4. Kapitel



Während der ersten Nacht auf der Station bekam Hewlitt kein Auge zu, und das, obwohl sein Bett sehr bequem, das Licht der Nachttischlampe gedämpft und er völlig übermüdet war.


Auch wenn ihm seine Uhr, die noch immer auf die Bord- anstatt auf die Krankenhauszeit eingestellt war, verriet, daß es für ihn praktisch schon früh am Nachmittag des nächsten Tages war, und er die Augen kaum noch aufhalten konnte, wollten sie nicht zufallen. Es mußte daran liegen, daß er, sei es nun wissentlich oder auch nicht, schreckliche Angst davor hatte, in diesem merkwürdigen Hospital das Bewußtsein zu verlieren.


Etliche Stunden schienen zu vergehen, in denen er wach dalag und den nächtlichen Geräuschen auf der Station lauschte, die trotz der Sichtblenden, die nur geringen Lärmschutz boten, bis zu ihm herüberdrangen. Das ununterbrochene Schnarren des Belüftungssystems, das tagsüber unhörbar gewesen war, schien von Stunde zu Stunde lauter zu werden, und auch das leise Klappern von Füßen oder sonstigen Gliedmaßen der Schwestern, wenn diese sich um die Patienten kümmerten. Gelegentlich konnte er jammernde oder blubbernde Geräusche von Patienten hören, die von Schmerzen hätten herrühren können, doch in Anbetracht der heutzutage verfügbaren Medikamente war es sehr viel wahrscheinlicher, daß es sich dabei um den Klang außerirdischen Schnarchens handelte.


Aus lauter Verzweiflung schaltete er den Bildschirm neben seinem Bett ein. Um die Schwestern nicht zu verärgern, weil er die anderen Patienten störte, benutzte er die Hörmuschel und suchte nach den Unterhaltungsprogrammen. Die meisten waren für Zuschauer fremder Spezies bestimmt, und obwohl der Translator die Dialoge übersetzte, wirkte eine tralthanische oder melfanische Komödie auf ihn eher wie ein Horrorfilm. Als er endlich ein Programm fand, das für terrestrische Zuschauer bestimmt war, empfand er Handlung und Dialog allerdings fast als prähistorisch. Eigentlich hätte er dadurch sofort einschlafen müssen, doch wollte es ihm immer noch nicht gelingen.Schließlich schaltete er zurück, um sich den bizarren Auftritt einer tralthanischen Familie anzusehen, die verworrene Sachen vorführte und dabei banale Dinge erzählte, bis sich plötzlich die Sichtblenden teilten und ein massiver hudlarischer Körper auftauchte.


»Sie sollten lieber schlafen, Patient Hewlitt«, sagte die Lernschwester mit einer solch leisen Stimme, daß er sie kaum verstehen konnte. »Stimmt irgend etwas nicht?«


»Sind Sie noch immer die Schwester, die mich heute hierhergebracht hat oder schon eine andere?« erkundigte er sich.


»Alle anderen Schwestern, inklusive Leethveeschi, sind bereits abgelöst worden«, antwortete die Hudlarerin. »Meine Spezies kann aber sehr lange ohne Schlaf auskommen, und ich werde die ganze Nacht über Dienst haben. Morgen und übermorgen habe ich frei und werde die Zeit nutzen, einiges für meine Fortbildung zu tun. Sie werden mich also erst in drei Tagen wiedersehen, falls Sie dann noch hiersein sollten. Ihre Körpersensoren zeigen erhöhte Anspannung und Erschöpfung an. Warum schlafen Sie nicht?«


»Ich… ich glaube, ich habe Angst vor dem Einschlafen«, räumte Hewlitt ein und wunderte sich, warum es ihm weniger peinlich war, vor einem Alien eine Schwäche zuzugeben als vor einem Terrestrier. »Wenn ich hier schlafen würde, hätte ich bestimmt entsetzliche Alpträume, und beim Aufwachen wäre dann alles nur noch schlimmer. Ich nehme an, Sie wissen, was Alpträume sind, oder?«


»Und ob«, erklärte die Schwester. Dann hob sie einen Vordertentakel hoch und winkte damit über die Sichtblenden hinweg in Richtung der Station. »Würden sich Ihre Alpträume denn um uns hier drehen?«


Hewlitt antwortete nicht, denn indirekt hatte er diese Frage längst beantwortet und schämte sich mittlerweile dafür.


»Wenn Sie in der Nacht Alpträume von uns haben«, fuhr die Schwester fort, »um dann beim Aufwachen festzustellen, daß diese Alpträume wahr und diese Wesen tatsächlich um sie herum versammelt sind, und zwarentweder als Patienten, die mit Ihnen gemeinsam leiden, oder als medizinisches Personal, das Sie zu heilen versucht, dann ist es doch völlig zwecklos, wenn Sie versuchen wach zu bleiben, oder? Ich meine, allein durch das Wissen, daß wir sowieso hier sind, wenn Sie aufwachen, könnte Ihr Alptraum weniger heftig ausfallen, so daß sich Ihre Gedanken vielleicht um einen angenehmeren Traum drehen werden. Ist das nicht ein vernünftiger Vorschlag, Patient Hewlitt? Wollen Sie es nicht wenigstens mal versuchen?«


Erneut antwortete Hewlitt nicht; dieses Mal versuchte er, die hudlarische Logik zu begreifen.


»Außerdem ist diese melfanische Quizsendung schädlich für die geistige Gesundheit, egal, welcher Spezies der Zuschauer angehört. Möchten Sie sich statt dessen vielleicht lieber mit mir unterhalten?«


»Ja, sicher… ich meine, nein«, stammelte Hewlitt. »Schließlich gibt es hier Patienten, die kranker sind und Ihrer Aufmerksamkeit mehr bedürfen als ich. Mir fehlt ja nichts, zumindest im Moment nicht.«


»Zur Zeit sind alle anderen Patienten ruhig und zufrieden, ihr Zustand ist stabil, und sie werden im Schlaf überwacht«, versicherte ihm die Hudlarerin. »Sie hingegen sind wach, und für eine junge und geistig rege Lernschwester kann der Nachtdienst mitunter ziemlich langweilig sein. Gibt es denn irgendwas, das Sie mir gern erzählen oder mich fragen möchten?«


Neugierig musterte Hewlitt das riesige Monster mit den sechs Tentakeln, der Sprechmembran, die wie eine fleischige Flagge hin- und herflatterte, und der ledernen Haut, die sämtliche Gliedmaßen und den ganzen Körper wie eine nahtlose Rüstung bedeckte, dann sagte er: »Ihre Farbe beginnt wieder abzublättern.«


»Danke für die Warnung, aber es besteht keine Gefahr. Bis zum Schichtwechsel morgen früh reicht das noch«, klärte ihn die Hudlarerin auf.


»Ehrlich gesagt, verstehe ich kaum ein Wort von dem, was Sie sagen«, räumte Hewlitt ein. »Zumindest nicht gut genug, um Fragen stellen zu können.«»Sie haben doch vor ein paar Stunden etwas über die Verwendung von Kosmetika erwähnt, ist das vielleicht der Grund?« fragte die Schwester. »Wissen Sie, warum Hudlarer ein Nahrungspräparat verwenden?«


Im Grunde interessierten ihn die Angewohnheiten von Extraterrestriern einen feuchten Kehricht. Aber diese Hudlarerin hier wollte sich offenbar unbedingt mit ihm unterhalten, und sei es nur, um sich die Langeweile zu vertreiben. Andererseits könnte sie ihn auf andere Gedanken bringen, wenn er ihr zuhörte. In dem Fall würde er praktisch einem ihm bekannten Monster zuhören, um seine Furcht vor den anderen unbekannten Monstern zu vergessen. Und vielleicht könnte es ihr ja sogar gelingen, ihm ein wenig die Angst zu nehmen.


»Nein, von diesem Nahrungspräparat habe ich noch nie etwas gehört«, gab er deshalb ohne große Umschweife zu. »Warum müssen Sie das nehmen, Schwester?«


Als erstes erfuhr er, daß die Hudlarer keinen Mund besaßen und statt dessen etwas hatten, das sie als Absorptionsorgane bezeichneten. Danach führte eine Frage zur anderen.


Die Hudlarer hatten sich auf einem Planeten mit großer Schwerkraft, hohem Druck und einer überaus dichten Atmosphäre zu einer intelligenten Lebensform entwickelt.


Die unteren Atmosphäreschichten ähnelten einer trüben, dickflüssigen Suppe aus kleinen, lebenden tierischen und pflanzlichen Organismen, die durch Absorptionsorgane aufgenommen wurden, von denen der ganze Rücken überzogen war. Da die Hudlarer einen sehr hohen Energieverbrauch hatten, handelte es sich bei dieser Nahrungsaufnahme um einen kontinuierlichen Vorgang.


»Manchmal konzentrieren wir uns zu sehr auf die Arbeit und vergessen unseren nächsten Einsprühtermin«, setzte die Lernschwester ihre Ausführungen fort. »Wenn das passiert, brechen wir aufgrund der sofort eintretenden Unterernährung auf der Stelle zusammen. In dem Fall müssen wir umgehend von einem Mitarbeiter des medizinischen Stabs oderWartungspersonals oder selbst von einem ambulanten Patienten wie Ihnen wiederbelebt werden. Deshalb sind auf den meisten Korridoren und Stationen Sprühbehälter angebracht, wie der dort hinten neben dem Personalraum. Der Sprühmechanismus ist übrigens sehr leicht zu bedienen, obwohl ich hoffe, daß Sie niemals ein solches Gerät bei mir einsetzen müssen.


Wenn ein Hudlarer mitten auf der Station einen Kollaps erleidet, unterbricht das nämlich den ganzen Klinikablauf, und das Nahrungspräparat hinterläßt fürchterliche Spuren auf dem Fußboden oder auf den in der Nähe stehenden Betten. Oberschwester Leethveeschi würde sich darüber bestimmt unheimlich ärgern, und das wollen wir doch auf jeden Fall vermeiden, nicht wahr?«


»Ja, das wollen wir wirklich unter allen Umständen vermeiden«, pflichtete ihr Hewlitt aus tiefstem Herzen bei, wenngleich er sich eine unheimlich verärgerte Chloratmerin beileibe nicht vorstellen konnte. »Also werden diese Mahlzeiten von außen aufgetragen… ? Das… das ist ja furchtbar. Und ich dachte immer, ich hätte Probleme …«


»Ich bin hier nicht der Patient, sondern Sie, Patient Hewlitt«, korrigierte ihn die Schwester. »Außerdem zeigen Ihre Sensoren einen hohen Erschöpfungszustand an, und es ist sowieso viel zu egoistisch von mir, Sie von Ihrer wohlverdienten Bettruhe abzuhalten. Können Sie denn jetzt schlafen?«


Schon der Gedanke daran, in seinem schwach beleuchteten Bett, das wie ein Floß in einem dunklen, von furchtbaren Alienmonstern bevölkerten Meer trieb, allein gelassen zu werden, ließ die Angst, die er durch die Unterhaltung mit dieser monströsen Ausnahme ein wenig verdrängt hatte, wieder in ihm hochkommen. Hewlitt wollte einfach nicht schlafen, und deshalb verneinte er die Frage indirekt, indem er eine weitere stellte.


»Ich weiß zwar nicht, wie der Metabolismus bei Ihnen vonstatten geht, aber kennt Ihre Spezies denn auch so etwas wie Magenschmerzen? Oder werden Sie überhaupt jemals krank?«


»Eigentlich so gut wie nie«, erwiderte die Schwester. »So, und jetztmüssen Sie versuchen zu schlafen, Patient Hewlitt.«


»Wenn Sie so gut wie nie krank werden«, ließ Hewlitt nicht locker, der das Gespräch unter keinen Umständen versiegen lassen wollte, »wozu brauchen Hudlarer dann Ärzte und Schwestern?«


»Während der frühen Kindheit sind wir für eine ganze Reihe verschiedener Krankheiten sehr anfällig, aber während der Pubertät entwickeln wir eine völlige Immunität dagegen. Dieser Abwehrmechanismus schützt uns bis einige Jahre vor unserem Lebensende, dann tritt eine altersbedingte psychische und physische Degeneration ein. Diagnostiker Conway leitet ein Projekt, um hudlarisches Klinikpersonal darin auszubilden, die mit starken Schmerzen verbundenen Nebenwirkungen zu lindern, was nur durch größere operative Eingriffe möglich ist. Allerdings wird es wohl noch einige Jahre dauern, bis die Arbeit so weit vorangeschritten ist, daß die ältere Bevölkerung davon profitieren kann.«


»Lassen Sie sich deshalb hier ausbilden?« erkundigte sich Hewlitt. »Ich meine, damit Sie später einmal den gealterten Hudlarern helfen können?«


Die Schwester zeigte keinerlei Reaktionen, die er hätte deuten können, denn sie hatte kein Gesicht, und der Rest ihres glatten und gepanzerten Körpers war so ausdruckslos wie ein aufgeblasener Ballon. Doch als die Hudlarerin antwortete, sprach sie auffällig schnell, was ihm das Gefühl gab, daß sie verlegen war oder sich ihrer Antwort schämen könnte.


»Nein, ich studiere Allgemeinmedizin und Chirurgie fremder Spezies, wobei eine dazu parallel stattfindende Schwesternausbildung übrigens sehr dienlich ist. Innerhalb der galaktischen Föderation sind wir Hudlarer eine einzigartige Spezies. Aufgrund der Beschaffenheit unserer Haut sind wir in der Lage, selbst unter feindseligsten Umweltbedingungen zu leben und zu arbeiten. Wir können fast sämtliche Druckveränderungen überleben, angefangen vom höchsten atmosphärischen Druck bis hin zum Vakuum im All, und wir brauchen keine Atmosphäre, um unsere Nahrung zu absorbieren. Hudlarer sind besonders gefragt, wenn es darum geht, unter Bedingungen zu arbeiten, unter denen andere Spezies durch ihre Schutzanzüge enorm behindert wären, ganz besonders dann, wenn es umBauprojekte im Weltraum geht. Ein hudlarischer Arzt, der aufgrund seiner Ausbildung am Orbit Hospital in der Lage ist, Bauarbeitern vieler verschiedener Spezies medizinische Hilfe zu leisten, ist zum Beispiel vor Ort ein großer Vorteil, zumal er ohne die zeitraubende Notwendigkeit auskommt, sich Schutzkleidung anlegen zu müssen.


Unser Planet ist nie sehr reich gewesen«, fügte sie hinzu. »Wir besitzen kaum Bodenschätze oder Industrieprodukte, mit denen man Handel treiben könnte. Nicht einmal die Landschaft ist schön genug, um Touristen anzuziehen. Auf Hudlar gibt es wirklich nichts, womit außerplanetarische Wesen etwas anfangen könnten, mit Ausnahme der ungeheuer starken und unermüdlich fleißigen Bewohner, die überall arbeiten können und die dafür von den anderen Spezies der Föderation sehr gut bezahlt werden.«


»Und nachdem Sie es hier zu Ruhm und Reichtum gebracht haben, werden Sie sich, nehme ich an, zu Hause niederlassen, eine Familie gründen und Kinder kriegen, richtig?«


Der Lernschwester schien immer noch etwas zu schaffen zu machen. Hewlitt fragte sich, ob sich die Hudlarerin dafür schämte, daß sie ihre Heimat verlassen hatte, um weitab im Weltraum einen gutbezahlten Beruf zu erlernen und sich auf diese Weise davor zu drücken, einen alten und kranken Verwandten zu versorgen. Jedenfalls bereute er es bereits, diese Frage gestellt zu haben.


»Nun ja, ich werde immerhin die Hälfte der Kinder kriegen«, antwortete die Lernschwester schließlich.


»Wie bitte?« hakte Hewlitt verdutzt nach. »Das verstehe ich nicht.«


»Patient Hewlitt, Sie sind wirklich nicht besonders gut über Hudlarer informiert, oder? Ich bin als weibliches Wesen zur Welt gekommen und habe dieses Geschlecht bis heute nicht abgelegt. Ich beabsichtige, diese weibliche Phase beizubehalten, bis ich mich für eine Paarung entscheide, die bei unserer Spezies übrigens eher dem Zweck der Fortpflanzung als dem Vergnügen dient. Dieser Zeitpunkt ist dann, wenn ich als schwangere Frau aus physiologischer Notwendigkeit heraus den weiteren sexuellen Kontakt zu meinem Lebensgefährten vermeiden muß und deshalb eine männlicheForm annehme, wohingegen mein Partner gleichzeitig langsam eine weibliche Gestalt annimmt. Etwa ein hudlarisches Jahr nach der Entbindung haben die beiden Elternteile eine vollständige Geschlechtsumwandlung vollzogen, und wenn der Nachkömmling weniger Aufmerksamkeit erfordert und die ehemalige Mutter zum Vater werden kann, hat der ehemalige Vater die Möglichkeit, das nächste Kind zu gebären. Dieser Prozeß dauert so lange an, bis die gewünschte Anzahl an Nachkömmlingen erreicht ist. Normalerweise einigt man sich auf eine gerade Zahl, so daß die Geburten gleichmäßig aufgeteilt sind, und bis das Paar sich gemeinsam entschieden hat, wer den Rest des Lebens in weiblicher und wer in männlicher Form verbringt.


Das ist eine sehr einfache, ausgewogene und gefühlsmäßig zufriedenstellende Einrichtung«, fuhr sie fort. »Ich wundere mich nur immer wieder, daß die anderen intelligenten Spezies kein solches Fortpflanzungssystem entwickelt haben.«


»Aha… « Mehr fiel Hewlitt zu diesem Thema nicht ein.


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