Der einohrige, schwarze Kater machte einen Buckel und fauchte sie an.
Arya tappte die Gasse entlang, balancierte auf den Ballen ihrer nackten Füße, lauschte dem Flattern ihres Herzens, atmete tief und langsam. Leise wie ein Schatten, sagte sie zu sich, leicht wie eine Feder. Der Kater sah sie kommen, mit Argwohn in den Augen.
Katzen zu fangen war schwer. Ihre Hände waren von halb verheilten Narben übersät, und beide Knie waren verschorft, denn sie hatte sie sich übel aufgeschlagen. Anfangs hatte ihr selbst die dicke, fette Katze des Kochs entfliehen können, doch Syrio trieb sie bei Tag und Nacht an. Als sie mit blutenden Händen zu ihm gelaufen kam, hatte er gesagt:»So langsam? Sei schneller, Mädchen. Deine Feinde werden dir mehr als nur Kratzer verpassen. «Sie hatte Wunden mit myrischem Feuer abgetupft, welches so schlimm brannte, daß sie sich auf die Lippen beißen mußte, um nicht zu schreien. Dann sandte er sie aus, weitere Katzen zu fangen.
Der Red Keep war voller Katzen: Faule, alte Katzen schlummerten in der Sonne, kaltäugige Mauser zuckten mit den Schwänzen, schnelle, kleine Kätzchen mit Krallen wie Nadeln, Katzen der Hofdamen, gekämmt und zutraulich, struppige Schatten, welche die Abfallhaufen durchstöberten. Eine nach der anderen hatte Arya gejagt und gefangen und stolz Syrio Forel gebracht… alle, bis auf diese eine, diesen einohrigen schwarzen Teufel von einem Kater.»Das da drüben ist der wahre König dieser Burg«, hatte einer der Goldröcke ihr erklärt.»Alter als die Sünde und doppelt so böse. Einmal, als der König ein Festmahl für den Vater der Königin gab, sprang der schwarze Mistkerl auf den Tisch und hat sich eine gebratene Wachtel direkt aus Lord Tywins Hand geschnappt. Robert mußte lachen, daß er fast geplatzt wäre. Von dem da halte dich lieber fern, Kindchen.«
Sie hatte ihn durch die halbe Burg gehetzt. Zweimal um den Turm der Hand, über den Innenhof, durch die Ställe, die Wendeltreppe hinunter, an der kleinen Küche und dem Schweinestall und den Kasernen der Goldröcke vorbei, am Fuße der Flußmauer entlang und wieder die Treppen hinauf und am Verrätergang vor und zurück und wieder hinunter und durch ein Tor und um einen Brunnen und in seltsame Gebäude hinein und wieder aus ihnen hervor, bis Arya nicht mehr wußte, wo sie war.
Jetzt endlich hatte sie ihn. Hohe Mauern ragten zu beiden Seiten auf, und vor sich sah sie eine kahle, fensterlose Wand. Leise wie ein Schatten, wiederholte sie, während sie voranschlich, leicht wie eine Feder.
Als sie drei Schritte vor ihm war, machte der Kater einen Satz. Links, dann rechts wollte er, und rechts, dann links war Arya, schnitt ihm den Weg ab. Wieder fauchte er und versuchte, zwischen ihren Beinen hindurchzukommen. Schnell wie eine Schlange, dachte sie. Ihre Hände schlossen sich um ihn. Sie drückte ihn an ihre Brust, fuhr herum und lachte laut, während seine Krallen über ihr Lederwams kratzten. Blitzschnell küßte sie ihn zwischen die Augen und riß den Kopf gleich wieder zurück, bevor die Krallen ihr Gesicht gefunden hatten. Der Kater heulte und fauchte.
«Was machst du mit der Katze, Junge?«Erschrocken ließ Arya die Katze fallen und drehte sich zu der Stimme um. Der Kater machte sich augenblicklich davon. Am Ende der Gasse stand ein Mädchen mit einem Wust von goldenen Locken, gekleidet wie eine Puppe in blauen Satin. Neben ihr stand ein pausbackiger, kleiner, blonder Junge, auf dessen Wams mit Perlen ein stolzierender Hirsch gestickt war, und an seiner Seite trug er ein kleines Schwert. Prinzessin Myrcella und
Prinz Tommen, dachte Arya. Eine Septa, die so groß war wie ein Zugpferd, ragte über ihnen auf, und hinter ihr standen zwei große Männer in roten Mänteln, die Leibgarde der Lannisters.
«Was hast du mit der Katze gemacht, Junge?«fragte Myrcella erneut mit ernster Stimme. Zu ihrem Bruder sagte sie:»Was für ein zerlumpter Junge, nicht? Sieh ihn dir an. «Sie kicherte.
«Ein lumpiger, dreckiger, stinkiger Junge«, gab Tommen ihr recht.
Sie erkennen mich nicht, dachte Arya. Sie merken nicht mal, daß ich ein Mädchen bin. Was nicht verwundern konnte. Sie war barfuß und schmutzig, ihr Haar vom langen Rennen durch die Burg zerzaust, und bekleidet war sie mit einem von Katzenkrallen zerfetzten Lederwams und groben, braunen Hosen, die über ihren verschorften Knien abgeschnitten waren. Man trägt nicht Samt und Seide, wenn man Katzen jagt. Eilig senkte sie den Blick und fiel auf ein Knie. Vielleicht würden sie sie nicht erkennen. Falls sie es täten, würde sie es auf ewig zu hören bekommen. Septa Mordane wäre zu Tode gekränkt, und Sansa würde wegen der Schande nie mehr mit ihr sprechen.
Die alte, fette Septa trat vor.»Junge, wie bist du hier hereingekommen? In diesem Teil der Burg hast du nichts verloren.«
«Seinesgleichen kann man nicht draußen halten«, sagte einer der roten Mäntel.»Das ist, als wollte man die Ratten fernhalten.«
«Zu wem gehörst du, Junge?«forderte die Septa zu wissen.»Antworte mir. Was ist los mit dir? Bist du stumm?«
Aryas Stimme blieb in ihrer Kehle stecken. Wenn sie antwortete, würden Tonnen und Myrcella sie ganz sicher erkennen.
«Godwyn, bring ihn her«, verlangte die Septa. Der größere
der beiden Gardisten kam die Gasse herunter.
Panik packte ihre Kehle wie die Hand eines Riesen. Arya hätte nicht sprechen können und wenn ihr Leben davon abgehangen hätte. Ruhig wie stilles Wasser, formte sie tonlos mit ihrem Mund.
Als Godwyn nach ihr griff, wich Arya ihm aus. Schnell wie eine Schlange. Sie beugte sich nach links, ließ seine Finger von ihrem Arm abgleiten, tänzelte um ihn herum. Sanft wie Sommerseide. Bis er sich umgedreht hatte, rannte sie schon die Gasse hinunter.
Flink wie ein Reh. Die Septa kreischte ihr hinterher. Arya kroch zwischen Beinen hindurch, die dick und weiß wie Marmorsäulen waren, sprang auf, stieß mit Prinz Tommen zusammen und hüpfte über ihn, als der auf den Allerwertesten plumpste und» Uff «sagte, wich der zweiten Wache aus, und schon hatte sie alle hinter sich und rannte ihnen davon.
Sie hörte Rufen, dann stampfende Schritte, die immer näher kamen. Sie ließ sich fallen und rollte ab. Der rote Mantel stürmte an ihr vorüber, stolperte. Arya sprang wieder auf die Beine. Sie sah ein Fenster über sich, hoch und schmal, kaum mehr als eine Schießscharte. Arya sprang, bekam den Sims zu fassen, zog sich nach oben. Sie hielt die Luft an, als sie sich hindurchschob. Glatt wie ein Aal. Als sie vor einer erschrockenen Putzfrau auf den Boden sprang, hüpfte sie auf, bürstete die Binsen von ihren Kleidern und war schon wieder unterwegs, zur Tür hinaus durch einen langen Korridor, eine Treppe hinunter, über einen verborgenen Hof, um eine Ecke und über eine Mauer und durch ein niedriges, schmales Fenster in einen stockfinsteren Keller. Die Geräusche hinter ihr wurden immer leiser.
Arya war außer Atem und hatte sich verirrt. Jetzt wäre sie dran, falls man sie erkannt hätte, doch glaubte sie nicht daran. Sie war zu schnell gewesen, flink wie ein Reh.
Sie kauerte sich in der Dunkelheit an eine feuchte Mauer und lauschte ihren Verfolgern, doch hörte sie nur ihren Herzschlag und das ferne Tropfen von Wasser. Still wie ein Schatten, sagte sie zu sich. Sie fragte sich, wo sie war. Als sie nach King's Landing gekommen waren, hatte sie oft Alpträume gehabt, in denen sie sich in der Burg verirrte. Vater sagte, der Red Keep sei eigentlich kleiner als Winterfell, doch in ihren Träumen war er riesig, ein endloser, steinerner Irrgarten mit Mauern, die sich zu verschieben und hinter ihr zu bewegen schienen. Dort fand sie sich wieder, wie sie durch düstere Hallen wanderte, an verblaßten Wandteppichen vorüber, endlose Wendeltreppen hinab, über Höfe und Brücken hetzend, und niemand antwortete auf ihr Rufen. In einigen der Räume schien Blut aus den roten Steinwänden zu tropfen, und nirgends konnte sie ein Fenster finden. Manchmal hörte sie dann die Stimme ihres Vaters, doch stets aus weiter Ferne, und so schnell sie ihr auch nachlief, wurde seine Stimme doch stets leiser und immer leiser, bis sie ganz verklungen und Arya in der Dunkelheit nun ganz allein war.
Hier war es sehr dunkel, wie Arya auffiel. Sie legte die Arme um ihre nackten Knie, drückte sie fest an ihre Brust und zitterte. Leise wollte sie warten und bis zehntausend zählen. Dann konnte sie sicher hinausklettern und den Weg nach Hause suchen.
Als sie bei siebenundachtzig war, hatten sich ihre Augen langsam an die Dunkelheit gewöhnt. Nun nahm manches im Raum Formen an. Riesenhafte, leere Augen starrten sie hungrig aus der Finsternis an, und undeutlich sah sie die gezackten Schatten langer Zähne. Sie verzählte sich. Sie schloß die Augen, biß sich auf die Lippen und verscheuchte ihre Angst. Wenn sie wieder hinsähe, wären die Ungeheuer fort. Wären nie dagewesen. Sie tat, als wäre Syrio dort neben ihr und flüsterte ihr ins Ohr. Ruhig wie stilles Wasser, sagte sie sich. Stark wie ein Bär. Wild wie eine Wölfin. Erneut schlug sie die Augen auf.
Die Ungeheuer waren noch da, doch die Angst war verschwunden.
Ayra stand auf, bewegte sich ganz vorsichtig. Überall um sie herum sah sie diese Köpfe. Einen davon berührte sie, neugierig, fragte sich, ob sie wohl echt waren. Ihre Fingerspitzen strichen über einen mächtigen Unterkiefer, der sich kalt und hart anfühlte. Mit einem Finger betastete sie einen Zahn, schwarz und scharf, wie ein Dolch aus Finsternis. Ein Schauer lief ihr über den Rücken.
«Es ist tot«, sagte sie laut.»Es ist nur ein Schädel, es kann mir nichts tun. «Dennoch schien das Ungeheuer zu wissen, daß sie da war. Sie spürte, wie seine leeren Augen sie in der Dunkelheit beobachteten, und in diesem trüben, höhlenartigen Raum war etwas, dem sie nicht gefiel. Sie wich vor dem Schädel zurück und stieß gegen einen zweiten, der noch größer als der erste war. Einen Moment lang fühlte sie, wie sich seine Zähne in ihre Schulter bohrten, als wollte er ein Stück aus ihr herausbeißen. Arya fuhr herum und merkte, wie Leder zerriß, als ein mächtiger Zahn an ihrem Wams nagte, und dann rannte sie. Ein weiterer Schädel ragte vor ihr auf, das größte Ungeheuer von allen, doch Arya hielt sich keinen Augenblick auf. Sie sprang über einen Grat aus schwarzen Zähnen, groß wie Schwerter, stürzte durch hungrige Mäuler und warf sich gegen die Tür.
Ihre Hände fanden einen schweren Eisenring im Holz, und sie zog mit Leibeskräften daran. Die Tür widersetzte sich ihr kurz, bis sie langsam nach innen schwang, mit lautem Knarren, von dem Arya sicher war, daß man es in der ganzen Stadt hören konnte. Sie öffnete die Tür gerade weit genug, um in den Korridor dahinter zu schlüpfen.
War der Raum mit den Ungeheuern schon dunkel gewesen, dann war der Korridor die schwärzeste Grube in allen sieben Höllen. Ruhig wie stilles Wasser, redete Arya sich ein, doch selbst nachdem sie ihren Augen etwas Zeit gelassen hatte, sich daran zu gewöhnen, war dort nichts weiter zu sehen als der schwache, graue Umriß der Tür, durch die sie gekommen war. Sie bewegte ihre Finger vor dem Gesicht, fühlte ihre Bewegung in der Luft, sah jedoch nichts. Sie war blind. Eine Wassertänzerin sieht mit allen Sinnen, erinnerte sie sich. Sie schloß die Augen und bemühte sich, ruhig zu atmen, eins, zwei, drei, sog die Dunkelheit in sich auf, streckte die Hände aus.
Ihre Finger strichen über groben, unfertigen Stein zu ihrer Linken. Sie folgte der Mauer, eine Hand daran gelegt, mit kleinen vorsichtigen Schritten durch die Dunkelheit. Alle Korridore führen irgendwohin. Wo es einen Weg hinein gibt, gibt es auch einen Weg hinaus. Angst schneidet tiefer als Schwerter. Arya wollte sich nicht fürchten. Es schien, als hätte sie schon einen weiten Weg hinter sich, als die Mauer plötzlich endete und kalte Luft an ihre Wange wehte. Loses Haar strich leicht über ihre Haut.
Von irgendwo weit unten hörte sie Geräusche. Das Scharren von Stiefeln, ferne Stimmen. Ein Hauch von flackerndem Licht strich über die Mauer, und sie sah, daß sie oben an einem großen, schwarzen Brunnen stand, einem Schacht, der zwanzig Fuß tief in die Erde ging. Mächtige Steine waren als Stufen in die runden Mauern gesetzt und führten wendelnd in die Tiefe, finster wie die Stufen zur Hölle, von der Old Nan ihnen erzählt hatte. Und etwas kam aus der Dunkelheit herauf, aus dem Bauch der Erde…
Arya lugte über den Rand und spürte den kalten, schwarzen Atem auf ihrem Gesicht. Weit unten sah sie das Licht einer einzelnen Fackel, klein wie die Flamme einer Kerze. Zwei Männer konnte sie erkennen. Ihre Schatten krümmten sich an den Seiten des Brunnens, ragten auf wie Riesen. Sie konnte ihre Stimmen hören, die den Schacht herauf hallten.
«… einen Bastard gefunden«, sagte einer.»Der Rest wird bald kommen. Ein Tag, zwei Tage, zwei Wochen…«
«Und wenn er die Wahrheit erfährt, was wird er tun?«fragte eine zweite Stimme mit dem schwungvollen Akzent der Freien Städte.
«Das wissen nur die Götter«, sagte die erste Stimme. Arya sah einen Fetzen von grauem Qualm, der von der Fackel in die Höhe trieb und sich dabei wie eine Schlange wand.»Die Narren haben versucht, seinen Sohn zu töten, und was das Schlimmste ist: Sie haben einen Mummenschanz daraus gemacht. Er ist kein Mann, den man abschieben kann. Ich warne Euch, der Wolf und der Löwe werden einander bald an die Kehle gehen, ob wir es nun wollen oder nicht.«
«Zu früh, zu früh«, klagte die Stimme mit dem Akzent.»Was nützt uns ein Krieg jetzt? Wir sind noch nicht bereit. Wartet noch.«
«Ebenso könnte man die Zeit anhalten. Haltet Ihr mich für einen Zauberer?«
Der andere kicherte.»Mindestens. «Flammen leckten an der kalten Luft. Die langen Schatten reichten fast bis zu ihr hinauf. Einen Augenblick später tauchte der Mann mit der Fackel in ihrem Blickfeld auf, sein Begleiter neben ihm. Arya kroch vom Brunnen zurück, ließ sich auf den Bauch fallen und preßte sich an die Wand. Sie hielt die Luft an, als die Männer zum oberen Ende der Treppe kamen.
«Was soll ich für Euch tun?«fragte der Fackelträger, ein beleibter Mann mit kurzem, ledernem Umhang. Selbst in schweren Stiefeln schien er geräuschlos über den Boden zu schweben. Ein rundes, vernarbtes Gesicht und dunkle Bartstoppeln waren unter seiner Stahlhaube auszumachen, und er trug ein Kettenhemd über hartem Leder, und einen Dolch und ein Kurzschwert am Gürtel. Es schien Arya, als hätte er etwas seltsam Vertrautes an sich.
«Wenn eine Hand sterben kann, warum nicht auch eine zweite?«erwiderte der Mann mit dem Akzent und dem gelben
Gabelbart.»Ihr habt den Tanz früher schon getanzt, mein Freund. «Ihn hatte Arya noch nie zuvor gesehen, dessen war sie sicher. Gräßlich fett, und dennoch schien er leichten Fußes zu wandeln, trug sein ganzes Gewicht auf den Fußballen, wie es ein Wassertänzer getan hätte. Seine Ringe glitzerten im Fackelschein, rotgolden und mattsilbern, mit Rubinen besetzt, Saphiren, geschlitzten, gelben Tigeraugen. An jedem Finger steckte ein Ring, an manchen zwei.
«Früher ist nicht jetzt, und diese Hand ist nicht die andere«, sagte der vernarbte Mann, als sie den Korridor betraten. Starr wie Stein, sagte Arya sich, leise wie ein Schatten. Geblendet vom Licht ihrer eigenen Fackel, sahen sie Arya nicht, wie sie dort flach am Boden lag, kaum ein paar Schritte neben ihnen.
«Mag sein«, erwiderte der Gabelbart und hielt inne, um nach dem langen Anstieg zu Atem zu kommen.»Nichtsdestoweniger brauchen wir Zeit. Die Prinzessin erwartet ein Kind. Der khal wird sich nicht rühren, bis sein Sohn geboren ist. Ihr wißt, wie sie sind, diese Wilden.«
Der Mann mit der Fackel schob etwas. Arya hörte ein tiefes Rumpeln. Ein mächtiger Felsbrocken, rot im Fackelschein, glitt mit gewaltigem Rumpeln von der Decke herab, was sie fast aufschreien ließ. Wo der Eingang zum Brunnen gewesen war, fand sich jetzt nur noch Stein, fest und undurchdringlich.
«Wenn er sich nicht bald rührt, könnte es zu spät sein«, sagte der beleibte Mann mit der Stahlhaube.»Mittlerweile hat dieses Spiel nicht mehr nur zwei Spieler, falls dem jemals so gewesen sein sollte. Stannis Baratheon und Lysa Arryn haben sich meines Einflußbereiches entzogen, und die Flüsterer melden, sie sammelten Krieger um sich. Der Ritter der Blumen schreibt nach Highgarden, drängt seinen Hohen Vater, seine Schwester an den Hof zu schicken. Das Mädchen ist eine Jungfer von vierzehn Jahren, süß und hübsch und fügsam, und Lord Renly und Ser Loras wollen, daß Robert sie bettet, sie heiratet und zur neuen Königin macht. Littlefinger… allein die Götter wissen, welches Spiel Littlefinger spielt. Doch Lord Stark ist derjenige, der mir den Schlaf raubt. Er kennt den Bastard, er kennt das Buch, und bald schon wird er die Wahrheit erfahren. Und jetzt hat seine Frau Tyrion Lannister entführt, dank Littlefingers Einmischung. Lord Tywin wird es als Frevel aufnehmen, und Jaime Lannister ist von seltsamer Zuneigung für den Gnom getrieben. Falls die Lannisters gen Norden ziehen, wird das auch die Tullys auf den Plan rufen. Wartet, sagt Ihr. Beeilt Euch, gebe ich zurück. Nicht einmal der beste aller Jongleure kann hundert Bälle endlos in der Luft halten.«
«Ihr seid mehr als ein Jongleur, alter Freund. Ihr seid ein wahrer Magier. Ich bitte Euch nur, Eure Magie noch etwas länger arbeiten zu lassen. «Sie gingen den Korridor hinunter in die Richtung, aus der Arya gekommen war, an dem Raum mit den Ungeheuern vorüber.
«Was ich tun kann, will ich tun«, sagte der mit der Fackel leise.»Ich brauche Gold und noch einmal fünfzig Vögel.«
Sie ließ sie weit vorausgehen, dann schlich sie ihnen nach.
Leise wie ein Schatten.
«So viele?«Die Stimmen wurden schwächer, je dunkler das Licht vor ihr wurde.»Die Ihr braucht, sind schwer zu finden… so jung, ihre Briefe zu kennen… vielleicht ältere… sterben nicht so leicht.«
«Nein. Die Jüngeren sind sicherer… behandelt sie gut…«
«… falls sie ihre Zungen hüten…«»… das Risiko…«
Lange nachdem ihre Stimmen verklungen waren, konnte Arya noch das Licht der Fackel sehen, einen qualmenden Stern, der sie aufforderte, ihm zu folgen. Zweimal schien er zu verschwinden, doch ging sie weiter geradeaus, und beide Male fand sie sich am oberen Ende einer steilen, schmalen Treppe wieder, und die Fackel leuchtete weit unter ihr. Sie eilte ihr nach, tiefer und immer tiefer. Einmal stolperte sie über einen Stein, fiel gegen die Wand, und ihre Hand fand rauhe Erde, von
Holz gestützt, während der Tunnel mit Stein verkleidet gewesen war.
Es schien ihr, als wäre sie ihnen meilenweit nachgeschlichen. Schließlich waren sie verschwunden, doch konnte sie nur weiter vorangehen. Sie fand die Mauer wieder und folgte ihr, blindlings und ohne Orientierung, stellte sich vor, Nymeria tappte neben ihr durch die Finsternis. Am Ende stand sie knietief in faulig stinkendem Wasser, wünschte, sie hätte darauf tanzen können, wie Syrio es wohl vermochte, und fragte sich, ob sie wohl jemals wieder Licht sehen würde. Es war vollkommen dunkel, als Ayra schließlich in die Nachtluft hinaustrat.
Sie fand sich am Schlund eines Abwasserrohres wieder, wo sich dieses in den Fluß ergoß. Sie stank so furchtbar, daß sie sich auf der Stelle auszog und ihre schmutzigen Kleider am Ufer ablegte, um in die tiefen, schwarzen Fluten zu tauchen. Sie schwamm, bis sie sich sauber fühlte, und stieg zitternd heraus. Ein paar Reiter kamen vorüber, als Arya ihre Kleider wusch, doch falls sie das dürre, nackte Mädchen gesehen haben sollten, das dort im Mondlicht ihre Lumpen reinigte, dann schenkten sie ihr keine Beachtung.
Sie war meilenweit von der Burg entfernt, doch wo man in King's Landing auch sein mochte, mußte man nur aufblicken, wenn man den Red Keep auf Aegons Hügel suchte, so daß sie sich nicht verlaufen konnte. Ihre Kleider waren fast trocken, als sie zum Burgtor kam. Die Fallgitter waren unten und das Tor verriegelt, daher trat sie an eine Seitentür. Die Goldröcke, die dort Wache hielten, lachten höhnisch, als sie ihnen sagte, sie sollten sie einlassen.»Fort mit dir«, befahl ihr einer.»Die Küchenabfälle sind weg, und nach Einbruch der Dunkelheit wird hier nicht mehr gebettelt.«
«Ich will nicht betteln«, sagte sie.»Ich wohne hier.«
«Ich sagte: Fort mit dir! Brauchst du einen Knüppel ans Ohr,
damit du besser hörst?«
«Ich will zu meinem Vater.«
Die Wachen wechselten Blicke.»Ich würde die Königin gern selber ficken, wenn es irgend möglich wäre«, sagte der Jüngere.
Der Ältere zog ein finsteres Gesicht.»Wer soll denn dein Vater sein, Junge, der Rattenfänger?«
«Die Rechte Hand des Königs«, erklärte Arya.
Beide Männer lachten, dann schlug der Ältere mit der Faust nach ihr, beiläufig, wie man nach einem Hund schlagen würde. Arya sah den Hieb kommen, tänzelte zurück, wich aus, blieb unberührt.»Ich bin kein Junge«, zischte sie die Männer an.»Ich bin Arya Stark von Winterfell, und wenn Ihr mich anrührt, wird mein Vater Eure Köpfe auf Spieße stecken lassen. Wenn Ihr mir nicht glaubt, ruft Jory Cassel oder Vayon Poole vom Turm der Hand. «Sie stemmte ihre Fäuste in die Hüften.»Macht Ihr jetzt das Tor auf, oder braucht Ihr einen Knüppel ans Ohr, damit Ihr besser hört?«
Ihr Vater war allein im Solar, als Harwin und Fat Tom sie hereinführten, und eine Öllampe leuchtete matt an seinem Ellbogen. Er saß über das dickste Buch gebeugt, das Arya je gesehen hatte, einen mächtigen Wälzer mit eingerissenen, vergilbten Seiten von unleserlicher Schrift, gebunden zwischen zwei verwitterte Lederdeckel, doch schloß er es, um Harwins Meldung anzuhören. Seine Miene war ernst, als er die Männer mit Dank entließ.
«Bist du dir darüber im klaren, daß ich meine halbe Leibgarde auf die Suche nach dir geschickt habe?«erklärte Eddard Stark, als sie allein waren.»Septa Mordane ist außer sich vor Sorge. Sie ist in der Septe und betet für deine sichere Heimkehr. Arya, du weißt, daß du ohne meine Erlaubnis nicht jenseits der Burgmauern gehen darfst.«
«Ich bin nicht durchs Tor gegangen«, platzte sie heraus.»Na ja, ich hatte es nicht vor. Ich war unten im Verlies, aber das wurde zu einem Tunnel. Alles war dunkel, und ich hatte keine Fackel und keine Kerze, um sehen zu können, also mußte ich hinterher. Ich konnte nicht da zurück, wie ich reingekommen war, wegen der Ungeheuer. Vater, sie haben davon gesprochen, daß sie dich ermorden wollen! Nicht die Ungeheuer, die beiden Männer. Sie haben mich nicht gesehen, ich war still wie ein Stein und leise wie ein Schatten, aber ich habe sie gehört. Sie haben gesagt, du kennst das Buch und den Bastard, und wenn eine Hand sterben kann, wieso nicht auch die andere? Ist das dieses Buch? Ich wette, Jon ist der Bastard.«
«Jon? Arya, was redest du da? Wer hat das gesagt?«»Die haben es gesagt«, erklärte sie.»Da war ein Dicker mit Ringen und gelbem Gabelbart und ein anderer mit Kettenhemd und Stahlhelm, und der Dicke hat gesagt, sie müßten es verschieben, aber der andere sagte, er könnte nicht mehr jonglieren, und der Wolf und der Löwe würden einander fressen, und das alles wäre ein Mummenschanz. «Sie versuchte, sich an den Rest zu erinnern. Sie hatte nicht alles verstanden, was sie gehört hatte, und jetzt ging in ihrem Kopf alles durcheinander.»Der Dicke hat gesagt, die Prinzessin erwarte ein Kind. Der mit dem Stahlhelm, er hatte die Fackel, der hat gesagt, sie müßten sich beeilen. Ich glaube, er war ein Zauberer.«
«Ein Zauberer«, sagte Ned, ohne zu lächeln.»Hatte er einen langen, weißen Bart und einen hohen, spitzen Hut voller Sternchen?«
«Nein! Es war nicht wie in Old Nans Geschichten. Er sah nicht aus wie ein Zauberer, aber der Dicke hat gesagt, er wäre einer.«
«Ich warne dich, Arya, falls du dir das alles ausdenken solltest…«
«Nein, ich sag dir doch, es war im Verlies, da wo die geheime Mauer ist. Ich habe Katzen gejagt und, na ja…«Sie verzog das Gesicht. Wenn sie zugäbe, daß sie Prinz Tommen umgerannt hatte, wäre er wirklich böse auf sie.»… na ja, ich bin durch dieses Fenster gestiegen. Da habe ich die Ungeheuer gefunden.«
«Ungeheuer und Zauberer«, sagte ihr Vater.»Mir scheint, das alles war ein ziemliches Abenteuer. Diese Männer, die du belauscht hast, du sagtest, sie hätten vom Jonglieren und Mummenschanz gesprochen?«
«Ja«, räumte Arya ein,»nur…«
«Arya, es waren Mimen«, erklärte ihr Vater.»Im Moment gibt es sicher ein ganzes Dutzend von Truppen in King's Landing, die sich beim Turniervolk eine schnelle Münze verdienen wollen. Ich bin mir nicht ganz sicher, was diese beiden in der Burg getrieben haben, aber vielleicht hatte der König um eine Aufführung gebeten.«
«Nein. «Halsstarrig schüttelte sie den Kopf.»Sie waren keine.. «
«In keinem Fall solltest du den Leuten nachlaufen und sie belauschen. Ebensowenig gefällt mir die Vorstellung, daß meine Tochter streunenden Katzen durch fremde Fenster nachsteigt. Sieh dich an, meine Süße. Deine Arme sind voller Kratzer. Das alles geht schon viel zu lange. Sag Syrio Forel, daß ich mit ihm sprechen will…«
Er wurde von kurzem, plötzlichem Klopfen unterbrochen.»Lord Eddard, ich bitte um Verzeihung«, rief Desmond und öffnete die Tür einen Spalt weit,»aber hier ist ein schwarzer Bruder, der um eine Audienz bittet. Er sagt, die Angelegenheit sei dringend. Ich dachte, es würde Euch interessieren.«
«Der Nachtwache steht meine Tür stets offen«, sagte Vater.
Desmond ließ den Mann herein. Er hatte einen krummen Rücken und war häßlich, sein Bart ungekämmt und seine Kleider ungewaschen, doch begrüßte Vater ihn freundlich und
fragte nach seinem Namen.
«Yoren, wenn's beliebt, M'lord. Verzeiht die späte Stunde. «Er verbeugte sich vor Arya.»Und das muß Euer Sohn sein. Er sieht Euch ähnlich.«
«Ich bin ein Mädchen«, sagte Arya ärgerlich. Wenn der alte Mann von der Mauer kam, mußte er Winterfell passiert haben.»Kennt Ihr meine Brüder?«fragte sie aufgeregt.»Robb und Bran sind auf Winterfell, und Jon ist auf der Mauer. Jon Snow, auch er ist bei der Nachtwache, Ihr müßt ihn kennen, er hat einen Schattenwolf, einen weißen mit roten Augen. Ist Jon inzwischen Grenzwächter? Ich bin Arya Stark. «Der alte Mann sah sie seltsam an, doch schien es, als könnte Arya nicht aufhören zu reden.»Wenn Ihr wieder zur Mauer reitet, würdet Ihr Jon einen Brief mitnehmen, wenn ich einen schriebe?«Sie wünschte, Jon wäre in diesem Augenblick bei ihr. Er würde ihr glauben, das mit dem Verlies und dem dicken Mann mit seinem Gabelbart und dem Zauberer mit dem Stahlhelm.
«Meine Tochter vernachlässigt nur allzu oft ihre höfischen Umgangsformen«, sagte Eddard Stark mit einem milden Lächeln.»Ich bitte um Verzeihung, Yoren. Hat mein Bruder Benjen Euch geschickt?«
«Niemand hat mich geschickt, M'lord, abgesehen vom alten Mormont. Ich bin hier, um neue Männer für die Mauer aufzutreiben, und wenn Robert das nächste Mal Hof hält, will ich auf die Knie fallen, unsere Not herausschreien und sehen, ob der König und seine Hand vielleicht noch etwas Abschaum in den Verliesen haben, den sie am liebsten loswerden wollen. Allerdings könnte man sagen, daß wir hier wegen Benjen Stark reden. Sein Blut war schwarz. Dadurch wurde er mein Bruder, ebenso wie Eurer. Um seinetwillen bin ich gekommen. Bin hart geritten, habe fast mein Pferd gemordet, so habe ich es angetrieben, aber die anderen habe ich hinter mir gelassen.«
«Die anderen?«
Yoren spuckte aus.»Söldner und freie Ritter und ähnlicher Abschaum. Und nicht alle haben sich nach King's Landing aufgemacht. Einige sind nach Casterly Rock galoppiert, und das liegt näher. Lord Tywin dürfte die Nachricht inzwischen erhalten haben, darauf könnt Ihr bauen.«
Vater legte seine Stirn in Falten.»Welche Nachricht wäre das?«
Yoren warf Arya einen Blick zu.»Wir sollten lieber unter vier Augen sprechen, wenn Ihr mir den Vorschlag verzeihen wollt.«
«Wie Ihr meint. Desmond, geleite meine Tochter in ihre Gemächer. «Er küßte sie auf die Stirn.»Wir sprechen morgen früh weiter.«
Arya stand wie angewurzelt da.»Jon ist doch nichts Schlimmes geschehen, oder?«fragte sie Yoren.»Oder Onkel Benjen?«
«Nun, was Stark angeht, kann ich es nicht sagen. Dem jungen Snow ging es recht gut, als ich die Mauer hinter mir gelassen habe. Die sind es nicht, um die ich mich sorge.«
Desmond nahm ihre Hand.»Kommt mit, Mylady. Ihr habt Euren Hohen Vater gehört.«
Arya blieb nur, mit ihm zu gehen, und wünschte, es wäre Fat Tom gewesen. Mit Tom hätte sie vielleicht mit irgendeiner Ausrede noch an der Tür bleiben und hören können, was Yoren sagte, doch Desmond war zu unbeirrbar, als daß man ihn hereinlegen konnte.»Wie viele Gardisten hat mein Vater?«fragte sie, als sie zu ihrer Schlafkammer hinunterstiegen.»Hier in King's Landing? Fünfzig.«
«Ihr würdet nicht zulassen, daß jemand ihn ermordet, oder?«fragte sie.
Desmond lachte.»Darum braucht Ihr Euch keine Sorgen zu machen, kleine Lady. Lord Eddard wird bei Tag und Nacht bewacht. Ihm wird nichts geschehen.«
«Die Lannisters haben mehr als fünfzig Mann«, hielt Arya dagegen.
«Das mag schon sein, aber jeder Nordmann ist zehn dieser südländischen Streiter wert, also könnt Ihr ruhig schlafen.«
«Was wäre, wenn ein Zauberer geschickt würde, der ihn töten soll?«
«Nun, was das angeht«, erwiderte Desmond und zog sein Langschwert,»so sterben Zauberer wie alle anderen Menschen auch, wenn man ihnen erst den Kopf abschlägt.«