8. Kapitel


»Also hielt mich der Monitorarzt für einen Lügner«, fuhr Hewlitt fort, wobei er versuchte, seinen Zorn zu verbergen. »Selbst meine Eltern haben mir damals nicht geglaubt, obwohl ich mehrere Male versucht hatte, ihnen alles so zu erzählen, wie es sich wirklich abgespielt hatte … und Sie glauben mir ebensowenig.«


Braithwaite sah ihn einen Augenblick lang schweigend an und sagte dann: »So, wie Sie es mir eben gerade erzählt haben, kann ich auch verstehen, warum Ihnen niemand geglaubt hat. Der Monitoroffizier hatte sowohl in medizinischer als auch in anatomischer Hinsicht einleuchtende Gründe, um Sie für einen Lügner zu halten, und da die meisten Leute Ärzten vertrauen, haben auch Ihre Eltern eher ihm geglaubt als ihrem phantasievollen vierjährigen Sohn. Ich weiß nicht, wem oder was ich glauben soll, weil ich nicht dabeigewesen bin. Wahrheit kann auch eine sehr subjektive Angelegenheit sein. Ich gehe davon aus, daß Sie glauben, Sie würden die Wahrheit sagen, das ist aber nicht dasselbe, als wenn ich denken würde, daß Sie ein Lügner sind.«


»Sie bringen mich ganz schön durcheinander«, meinte Hewlitt. »Halten Sie mich etwa für einen Lügner und wollen es mir aber nicht direkt ins Gesicht sagen?«


Braithwaite ging auf die letzte Frage Hewlitts nicht ein und erkundigte sich seinerseits: »Haben Sie den anderen Ärzten auch von dem Unfall in der Schlucht erzählt?«


»Ja«, antwortete Hewlitt. »Allerdings habe ich ziemlich schnell damit aufgehört, es ihnen zu erzählen, denn keiner von denen war daran interessiert, sich mein Abenteuer anzuhören. Genauso wie Sie haben nämlich auch die Psychologen geglaubt, daß alles nur meiner Phantasie entsprungen sei.«


»Ich nehme an, daß Sie auch von allen gefragt wurden, ob Sie eine Abneigung gegen Ihre Eltern hegen oder nicht, und wenn ja, wie groß dieseAbneigung ist, richtig?« hakte Braithwaite lächelnd nach. »Sie müssen schon entschuldigen, aber diese Frage muß ich Ihnen einfach stellen.«


»Tja, das vermuten Sie ganz richtig, und glauben Sie mir, Sie vergeuden nur Ihre Zeit damit«, seufzte Hewlitt. »Natürlich gab es Augenblicke, wo ich meine Eltern nicht ausstehen konnte. Wenn sie zum Beispiel nicht das taten oder mir nicht das gaben, was ich wollte, oder wenn sie zu beschäftigt waren, um mit mir zu spielen, und ich statt dessen Schularbeiten machen mußte. So etwas passierte aber nicht sehr häufig und auch nur dann, wenn etwas Wichtiges anstand und beide zu beschäftigt waren. Meine Eltern gehörten dem Kulturkontaktamt an und waren beide beim Monitorkorps, aber sie trugen die Uniformen nur selten, da sie meistens von zu Hause aus arbeiteten. Trotzdem bin ich nie vernachlässigt worden. Meine Mutter war sehr nett, und ich konnte sie leicht herumkriegen, wenn ich etwas von ihr wollte. Mein Vater ließ sich nicht so einfach täuschen, aber dafür hatte ich mit ihm mehr Spaß. Normalerweise war immer wenigstens einer der beiden zu Hause, und wenn ich erst einmal die Hausaufgaben erledigt hatte, haben sie sich sehr viel Zeit für mich genommen, obwohl ich gar nicht genug davon kriegen konnte. Vielleicht lag es ja daran, daß ich irgendwie spürte, sie frühzeitig zu verlieren, und daß uns nicht mehr viel Zeit miteinander verbleiben würde. Ich habe sie wirklich sehr vermißt, und ich tue es immer noch.«


Hewlitt schüttelte den Kopf und versuchte auf diese Weise vergeblich, die Erinnerungen loszuwerden. »Ihre Kollegen kamen jedenfalls stets zu der Auffassung, ich hätte mich wie ein ganz normaler Vierjähriger verhalten: etwas egoistisch und nicht ganz aufrichtig eben.«


Braithwaite nickte verständig. »Dieses psychische Trauma, Mutter und Vater im Alter von vier Jahren verloren zu haben, kann dauerhaft seelische Störungen verursachen. Ihre Eltern sind doch bei einem Flugzeugunglück umgekommen, das Sie als einziger überlebt haben. Wie genau können Sie sich an den Unglücksfall erinnern? Was haben Sie damals empfunden, und wie sind Ihre Gefühle heute?«


»Ich kann mich an alles erinnern«, antwortete Hewlitt, wenngleich er sichwünschte, der Arzt würde endlich zu einem anderen, weniger schmerzhaften Thema übergehen. »Damals wußte ich noch nicht, was genau geschehen war. Später habe ich jedoch herausgefunden, daß wir uns auf dem Weg zu einer Konferenz befanden, die in einer Stadt auf der anderen Seite des Planeten stattfinden sollte. Als wir über ein Waldgebiet flogen, trat bei der Maschine eine verheerende Funktionsstörung auf. Wir befanden uns in eintausendfünfhundert Metern Höhe, benutzten also den Luftkorridor für kleinere Flugzeuge, und bevor wir gegen die Bäume krachten, müssen noch einige Minuten vergangen sein. Meine Mutter kletterte auf die Rücksitze, wo ich festgeschnallt war, und umklammerte mich schützend, während mein Vater versuchte, wieder die Kontrolle über das Flugzeug zu erlangen. Wir schlugen heftig auf. Durch den Boden und durch eine Seite des Rumpfs preßten sich dicke Äste hindurch. Ich fiel bei dem Aufprall in Ohnmacht. Als man uns am nächsten Tag fand, waren meine Eltern tot – und ich…? Nun, ich bin vollkommen unverletzt geblieben.«


»Da haben Sie aber unvorstellbares Glück gehabt«, sagte der Psychologe leise. »Das heißt, wenn man ein Kind, das gerade beide Eltern verloren hat, überhaupt als glücklich bezeichnen kann.«


Hewlitt antwortete nicht, und nach einer Weile fuhr Braithwaite fort: »Lassen Sie uns noch mal darauf zurückkommen, als Sie auf den Baum geklettert sind oder geglaubt haben, Sie seien hinaufgeklettert, und angeblich das Obst gegessen haben, von dem Sie nach eigener Aussage heftige Magenkrämpfe bekamen. Sind diese Symptome später, vor oder nach dem Flugzeugunglück noch mal aufgetreten?«


»Warum sollte ich Ihnen das erzählen, wenn Sie sowieso glauben, ich hätte mir das alles nur eingebildet?« schnaufte Hewlitt abfällig.


»Falls es Sie irgendwie tröstet, so bin ich mir immer noch nicht im klaren, was ich darüber denken soll«, besänftigte ihn Braithwaite.


»Also gut«, lenkte Hewlitt ein, wenngleich er das Gefühl hatte, daß sich diese Unterhaltung im nachhinein wieder einmal als pure Zeitverschwendung herausstellen dürfte. »Nachdem ich in die Schlucht gefallen war, wurde mirin den ersten vier Tagen zwar jedesmal übel, wenn ich etwas aß, aber nie so schlimm, als daß ich mich hätte übergeben müssen. Danach klang es immer mehr ab, bis es schließlich völlig vorbei war. Diese Übelkeit trat für kurze Zeit wieder auf, als ich zu meinen Großeltern auf die Erde zog, allerdings nehme ich an, daß das durch die andere Nahrung und die Art der Zubereitung hervorgerufen worden sein könnte. Weder auf Etla noch auf der Erde konnte für diese leichten Übelkeitsanfälle ein medizinischer Grund gefunden werden. Damals bekam ich auch zum ersten Mal den Spruch zu hören, daß der Krankheitsursache eine psychologische Komponente zugrunde liege. Jahrelang passierte dann gar nichts mehr. Nur einmal habe ich unter leichter Übelkeit gelitten, und zwar nachdem ich das erste Mal auf der Treevendar eine künstlich hergestellte Mahlzeit probiert hatte. Selbstverständlich habe ich mir das alles bloß eingebildet.«


Braithwaite ignorierte die sarkastische Bemerkung. »Würden Sie wirklich unbedingt wissen wollen, ob alles nur Ihrer Phantasie entsprungen ist, oder wäre es Ihnen lieber, wenn Sie nicht darüber Bescheid wüßten? Überlegen Sie genau, bevor Sie antworten.«


»Wenn ich mir wirklich etwas einbilden sollte, dann will ich natürlich nicht der einzige sein, der es nicht weiß«, zischte Hewlitt.


»In Ordnung. Wie gut können Sie sich denn an den Baum auf Etla erinnern, auf den Sie hinaufgeklettert sind, und daran, wie die Frucht aussah, die sie gegessen haben?«


»Gut genug, um ein Bild davon malen zu können, wenn ich das Talent zum Zeichnen hätte. Wollen Sie, daß ich es versuche?«


»Nein, das ist nicht nötig«, entgegnete der Psychologe. Dann lehnte er sich zur Seite, bis er die Tastatur des Kommunikators mit einer Hand erreichen konnte, und gab kurz ein paar Daten ein. Als der Bildschirm mit dem Symbol des Orbit Hospitals aufleuchtete, sagte er: »Bibliothek. Allgemeinwissen. Terrestrisch übersetzte Ausgabe in Wort und Bild. Thema: das ehemalige etlanische Imperium, der Planet Etla, Schwerpunkt Vegetation.«


»Bitte warten Sie«, meldete sich die unterkühlt und entsprechendunpersönlich klingende Stimme des Bibliothekscomputers.


»Ich habe nicht gewußt, daß ich mit dem Ding auch die Bibliothek empfangen kann«, sagte Hewlitt erstaunt. »Ich dachte immer, damit kann man nur mit dem Personalraum Kontakt aufnehmen oder die sogenannten Unterhaltungsprogramme abrufen.«


»Ohne den richtigen Zugangscode können Sie das auch nicht«, klärte ihn Braithwaite auf. »Falls Sie sich aber mal langweilen sollten und dort reinschauen möchten, könnte ich Ihnen vielleicht eine Genehmigung besorgen. Die Codes für die medizinische Bibliothek werden Sie allerdings nicht bekommen. Spielt zum Beispiel bei einer Krankheit Hypochondrie eine gewisse Rolle, dann sollte man den betreffenden Patienten nicht den Zugang zu einer praktisch unbegrenzten Anzahl von Symptomen erlauben.«


Hewlitt mußte unwillkürlich lachen: »Ich verstehe.«


Bevor Braithwaite antworten konnte, meldete sich erneut die Bibliotheksstimme: »Achtung! Die vorhandenen Daten über den Planeten Etla sind zur Zeit noch nicht ganz vollständig. Nach dem großangelegten Polizeieinsatz des Monitorkorps gegen das damalige etlanische Imperium und der anschließenden Aufnahme des Planeten als Mitglied der galaktischen Föderation vor siebenundzwanzig Standardjahren wurde aufgrund einer Periode sozialer Unruhen der Speicherung von Informationen über etlanische Botanik in der zentralen Datenbank nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Die politische Lage auf dem Planeten ist heute stabil. Die intelligente Lebensform der Einheimischen ist in die physiologische Klassifikation DBDG einzuordnen und nicht feindselig, so daß Besuche anderer Bürger der Föderation begrüßt werden. Bitte geben Sie den Bereich ein, für den Sie sich interessieren.«


Ein großangelegter Polizeieinsatz also, dachte Hewlitt. Folglich hatte ein erbitterter und glücklicherweise nur kurz andauernder interstellarer Krieg stattgefunden, der zwischen dem etlanischen Imperium und der Föderation ausgefochten worden war. Der Krieg brach damals aus, weil der Imperator seine Macht unter Beweis stellen mußte, um so die Aufmerksamkeit der Bevölkerung von den eigenen Unzulänglichkeitenabzulenken. Da die Aufgabe des Monitorkorps darin bestand, den Frieden der Föderation zu wahren, nicht aber Kriege zu führen, stellte sich die Reaktion dieses galaktischen Sektors auf die Invasion der Etlaner eher als ein Polizeieinsatz und weniger als ein Krieg dar. Die Tatsache, daß wieder Frieden und Stabilität auf den etlanischen Planeten eingekehrt waren, bedeutete natürlich auch, daß die Föderation gesiegt hatte.


»Die einheimische Flora auf Etla«, sagte Braithwaite und unterbrach Hewlitts Gedankengänge. »Insbesondere eine Liste von allen großen Obstbäumen, zehn Meter oder größer, die man in der gemäßigten Klimazone des Südens vorfindet. Jede Information bitte zwanzig Sekunden lang anzeigen, Ms nichts anderes gewünscht wird.«


Aus einem unerfindlichen Grund begann sich Hewlitt unwohl zu fühlen. Er sah Braithwaite an und öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch der Lieutenant deutete kopfschüttelnd auf den Bildschirm und fuhr fort: »Sie haben den Baum als sehr groß beschrieben, aber vielleicht sah er damals für Sie nur so groß aus, weil Sie noch ein kleines Kind waren. Deshalb habe ich mir gedacht, daß es besser ist, schon bei zehn Metern anzufangen.«


Hewlitt kam sich wie früher in der Schule beim Biologieunterricht vor, doch im Gegensatz zu damals fand er die nacheinander folgenden Abbildungen von Bäumen alles andere als langweilig. Die meisten davon hatte er noch nie zuvor gesehen. Er kannte weder die Form oder das Blattwerk noch das Obst, das sie trugen, während andere den großen Büschen ähnelten, die er außerhalb des Gartenzauns hatte wachsen sehen. Aber einer davon…


»Das ist er!« rief er.


»Information festhalten! Angaben über den Penissithbaum wiederholen und ausweiten«, sprach Braithwaite in den Kommunikator und sagte dann zu Hewlitt: »Er sieht tatsächlich aus wie der Baum, den Sie eben beschrieben haben. Kräftige, gewundene Äste an deren Enden vier dünnere Zweige wachsen, die die Früchte tragen. Und die Farbe, die das Blattwerk im Spätsommer annimmt, entspricht auch Ihrer Beschreibung, denn das wardie Zeit, in der Sie den Baum hinaufgeklettert sind. Bibliothek, Nahaufnahmen der Frucht wiederholen, die die jahreszeitlichen Wachstums- und Farbveränderungen zeigen.«


Für einige Minuten beobachtete Hewlitt, wie auf dem Bildschirm die Frucht und deren Wachstumszyklus dargestellt wurde, wie sie von einer grünen Knospe zu einer kleinen dunkelbraunen Kugel und dann zur völligen Reife heranwächst und eine Birnenform mit grünen und gelben Streifen annimmt. Die letzte Darstellung war ihm derart vertraut, daß er allein aufgrund der Erinnerungen an die Magenkrämpfe von damals ein derartig schmerzhaftes Stechen verspürte und es dadurch versäumte, dem zwar langweilig vorgetragenen, aber dennoch wichtigen Wortbeitrag des Bibliothekscomputers zuzuhören.


»Das ist die Frucht«, bekräftigte er erneut. »Eindeutig. Glauben Sie mir jetzt?«


Braithwaite schüttelte den Kopf auf eine Weise, die Verwirrung und Verneinung zugleich auszudrücken schien, dann erst antwortete er: »Jetzt fällt mir nur ein weiterer Grund ein, weshalb Ihnen dieser Monitorarzt damals nicht geglaubt hat. Anscheinend haben Sie eben nicht zugehört. Dieser Baum trägt nämlich erst Früchte, wenn er eine Größe von fünfzehn bis zwanzig Metern erreicht hat, und das Obst hängt nur an den obersten Zweigen. Falls der Baum, auf dem Sie sich als vierjähriger Junge befunden haben, über eine Schlucht hinausragte, und wenn Sie wirklich von einem der obersten Äste runtergefallen sind, dann hätten Sie sich Dir kleines Genick brechen müssen. Statt dessen sind Sie aber ohne einen Kratzer davongekommen.


Ich könnte mir durchaus vorstellen, daß der Sturz durch die unteren Zweige abgebremst wurde oder daß Sie in einen dichten Busch gefallen sind, bevor Sie am Rande der Schlucht aufschlugen und hinunterrollten. Es sind schon viel seltsamere Unfälle als dieser passiert, was auch erklären würde, weshalb eine intelligente und offensichtlich ausgeglichene Person wie Sie an dieser unglaublichen Geschichte festhält. Nach Ihren eigenen Erzählungen haben Sie ja von den Früchten gegessen, und deshalb hörenSie jetzt gut zu, was der Computer dazu zu sagen hat, Patient Hewlitt.«


In der Stille klang die ruhige und unpersönliche Stimme des Bibliothekscomputers sehr klar und beinahe etwas zu laut.


»… während die Frucht heranreift«, erläuterte die Stimme, »saugt der schwammige Inhalt den ganzen Saft auf und wächst dann so lange heran, bis er den Fruchtkörper ausfüllt, dessen gestreifte Schale vor dem Herabfallen vom Baum zäh und dehnbar wird. Wenn die mit dem dickflüssigen, schwammigen Inhalt gefüllte Frucht auf den Boden fällt, springt oder rollt sie ein paar Meter weiter, bis chemische Sensoren in der Außenhaut einen geeigneten Boden für die Keimung anzeigen, woraufhin sich die Schale an der Stelle zersetzt, die den Boden berührt, um den flüssigen Inhalt freizugeben und auszusäen. Danach setzt ein langsamer Fäulnisprozeß der Frucht ein. Dies hat zum einen den Zweck, daß das verfaulende, schwammige Fruchtfleisch am Anfang das Wachstum der Samen fördert, während zum anderen der Saft das umliegende Erdreich durchdringt und konkurrierenden Pflanzenwuchs hemmt oder abtötet.


Vorsicht! Die Frucht des Penissithbaums ist hochgiftig, sowohl für alle uns bekannten warmblütigen Sauerstoffatmer sämtlicher physiologischer Klassifikationen als auch für alle auf Etla existierenden einheimischen Lebensformen. Es wurde untersucht, ob die Inhaltsstoffe, in geringen Mengen dosiert, von medizinischem Nutzen sein könnten, jedoch ohne Erfolg. Würden von einem Wesen mit der durchschnittlichen Körpermasse eines erwachsenen Orligianers, Kelgianers oder Terrestriers nur zwei Milliliter des Fruchtsaftes eingenommen werden, würde das sofort zu dessen Bewußtlosigkeit und innerhalb einer Standardstunde zum Exitus führen. Dieselbe Wirkung würden drei Milliliter bei einem Hudlarer oder einem Tralthaner auslösen. Dieser Vorgang ist unumkehrbar, da kein Gegenmittel bekannt ist… «


»Danke, Bibliothek«, sagte Braithwaite mit ruhiger Stimme und ausdruckslosem Gesicht, allerdings schlug er so heftig auf den Ausschaltknopf des Kommunikators, als wäre dieser sein Todfeind. Danach blickte der Lieutenant Hewlitt eine ganze Weile an, ohne auch nurein einziges Mal zu blinzeln. Nach Hewlitts fester Überzeugung würde gleich genau das passieren, was ihm auf seinem langen Leidensweg schon so oft widerfahren war; daß ihm nämlich ein Arzt sagen würde, er bilde sich das alles nur ein. Um so erstaunter war er, daß sich die Stimme des Psychologen eher neugierig als ungläubig anhörte, als Braithwaite in ruhigem Ton sagte:


»Nur wenige Tropfen dieses Penissithsafts töten einen voll ausgewachsenen Menschen, und Sie sind ein vierjähriges Kind gewesen, das den Inhalt einer ganzen Frucht ausgesaugt hat. Können Sie sich das erklären, Patient Hewlitt?«


»Sie wissen ganz genau, daß ich das nicht kann.«


»Nun, ich kann es mir auch nicht erklären«, meinte der Lieutenant.


Hewlitt atmete tief ein und langsam wieder aus, bevor er sich zu sprechen traute. »Ich habe jetzt über vier Stunden mit Ihnen geredet, Lieutenant. Bestimmt ist das lange genug für Sie, um feststellen zu können, ob ich ein Hypochonder bin oder nicht. Bitte sagen Sie es mir ganz offen und ehrlich und ohne falsche Rücksichtnahme.«


»Nun, zumindest will ich es versuchen«, antwortete der Psychologe und seufzte schwer. »Sie sind kein einfacher Fall. Es gibt Episoden in Ihrer Kindheit, die im späteren Leben zu schwerwiegenden seelischen Störungen geführt haben könnten, doch habe ich bis jetzt keine Anzeichen einer anhaltenden psychischen Schädigung entdecken können… Ihre Persönlichkeit ist in sich ausgewogen, Ihre Intelligenz ist überdurchschnittlich hoch, und Sie scheinen Ihre anfängliche Fremdenfeindlichkeit einigermaßen überwunden zu haben. Abgesehen davon, daß Sie überempfindlich sind und ständig in die Defensive gehen, weil Ihnen bis jetzt niemand geglaubt hat, daß Ihnen etwas fehlt… «


»Bis jetzt?« unterbrach ihn Hewlitt. »Heißt das, daß Sie mir zu glauben beginnen?«


Braithwaite überhörte die Frage und fuhr fort: »Für einen Hypochonder, der sich, wie wir wissen, aufgrund seelischer StörungenKrankheitssymptome einbildet, ist Ihr Benehmen jedenfalls alles andere als typisch. Vielleicht ist es das Bedürfnis, Aufmerksamkeit oder Mitleid zu erregen, oder es liegt daran, daß Sie ein tiefsitzendes psychisches Problem oder Ereignis verdrängen wollen, vor dem Krankheit anscheinend den einzigen vermeintlichen Schutz bietet. Falls letzteres zutrifft und Sie in der Lage sind, irgendwelche Ereignisse für den Rest des Lebens vor sich selbst und auch vor mir zu verbergen, obwohl wir uns vier Stunden lang unterhalten haben, dann muß das, was vorgefallen ist, dermaßen schrecklich gewesen sein, daß es bei Ihnen bewirkt hat, es vollkommen zu vergessen. Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, daß Sie irgend etwas in dieser Richtung vor mir verheimlichen. Genausowenig kann ich glauben, daß Sie die Penissithfrucht gegessen haben oder von diesem Baum gefallen sind. Ihr damaliger Ausflug hatte nämlich nicht nur ein unglaublich glückliches Ende genommen, darüber hinaus sind Sie auch noch wie durch ein regelrechtes Wunder völlig unversehrt davongekommen!«


Erneut blickte Braithwaite Hewlitt eine scheinbar unendlich lange Zeit an, dann fuhr er fort: »Die ärztliche Zunft tut sich im Umgang mit wundersamen Begebenheiten sehr schwer, und ehrlich gesagt, schließe ich mich da durchaus nicht aus. Das ist Liorens Fachgebiet. Wenngleich selbst der Padre seine Probleme damit hat, denn er meint, Wunder seien durch die Fortschritte der Medizin mittlerweile längst veraltet. Glauben Sie an Wunder?«


»Nein!« widersprach Hewlitt energisch. »Ich glaube an gar nichts.«


»In Ordnung, wenigstens schließt das schon mal diesen einen psychischen Faktor aus. Trotzdem gibt es einen weiteren, den wir ausschließen sollten, nämlich Ihre zumindest bis vor kurzem noch vorhandene Fremdenfeindlichkeit. Sie könnte durch einen Vorfall ausgelöst worden sein, bei dem ein Extraterrestrier Sie so verängstigt hat, daß Sie sich unterbewußt weigern, sich daran zu erinnern. Diesbezüglich würde ich gerne einen Test mit Ihnen durchführen.«


»Kann ich einen solchen Test überhaupt ablehnen?« erkundigte sich Hewlitt.»Sie müssen verstehen, daß das hier keine psychiatrische Klinik ist«, fuhr Braithwaite fort, ohne auf Hewlitts Frage einzugehen. »Meine Abteilung ist für die Aufrechterhaltung der geistigen Gesundheit eines Mitarbeiterstabs zuständig, der sich aus über sechzig verschiedenen Spezies zusammensetzt, und wir müssen dafür sorgen, daß dieser Haufen glücklich und zufrieden ist und sich niemand mit dem anderen in die Haare kriegt, und damit haben wir mehr als genug zu tun. Der Test wird mir bei der Entscheidung helfen, ob ich Sie wieder Medalont für weitere medizinische Untersuchungen überlasse oder ob ich eine Überweisung in eine psychiatrische Einrichtung auf der Erde empfehle.«


Erneut wallten in Hewlitt Zorn und Verzweiflung auf. Von dem führenden Krankenhaus der galaktischen Föderation hatte er etwas Besseres erwartet. »Und was genau haben Sie mit mir vor?« erkundigte, er sich mit griesgrämiger Miene.


»Das kann ich Ihnen nicht verraten«, antwortete Braithwaite mit einem vielsagenden Lächeln. »Es dürfte allerdings unangenehm für Sie werden, zwar nicht lebensgefährlich, aber der Test wird mit einem hohen Maß an Stress verbunden sein. Doch werde ich zu verhindern versuchen, daß die Dinge außer Kontrolle geraten.«


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