14. Kapitel



Die morgendliche Visite fiel sowohl verkürzt als auch unvollständig aus. Zum einen wurde Chefarzt Medalont nicht von der üblichen Gruppe Auszubildender, sondern lediglich von Oberschwester Leethveeschi begleitet, und zum anderen suchten die beiden nur die schwerkranken Patienten auf, wobei sie die längste Zeit an Morredeths Bett verbrachten, das nach wie vor von Sichtblenden und dem schalldichten Feld umgeben war.


Sie verweilten immer noch dort, als Horrantor und Bowab bereits auf dem Weg zum Waschraum waren und bei dieser Gelegenheit vor Hewlitts Bett stehenblieben. Der Duthaner ergriff als erster das Wort.


»Wir haben heute keine Lust, Scremman zu spielen«, sagte er. »Anscheinend weiß hier niemand genau, was Morredeth zugestoßen ist. Ich habe versucht, es von einer Krankenschwester zu erfahren, aber Sie kennen ja diese kelgianischen Plagegeister – entweder erzählen sie einem gleich die ganze Wahrheit über Gott und die Welt, oder sie schweigen wie ein Grab. Haben Sie eine Ahnung, was mit ihr passiert ist?«


Hewlitt fühlte sich immer noch mitschuldig an dem Vorfall, und er hätte lieber nicht darüber gesprochen. Diese beiden waren jedoch Morredeths Freunde oder zumindest während des Aufenthalts hier im Hospital ihre Leidensgenossen, so daß sie das Recht hatten, informiert zu werden. Zwar wollte er sie nicht anlügen, doch als Nichtkelgianer konnte er die Wahrheit wenigstens etwas zurechtstutzen.


»Naja, es gab einen Notfall«, setzte er vorsichtig an. »Die Schwester hat das Reanimationsteam gerufen und gesagt, Morredeths habe einen Stillstand beider Herzen. Als das Team eintraf, ist sofort ein schalldichtes Feld um das Bett errichtet worden, so daß ich keine Ahnung habe, was danach geschehen ist.«


»Wir müssen die ganze Nacht durchgeschlafen haben«, sagte Horrantor. »Die hudlarische Schwester ist doch eigentlich sehr nett und unterhält sichauch recht gern. Vielleicht erzählt sie uns, was los ist, wenn sie heute abend ihren Dienst antritt …« – sie hielt hme und deutete in Richtung des Personalraums. »Jetzt schauen Sie doch mal, wer da gerade mit Padre Lioren die Station herunterkommt … Thornnastor höchstpersönlich! Was macht der denn hier?«


Das besagte Wesen gehörte derselben Spezies wie Horrantor an, hatte aber einen kräftigeren Körperbau. Außerdem wies die Haut viel mehr Falten auf, und Thornnastor ging natürlich auf sechs anstatt auf fünf Beinen. Horrantors Frage beantwortete sich von selbst, als die beiden auf der Höhe von Morredeths Bett stehenblieben und hinter den Sichtblenden verschwanden. Eine kelgianische Schwester, die einen G-Schlitten mit geöffneter Kuppel lenkte, traf einige Minuten später ein und folgte ihnen.


»Da drinnen muß es jetzt ziemlich eng zugehen«, merkte Horrantor überflüssigerweise an.


Sie erhielt keine Antwort, und das Schweigen zog sich in die Länge.


Um den Gedanken zu verdrängen, daß Morredeth jetzt mit unbeweglichem Fell auf dem Bett lag, fragte Hewlitt: »Wer ist denn dieser Thornnastor?«


»Wir haben Thornnastor zwar selbst auch noch nie kennengelernt«, antwortete Horrantor, »aber das muß er sein, denn er ist der einzige Tralthaner im Orbit Hospital, der berechtigt ist, das Abzeichen eines Diagnostikers zu tragen. Wie ich gehört habe, verläßt er in seiner Funktion als Chefpathologe nur selten das Labor und sieht die Leute normalerweise erst dann, wenn sie bereits tot oder zumindest in kleine Stücke zerhackt sind.«


»Horrantor!« empörte sich Bowab. »Sie haben soviel Taktgefühl wie eine betrunkene Kelgianerin.«


»Tut mir leid, vielleicht habe ich mich etwas unsensibel ausgedrückt«, entschuldigte sich die Tralthanerin. »Sehen Sie nur, sie kommen schon wieder heraus!«


Die kelgianische Schwester tauchte zuerst auf und wogte in Richtung desStationseingangs, wobei sie den G-Schlitten lenkte, dessen Kuppeldach nun geschlossen war. Thornnastor, Medalont und Leethveeschi folgten ihr. Die Sichtblenden verschwanden in den Deckenschlitzen und gaben so den Blick auf Lioren frei, der mit seinen vier Augen auf das leere Bett starrte. Als er sich kurz darauf in Bewegung setzte, folgte er aber nicht den anderen.


»Er kommt direkt auf uns zu«, stellte Bowab mit einem alles andere übertönenden Knurren fest, das bei Duthanern bereits als Flüstern gilt. »Ich glaube fast, er schaut die ganze Zeit in Ihre Richtung, Hewlitt.«


Lioren blickte Hewlitt weiterhin mit zwei seiner Augen an, während er näherkam, bis er schließlich an seinem Bett stehenblieb. Die anderen beiden richtete er auf Bowab und Horrantor, als er sagte: »Entschuldigen Sie bitte die Störung, meine Freunde, aber wäre es Ihnen recht, wenn ich mich jetzt mit Patient Hewlitt allein unterhalte?«


»Natürlich, Padre«, antwortete Horrantor, und Bowab fügte hinzu: »Wir wollten sowieso gerade gehen.«


Lioren wartete, bis sie sich zurückgezogen hatten, und sagte dann: »Ich hoffe, daß es auch Ihnen recht ist. Oder haben Sie etwas dagegen, sich jetzt mit mir zu unterhalten?«


Hewlitt zögerte mit der Antwort; schließlich war es das erste Mal, daß er den Padre aus nächster Nähe zu sehen bekam, und trotz der Informationen, die er sich aus der Bibliothek eingeholt hatte, war er beileibe nicht auf die Realität vorbereitet. Die Tarlaner gehörten der physiologischen Klassifikation DRLH an – einer aufrecht gehenden Lebensform, deren spitz zulaufender kegelförmiger Körper von vier Beinen getragen wurde. In Taillenhöhe befanden sich vier lange, mehrgelenkige Mittelarme zum Heben und Tragen. Vier Vorderarme, die sich eher für feinmotorische Arbeiten eigneten, umgaben den Halsansatz. Die vier Augen, die gleichmäßig um den Kopf herum verteilt waren, konnten unabhängig voneinander bewegt werden. Ein erwachsener Tarlaner wurde in der Regel zweieinhalb Meter groß, aber Liorens Größe und Körpermasse ragten weit über den Durchschnitt hinaus. Aus der Nähe betrachtet, bot der Padre einen ziemlicheinschüchternden Anblick, und nach den Ereignissen der letzten Nacht war sich Hewlitt nicht sicher, ob Lioren noch gut auf ihn zu sprechen war. Statt einer Antwort stellte er schließlich eine Gegenfrage, um die sich bei ihm in den letzten sechs Stunden sowieso alles gedreht hatte.


»Was ist mit Morredeth passiert?«


Aufgrund der absurd anmutenden spiralförmigen Kopfform des Tarlaners war dessen Gesichtsausdruck genausowenig zu deuten wie der eines Hudlarers, als er antwortete: »Wir wissen nicht, was mit Morredeth passiert ist, aber es geht ihr jetzt gut, und sie ist von ihren Leiden befreit.«


Berücksichtigte man Liorens Beruf und Morredeths erst kürzlich frei gewordenes Bett, dann waren das genau jene trostspendenden Worte, die man von einem Geistlichen erwarten würde, wenn er mit einem trauernden Verwandten oder Freund gesprochen hätte. Und es waren genau jene Worte, die Hewlitt nicht zu hören gehofft hatte.


Als der Padre mit einer der mittleren Hände nach vorn griff, um den Projektor für das schalldichte Feld einzuschalten, verstummten die betriebsamen Geräusche auf der Station. Zwar hatte Hewlitt keine Ahnung, welche Gesichtsöffnung der Tarlaner zum Sprechen benutzte, aber seine Stimme klang ruhig und freundlich, als er fortfuhr: »Meiner Meinung nach kommen drei Leute in Betracht, die eine unterschiedlich hohe Verantwortung für das tragen, was Patientin Morredeth zugestoßen ist, und zwar sind das die hudlarische Schwester, ich selbst und Sie. Als erstes würde ich mich gern über Ihre Beteiligung unterhalten.«


Bevor Hewlitt etwas erwidern konnte, fuhr der Padre fort: »Die Hudlarerin hat Ihnen ja bereits erklärt, daß Ihre ganze Unterhaltung aufgenommen und Ihrer Krankenakte für spätere Studien beigefügt wurde. Aufgrund der ungewöhnlichen Beschaffenheit Ihres Falls ist dies ohne Ihr Wissen und Ihre Zustimmung geschehen. Medalont hielt es für besser, Sie darüber in Unkenntnis zu lassen, weil Sie sich dann ungehemmter ausdrücken und Ihre Aussagen in medizinischer Hinsicht um so wertvoller sein würden, wenngleich das meiste des aufgezeichneten Materials wahrscheinlich nutzlos sein dürfte. Jetzt wissen Sie, daß alles, was Siegesagt haben, aufgenommen worden ist. Ich bin jedoch weniger daran interessiert, was Sie während dieses Gespräches über sich gesagt haben, als an Ihrer emotionalen Reaktion auf Patientin Morredeths Verletzung. Sind Sie über ihre äußerliche Verunstaltung eigentlich sehr bestürzt gewesen? Und sind Sie überhaupt bereit, mit mir darüber zu sprechen?«


Hewlitt entspannte sich allmählich. Eigentlich hatte er von Lioren ein Art Standpauke erwartet, aber wahrscheinlich mußte er sich als Krankenhauspfarrer mit kritischen Äußerungen ein wenig zurückhalten.


»Ja, erwarten Sie aber nicht zu viel, Padre«, antwortete er nach einer kurzen Pause. »Ich empfinde gegenüber Morredeth keine besonders stark ausgeprägten Gefühle, sondern eher so etwas wie Mitleid, wie man es auch einer entfernten Bekannten entgegenbringt. Als ich erfahren habe, welch enorme Probleme ihr das beschädigte Fell bereitet, habe ich lediglich versucht, ihr ein wenig zu helfen, indem ich über meine Probleme geredet habe, die ich in erster Linie als Jugendlicher gehabt hatte. Doch anscheinend muß ich etwas Falsches gesagt haben.«


»Nun, in einer emotional stark angespannten Situation haben Sie immerhin versucht, das Richtige zu sagen«, meinte Lioren. »Einiges von dem, was Sie gesagt haben, war sogar … Ist Ihr Problem, das Sie mit Morredeth besprochen haben, eigentlich behoben oder nicht? Ihrer Krankengeschichte habe ich nämlich entnommen, daß Sie bis heute noch nie eine Lebensgefährtin gehabt haben und auch keine kurzfristigen Beziehungen eingegangen sind.«


Erstaunt darüber, weshalb dieses Gespräch von Morredeths Problemen plötzlich auf seine eigenen gelenkt wurde, antwortete Hewlitt: »Nein, das Problem ist nicht behoben. Ich fühle mich in weiblicher Gesellschaft immer noch nicht wohl, obwohl ich mich von Frauen angezogen fühle und meine erste körperliche Reaktion ganz normal ist. Ich fürchte mich davor, daß wieder solch eine peinliche Situation auftreten könnte, die übrigens für beide Partner unangenehm wäre, und vor demnachfolgenden Kummer, der sich statt des intensiven Hochgefühls einstellt, das man normalerweise nach dem Beischlaf empfindet. So etwas möchte ich auf keinen Fall noch einmalerleben… Warum möchten Sie das überhaupt wissen? Wollen Sie damit in irgendeiner Weise mein Verhalten kritisieren? Halten Sie das Ganze eher für eine moralische oder für eine medizinische Frage?«


»Es ist eine medizinische Frage«, antwortete Lioren, ohne zu zögern. »Aber wenn die Angelegenheit Sie in dem Maße plagt, daß Sie geistlichen Rat oder Trost in Anspruch nehmen möchten, dann lassen Sie es mich bitte wissen. Ich besitze umfassende Kenntnisse über die Grundsätze und Überzeugungen der am häufigsten vertretenen Religionen in der Föderation, so daß ich Ihnen vielleicht helfen kann. Wenn Sie irgendwelche religiösen Überzeugungen haben, dann würde mich das sehr interessieren. Sollten Sie keine haben, brauchen Sie sich auch keine Sorgen zu machen – ich habe nämlich nicht vor, zu predigen oder irgendwelche Glaubenslehren zu verbreiten.


Unter anderem habe ich mich nach Ihrem Problem erkundigt, weil ich über einige Erfahrung auf dem medizinischen Sektor verfüge. Ich praktiziere zwar selbst nicht mehr als Arzt, aber manchmal macht es mir einfach Spaß, meine ehemaligen Kollegen im Nachhinein zu kritisieren. Ich denke, daß so etwas schlimmstenfalls ein verzeihlicher Verstoß ist, eine kleine Sünde übertriebenen Stolzes. Und wer bin ich, daß ich es mir erlauben könnte, ein anderes Wesen zu kritisieren, weil es das ehelose Leben bevorzugt? Auf jeden Fall…«


»Entschuldigen Sie, Padre«, unterbrach ihn Hewlitt, »aber ich fühle mich heute morgen nicht besonders aufnahmefähig. Was genau wollen Sie eigentlich von mir wissen?«


Lioren gab ein tiefes, glucksendes Geräusch von sich, das nicht übersetzt wurde, und entgegnete dann: »Alles, was Sie mir freiwillig erzählen möchten. Was Ihre… ahm… verlängerte Pubertät angeht, die Sie noch immer zu beschäftigen scheint, so ist dieses Thema durch Ihre aufgezeichnete Unterhaltung mit Morredeth bereits ausführlich behandelt worden. Also sollten wir es vorläufig abhaken. Statt dessen würde ich gerne wissen, ob es in Ihrem Leben auch andere Ereignisse gegeben hat, die Sie in körperlicher, seelischer oder religiöser Hinsicht bekümmerthaben, auch wenn diese von Ihren früheren Ärzten als zu unwesentlich oder nebensächlich betrachtet wurden, um sie in Ihre Krankenakte aufzunehmen. Können Sie sich an irgendwelche Vorfälle dieser Art erinnern?«


»Wenn sie nicht in meiner Krankenakte festgehalten worden sind, dann habe ich sie vielleicht vergessen anzugeben«, antwortete Hewlitt. »Außerdem habe ich eigentlich schon damals die schlechte Angewohnheit gehabt, mich unentwegt lauthals zu beklagen, sobald ich annahm, daß mit mir etwas nicht stimmte.«


Lioren schwieg für einen Augenblick. Er schien sich unbehaglich zu fühlen und betrachtete Hewlitt mit allen vier Augen, als er schließlich sagte: »Sie sind schon ein sehr eigenartiger Fall, Patient Hewlitt. Nachdem wir uns mit Ihren aufgezeichneten Gesprächen mit Medalont, Braithwaite, der hudlarischen Schwester und Ihren drei kartenspielenden Freunden beschäftigt haben und insbesondere mit der Sensibilität, die sie bei der Unterhaltung mit Morredeth vergangene Nacht unter Beweis gestellt haben, sind wir zu dem Entschluß gekommen, daß bei Ihnen vom Verstand her eigentlich alles in bester Ordnung ist. Bedenkt man, welche mentalen Folgen Ihr ewiger Streit mit der ärztlichen Zunft bei Ihnen hinterlassen haben muß, dann verfügen Sie über eine äußerst stabile und in sich geschlossene Persönlichkeit. Sollte Ihr Problem tatsächlich eine psychische Komponente haben, was wir allmählich glauben, dann muß sie so tief vergraben sein, daß wir nicht in der Lage sind, sie aufzuspüren.«


»Ich habe immer wieder daraufhingewiesen, daß ich mir das alles nicht einbilde und…«, warf Hewlitt ein, doch Lioren sprach weiter, als ob Hewlitt nichts gesagt hätte.


»Außerdem sind Sie ein außerordentlich gesundes Exemplar eines terrestrischen DBDGs. Abgesehen von dem unerklärlichen Herzstillstand am Abend Ihrer Ankunft, haben Ihre Sensoren seit Ihrer Einlieferung stets optimale medizinische Werte angezeigt. Die gegenwärtige leichte Abschwächung Ihrer Lebenszeichen führen wir auf Ihre schlaflose Nacht zurück, in der Sie sich, dessen bin ich mir sicher, hauptsächlich Gedanken über Morredeth gemacht haben.«»Also verfüge ich über einen gesunden Verstand, der im Körper eines Supermanns steckt«, merkte Hewlitt spöttisch an, ohne ein Hehl aus seinem aufflammenden Zorn zu machen, denn offenbar wollte man ihn, wie schon so oft in der Vergangenheit, wieder einmal vorzeitig als ›einen etwas untypischen Simulanten‹ aus dem Krankenhaus entlassen. »Vielen Dank auch, daß Sie mir diese Tatsache zum hundertsten Mal bestätigen, Padre. Worum geht es Ihnen eigentlich? Was genau soll ich Ihnen denn erzählen?«


Der Tarlaner beugte sich über das Bett und öffnete den Mund. Zum ersten Mal sah Hewlitt Liorens riesige Zähne und spürte dessen Atem im Gesicht. Er war stolz auf sich; denn anstatt panikartig den Raum zu verlassen, blieb er ruhig im Bett liegen. Im Orbit Hospital schien man sich mit der Zeit an alles und jeden zu gewöhnen.


»Das weiß ich selbst nicht so genau«, antwortete der Padre. »Irgendwas. Am besten alles. Am liebsten etwas, das es mir ermöglicht, mich an dem Problem – wie Sie es als Terrestrier auszudrücken pflegen – so richtig festzubeißen.«


»Und das mit Ihren Zähnen?« platzte es Hewlitt automatisch heraus, wobei er entsetzt auf den offenen Mund des Tarlaners starrte. Dann lachte er verkniffen und fuhr fort: »Na ja, wo wir schon davon sprechen: Ich hatte tatsächlich Probleme mit meinen Zähnen, und zwar als kleines Kind auf Etla, das war allerdings nur halb so schlimm. Ich war damals sieben Jahre alt, als die ersten Milchzähne locker wurden, doch die ersten beiden neuen Zähne wollten nicht richtig nachwachsen, da sich die alten anscheinend strikt weigerten herauszukommen. Ich hatte zwar Zahnschmerzen, aber als Kind machte ich mir natürlich mehr Sorgen darum, von der Zahnfee keine Belohnung zu bekommen, wenn sie während der Nacht keine herausgefallenen Zähne auf meinem Kissen finden würde. Kennen Sie eigentlich den terrestrischen Brauch mit der Zahnfee? Na, ich werde Ihnen vielleicht später mehr davon erzählen. Als der dritte neue Zahn kam und sich der alte ebenfalls standhaft weigerte herauszufallen, verlor der Zahnarzt die Geduld und zog alle drei alten Zähne auf einmal heraus. Danach bereiteten sie mir keine Probleme mehr, und das Geld der Zahnfee lag, wienicht anders zu erwarten war, auf meinem Kopfkissen. Aber ich glaube nicht, daß diese Zahngeschichte von Belang ist.«


»Wer weiß schon, welche Informationen für Ihren Krankheitsfall letztendlich verwertbar sind?« merkte der Padre an. »Trotzdem stimme ich Ihnen diesbezüglich zu. Gibt es vielleicht noch andere nicht aufgezeichnete und Ihrer Ansicht nach völlig unwesentliche Begebenheiten, an die Sie sich erinnern können?«


Je länger Hewlitt redete, desto besser konnte er sich an einige Vorkommnisse erinnern, von denen einige sogar zu seinem großen Erstaunen in seiner Krankenakte festgehalten worden waren. Der Rest war eine langweilige Aufzählung all der Hautausschläge, die man als Kind und Jugendlicher erleidet, sowie diverser Verletzungen, die er sich in der Schule oder zu Hause zugezogen hatte. Natürlich hatte er sich einige Male in den Finger geschnitten, sich den Kopf gestoßen oder sich die Knie aufgeschlagen, aber nie war etwas Ernsthaftes oder Langwieriges dabeigewesen. Die Schnittwunden und Abschürfungen waren stets im Nu verheilt, selbst wenn die eine oder andere Wunde zunächst so schlimm ausgesehen hatte, als hätte sie sofort genäht werden müssen.


»Als ich jung war, mochte ich keine Ärzte, weil sie darauf bestanden, mir Medikamente zu verschreiben, nach deren Einnahme es mir immer nur schlechter anstatt besser ging«, fuhr er fort. »Zuerst befürchtete ich, daß Medalont genauso vorgehen wollte, doch hat er mir zu meiner großen Verwunderung überhaupt keine Medikamente verschrieben, und mit Ausnahme des Herzstillstands in der ersten Nacht habe ich bislang keinerlei Beschwerden gehabt. Soll ich weitererzählen, Padre? Sind das ungefähr die Informationen, die Sie von mir haben wollen?«


»Ich weiß selbst nicht genau, was ich wissen will und wonach ich suche, ja noch nicht einmal, ob ich einen wichtigen Anhaltspunkt sofort als solchen erkennen würde, wenn ich auf ihn stoße, Patient Hewlitt«, erwiderte der Tarlaner. »Wenn allerdings all das, was Sie und Ihre Ärzte sagen, wahr ist und man die beiden unerklärlichen Ereignisse, in die Sie hier im Krankenhaus verwickelt waren, mit einbezieht, dann bleibt für mich bislangnur eine einleuchtende Erklärung übrig, wenngleich ich mich nur äußerst widerwillig damit abfinden kann.«


Der Tarlaner beugte sich derart weit über das Bett, daß Hewlitt sich fragte, ob dessen im Grunde von Natur aus standfester Körper womöglich doch das Gleichgewicht verlieren und auf ihn fallen könnte.


Die Gesichtszüge des Padre waren zwar nicht zu deuten, doch war seine Anspannung fast physisch spürbar, als er fragte: »Gehören Sie eigentlich einer religiösen Sekte an, Patient Hewlitt?«


»Nein.«


»Gehörten denn Ihre Eltern einer Religionsgemeinschaft an? Oder Ihre Großeltern vielleicht, bei denen Sie ja später aufgewachsen sind? Dabei dürfte es sich höchstwahrscheinlich um eine kleinere Sekte gehandelt haben, weil es ihr nicht möglich war, eine Bevölkerung mit einer größtenteils materialistischen Weltanschauung zu missionieren. Die nur sehr wenigen Mitglieder dieser Sekte dürften jedoch höchst moralische Grundsätze gehabt haben und äußerst fromm und zutiefst von ihrem Glauben überzeugt gewesen sein. Auch wenn Sie zu jener Zeit noch sehr jung gewesen sind, sind Sie von Ihren Eltern, Großeltern oder irgendwelchen Lehrern in den Glaubensgrundsätzen einer solchen Sekte unterwiesen worden?«


»Nein«, erklärte Hewlitt von neuem.


»Sie sollten sich mehr Zeit gönnen, wenn Sie sich an die Zeit erinnern«, riet ihm Lioren. »Bitte denken Sie noch einmal genau darüber nach.«


Der Körper des Padre richtete sich in schlängelnden Bewegungen wieder auf, und Hewlitt war sich nicht sicher, ob diese Geste Entspannung oder Enttäuschung ausdrücken sollte.


»Tut mir leid, Padre, aber ich dachte, Ihnen sei klar, daß ich kein religiöser Mensch bin, zumal ich vorhin Ihr Angebot, mir geistlichen Trost zu spenden, abgelehnt habe. Warum stellen Sie überhaupt so viele religiöse Fragen? Ich bin noch nie ein gläubiger Mensch gewesen.«


Als Lioren antwortete, war Hewlitt heilfroh, daß rings ums Bett ein schalldichtes Feld errichtet worden war, denn die Stimme des Padre wärebis in den letzten Winkel der Station gedrungen.


»Ich stelle diese Fragen, weil sie gestellt werden müssen, und weil religiöse Überzeugungen oft eine starke Auswirkung auf die psychische und physische Verfassung eines Wesens haben können. Hauptsächlich stelle ich sie allerdings aufgrund Ihres Verhaltens in der vergangenen Nacht.


Obwohl der gesundheitliche Zustand von Patientin Morredeth kaum Grund zur Sorge bereitete, hat sie aufgrund der Unterhaltung mit Ihnen starke seelische Qualen erlitten, die in einem heftigen Schüttelkrampf gipfelten«, fuhr er mit unverminderter Lautstärke fort. »Sie haben der diensthabenden Krankenschwester beim Ruhigstellen der Patientin geholfen, damit diese der Kelgianerin eine Beruhigungsspritze verabreichen konnte, doch da hatten bereits beide Herzen der Patientin aufgehört zu schlagen. Und dann setzte eine Art wundersamer Prozeß ein, den man allenfalls als ›Handauflegen‹ bezeichnen kann.


Als nämlich die Leute vom Reanimationsteam eintrafen, waren die ziemlich aufgebracht«, setzte Lioren mit etwas ruhigerer Stimme seine Ausführungen fort, »weil sie zum zweiten Mal innerhalb von zwei Tagen auf dieselbe Station zu Noteinsätzen gerufen worden sind, die sich beide im nachhinein als Fehlalarm herausstellten. Thornnastor ist völlig verwirrt – ein Zustand, der beim Chefdiagnostiker der Pathologie übrigens höchst selten vorkommt – und hat Patientin Morredeth für genauere Untersuchungen in sein Labor bringen lassen, da es für das, was mit ihr geschehen ist, keinen Präzedenzfall gibt. Na, und Patientin Morredeth ist natürlich überglücklich, weil ihr Fell an den Stellen, an denen es gefehlt hat oder beschädigt gewesen ist, binnen Stunden nachgewachsen ist und jetzt so gut wie neu aussieht.«


Lioren hielt kurz inne, und in seine Stimme schlich sich ein fast wehleidig klingender Ton ein, als er fortfuhr: »Für ein Krankenhaus, das bereits überall in dem Ruf steht, wahre medizinische Wunder vollbringen zu können, ist ein wirkliches Wunder äußert unangenehm, wenn nicht sogar peinlich. Nun ja, und solch eine Wunderheilung macht selbst mir einigermaßen zu schaffen.Oder haben Sie für die wundersame Genesung der Patientin Morredeth irgendeine andere Erklärung, Patient Hewlitt?«


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