robb sagte, er habe den alten Irren König erschlagen und zähle daher nicht. Der größte aller lebenden Ritter war Ser Barristan Selmy, Barristan der Kühne, Kommandant der Königsgarde. Vater hatte versprochen, daß sie Ser Barristan treffen würden, wenn sie nach King's Landing kämen, und Bran hatte die Tage an seiner Hand gezählt, in Vorfreude auf die Reise, die ihm eine Welt zu Gesicht bringen sollte, von der er bisher nur geträumt hatte, um dort ein Leben zu beginnen, das er sich kaum vorzustellen wagte.
Doch nun, da der letzte Tag angebrochen war, fühlte sich Bran verloren. Er hatte bisher immer in Winterfell gelebt. Sein Vater hatte ihm erklärt, daß er sich heute verabschieden sollte, und er hatte es versucht. Nachdem die Jagdgesellschaft ausgeritten war, ging er mit seinem Wolf durch die Burg, in der Absicht, diejenigen aufzusuchen, die er zurücklassen mußte, Old Nan und Gage, den Koch, Mikken in seiner Schmiede, Hodor, den Stalljungen, der dauernd lächelte und sich um sein
Pony kümmerte und nie etwas anderes als» Hodor «sagte, den Mann in den Gläsernen Gärten, der ihm stets eine Brombeere schenkte, wenn er ihn besuchte…
Doch ergab es keinen Sinn. Zuerst war er zum Stall gegangen und hatte sein Pony dort stehen sehen, nur daß es nicht mehr sein Pony war, denn er bekam ein echtes Pferd und sollte das Pony zurücklassen, und ganz plötzlich hätte sich Bran am liebsten hingesetzt und geweint. Er drehte sich um, rannte davon, bevor Hodor und die anderen Stalljungen die Tränen in seinen Augen sahen. Damit war sein Abschied beendet. Statt dessen verbrachte Bran den Morgen allein im Götterhain, versuchte, seinem Wolf beizubringen, wie man Stöckchen holt, und scheiterte dabei. Der Wolf war klüger als alle Hunde in der Meute seines Vaters, und Bran hätte schwören können, daß er jedes Wort verstand, das man zu ihm sagte, doch zeigte er nur wenig Interesse daran, Stöckchen zu holen.
Noch immer hatte sich Bran nicht für einen Namen entscheiden können. Robb nannte seinen Grey Wind, weil er so schnell laufen konnte. Sansa hatte ihren Lady genannt, Arya ihren nach irgendeiner alten Hexe aus den Liedern, und der kleine Rickon nannte seinen Shaggydog, was Bran für einen ziemlich dummen Namen für einen Schattenwolf hielt. Jons Wolf, der weiße, hieß Ghost. Bran wünschte, es wäre ihm zuerst eingefallen, obwohl sein Wolf nicht weiß war. Hundert Namen hatte er in den vergangenen zwei Wochen probiert, doch keiner klang passend.
Schließlich wurde er des Stöckchenwerfens müde und beschloß, klettern zu gehen. Seit Wochen war er nicht mehr oben auf der Turmruine gewesen, so viel war los gewesen, und heute mochte die letzte Gelegenheit dazu sein.
Er lief durch den Götterhain, nahm den langen Weg, um dem Teich auszuweichen, wo der Herzbaum wuchs. Schon immer hatte ihm der Herzbaum angst gemacht. Bäume sollten keine
Augen haben, dachte Bran, und auch keine Blätter, die wie Hände waren. Sein Wolf jagte hinter ihm her.»Du bleibst hier«, befahl er ihm am Fuße des Wachbaumes nahe der Mauer zur Waffenkammer.»Platz. So ist es recht. Und jetzt sitz.«
Der Wolf tat, was man ihm sagte. Bran kraulte ihn hinter den Ohren, dann wandte er sich ab, sprang hoch, packte einen Ast und zog sich nach oben. Er war schon auf halbem Weg den Baum hinauf, kletterte mühelos von einem Ast zum anderen, als der Wolf aufsprang und zu heulen begann.
Bran sah hinab. Da schwieg sein Wolf, starrte ihn aus gelben Schlitzaugen an. Ein seltsamer, frostiger Schauer durchfuhr ihn. Wieder begann er zu klettern. Wieder heulte der Wolf.»Still«, rief er.»Platz. Sitz. Du bist schlimmer als Mutter. «Das Heulen begleitete ihn den ganzen Weg, bis er schließlich auf das Dach der Waffenkammer sprang, wo er nicht mehr zu sehen war.
Die Dächer von Winterfell waren Brans zweite Heimat. Oft sagte seine Mutter, Bran habe klettern können, bevor er lief, aber er selbst konnte sich nicht mehr erinnern, wann er zu klettern begonnen hatte, also mußte es wohl stimmen.
Für einen Jungen war Winterfell ein grauer, steinerner Irrgarten aus Mauern und Türmen und Höfen und Tunneln, die sich in alle Richtungen ausbreiteten. In den älteren Teilen der Burg konnte man nie sicher sein, in welchem Stockwerk man sich gerade befand. Die Anlage war im Laufe von Jahrhunderten wie ein monströser, steinerner Baum gewachsen, so hatte Maester Luwin es ihm erklärt, und die Äste waren knorrig und dick und verdreht, die Wurzeln tief in die Erde eingegraben.
Wenn er darunter hervorkroch und nah am Himmel auf die Beine kam, konnte Bran ganz Winterfell mit einem Blick überschauen. Es gefiel ihm, wie es aussah, wie es sich unter ihm ausbreitete und nur die Vögel über seinem Kopf kreisten, während alles Leben in der Burg unter ihm geschah. Stundenlang konnte Bran zwischen den formlosen, vom Regen verwaschenen Wasserspeiern des Bergfrieds hocken und sich alles ansehen: die Männer, die sich im Hof mit Holz und Stahl übten, die Köche, die im Gläsernen Garten ihr Gemüse pflegten, rastlose Hunde, die in den Zwingern auf und ab liefen, die Stille im Götterhain, die plaudernden Mädchen am Waschbrunnen. Es gab ihm ein Gefühl, als wäre er der Herr über diese Burg, auf eine Art und Weise, die Robb nie kennenlernen würde.
Es zeigte ihm auch Winterfells Geheimnisse. Die Erbauer hatten die Erde nie geebnet. Hügel und Täler lagen unter den Mauern Winterfells. Es gab eine überdachte Brücke, die vom vierten Stock des Glockenturms zum zweiten Stock des Krähenhorsts führte. Davon wußte Bran. Und er wußte, wie man hinter die innere Mauer am südlichen Tor gelangte, drei Stockwerke hinaufkletterte und durch einen schmalen Gang im Stein ganz Winterfell umrunden konnte, um dann auf Bodenhöhe am nördlichen Tor herauszukommen, wo die Mauer hundert Fuß über einem aufragte. Nicht einmal Maester Luwin wußte das, dessen war Bran überzeugt.
Seine Mutter fürchtete, daß Bran eines Tages von einer Mauer rutschen und dabei zu Tode stürzen könne. Er sagte ihr, das würde ihm nicht passieren, doch glaubte sie ihm nie. Einmal nötigte sie ihm das Versprechen ab, am Boden zu bleiben. Er hatte es geschafft, dieses Versprechen fast zwei Wochen lang einzuhalten, auch wenn er sich die ganze Zeit schrecklich gefühlt hatte, bis er eines Abends aus dem Fenster seines Schlafzimmers geklettert war, während seine Brüder schliefen.
In einem Anfall von Schuldgefühlen beichtete er sein Vergehen am nächsten Tag. Lord Eddard befahl ihn in den Götterhain, wo er sich reinwaschen sollte. Wachen wurden aufgestellt, um dafür zu sorgen, daß Bran die ganze Nacht allein dort blieb und über seinen Ungehorsam nachdachte. Am nächsten Morgen war Bran nirgends zu sehen. Man fand ihn schließlich schlafend in den obersten Ästen des höchsten Wachbaumes im Hain.
So zornig er auch sein mochte, konnte sein Vater darüber doch nur lachen.»Du bist nicht mein Sohn«, erklärte er Bran, als man ihn herunterholte,»du bist ein Eichhörnchen. So sei es denn. Wenn du klettern mußt, dann klettere, nur achte darauf, daß deine Mutter dich nicht sieht.«
Bran gab sein Bestes, obwohl er nicht glaubte, sie je wirklich täuschen zu können. Da sein Vater es ihm nicht verbieten wollte, wandte sie sich anderen zu. Old Nan erzählte ihm die Geschichte von einem kleinen Jungen, der zu hoch geklettert war und von einem Blitz getroffen wurde, woraufhin die Krähen kamen und ihm die Augen aushackten. Bran blieb unbeeindruckt. Oben auf der Turmruine gab es Krähennester, zu denen außer ihm nie jemand vorstieß, und manchmal füllte er seine Taschen mit Körnern, bevor er hinaufkletterte, und die Krähen fraßen ihm direkt aus der Hand. Keine hatte je auch nur das geringste Interesse daran gezeigt, ihm die Augen auszuhacken.
Später töpferte Maester Luwin die Figur eines kleinen Jungen, zog ihr Brans Kleider über und warf sie von der Mauer hinunter auf den Hof, um zu demonstrieren, was geschah, falls Bran einmal fallen sollte. Das hatte Spaß gemacht, doch danach hatte Bran den Maester nur angesehen und gesagt:»Ich bin nicht aus Lehm. Und außerdem falle ich nicht herunter.«
Dann jagten ihn die Wachen eine Weile jedesmal, wenn sie ihn auf den Dächern sahen, und versuchten, ihn herunterzuholen. Das war die allerbeste Zeit. Es war, als spielte man mit seinen Brüdern ein Spiel, nur daß Bran hierbei stets gewann. Keiner der Wachmänner konnte so gut klettern wie Bran, nicht einmal Jory. Die meiste Zeit sahen sie ihn ohnehin nicht. Die Menschen sehen nicht nach oben. Das war noch etwas, das ihm am Klettern so gefiel. Fast war es, als wäre man unsichtbar.
Er mochte auch, wie es sich anfühlte, wenn er sich Stein für Stein an einer Mauer hochzog und sich Finger und Zehen hart in die kleinen Spalten dazwischen gruben. Stets zog er seine Stiefel aus und ging barfuß, wenn er kletterte, denn es gab ihm das Gefühl, als besäße er vier Hände statt zwei. Er mochte den tiefen, süßen Schmerz, der danach in den Muskeln zurückblieb. Er mochte es, wie die Luft dort oben roch, süß und kalt wie ein Winterpfirsich. Er mochte die Vögel: die Krähen in der Turmruine, die winzig kleinen Spatzen, die in den Spalten zwischen den Steinen nisteten, die alte Eule, die auf dem staubigen Dachboden über der alten Waffenkammer schlief. Bran kannte sie alle.
Vor allem aber suchte er gern Orte auf, die keinem anderen zugänglich waren, und von dort aus betrachtete er das graue Winterfell, wie niemand sonst es sah. Dadurch wurde die ganze Burg zu Brans geheimem Ort.
Am liebsten war ihm die Turmruine. Einst war sie ein Wachturm gewesen, der höchste von ganz Winterfell. Vor langer Zeit, hundert Jahre bevor selbst sein Vater geboren worden war, hatte ein Blitzschlag den Turm in Brand gesetzt. Das obere Drittel des Baus war innerlich in sich zusammengestürzt und der Turm nie mehr neu errichtet worden. Manchmal schickte sein Vater Rattenfänger in den Keller des Turmes, um die Nester auszuräumen, die sich ständig zwischen den heruntergestürzten Steinen und verkohlten und vermoderten Balken fanden. Doch niemand kam mehr zur zerklüfteten Spitze des Turmes, niemand außer Bran und den Krähen.
Zwei Wege wußte er dorthin. Man konnte direkt an der Seite des Turmes selbst hinaufklettern, doch die Steine waren lose, denn der Mörtel, der sie einst gehalten hatte, war lange schon zu Asche verbrannt, und Bran mochte ihnen nie so recht sein
ganzes Gewicht anvertrauen.
Das Beste war es, vom Götterhain auszugehen, den großen Wachbaum hinaufzuklettern, quer über die Waffenkammer und den Wachsaal zu laufen und von Dach zu Dach zu springen, barfuß, damit die Wachen einen nicht über sich hörten. Das führte einen zur blinden Seite des Bergfrieds, dem ältesten Teil der Burg, einer dicken, viereckigen Festungsanlage, die höher war, als sie aussah. Inzwischen lebten dort nur noch Ratten und Spinnen, doch die alten Steine waren zum Klettern noch immer gut. Von dort aus konnte man direkt hinauf, wo die Wasserspeier sich blindlings in den leeren Raum lehnten, und sich von einem Wasserspeier zum nächsten hangeln, Hand über Hand, um die Nordseite herum. Hier nun mußte man sich richtig strecken und sich mit langen Armen zur Turmruine ziehen, wo diese sich herüberneigte. Dann blieb nur noch, die verrußten Steine hinauf zum Horst zu klettern, nicht mehr als zehn Schritte weit, und schon kamen die Krähen, um zu sehen, ob er ihnen wieder Körner brachte.
Bran hangelte sich gerade mit der Leichtigkeit langjähriger Erfahrung von einem Wasserspeier zum nächsten, als er Stimmen hörte. Er war derart erschrocken, daß er beinah den Halt verlor. Sein Leben lang war der Bergfried verlassen gewesen.
«Es gefällt mir nicht«, sagte eine Frau. Eine Reihe von Fenstern lag unter ihm, und die Stimme kam aus dem letzten Fenster auf der ihm zugewandten Seite.»DU solltest die Hand sein.«
«Mögen die Götter es mir ersparen«, erwiderte der Mann träge.»Es ist keine Ehre, die ich mir wünsche. Zuviel Arbeit ist damit verbunden.«
Bran hing da, lauschte, fürchtete sich plötzlich, weiterzuklettern. Vielleicht würden sie seine Füße sehen, wenn er sich vorbeischwang.
«Siehst du denn nicht die Gefahr, in die es uns bringt?«sagte die Frau.»Robert liebt diesen Mann wie einen Bruder.«
«Robert kann seine Brüder kaum ertragen. Nicht, daß ich es ihm verdenken würde. Stannis würde jedem Magenbeschwerden bereiten.«
«Spiel nicht den Dummkopf. Stannis und Renly sind die eine Sache, und Eddard Stark ganz sicher eine andere. Robert wird auf Stark hören. Verdammt sollen sie beide sein. Ich hätte darauf bestehen sollen, daß er dich ernennt, aber ich war mir sicher, Stark würde ablehnen.«
«Wir sollten uns glücklich schätzen«, sagte der Mann.»Der König hätte ebensogut einen seiner Brüder ernennen können, oder — bei allen Göttern — sogar Littlefinger. Man gebe mir lieber ehrenhafte Feinde als ehrgeizige, damit ich nachts ruhiger schlafen kann.«
Sie sprachen von seinem Vater, das wußte Bran. Er wollte noch mehr hören. Nur noch ein Stück… doch würden sie ihn sehen, wenn er sich am Fenster vorbeihangelte.
«Wir werden uns sorgsam um ihn kümmern müssen«, sagte die Frau.
«Lieber würde ich mich nur um dich kümmern«, sagte dar Mann. Er klang gelangweilt.»Komm her zu mir.«,
«Lord Eddard hat sich nie für irgend etwas interessiert, das südlich des Necks vor sich ging«, sagte die Frau.»Niemals. Ich sage dir, er will gegen uns ziehen. Warum sonst sollte er den Sitz seiner Macht verlassen?«
«Aus hundert Gründen. Pflicht. Ehre. Er sehnt sich danach, seinen Namen in Großbuchstaben ins Buch der Geschichte einzutragen, um von seiner Frau wegzukommen, oder beides. Vielleicht will er einfach nur, daß ihm einmal im Leben warm wird.«
«Seine Frau ist Lady Arryns Schwester. Es ist ein Wunder, daß Lysa nicht hier war, um uns mit ihren Anschuldigungen zu empfangen.«
Bran sah hinunter. Dort war ein schmaler Sims unter dem Fenster, nur ein paar Finger breit. Er versuchte, sich darauf herunterzulassen. Zu weit. Er konnte ihn nicht erreichen.
«Du machst dir zuviel Sorgen. Lysa Arryn ist eine schreckhafte Kuh.«
«Diese schreckhafte Kuh hat mit Jon Arryn das Bett geteilt.«
«Falls sie etwas wüßte, wäre sie zu Robert gegangen, bevor sie aus King's Landing geflohen ist.«
«Als er schon eingewilligt hatte, ihren Schwächling von einem Sohn auf Casterly Rock unterzubringen? Ich glaube nicht. Sie wußte, wie sehr das Leben ihres Jungen von ihrem Schweigen ab hinge. Sie könnte kühner werden, jetzt, da sie sicher oben auf der Eyrie sitzt.«
«Mütter. «Der Mann sprach das Wort aus wie einen Fluch.»Ich glaube, der Vorgang des Gebärens macht etwas mit eurem Verstand. Ihr habt doch alle den Verstand verloren. «Er lachte. Es war ein bitteres Lachen.»Soll Lady Arryn so kühn werden, wie sie will. Was immer sie auch weiß, was immer sie zu wissen glaubt, sie hat keinen Beweis. «Er machte eine kurze Pause.»Oder doch?«
«Glaubst du, der König brauchte einen Beweis?«sagte die Frau.»Ich sage dir, er liebt mich nicht.«
«Und wessen Schuld ist es, geliebtes Schwesterlein?«
Bran betrachtete den Sims. Er könnte sich hinunterfallen lassen. Das Sims war zu schmal, um darauf zu landen, aber wenn er sich im Vorbeifallen festhielt, sich dann hochzog… nur daß es vielleicht Lärm machen, sie ans Fenster locken würde. Er war nicht sicher, was er mit anhörte, aber er wußte, daß es nicht für seine Ohren bestimmt war.
«Du bist nicht minder blind wie Robert«, sagte die Frau.
«Wenn du meinst, daß ich dieselben Dinge sehe, ja«, sagte der Mann.»Ich sehe einen Mann, der eher sterben würde, als seinen König zu verraten.«
«Einen hat er bereits verraten, oder hast du das vergessen?«sagte die Frau.»Oh, sicherlich verhält er sich Robert gegenüber loyal, das ist offensichtlich. Was geschieht, wenn Robert stirbt und Joff den Thron besteigt? Und je eher das über die Bühne geht, desto sicherer werden wir alle sein. Mein Mann wird mit jedem Tag rastloser. Einen Stark neben sich zu wissen, wird es nur noch schlimmer machen. Er liebt noch immer diese Schwester, die geistlose, kleine, tote Sechzehnjährige. Wie lange wird es wohl dauern, bis er mich wegen einer neuen Lyanna verstößt?«
Plötzlich bekam Bran große Angst. Er wollte nichts lieber als dorthin zurück, woher er gekommen war, und seine Brüder suchen. Doch was sollte er denen erzählen? Er mußte näher heran, das wurde Bran nun klar. Er mußte sehen, wer dort sprach.
Der Mann seufzte.»Du solltest weniger an die Zukunft und mehr an die greifbaren Freuden denken.«
«Laß das!«fuhr ihn die Frau an. Bran hörte ein kurzes Klatschen auf Haut, und dann das Lachen des Mannes.
Bran zog sich hinauf, kletterte über den Wasserspeier, kroch auf das Dach. Das war der einfache Weg. Er schob sich übers Dach zum nächsten Wasserspeier, gleich über dem Fenster des Zimmers, in dem gesprochen wurde.
«Dieses ganze Gerede ist wirklich ermüdend, Schwester«, sagte der Mann.»Komm her und sei still.«
Bran saß rittlings auf dem Wasserspeier, klammerte seine Beine darum und schwang sich selbst herum, kopfüber. Er hing an seinen Beinen und reckte sich langsam zum Fenster hin. Seltsam sah die Welt kopfüber aus. Ein Burghof lag verschwommen unter ihm, die Steine waren feucht von
geschmolzenem Schnee.
Bran sah in das Fenster.
Drinnen rang ein Mann mit einer Frau. Beide waren nackt. Bran konnte nicht erkennen, wer sie waren. Der Mann hatte ihm den Rücken zugewandt, und sein Leib verdeckte den Blick auf die Frau, da er sich an die Wand drückte.
Weiche, feuchte Geräusche waren zu hören. Bran merkte, daß sie sich küßten. Er sah ihnen zu, mit großen Augen und ängstlich, und ihm stockte der Atem. Der Mann hatte eine Hand zwischen ihren Beinen, und er mußte ihr wohl Schmerzen bereiten, denn die Frau begann zu stöhnen, tief unten aus der Kehle.»Laß das«, sagte sie,»laß das, laß das. Oh, bitte…«Doch ihre Stimme war leise und schwach, und sie stieß ihn nicht von sich. Ihre Hände gruben sich in sein Haar, sein verworrenes, goldenes Haar, und zogen sein Gesicht auf ihre Brust hinab.
Bran sah ihr Gesicht. Ihre Augen waren geschlossen, und ihr Mund stand offen, stöhnend. Ihr goldenes Haar wehte von einer Seite zur anderen, während ihr Kopf vor und zurück ging, und dennoch erkannte er die Königin.
Er mußte wohl ein Geräusch gemacht haben. Plötzlich schlug sie die Augen auf und starrte ihn geradewegs an. Sie schrie.
Dann geschah alles zur gleichen Zeit. Wild stieß die Frau den Mann von sich, schrie und deutete auf ihn. Bran versuchte, sich hochzuziehen, krümmte sich und langte nach dem Wasserspeier. Er war zu sehr in Eile. Nutzlos packten seine Hände nach dem glatten Stein, und in seiner Panik glitten auch die Beine ab, und plötzlich stürzte er. Er spürte einen kurzen Schwindel, einen ekelerregenden Ruck im Magen, als das Fenster an ihm vorüberflog. Blitzartig streckte er eine Hand aus, langte nach dem Sims, rutschte ab, bekam ihn mit der anderen Hand wieder zu fassen.
Hart prallte er an die Mauer. Der Schlag nahm ihm den Atem. Bran baumelte an einer Hand, keuchend. Im Fenster über ihm tauchten Gesichter auf.
Die Königin. Und jetzt erkannte Bran den Mann an ihrer Seite. Sie sahen einander so ähnlich, als wäre der eine das Spiegelbild des anderen.
«Er hat uns gesehen«, sagte die Frau mit schriller Stimme.
«Das hat er«, bestätigte der Mann.
Brans Finger begannen abzurutschen. Er packte den Sims mit seiner anderen Hand. Fingernägel krallten sich in den unnachgiebigen Stein. Der Mann streckte ihm eine Hand entgegen.»Nimm meine Hand«, sagte er.»Bevor du fällst.«
Bran packte seinen Arm und hielt sich mit aller Kraft fest. Der Mann zog ihn auf den Sims.»Was tust du?«rief die Frau.
Der Mann ignorierte sie. Er war sehr stark. Er stellte Bran auf den Sims.»Wie alt bist du, Junge?«
«Sieben. «Bran zitterte vor Erleichterung. Seine Finger hatten tiefe Furchen in den Unterarm des Mannes gegraben. Schüchtern ließ er los.
Der Mann sah die Frau an.»Was man nicht alles für die Liebe tut«, sagte er verächtlich. Er gab Bran einen Stoß.
Schreiend stürzte Bran rückwärts aus dem Fenster ins Leere. Es gab nichts, woran er sich hätte festhalten können. Der Burghof flog ihm entgegen.
Irgendwo in der Ferne heulte ein Wolf. Krähen kreisten über der Turmruine, warteten auf Futter.