Daenerys

Das Dothrakische Meer«, sagte Ser Jorah Mormont, als er neben ihr auf dem Kamm zum Stehen kam.

Unter ihnen erstreckte sich die endlose Leere, eine flache, unermeßliche Weite, die bis zum Horizont und noch darüber hinaus reichte. Es war ein Meer, dachte Dany. Von hier an gab es keine Hügel, keine Berge, weder Bäume noch Städte oder Flüsse, nur die endlose, gräserne Steppe, und die hohen Halme wogten wie Wellen, wenn der Wind wehte.»Es ist so grün«, sagte sie.

«Hier und jetzt«, gab Ser Jorah ihr recht.»Ihr solltet es sehen, wenn alles blüht, die dunkelroten Blumen von einem Horizont zum anderen, wie ein Meer von Blut. Kommt die trockene Jahreszeit, nimmt die Welt die Farbe alter Bronze an. Und das hier ist nur hranna, Kind. Da draußen gibt es hundert Sorten von Gräsern, gelb wie Zitronen und dunkel wie Indigo, blaue Gräser und orangefarbene Gräser und Gräser wie Regenbogen. Es heißt, unten in den Schattenländern jenseits von Asshai gäbe es ganze Ozeane von Geistergräsern, höher als ein Mensch zu Pferd, mit Stengeln fahl wie Milchglas. Es tötet alle anderen Gräser, und bei Dunkelheit leuchten aus ihm die Geister der Verdammten. Die Dothraki behaupten, daß dieses Geistergras eines Tages die ganze Welt überziehen wird und dann alles Leben endet.«

Dieser Gedanke schickte Daenerys einen Schauer über den Rücken.»Darüber möchte ich jetzt nicht sprechen«, sagte sie.»Hier ist es so schön, ich möchte nicht daran denken, daß alles stirbt.«

«Wie Ihr wünscht, Khaleesi«, sagte Ser Jorah voller Respekt.

Sie hörte Stimmen und wandte sich um. Sie und Mormont hatten den Rest ihrer Gesellschaft weit hinter sich gelassen, und nun erklommen die anderen den Kamm. Ihre Dienerin Irri und die jungen Bogenschützen ihres khas waren wendig wie Kentauren, doch hatte Viserys nach wie vor mit den kurzen Steigbügeln und dem flachen Sattel zu kämpfen. Ihrem Bruder ging es hier draußen schlecht. Er hätte nicht mitkommen sollen. Magister Illyrio hatte ihn bedrängt, in Pentos zu warten, hatte ihm die Gastfreundschaft seiner Villa angeboten, doch Viserys wollte davon nichts hören. Er wollte bei Drogo bleiben, bis die Schuld beglichen war, bis er die Krone trug, die man ihm versprochen hatte.»Und wenn er mich betrügen will, wird er zu seinem Leidwesen erfahren, was es heißt, den Drachen zu wecken«, hatte Viserys geschworen, mit einer Hand auf dem geborgten Schwert. Illyrio hatte nur gezwinkert und ihm viel Glück dabei gewünscht.

Dany wollte im Augenblick keine Klagen ihres Bruders hören. Der Tag war zu perfekt. Der Himmel war von dunklem Blau, und hoch über ihnen kreiste ein Jagdfalke. Das gräserne Meer schwankte und seufzte mit jedem Windhauch, die Luft war warm auf ihrem Gesicht, und Dany fühlte so etwas wie Frieden in sich. Den wollte sie sich von Viserys nicht verderben lassen.

«Wartet hier«, erklärte Dany Ser Jorah.»Sagt den anderen, sie sollen hierbleiben. Sagt ihnen, ich befehle es.«

Der Ritter lächelte. Ser Jorah war kein hübscher Mann. Er hatte einen Hals und Schultern wie ein Bulle, und grobes, schwarzes Haar bedeckte seine Arme und die Brust so dick, daß nichts für seinen Kopf geblieben war. Doch sein Lächeln tröstete Dany.»Ihr lernt, wie eine Königin zu sprechen, Daenerys.«

«Nicht wie eine Königin«, widersprach Dany.»Wie eine Khaleesi. «Sie riß ihr Pferd herum und galoppierte allein den Hang hinab.

Der Abstieg war steil und steinig, doch Dany ritt furchtlos, und Freude und Gefahr waren wie ein Lied in ihrem Herzen. Ihr ganzes Leben hatte Viserys ihr erklärt, sie sei eine Prinzessin, doch erst seit sie ihren Silbernen ritt, fühlte sich Daenerys auch so.

Anfangs war es ihr nicht leichtgefallen. Das khalasar hatte sein Lager am Morgen nach der Hochzeit abgebrochen und war östlich gen Vaes Dothrak gezogen, und am dritten Tag dachte Dany, sie müsse sterben. Vom Sattel rissen wunde Stellen an ihrem Hinterteil auf, gräßlich und blutig. Ihre Oberschenkel waren roh gescheuert, an ihren Händen waren Blasen von den Zügeln, die Muskeln an Beinen und Rücken derart von Schmerz zerrüttet, daß sie kaum noch sitzen konnte. Als der Abend dämmerte, brauchten ihre Mägde Hilfe, um sie von ihrem Pferd zu heben.

Selbst die Nächte brachten keine Erlösung. Khal Drogo beachtete sie nicht, wenn sie ritten, ganz wie er sie bei ihrer Hochzeit nicht beachtet hatte, und verbrachte die Abende trinkend mit seinen Kriegern und Blutreitern, ritt auf seinen besten Pferden um die Wette und sah sich an, wie Frauen tanzten und Männer starben. Für Dany war kein Platz in seinem Leben. Man ließ sie allein zu Abend essen, oder mit Ser Jorah und ihrem Bruder, und danach weinte sie sich in den Schlaf. Doch jede Nacht, kurz bevor der Morgen graute, kam Drogo in ihr Zelt und weckte sie im Dunkeln, um sie so unnachgiebig zu reiten, wie er seinen Hengst ritt. Stets nahm er sie von hinten, nach Sitte der Dothraki, wofür Dany dankbar war. So konnte ihr Herr und Gatte nicht die Tränen sehen, die feucht auf ihrem Gesicht glänzten, und sie konnte ihre Schmerzensschreie im Kissen ersticken. Wenn er fertig war, schloß er die Augen, begann leise zu schnarchen, und Dany lag dann neben ihm, ihr Leib wund und von blauen Flecken übersät, zu schmerzhaft, als daß sie hätte schlafen können.

Ein Tag folgte auf den anderen, ganz wie eine Nacht auf die andere folgte, bis Dany wußte, daß sie es keinen Augenblick länger ertragen konnte. Eher wollte sie sich umbringen, als so weiterzumachen, das beschloß sie eines Nachts…

Doch als sie in jener Nacht einschlief, träumte sie wieder diesen Drachentraum. Diesmal kam Viserys nicht darin vor. Nur sie und der Drache. Seine Schuppen waren schwarz wie die Nacht, schimmerten feucht vom Blut. Ihrem Blut, wie Dany spürte. Seine Augen waren Lachen von geschmolzenem Magma, und wenn er sein Maul öffnete, brüllte die Flamme mit heißem Strahl hervor. Sie konnte hören, wie er für sie sang. Sie breitete die Arme aus, umarmte das Feuer, ließ sich von ihm umfangen, ließ sich putzen und härten und polieren. Sie fühlte, wie ihr Fleisch verbrannte und verkohlte und sich ablöste, fühlte, wie ihr Blut verkochte und verdampfte, und doch spürte sie keinen Schmerz. Sie fühlte sich stark und neu und wild.

Und am nächsten Tag schienen ihr die Schmerzen seltsamerweise nicht mehr ganz so schlimm. Es war, als hätten die Götter sie erhört und Erbarmen mit ihr gehabt. Selbst ihre Dienerinnen bemerkten die Wandlung.»Khaleesi«, sagte Jhiqui,»was ist los? Seid Ihr krank?«

«Ich war es«, antwortete sie und beugte sich über die Dracheneier, die Illyrio ihr zur Hochzeit geschenkt hatte. Eines davon berührte sie, das größte der drei, fuhr mit der Hand sanft über seine Schale. Schwarz-und-rot, dachte sie, wie der Drache in meinem Traum. Merkwürdig warm fühlte sich der Stein unter ihren Fingern an… oder träumte sie noch immer? Verunsichert zog sie die Hand zurück.

Von Stund an wurde jeder Tag leichter als der vorangegangene. Ihre Beine wurden kräftiger, die Blasen platzten, und ihre Hände bekamen Schwielen, ihre Schenkel wurden härter, geschmeidig wie Leder.

Der khal hatte der Dienerin Irri befohlen, Dany zu lehren, wie man auf dothrakische Weise ritt, doch war das Fohlen ihr eigentlicher Lehrmeister. Das Pferd schien ihre Stimmungen zu spüren, als wären sie beide eins. Mit jedem Tag fühlte sich Dany sicherer im Sattel. Die Dothraki waren ein hartes und unsentimentales Volk, und es war bei ihnen nicht Sitte, den Tieren Namen zu geben, so daß Dany an ihres nur als den Silbernen dachte. Nie hatte sie irgend etwas so geliebt.

Als das Reiten weniger qualvoll wurde, begann Dany, die Schönheit des Landes um sie herum wahrzunehmen. Sie ritt an der Spitze des khalasar bei Drogo und seinen Blutreitern, so daß sie stets in frisches und unberührtes Land kam. Hinter ihnen riß die große Horde den Boden auf, verschlammte die Flüsse und wirbelte Wolken von erstickendem Staub auf, doch die Felder vor ihnen waren stets satt und grün.

Sie überquerten die Hügel von Norvos, passierten terrassenförmig angelegte Bauernhöfe und kleine Dörfer, deren Bewohner sie ängstlich von weiß verputzten Mauern herab beobachteten. Sie durchquerten drei breite, ruhige Flüsse und einen vierten, der schnell und schmal und tückisch war, lagerten neben einem hohen, blauen Wasserfall, umrundeten die Ruinen einer mächtigen, toten Stadt, in welcher angeblich Geister zwischen den schwarzen Marmorsäulen seufzen sollten. Sie fegten valyrische Straßen entlang, die tausend Jahre alt und gerade wie ein dothrakischer Pfeil waren. Einen halben Mond lang ritten sie durch den Wald von Qohor, in dem das Laub hoch über ihnen ein goldenes Dach bildete, und die Baumstämme waren breit wie Stadttore. Große Elche gab es in diesem Wald, und gefleckte Tiger und Halbaffen mit silbernem Fell und riesigen roten Augen, doch alle flohen vor dem heranrückenden khalasar, und Dany bekam sie nicht zu sehen.

Mittlerweile waren ihre Qualen nur noch schwindende Erinnerung. Noch immer tat ihr nach einem Tagesritt so manches weh, doch inzwischen hatte der Schmerz etwas Liebliches an sich, und jeden Morgen stieg sie bereitwillig in den Sattel, begierig zu erfahren, welche Wunder in den vor ihr liegenden Ländern auf sie warteten. Selbst in den Nächten fand sie bisweilen Freude, und wenn sie nach wie vor aufschrie, wenn Drogo sie nahm, so doch nicht mehr nur vor Schmerz.

Am Fuße des Hügels wuchs das Gras hoch und biegsam. Danys Pferd fiel in den Trab, und sie ritt auf die Steppe hinaus, verlor sich im Grün, glücklich allein. Im khalasar war sie nie allein. Kahl Drogo kam erst zu ihr, wenn die Sonne untergegangen war, doch ihre Dienerinnen speisten und badeten sie und schliefen am Eingang zu ihrem Zelt, Drogos Blutreiter und die Männer ihres khas waren nie weit, und ihr Bruder blieb ein ungeliebter Schatten, Tag und Nacht. Dany konnte ihn oben auf dem Hügel hören, mit schriller Stimme schrie er Ser Jorah wütend an. Sie ritt vorwärts, ergab sich dem Dothrakischen Meer.

Das Grün verschlang sie. Die Luft war voller Düfte von Erde und Gras, vermischt mit dem Geruch des Pferdes und Danys Schweiß und dem Öl in ihrem Haar. Dothrakische Düfte. Plötzlich drängte es sie danach, den Boden unter ihren Füßen zu spüren, ihre Zehen in die dicke, schwarze Erde zu graben. Als sie sich aus ihrem Sattel schwang, ließ sie den Silbernen grasen, während sie ihre hohen Stiefel auszog.

Viserys kam wie ein Sommersturm über sie, und sein Pferd bäumte sich auf, als er zu fest an dessen Zügeln riß.»Wag es nicht!«schrie er sie an.»Du gibst mir Befehle? Mir?«Er sprang von seinem Pferd und stolperte. Sein Gesicht war puterrot, als er auf die Beine kam. Er packte sie, schüttelte sie.»Hast du vergessen, wer du bist? Sieh dich an, sieh dich an!«

Dany mußte nicht hinsehen. Sie war barfüßig, mit geöltem Haar, trug das dothrakische Reitleder und eine bemalte Weste, die eins ihrer Brautgeschenke gewesen war. Sie sah aus, als gehörte sie hierher. Viserys war schmutzig und verschwitzt in seiner Stadtkleidung aus Seide und Ketten.

Er schrie noch immer.»Du wirst dem Drachen nichts befehlen. Hast du mich verstanden? Ich bin der Lord der

Sieben Königslande, ich werde keine Befehle von der Hure eines Reiterlords annehmen, hörst du, was ich sage?«Seine Hand fuhr unter ihre Weste, und seine Finger gruben sich schmerzhaft in ihre Brust.»Hörst du, was ich sage?«

Dany stieß ihn heftig von sich.

Viserys starrte sie an, und seine veilchenblauen Augen blickten ungläubig. Nie zuvor hatte sie sich ihm widersetzt. Zorn verzerrte seine Miene. Er würde ihr etwas antun, furchtbar weh tun, das wußte sie.

Krack.

Die Peitsche klang wie ein Blitzschlag. Sie rollte sich Viserys um den Hals und riß ihn rückwärts. Mit allen vieren von sich landete er im Gras, verdutzt und würgend. Die dothrakischen Reiter johlten, als er versuchte, sich zu befreien. Der mit der Peitsche, der junge Jhogo, schnarrte eine Frage hervor. Dany verstand seine Worte nicht, doch inzwischen war Irri da, und auch Ser Jorah mit dem Rest ihres khas.»Jhogo fragt, ob Ihr seinen Tod wünscht, Khaleesi«, sagte Irri.

«Nein«, erwiderte Dany.»Nein.«

Das verstand Jhogo. Einer der anderen bellte einen Kommentar, und die Dothraki lachten. Irri erklärte ihr:»Quara meint, Ihr solltet sein Ohr einfordern, um ihn Respekt zu lehren.«

Ihr Bruder lag auf den Knien, seine Finger krallten sich unter die Lederschlinge, er heulte unverständlich und rang um Luft.

«Sagt ihnen, ich wünsche nicht, daß man ihm etwas antut«, sagte Dany.

Irri wiederholte die Worte auf Dothrakisch. Jhogo zog an seiner Peitsche und riß Viserys wie eine Marionette herum. Wieder landete er der Länge nach am Boden, von der ledernen Umarmung befreit, eine dünne Blutspur unter seinem Kinn, wo die Peitsche tief eingeschnitten hatte.

«Ich habe ihn gewarnt, daß so etwas geschehen würde, Mylady«, rechtfertigte sich Ser Jorah Mormont.»Ich habe ihm gesagt, daß er auf dem Hügel bleiben soll, ganz wie Ihr befohlen hattet.«

«Das weiß ich«, erwiderte Dany mit einem Blick auf Viserys. Er lag am Boden, sog lautstark Luft in seine Lungen, rotgesichtig und schluchzend. Er war ein beklagenswertes Geschöpf. Schon immer war er ein beklagenswertes Geschöpf gewesen. Warum hatte sie das vorher nie gesehen? In ihrem Inneren war eine Leere, wo einst ihre Angst gewesen war.

«Nehmt sein Pferd«, befahl Dany Ser Jorah. Staunend sah Viserys sie an. Er konnte nicht glauben, was er hörte, und ebensowenig konnte Dany fassen, was sie sagte. Dennoch kamen die Worte hervor.»Laßt meinen Bruder hinter uns zum khalasar zurücklaufen. «Für die Dothraki war der Mann, der nicht ritt, kein Mann, der Niederste der Niederen, ohne Ehre oder Stolz.»Laßt jedermann ihn sehen, was er ist.«

«Nein!«schrie Viserys. Er wandte sich Ser Jorah zu, flehte ihn in der Gemeinen Zunge mit Worten an, welche die Reiter nicht verstanden.»Schlagt sie, Mormont. Prügelt sie. Euer König befiehlt es. Tötet diese dothrakischen Hunde, daß es ihr eine Lehre ist.«

Der verbannte Ritter sah von Dany zu ihrem Bruder. Sie barfuß mit Schmutz zwischen den Zehen und Öl im Haar, er mit Seide und Stahl. Dany konnte den Entschluß von seinem Gesicht ablesen.»Er wird laufen, Khaleesi«, sagte er. Er nahm das Pferd ihres Bruders, während Dany ihren Silbernen bestieg.

Mit offenem Mund sah Viserys ihn an und setzte sich in den Dreck. Er hielt den Mund, doch wollte er sich nicht rühren, und seine Augen versprühten Gift, als sie weiterritten. Bald schon hatte er sich im hohen Gras verirrt. Als sie ihn nicht mehr sehen konnten, bekam Dany es mit der Angst zu tun.»Wird er den Weg finden?«fragte sie Ser Jorah, während sie ritten.

«Selbst jemand, der wie Euer Bruder mit Blindheit geschlagen ist, sollte in der Lage sein, unserer Spur zu folgen«, erwiderte er.»Er ist stolz. Vielleicht schämt er sich zu sehr, um zurückzukommen.«

Jorah lachte.»Wohin sollte er gehen. Wenn er das khalasar nicht findet, dürfte das khalasar mit großer Wahrscheinlichkeit ihn finden. Es ist schwer, im Dothrakischen Meer zu ertrinken, Kind. «Dany erkannte, daß er recht hatte. Das khalasar war wie eine marschierende Stadt, doch marschierte sie nicht blindlings. Stets ritten Kundschafter weit vor der Hauptkolonne, wachsam auf der Suche nach Wild oder Beute oder Feinden, während Vorreiter das Heer flankierten. Ihnen entging nichts, nicht hier, in diesem Land, aus dem sie stammten. Diese Steppen waren ein Teil von ihnen… und jetzt auch von ihr.

«Ich habe ihn geschlagen«, wunderte sie sich. Da es nun vorüber war, erschien es ihr wie ein seltsamer Traum, den sie geträumt hatte.»Ser Jorah, glaubt Ihr… er wird so wütend sein, wenn er zurückkommt…«Ein Schauer durchfuhr sie.»Ich habe den Drachen geweckt, nicht?«

Ser Jorah schnaubte.»Kann man die Toten wecken, Mädchen? Euer Bruder Rhaegar war der letzte Drache, und der ist am Trident gefallen. Viserys ist kaum der Schatten einer Schlange.«

Seine schroffen Worte erstaunten sie. Es war, als sei alles, was sie je geglaubt hatte, in Frage gestellt.»Ihr… Ihr habt ihm Euer Schwert geweiht…«

«Das habe ich getan, Mädchen«, gestand Ser Jorah ein.»Und wenn Euer Bruder der Schatten einer Schlange ist, wozu macht das seine Diener?«Seine Stimme klang verbittert.

«Er ist noch immer der wahre König. Er ist… «

Jorah hielt sein Pferd an und sah zu ihr herüber.»Sprecht die Wahrheit. Würdet Ihr Viserys auf einem Thron sehen wollen?«

Dany dachte darüber nach.»Er wäre kein sehr guter König, was?«

«Es haben schon Schlimmere geherrscht… wenn auch nicht viele. «Der Ritter gab seinem Pferd die Sporen und ritt voran.

Dany ritt nah an seiner Seite.»Dennoch«, beharrte sie.»Das gemeine Volk wartet auf ihn. Magister Illyrio sagt, sie nähen Drachenbanner und beteten um Viserys Rückkehr über die Meerenge, damit er sie befreien soll.«

«Das gemeine Volk betet um Regen, gesunde Kinder und einen Sommer, der nie endet«, erklärte ihr Ser Jorah.»Ihm ist es egal, ob die hohen Herren um den Thron würfeln, solange man es nur in Frieden läßt. «Er zuckte mit den Achseln.»So war es schon immer.«

Schweigend ritt Dany eine Weile, rang mit seinen Worten wie mit einem Vexierspiegel. Es widersprach allem, was Viserys ihr je gesagt hatte, wenn sie glauben sollte, daß es die Menschen so wenig interessierte, ob ein wahrer König oder ein Usurpator über sie regierte. Doch je länger sie über Jorahs Worte nachsann, desto wahrer klangen sie in ihren Ohren.

«Worum betet Ihr, Ser Jorah?«fragte sie ihn.

«Heimat«, sagte er. Seine Stimme war von Sehnsucht erfüllt.

«Auch ich bete um eine Heimat«, erklärte sie ihm und glaubte daran.

Ser Jorah lachte.»Dann seht Euch um, Khaleesi.«

Doch war es nicht die Steppe, die Dany sah. Es waren King's Landing und der große Red Keep, den Aegon, der Eroberer, errichtet hatte. Es war Dragonstone, wo sie geboren war. Vor ihrem inneren Auge brannten in ihnen tausend Lichter, ein Feuerschein in jedem Fenster. Vor ihrem inneren Auge waren alle Türen rot.

«Mein Bruder wird die Sieben Königslande nie zurückerobern«, stellte Dany fest. Sie merkte, daß sie es seit langem schon gewußt hatte. Ihr ganzes Leben hatte sie es gewußt. Nur hatte sie sich nie gestattet, die Worte auszusprechen, nicht einmal im Flüsterton, doch nun sagte sie diese, damit Ser Jorah und alle Welt sie hören sollten.

Ser Jorah warf ihr einen prüfenden Blick zu.»Ihr glaubt nicht daran.«

«Er könnte keine Armee führen, nicht einmal, wenn mein Herr und Hoher Gatte ihm eine gäbe«, sagte Dany.»Er hat kein Geld, und der einzige Ritter, der ihm folgt, schimpft ihn geringer als eine Schlange. Die Dothraki verhöhnen seine Schwäche. Er wird uns niemals in die Heimat führen.«

«Kluges Kind. «Der Ritter lächelte.

«Ich bin kein Kind«, fuhr sie ihn böse an. Ihre Fersen preßten sich in die Flanken ihres Pferdes, was den Silbernen zum Galopp trieb. Schneller und immer schneller raste sie voran, ließ Jorah und Irri und die anderen weit hinter sich, mit warmem Wind im Haar und der versunkenen Sonne rot im Gesicht. Als sie das khalasar erreichte, dämmerte der Abend.

Die Sklaven hatten ihr Zelt am Ufer eines Teiches aufgebaut. Sie hörte rauhe Stimmen aus dem geflochtenen Graspalast auf dem Hügel. Bald schon würde man Gelächter von dort hören, wenn die Männer ihres khas erzählten, was heute im Gras geschehen war. Wenn sich Viserys humpelnd wieder unter die anderen mischte, würde jeder Mann, jede Frau, jedes Kind im Lager wissen, daß er ein Fußgeher war. Es gab keine Geheimnisse im khalasar.

Dany überließ ihren Silbernen den Sklaven zum Striegeln und betrat ihr Zelt. Kühl und finster war es unter der Seide. Als sie die Zelttür hinter sich zufallen ließ, sah Dany, wie ein Finger von staubig rotem Licht durchs Zelt nach ihren Dracheneiern griff. Einen Augenblick lang verschwammen tausend Tropfen roter Flammen vor ihren Augen. Sie blinzelte, und dann waren sie fort.

Stein, sagte sie zu sich. Sie sind nur aus Stein, selbst Illyrio hat es gesagt, die Drachen sind alle tot. Sie legte ihre Handfläche an das schwarze Ei, die Finger sanft um die Rundung des Eis gespreizt. Der Stein war warm. Fast schon heiß.»Die Sonne«, flüsterte Dany.»Sie haben sich beim Reiten in der Sonne erwärmt.«

Sie befahl ihren Dienerinnen, ihr ein Bad zu bereiten. Doreah schichtete draußen vor dem Zelt Holz für ein Feuer auf, während Irri und Jhiqui die große Kupferwanne — ebenfalls ein Brautgeschenk — von den Lastpferden und Wasser vom Teich holten. Als das Bad dampfte, half Irri ihr hinein und stieg dann dazu.

«Habt ihr je einen Drachen gesehen?«fragte sie, während Irri ihr den Rücken schrubbte und Jhiqui Sand aus ihrem Haar wusch. Sie hatte gehört, daß die ersten Drachen aus dem Osten gekommen seien, aus den Schattenländern jenseits von Asshai und den Inseln der Jadesee. Vielleicht lebten dort noch immer welche, in fremden und wilden Reichen.

«Drachen sind ausgestorben, Khaleesi«, sagte Irri.

«Tot«, gab Jhiqui ihr recht.»Lange, lange schon.«

Viserys hatte ihr erzählt, die letzten Drachen der Targaryen seien vor kaum mehr als anderthalb Jahrhunderten gestorben, während der Regentschaft Aegons III., den man Drachentod nannte. Das schien Dany nicht sehr lange her zu sein.»Überall?«sagte sie enttäuscht.»Sogar im Osten?«Zauberkräfte waren im Westen verschwunden, als der Untergang über Valyria und die Länder des Langen Sommers kam, und weder mit Zauberkraft geschmiedeter Stahl noch Sturmsänger oder Drachen konnten ihn verdrängen, doch hatte Dany stets gehört, im Osten sei es anders gewesen. Es hieß, daß Sphinxen die Inseln des Jademeeres durchstreiften, daß Basilisken den Urwald von Yi Ti unsicher machten, daß Bannsänger, Hexenmeister und Wetterpropheten ihre Künste in

Asshai offen ausübten, während Schattenfänger und Blutmagiere im Schütze der Nacht schreckliche Zaubereien vollbrachten. Warum sollte es nicht auch Drachen geben?

«Keine Drachen«, sagte Irri.»Tapfere Männer sie getötet, denn Drachen schrecklich böse Tiere. Das ist bekannt.«

«Das ist bekannt«, gab Jhiqui ihr recht.

«Ein Händler aus Quarth hat mir einmal erzählt, Drachen kämen vom Mond«, steuerte die blonde Doreah bei, während sie ein Handtuch über dem Feuer wärmte. Jhiqui und Irri waren im selben Alter wie Dany, dothrakische Mädchen, die versklavt worden waren, als Drogo das khalasar ihres Vaters vernichtet hatte. Doreah war älter, fast zwanzig. Magister Illyrio hatte sie in einem Freudenhaus in Lys gefunden.

Silbrig feuchtes Haar fiel über ihr Gesicht, als Dany neugierig den Kopf umwandte.»Vom Mond?«

«Er hat mir erzählt, der Mond sei ein Ei, Khaleesi«, erklärte das Mädchen aus Lys.»Einst habe es zwei Monde am Himmel gegeben, doch einer sei der Sonne zu nah gekommen und von der Hitze geborsten. Tausend, Tausende von Drachen strömten herbei und tranken die Flammen der Sonne. Deshalb speien Drachen Feuer. Eines Tages wird auch der andere Mond die Sonne küssen, dann wird auch er bersten, und die Drachen kehren zurück.«

Die beiden dothrakischen Mädchen kicherten und lachten.»Du bist dummer Strohkopf, Sklavin«, sagte Irri.»Mond ist kein Ei. Mond ist Gott, Gattinfrau von Sonne. Das ist bekannt.«

«Das ist bekannt«, stimmte Jhiqui ihr zu.

Danys Haut war rosa und gerötet, als sie aus der Wanne stieg. Jhiqui legte sie nieder, um ihren Leib zu ölen und den Schmutz aus ihren Poren zu reiben. Danach besprenkelte Irri sie mit trockenen Blumen und Zimt. Während Doreah ihr Haar bürstete, bis es wie Silbergespinst aussah, dachte sie an den Mond, an Eier und Drachen.

Ihr Abendessen war ein schlichtes Mahl aus Früchten und Käse und geröstetem Brot mit einem Krug voll Honigwein zum Spülen.»Doreah, bleib und iß mit mir«, befahl Dany, als sie ihre anderen Mägde fortschickte. Das Mädchen aus Lys hatte honig-farbenes Haar und Augen wie der Sommerhimmel.

Sie senkte die Augen, als sie allein waren.»Dir ehrt mich, Khaleesi«, sagte sie, doch war es keine Ehre, nur ein Dienst. Noch lange, nachdem der Mond aufgegangen war, saßen sie beisammen und redeten.

Als Drogo in dieser Nacht kam, wartete Dany auf ihn. Er stand am Eingang ihres Zeltes und sah sie voller Überraschung an. Langsam erhob sie sich, öffnete ihr seidenes Schlafkleid und ließ es zu Boden gleiten.»Heute nacht müssen wir hinausgehen, Mylord«, erklärte sie, denn die Dothraki glaubten, daß alles Wichtige im Leben eines Mannes unter freiem Himmel stattfinden müsse.

Khal Drogo folgte ihr ins Mondlicht, und die Glöckchen in seinem Haar klingelten sanft. Nur wenige Meter von ihrem Zelt entfernt war ein Bett aus weichem Gras, und dort zog Dany ihn zu Boden. Als er sie umdrehen wollte, legte sie ihm eine Hand auf die Brust.»Nein«, sagte sie.»Heute nacht will ich in Euer Gesicht sehen.«

Im Herzen eines khalasar ist niemand ungestört. Dany spürte die Blicke, als sie ihn entkleidete, hörte die leisen Stimmen, als sie die Dinge mit ihm tat, die Doreah sie gelehrt hatte. Es bedeutete ihr nichts. War sie nicht Khaleesi? Allein seine Augen zählten, und als sie ihn bestieg, sah sie dort etwas, das sie nie zuvor gesehen hatte. Sie ritt ihn so wild wie ihren Silbernen, und im Augenblick seiner größten Lust rief Khal Drogo ihren Namen.

Sie waren schon auf der anderen Seite des Dothrakischen Meeres, als Jhiqui mit den Fingern über die sanfte Wölbung an Danys Bauch strich und sagte:»Khaleesi, Ihr erwartet ein

Kind.«

«Ich weiß«, antwortete Dany. Es war ihr vierzehnter Namenstag.

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