Der Norden nahm kein Ende.
Tyrion Lannister kannte die Karten so gut wie kaum jemand, doch zwei Wochen auf dem verwilderten Pfad, der hier oben als Kingsroad galt, hatten ihm die Lektion erteilt, daß die Karte das eine war und das Land etwas ganz anderes.
Sie brachen am selben Tag wie der König in Winterfell auf, inmitten des Tumultes der königlichen Abreise, ritten aus zum Gebrüll der Männer und dem Schnauben der Pferde, zum Rasseln der Wagen und Knarren der mächtigen Kutsche, während leichter Schneefall sie umflog. Die Kingsroad lag gleich abseits von Burg und Stadt. Dort wandten sich die Banner und Wagen und Kolonnen von Rittern und Edelfreien dem Süden zu und nahmen den Tumult mit sich, während Tyrion mit Benjen Stark und dessen Neffen nach Norden ausscherte.
Danach war es kälter geworden, und erheblich stiller.
Westlich der Straße lagen Flinthügel, grau und zerklüftet, mit hohen Wachtürmen auf ihren felsigen Gipfeln. Zum Osten hin war das Land flacher, die Erde breitete sich zu einer hügeligen Ebene aus, so weit das Auge reichte. Steinerne Brücken überspannten rauschende, schmale Flüsse, während kleine Höfe einzelne Fluchtburgen umringten, die mit Holz und Stein gesichert waren. Die Straße war vielbefahren, und des Nachts fanden sich derbe Wirtshäuser zu ihrer Bequemlichkeit.
Drei Tagesritte von Winterfell entfernt jedoch wich das Ackerland dichtem Wald, und es wurde einsam auf der Kingsroad. Die felsigen Hügel wurden mit jeder Meile höher und wilder, bis sie am fünften Tag zu Bergen gewachsen waren, zu kalten, blaugrauen Riesen mit zerklüfteten Ausläufern und Schnee auf ihren Schultern. Der Wind wehte von Norden her, lange Federn von Eiskristallen flogen wie Banner von den hohen Gipfeln.
Mit den Bergen wie eine Mauer im Westen schlängelte sich die Straße nordöstlich durchs Gehölz, durch einen Wald von Eichen und Tannen und Dorngestrüpp, der älter und dunkler schien als alle Wälder, die Tyrion je gesehen hatte.»Der Wolfswald«, nannte Benjen Stark ihn, und tatsächlich war er des Nachts vom Heulen ferner Rudel belebt, und manche davon gar nicht so fern. Jon Snows Albinowolf stellte beim nächtlichen Geheul die Ohren auf, doch heulte er nie zur Antwort. Dieses Tier hat etwas Beunruhigendes an sich, dachte Tyrion.
Inzwischen waren sie acht, den Wolf nicht mitgerechnet. Tyrion reiste mit zwei seiner eigenen Männer, wie es einem Lannister gebührte. Benjen Stark hatte nur seinen Bastard von einem Neffen und ein paar frische Pferde für die Nachtwache dabei, doch am Rande des Wolfswaldes verbrachten sie eine Nacht hinter den Holzwänden einer Waldfestung und taten sich mit einem weiteren schwarzen Bruder, einem gewissen Yoren, zusammen. Yoren war krumm und finster, sein Gesicht hinter einem Bart verborgen, der so schwarz wie seine Kleider war, doch wirkte er so unbeugsam wie eine alte Wurzel und hart wie Stein. Bei ihm waren zwei zerlumpte Bauernjungen von den Fingern.»Vergewaltiger«, sagte Yoren mit kaltem Blick auf seine Schützlinge. Tyrion verstand. Es hieß, das Leben auf der Mauer sei hart, doch zweifellos war es einer Kastration vorzuziehen.
Fünf Männer, drei Jungen, ein Schattenwolf, zwanzig Pferde und ein Käfig voller Raben, der Benjen Stark von Maester Luwin übergeben worden war. Ohne Zweifel stellten sie auf der Kingsroad eine seltsame Gesellschaft dar, wie wohl auf jeder Straße.
Tyrion merkte, daß Jon Snow Yoren und seine mürrischen Begleiter beobachtete, mit merkwürdigem Ausdruck auf dem
Gesicht, der beunruhigenderweise wie Bestürzung wirkte. Yoren hatte eine krumme Schulter und einen säuerlichen Geruch an sich, Haar und Bart waren verfilzt und schmierig und voller Läuse, seine Kleidung alt, geflickt und selten gewaschen. Seine beiden jungen Rekruten rochen sogar noch übler und schienen so dumm zu sein, wie sie grausam waren.
Zweifellos hatte der Junge den Fehler begangen, zu glauben, daß sich die Nachtwache aus Männern wie seinem Onkel zusammensetzte. Falls dem so gewesen sein sollte, bereiteten ihm Yoren und seine Begleiter ein rüdes Erwachen. Tyrion hatte Mitleid mit dem Jungen. Er hatte ein hartes Leben gewählt… oder vielleicht sollte man sagen: Für ihn war ein hartes Leben gewählt worden.
Weit weniger Mitgefühl hatte er für den Onkel. Benjen Stark schien den Widerwillen seines Bruders gegen die Lannisters zu teilen, und er war keineswegs erfreut gewesen, als Tyrion ihm von seinen Absichten erzählt hatte.»Ich warne Euch, Lannister, Wirtshäuser werdet Ihr an der Mauer keine finden«, hatte er gesagt und auf ihn herabgesehen.
«Ohne Zweifel werdet Ihr irgend etwas finden, wo Ihr mich unterbringen könnt«, hatte Tyrion erwidert.»Wie Euch schon aufgefallen sein mag, bin ich klein.«
Selbstverständlich schlug man dem Bruder der Königin nichts ab, womit die Sache dann geklärt war, doch Freude hatte Stark darüber nicht empfunden.»Der Ritt wird Euch nicht behagen, das kann ich Euch versprechen«, hatte er barsch gesagt, und seit dem Augenblick, an dem sie losgeritten waren, hatte er alles getan, um sein Versprechen einzulösen.
Gegen Ende der ersten Woche waren Tyrions Oberschenkel blutig gescheuert vom harten Ritt, in den Beinen hatte er schwere Krämpfe, und er fror bis auf die Knochen. Er klagte nicht. Er wollte verdammt sein, wenn er Benjen Stark diese Genugtuung gönnte.
Er nahm eine kleine Rache, was sein Reitfell anging, ein zerfetztes Bärenfell, alt und muffig riechend. Stark hatte es ihm in einem Anflug von Ritterlichkeit angeboten und zweifellos erwartet, daß er dankend ablehnte. Lächelnd hatte Tyrion es akzeptiert. Er hatte seine wärmsten Kleider eingepackt, als sie Winterfell verließen, und bald schon festgestellt, daß sie nicht im entferntesten warm genug waren. Kalt war es dort oben, und es wurde immer kälter. Die Nächte waren inzwischen unter dem Gefrierpunkt, und wenn der Wind wehte, war es, als schnitt ein Messer geradewegs durch seine wärmste Wollkleidung. Mittlerweile bereute Stark seinen ritterlichen Impuls ganz ohne Zweifel. Vielleicht war es ihm eine Lektion. Die Lannisters lehnten niemals ab, dankend oder sonstwie. Die Lannisters nahmen, was sich ihnen bot.
Bauernhöfe und Festungsanlagen wurden seltener und kleiner, je weiter sie nach Norden kamen, tiefer und tiefer ins Dunkel des Wolfswaldes hinein, bis es schließlich keine Dächer mehr gab, unter denen man Schutz suchen konnte, und sie waren auf sich selbst gestellt.
Tyrion war nie eine große Hilfe, wenn es darum ging, ein Lager zu errichten oder abzubrechen. Zu klein, zu behindert, zu sehr im Weg. Während Stark und Yoren und die anderen Männer also grobe Unterstände errichteten, sich um die Pferde kümmerten, ein Feuer machten, wurde es ihm zur Gewohnheit, sein Fell und einen Weinschlauch zu nehmen und sich zum Lesen zurückzuziehen.
Am achtzehnten Abend ihrer Reise war der Wein ein selten süßer Rebensaft von den Summer Isles, den er den ganzen Weg von Casterly Rock in den Norden mitgenommen hatte, und das Buch eine Abhandlung zu Geschichte und Eigenschaften der Drachen. Mit Lord Eddard Starks Erlaubnis hatte Tyrion einige seltene Bände aus der Bibliothek von Winterfell für die Reise in den Norden entliehen.
Er fand eine bequeme Stelle etwas abseits des Lagerlärms, an einem rauschenden Bach, dessen Fluten klar und kalt wie Eis waren. Eine Eiche von bizarrem Alter bot ihm Schutz vor dem schneidenden Wind. Tyrion wickelte sich mit dem Rücken am Stamm in sein Fell, nahm einen Schluck Wein und begann, über die Eigenschaften von Drachenknochen nachzulesen. Drachenknochen ist schwarz wegen seines hohen Eisengehalts, las er in dem Buch. Er ist hart wie Stahl, doch leichter und weit biegsamer, und natürlich Feuer gegenüber gänzlich unempfindlich. Bogen aus Drachenknochen sind bei den Dothraki hoch geschätzt, was nicht verwundern kann. Ein damit bewehrter Bogenschütze schießt weiter als mit jedem Holzbogen.
Drachen übten auf Tyrion eine morbide Faszination aus. Als er für die Hochzeit seiner Schwester mit Robert Baratheon zum ersten Mal nach King's Landing gekommen war, hatte er darauf bestanden, die Drachenschädel zu besichtigen, die an den Wänden des Thronsaals der Targaryen gehangen hatten. König Robert hatte sie durch Banner und Wandteppiche ersetzt, doch Tyrion war derart beharrlich geblieben, bis er die Schädel schließlich in dem feuchten Keller aufspürte, wo man sie lagerte.
Er hatte erwartet, daß sie eindrucksvoll wären, vielleicht sogar beängstigend. Er hatte nicht gedacht, daß sie wunderschön sein würden. Und doch waren sie es. Schwarz wie Onyx, blankpoliert, so daß der Knochen im Fackelschein zu schimmern schien. Sie liebten das Feuer, das spürte er. Er hatte seine Fackel ins Maul eines der größeren Schädel gesteckt, daß die Schatten an der Wand dahinter hüpften und tanzten. Die Zähne waren lange, gebogene Dolche von schwarzem Diamant. Die Flamme der Fackel konnte ihnen nichts anhaben. Sie hatten schon der Hitze weit heißerer Feuer widerstanden. Als er von ihnen zurückgetreten war, hätte Tyrion schwören können, daß die leeren Augenhöhlen des Untiers ihn dabei beobachteten.
Es waren neunzehn Schädel. Der älteste war über dreitausend Jahre alt, der jüngste nur anderthalb Jahrhunderte. Die jüngeren waren auch die kleinsten, ein gleiches Paar, nicht größer als Schädel von Mastiffs, und seltsam mißgebildet, alles, was von den letzten beiden frisch Geschlüpften geblieben war, die auf Dragonstone das Licht der Welt erblickt hatten. Sie waren die letzten Drachen der Targaryen gewesen, vielleicht die letzten Drachen überhaupt, und lange hatten sie nicht gelebt.
Die anderen Schädel waren größer, bis zu den drei Ungeheuern aus Liedern und Legenden, die Drachen, die Aegon Targaryen und seine Schwestern in alten Zeiten auf die Sieben Königslande losgelassen hatten. Die Sänger hatten ihnen Namen von Göttern gegeben: Balerion, Meraxes, Vhagar. Tyrion hatte zwischen ihren klaffenden Kiefern gestanden, wortlos und staunend. Man hätte auf einem Pferd in Vhagars Schlund reiten können, obwohl man kaum wieder herausgekommen wäre. Meraxes war sogar noch größer. Und der größte von allen, Balerion, der Schwarze Schrecken, hätte einen ganzen Auerochsen am Stück verschlingen können, oder vielleicht sogar eines dieser haarigen Mammuts, welche die kalte Einöde jenseits des Hafens von Ibben durchstreiften.
Lange stand Tyrion in diesem feuchten Keller, starrte Balerions Schädel mit den leeren Augen an, bis seine Fackel abgebrannt war, versuchte, die Größe des lebenden Tieres zu begreifen, sich vorzustellen, wie es ausgesehen haben mußte, wenn es seine großen, schwarzen Flügel ausbreitete und feuerspeiend am Himmel schwebte.
Sein entfernter Vorfahr König Loren vom Stein hatte versucht, dem Feuer zu widerstehen, als er sich König Mern von der Weite anschloß, um sich der Eroberung durch die Targaryen zu widersetzen. Das lag fast dreihundert Jahre zurück, als die Sieben Königslande noch wirklich Königslande waren, und nicht bloß Provinzen eines größeren Reiches.
Gemeinsam hatten die zwei Könige sechshundert Vasallen, fünftausend Ritter zu Pferd und zehnmal so viele Freie und Soldaten. Aegon Dragonlord besaß vielleicht ein Fünftel davon, so sagten die Chroniken, und die meisten waren Einberufene aus den Reihen des letzten Königs, den er erschlagen hatte, deren Treue war fraglich.
Die Feinde begegneten einander auf der weiten Steppe der» Weite«, inmitten goldener Felder von Getreide, das zur Ernte reif war. Als die zwei Könige angriffen, erbebte Targaryens Armee, zerstob und flüchtete. Für einige Augenblicke, so schrieben die Chronisten, fand die Schlacht ihr Ende… doch nur für diese kurzen Augenblicke, bis Aegon Targaryen und seine Schwestern in die Schlacht eingriffen.
Es war das einzige Mal, daß Vhagar, Meraxes und Balerion gleichzeitig losgelassen wurden. Die Sänger nannten es» Das Feld des Feuers«.
Fast viertausend Mann waren an jenem Tag verbrannt, unter ihnen König Mern von der Weite. König Loren war entkommen und lebte noch so lange, daß er kapitulieren, den Targaryen Treue geloben und einen Sohn zeugen konnte, wofür Tyrion gebührend dankbar war.
«Warum lest Ihr soviel?«
Beim Klang der Stimme blickte Tyrion auf. Jon Snow stand einige Schritte entfernt und betrachtete ihn neugierig. Er schloß das Buch, klemmte einen Finger zwischen die Seiten und sagte:»Sieh mich an und sag mir, was du siehst.«
Argwöhnisch sah der Junge ihn an.»Soll das ein Trick sein? Ich sehe Euch. Tyrion Lannister.«
Tyrion seufzte.»Für einen Bastard bist du bemerkenswert höflich, Snow. Was du siehst, ist ein Zwerg. Wie alt bist du, zwölf?«
«Vierzehn«, sagte der Junge.
«Vierzehn, und du bist größer, als ich je sein werde. Meine Beine sind kurz und verkrüppelt, und ich kann nur mit großen Schwierigkeiten laufen. Ich brauche einen speziellen Sattel, damit ich nicht vom Pferd falle. Einen Sattel, den ich selbst entworfen habe, was dich vielleicht interessieren könnte. Mir blieb nur das oder ein Pony zu reiten. Meine Arme sind kräftig, aber auch sie sind zu kurz. Nie werde ich ein Krieger. Wäre ich als Bauernsohn geboren, hätte man mich vielleicht zum Sterben ausgesetzt oder in das Absurditätenkabinett eines Sklavenhändlers verkauft. Jedoch bin ich als ein Lannister von Casterly Rock geboren, und so gehen die Absurditäten meiner verlustig. Bestimmte Dinge werden von mir erwartet. Mein Vater war zwanzig Jahre lang die Rechte Hand des Königs. Mein Bruder hat später, wie sich herausstellen sollte, eben jenen König erschlagen, doch ist das Leben voll Ironie des Schicksals. Meine Schwester hat den neuen König geheiratet, und mein widerwärtiger Neffe wird nach ihm König werden. Ich muß meinen Teil zur Ehre meiner Familie leisten, meinst du nicht? Doch wie? Nun, meine Beine sind zu klein für meinen Körper, doch mein Kopf ist zu groß, obwohl ich lieber glaube, daß er für meinen Verstand gerade die richtige Größe hat. Ich schätze meine Stärken und Schwächen sehr realistisch ein. Mein Verstand ist meine Waffe. Mein Bruder hat sein Schwert, König Robert hat seinen Streithammer, und ich habe meinen Verstand…wie ein Schwert den Wetzstein braucht ein Verstand Bücher, um seine Schärfe zu behalten. «Tyrion tippte auf den Ledereinband des Buches.»Deshalb lese ich soviel, Jon Snow.«
Der Junge nahm das alles schweigend in sich auf. Er hatte das Gesicht eines Stark, wenn auch nicht dessen Namen: lang, ernst, gefaßt, ein Gesicht, das nicht viel preisgab. Wer auch immer seine Mutter gewesen sein mochte, sie hatte nicht viel von sich in ihrem Sohn hinterlassen.»Worüber lest Ihr?«fragte er.
«Drachen«, erklärte Tyrion.
«Wozu soll das gut sein? Es gibt keine Drachen mehr«, sagte der Junge mit der leichtfertigen Gewißheit der Jugend.
«So sagt man«, erwiderte Tyrion.»Traurig, nicht? Als ich in deinem Alter war, habe ich oft davon geträumt, einen eigenen Drachen zu besitzen.«
«Habt Ihr?«fragte der Junge voller Mißtrauen. Vielleicht glaubte er, Tyrion mache sich über ihn lustig.
«Oh, ja, selbst ein verkrüppelter, häßlicher, kleiner Junge kann auf die Welt hinuntersehen, wenn er auf dem Rücken eines Drachen sitzt. «Tyrion schob das Bärenfell beiseite und stand auf.»Früher habe ich unten in den Gängen von Casterly Rock Feuer entfacht, stundenlang in die Flammen gestarrt und so getan, als wären es Drachenfeuer. Manchmal habe ich mir vorgestellt, mein Vater würde brennen. Manchmal auch meine Schwester. «Jon Snow starrte ihn an, mit einem Blick, der zu gleichen Teilen sein Entsetzen wie auch seine Faszination zeigte. Tyrion lachte schallend.»Sieh mich nicht so an, Bastard. Ich kenne dein Geheimnis. Du hast selbst schon solche Träume gehabt.«
«Nein«, widersprach Jon Snow entgeistert.»Ich würde nie… «
«Nein? Nie?«Tyrion zog eine Augenbraue hoch.»Nun, zweifelsohne sind die Starks schrecklich gut zu dir gewesen. Ich bin mir sicher, daß Lady Stark dich wie einen der Ihren behandelt. Und dein Bruder Robb, stets war er nett, wieso auch nicht? Er bekommt Winterfell, und du bekommst die Mauer. Und dein Vater… er muß gute Gründe haben, dich zur Nachtwache abzuschieben… «
«Hört auf damit«, verlangte Jon Snow, und seine Miene verfinsterte sich vor Zorn.»Die Nachtwache ist eine edle Berufung!«
Tyrion lachte.»Du bist zu schlau, um das zu glauben. Die
Nachtwache ist ein Abfallhaufen für alle Mißratenen des Reiches. Ich habe beobachtet, wie du Yoren und seine Jungen angesehen hast. Das sind deine neuen Brüder, Jon Snow, wie gefallen sie dir? Verdrossene Bauern, Schuldner, Wilderer, Vergewaltiger, Diebe und Bastarde wie du landen auf der Mauer und halten nach Grumkins und Snarks und all den anderen Ungeheuern Ausschau, vor denen dich deine Amme gewarnt hat. Das Gute daran ist, daß es keine Grumkins oder Snarks gibt, also handelt es sich wenigstens um keine gefährliche Arbeit. Das Schlechte ist, daß du dir die Eier abfrierst, aber da du dich ohnehin nicht fortpflanzen darfst, denke ich, ist das wohl unerheblich.«
«Hört auf!«schrie der Junge. Er tat einen Schritt nach vorn, ballte, den Tränen nah, die Hände zu Fäusten.
Plötzlich und absurderweise fühlte sich Tyrion schuldig. Er trat vor, wollte dem Jungen beruhigend auf die Schulter klopfen oder ein Wort der Entschuldigung murmeln.
Er sah den Wolf gar nicht, wo er war oder wie er ihn ansprang. Im einen Augenblick ging er noch Snow entgegen, und im nächsten lag er rücklings auf dem harten Felsboden, das Buch flog davon, als er stürzte, ihm blieb bei dem harten Aufprall die Luft weg, sein Mund war voller Dreck und moderndem Laub. Als er aufzustehen versuchte, verkrampfte sich sein Rücken schmerzhaft. Er mußte ihn beim Sturz verdreht haben. Wütend knirschte er mit den Zähnen, packte eine Wurzel und zog sich in eine sitzende Position.»Hilf mir«, forderte er den Jungen auf und streckte eine Hand aus.
Und plötzlich war der Wolf zwischen ihnen. Er knurrte nicht. Das verdammte Vieh gab nie einen Ton von sich. Er sah ihn nur mit diesen hellroten Augen an und zeigte ihm die Zähne, und das reichte völlig aus. Ächzend sank Tyrion zu Boden.»Dann hilf mir nicht. Ich bleibe hier sitzen, bis ihr weg seid.«
Jon Snow streichelte Ghosts dickes, weißes Fell und lächelte jetzt.»Fragt mich freundlich.«
Tyrion Lannister spürte, wie Wut in ihm aufkochte, und verdrängte sie mit reiner Willenskraft. Es war nicht das erste Mal in seinem Leben, daß er erniedrigt wurde, und es würde auch nicht das letzte Mal sein. Vielleicht hatte er es sogar verdient.»Ich wäre dir für deine freundliche Hilfe sehr dankbar, Jon«, bat er sanft.
«Sitz, Ghost«, sagte der Junge. Der Schattenwolf hockte sich hin. Die roten Augen ließen von Tyrion nicht ab. Jon trat hinter ihn, schob die Hände unter seine Arme und zog ihn mit Leichtigkeit auf die Beine. Dann hob er das Buch auf und gab es ihm zurück.
«Wieso hat er mich angegriffen?«fragte Tyrion mit einem Seitenblick auf den Schattenwolf. Mit dem Handrücken wischte er Blut und Schmutz von seinem Mund.
«Vielleicht dachte er, Ihr wärt ein Grumkin. «Tyrion sah ihn scharf an. Dann lachte er, ein rohes Schnauben der Belustigung platzte gänzlich ohne Erlaubnis aus seiner Nase hervor.»Oh, bei allen Göttern«, sagte er, hustete vor Lachen und schüttelte den Kopf.»Wahrscheinlich sehe ich wirklich wie ein Grumkin aus. Was stellt er mit Snarks an?«
«Fragt lieber nicht. «Jon hob den Weinschlauch auf und reichte ihn Tyrion.
Tyrion zog den Pfropfen heraus, legte seinen Kopf in den Nacken und drückte einen langen Strahl in seinen Mund. Der Wein war wie kühles Feuer, als er seine Kehle hinunterlief. Er hielt Jon Snow den Weinschlauch hin.»Möchtest du?«
Der Junge nahm den Schlauch und probierte vorsichtig einen Schluck.»Es stimmt, oder?«fragte er, als er fertig war.»Was Ihr über die Nachtwache gesagt habt.«
Tyrion nickte.
Jon Snow preßte seine Lippen grimmig zusammen.»Wenn es so ist, dann ist es eben so.«
Tyrion grinste ihn an.»Das ist gut, Bastard. Die meisten Menschen würden eine schwere Wahrheit eher leugnen, als sich ihr zu stellen.«
«Die meisten Menschen«, sagte der Junge.»Nur Ihr nicht.«
«Nein«, gab Tyrion zu,»ich nicht. Ich träume auch nur noch selten von Drachen. Es gibt keine Drachen. «Er sammelte das heruntergefallene Bärenfell auf.»Komm, wir sollten besser im Lager sein, bevor dein Onkel zu den Fahnen ruft.«
Der Weg war nur kurz, doch der Boden war uneben, und als sie ankamen, hatte Tyrion schwere Krämpfe in den Beinen. Jon Snow bot ihm eine Hand an, um ihm über ein dichtes Gewirr von Wurzeln zu helfen, doch Tyrion lehnte ab. Er wollte seinen Weg allein gehen, wie er es sein Leben lang getan hatte. Dennoch war ihm das Lager ein willkommener Anblick. Die Unterstände waren an der baufälligen Wand einer lange verlassenen Festung errichtet worden. Die Pferde waren gefüttert, und ein Feuer brannte. Yoren saß auf einem Stein und häutete ein Eichhörnchen. Der würzige Duft von Eintopf zog in Tyrions Nase. Er schleppte sich zu seinem Leibdiener Morrec, der im Topf rührte. Wortlos reichte Morrec ihm die Schöpfkelle.»Mehr Pfeffer«, sagte er.
Benjen Stark trat aus dem Unterstand, den er sich mit seinem Neffen teilte.»Da bist du ja, Jon, verdammt noch mal, du solltest nicht allein losgehen. Ich dachte schon, die Anderen hätten dich geholt.«
«Es waren die Grumkins«, erklärte Tyrion lachend. Jon Snow lächelte. Stark warf Yoren einen verdutzten Blick zu. Der alte Mann brummte, zuckte mit den Achseln und machte sich wieder an sein blutiges Werk.
Das Eichhörnchen brachte etwas Fleisch in den Eintopf, und den aßen sie an diesem Abend mit schwarzem Brot und hartem
Käse, während sie um das Feuer saßen. Tyrion ließ seinen Weinschlauch herumgehen, bis selbst Yoren milder gestimmt war. Einer nach dem anderen zog sich zum Schlafen in seinen Unterstand zurück, alle bis auf Jon Snow, der die erste Wache der Nacht gezogen hatte.
Tyrion zog sich als letzter zurück, wie stets. Als er den Unterstand, den seine Männer für ihn errichtet hatten, betrat, hielt er kurz inne und sah sich nach Jon Snow um. Der Junge stand am Feuer, mit stiller, harter Miene, und blickte starr in die Flammen.
Tyrion Lannister lächelte traurig und ging zu Bett.