Auf der Station herrschten Dunkelheit und eisige Kälte. Schwere Blei-und Panzerplatten dienten als Isolation vor der Reststrahlung und Wärme, die durch den hospitalnahen Schiffsverkehr hervorgerufen wurden. Natürlich gab es keine Fenster, weil selbst das schwache Licht der weit entfernten Sterne diesen sensiblen Bereich des Orbit Hospitals nicht erreichen durfte. Die Abbildungen, die auf Hewlitts kleinem Bildschirm erschienen, waren aus dem nicht sichtbaren Spektrum umgewandelt worden, wodurch sie unwirklich und nahezu geisterhaft wirkten. Die Schuppen, mit denen der achtgliedrige, seesternähnliche Körper des Patienten bedeckt war, glänzten durch den Methannebel hindurch wie vielfarbige Diamanten, wodurch das Wesen einem wundersam anmutenden Wappentier ähnelte.
Während sich Hewlitt zwischen den Patienten hindurchbewegte, stellte er den Translator aus, um auf diese Weise den natürlichen Stimmen der SNLUs zu lauschen, und er nahm Klänge wahr, wie er sie noch nie zuvor gehört hatte. So kristallklar und schön waren diese Laute, daß er beinahe das Gefühl hatte, dem akustisch verstärkten Klingeln zusammenprallender Schneeflocken zu lauschen. Auch wenn sich auf dieser Station kein Wirtskörper befand – wobei Hewlitt bezweifelte, daß hier irgend etwas, außer einem SNLU selbst, länger als fünf Minuten überleben könnte -, so wunderte er sich nur um so mehr, wie schwer ihm der Abschied von diesen exotischen Wesen fiel.
Liorens nächster Besuch galt einer melfanischen Schwester namens Lontallet, die gerade dienstfrei hatte. Nachdem Hewlitt ihr vorgestellt worden war und sie von der Verdächtigenliste ehemaliger Viruswirte hatte streichen können, wartete er draußen auf dem Flur, während Lioren die Schwester nach drinnen in deren Unterkunft begleitete.
Das Warten war nicht besonders langweilig, weil eine sich langsam bewegende Patientenkolonne an ihm vorbeizog. Hewlitt zählte dreißig Wesen, die fünf verschiedenen sauerstoffatmenden Spezies angehörten undvon denen einige mit G-Schlitten transportiert wurden. Den hektisch geführten Gesprächen des Begleitpersonals war zu entnehmen, daß es sich offenbar um eine Evakuierungsübung handelte, die ziemlich chaotisch verlief. Als der letzte Pfleger an ihm vorbeigegangen war, kam der Padre wieder nach draußen.
»Ist die Gruppe langsam genug an Ihnen vorbeigezogen, um jeden einzelnen überprüfen zu können?« erkundigte sich Lioren. »Und haben Sie irgendwas bemerkt?«
»Erstens ja und zweitens nein«, antwortete Hewlitt. »Wohin geht's als nächstes?«
»Zur Luftschleuse des Anlegedocks auf Ebene eins. Doch vorher werden wir sämtliche dazwischenliegenden Ebenen und den dazugehörigen Stationen einen kurzen Besuch abstatten und nebenbei alle Passanten auf den Verbindungskorridoren überprüfen«, sagte Lioren. »Auf jeden Fall müssen wir sehr viel schneller arbeiten und dürfen uns nicht so lange mit den Patienten unterhalten. Ein paar Worte wechseln oder ein kurzer Blickkontakt ist alles, was wir uns noch erlauben können. Sind Sie müde?«
»Nein, nur neugierig, aber auch hungrig«, antwortete Hewlitt. »Wir haben schon lange nichts mehr gegessen, und ich…«
»Kurzfristig wird uns der Hunger schon nicht umbringen«, unterbrach ihn der Padre. »Ich habe von Schwester Lontallets Zimmer aus Kontakt mit der Abteilung aufgenommen. O'Mara befindet sich gerade in einer Konferenz, dieses Mal per Kommunikator mit den Kapitänen der wartenden Schiffe, aber er hat eine Nachricht für uns hinterlassen. Demnach hat sich die Situation zwar verschärft, aber dennoch sind die genauen Umstände des technischen Notfalls immer noch nicht publik gemacht worden. Gegenwärtig sind drei verschiedene Evakuierungsübungen in Gang, doch bislang haben noch keine Schiffe an den Anlegeschleusen festgemacht. Die Patienten beklagen sich schon über die Unannehmlichkeiten. Die medizinischen Mitarbeiter ahnen längst, daß etwas im Argen liegt und verlangen nach Antworten auf ihre Fragen, und obwohl ihnen der Krankenhausfriede am Herzen liegt und sie alles fürdessen Aufrechterhaltung tun, bekommen die Patienten doch etwas von ihrer Unruhe mit, und so schaukeln sie sich gegenseitig hoch. In psychologischer Hinsicht befinden wir uns in einer äußerst prekären Situation, und dieser angespannte Zustand ist nicht mehr allzu lange tragbar.«
»Wo liegt denn nun das eigentliche Problem?« wollte Hewlitt wissen. »Sind nicht genügend Schiffe für eine Evakuierung vorhanden? Wenn es sich um ein Geheimnis handelt, behalten Sie es von mir aus für sich, aber das Personal hier weiß sehr wohl mit Notfällen umzugehen, zumindest mit medizinischen. Folglich würden alle sehr viel besser reagieren können, wenn sie in voller Kenntnis der Lage wären, so beängstigend diese auch sein mag.«
Während eines freien Abschnitts auf dem Flur steigerte Lioren die Schrittfrequenz und antwortete: »Genügend Schiffe für die Evakuierung des Orbit Hospitals zusammenzubekommen, sollte nicht das Hauptproblem sein, bedenkt man, wie schnell die Föderation in der Vergangenheit auf solche Katastrophen mit umfangreichen Hilfseinsätzen reagiert hat. Vielleicht kann niemand über das Problem sprechen, weil es selbst niemand versteht oder weil es mehr als lediglich ein Problem gibt.«
»Wollen Sie mich nur noch mehr verwirren, oder soll das eine Art Hinweis sein?« hakte Hewlitt nach.
Lioren ging auf die Frage nicht ein und fuhr fort: »Prilicla hat mir übrigens aus dem Speisesaal keine besonderen Vorkommnisse gemeldet. Keiner der Gäste, deren emotionale Ausstrahlung er prüfen konnte, war oder ist von der Virenkreatur befallen. Aufgrund seines geringen Durchhaltevermögens muß unser kleiner Freund leider erst einmal eine längere Ruhepause einlegen, bevor er die Suche wiederaufnehmen kann. Also sind wir beide zur Zeit die einzigen Wesen, die die Virenkreatur ausfindig machen können, und das, wie O'Mara sagt, unverzüglich. Außerdem sollen wir von nun an unsere Helme verschließen und ausschließlich die Sauerstofftanks benutzen, um beim Wechseln in unterschiedliche Umweltbedingungen keine kostbare Zeit zu verlieren.«»Dadurch sparen wir doch höchstens ein paar Minuten und…«, begann Hewlitt zu protestieren, gab sich aber geschlagen. »Ach, ist mir auch egal…«
Nach seiner Auffassung handelte es sich dabei trotzdem um eine törichte Anweisung, denn mit Ausnahme von zwei Stationen, die sie aufsuchen wollten, gehörten alle anderen zu warmblütigen Sauerstoffatmern, die ähnliche Druck- und Atmosphäreverhältnisse wie sie selbst benötigten. Vielleicht war ja sogar der Chefpsychologe aufgrund dieses ominösen Notfalls nicht mehr ganz Herr seiner Sinne.
Die nächste Station gehörte zu einer der wenigen im Orbit Hospital – die Chalderstation, die sie kurz zuvor besucht hatten, war eine weitere -, auf der nur eine einzige Patientenspezies behandelt wurde. Zum ersten Mal konnte er aus nächster Nähe und erschreckend klar und deutlich eine ganze Station voller illensanischer Körper sehen, die nicht von einer halb durchlässigen, chlorgefüllten Schutzhülle umgeben waren. Es erstaunte ihn nicht, daß keiner dieser Patienten die Virenkreatur beherbergt hatte, weil er sich selbst in seinen kühnsten Phantasien kein Wesen vorstellen konnte, das einen solchen Körper bewohnen wollte, so sehr sich dieses auch nach einem Wirt sehnen mochte.
Eine Station folgte der nächsten und damit einhergehend eine verblüffende Folge von Patienten und Mitarbeitern, von denen die meisten Lebensformen angehörten, die Hewlitt noch nie zuvor gesehen hatte. Zeit für einen großartigen Austausch von Fragen und Antworten war nicht vorhanden. Zwar waren diese Wesen keineswegs auch nur ansatzweise so abstoßend wie die Illensaner, dennoch stellten sie sich nicht als ehemalige Wirtskörper heraus. Die Geschwindigkeit, mit der er und Lioren die Besuche abstatteten, blieb natürlich genausowenig unkommentiert wie der von ihnen ausgehende Chlorgeruch, der noch immer an ihren Schutzanzügen haftete, aber die Gegenwart des Padre gewährleistete, daß sich die Bemerkungen immerhin in einem höflichen Rahmen hielten. Die Überprüfung der Wesen, denen sie in den Verbindungskorridoren begegneten, ergab ebenfalls ausschließlich negative Resultate.»Allmählich frage ich mich, ob wir uns mit unserer Wirtskörperwiedererkennungsfähigkeit nicht ein wenig überschätzen«, äußerte Hewlitt irgendwann erste Zweifel. »Sicherlich haben wir ein nur sehr schwer zu beschreibendes Gefühl füreinander, das man vielleicht am besten als eine Art Verbindung unter Leidensgenossen bezeichnen kann, aber möglicherweise ist diese Fähigkeit nur auf einige wenige beschränkt. Außerdem ist an dieser ganzen Situation sowieso etwas faul. Ich weiß zwar nicht genau, was, aber ich bin mir sicher, daß Sie es wissen und es mir eigentlich sagen könnten.«
Lioren blieb urplötzlich wie angewurzelt stehen, so daß Hewlitt erst einmal einige Schritte zurückkehren mußte. Die Ebenen mit den Patientenunterkünften und medizinischen Versorgungseinrichtungen schienen sie hinter sich gelassen zu haben, weil die Leute, die an ihnen vorbeikamen, die Overalls der Wartungsmannschaften trugen und an den Türen und Nebengängen Symbole angebracht waren, die auf Energieversorgungs- und Wärmeaustauschsysteme hinwiesen. Direkt über dem vor ihnen liegenden Schleusengang war eine Warnung vor radioaktiver Strahlung angebracht, und Hewlitt fragte sich, was sich dahinter verbergen könnte.
»Sind sie müde?« erkundigte sich Lioren.
»Nein«, antwortete Hewlitt. »Wollen Sie wieder mal das Thema wechseln?«
»Wie Sie vielleicht schon mitbekommen haben, bin ich hier am Orbit Hospital früher mal als Arzt ausgebildet worden«, sagte Lioren. »Was ich damit sagen will, ist, daß ich die terrestrische Physiologie gut genug kenne, um zu wissen, daß Sie irgendwann an die Grenzen Ihrer körperlichen Belastbarkeit geraten. Mittlerweile müßten sie sowohl sehr müde als auch extrem hungrig sein. Bei meinem nächsten und letzten Patientenbesuch handelt es sich übrigens um einen Angehörigen der Klassifikation VTXM. Das ist ein sogenannter Strahlenverwerter, der schon aus diesem Grund als Wirtskörper nicht in Frage kommt. Dieser Patient ist ebenfalls ein hoffnungsloser Fall. Ich habe ihn vor einiger Zeit zum ersten Mal besucht,und er hat mich darum gebeten, bis zu seinem Ende immer mal wieder nach ihm zu sehen. Sie könnten diese Gelegenheit dazu nutzen, etwas zu essen oder ein wenig zu schlafen.«
»Ich bin aber nicht müde«, wehrte sich Hewlitt. »Haben Sie vergessen, daß wir dank der Virenkreatur mit einer optimalen Gesundheit ausgestattet sind? Zu dieser Hinterlassenschaft gehört vermutlich auch, daß wir zu einem Höchstmaß an körperlicher Leistung befähigt sind und längst nicht so schnell erschöpft sind wie andere. Bedenkt man das enorme Ausmaß an körperlichen Aktivitäten, die wir in den letzten Stunden geleistet haben, dann gehe ich wahrscheinlich recht in der Annahme, daß Sie sich ebenfalls weniger müde fühlen, als es normalerweise der Fall sein müßte, stimmt's?«
»Ich streite mich nicht gerne mit Ihnen«, antwortete der Padre. »Vor allem dann nicht, wenn Sie, wie in diesem Fall, recht haben. Zur Zeit gehen mir allerdings sehr viel wichtigere Dinge durch den Kopf. Dennoch stimme ich Ihnen gern zu, daß wir längst nicht so müde sind, wie wir's sein müßten.«
Es war klar, daß Lioren verärgert über ihn war, wahrscheinlich aus verständlichen religiösen Gründen, zumal der Padre kurz vor einem wichtigen Krankenbesuch stand.
»Ich scheine mich mein ganzes Leben lang gestritten zu haben«, setzte Hewlitt zu einer Entschuldigung an. »Meistens mit Ärzten, die fest davon überzeugt waren, daß sie im Recht waren und ich mich irrte. Tut mir leid, aber Streiten ist für mich zu einer schlechten Angewohnheit geworden, die ich ablegen sollte. Falls Sie aufgrund persönlicher oder religiöser Gründe lieber auf meine Gesellschaft bei diesem Besuch verzichten wollen, dann sagen Sie das einfach. Da wir aber bislang alle in Frage kommenden Kontaktpersonen unserer Virenkreatur gemeinsam überprüft haben, sollten wir vielleicht im Interesse der Verläßlichkeit unsere Arbeit auch gemeinsam beenden, selbst auf die Gefahr hin, damit nur unsere Zeit zu verschwenden.«
Als ihm der Padre wieder einmal eine Antwort schuldig blieb, fuhr Hewlitt lächelnd fort: »Wenn Sie diese telfischen Strahlenverwerterebenfalls nicht als geeignete Wirtskörper ansehen, wie ist es dann um die bei extrem niedrigen Temperaturen lebenden SNLUs bestellt? Könnte eine Virenkreatur bei Temperaturen nahe vor dem absoluten Nullpunkt leben? Und wenn es sich um einen intelligenten Virus handelt, warum sollte er das wollen?«
Lioren schien an Hewlitts Äußerung nichts Komisches zu finden und erwiderte: »Über die Beweggründe der Virenkreatur weiß ich einfach zu wenig, um über deren Verhaltensweisen irgendwelche Vermutungen anzustellen. Und wenn Sie an die Naturkunde Ihres Heimatplaneten denken, dann finden Sie viele Beispiele dafür, daß einfache Lebensformen sogar über einen Zeitraum mehrerer Millionen Jahre unter den Polareisschichten überlebt haben.«
»Und erinnern Sie sich noch daran, wie ich O'Mara gesagt habe, daß unsere Virenkreatur die Auswirkungen einer Atomexplosion überstanden hat und es dieses Ereignis über zwanzig Jahre offenbar ohne Folgen überleben konnte, bevor es mich infiziert hat?«
Sie mußten rasch zwei orligianischen Monitorkorpsoffizieren ausweichen, die ihre Ausrüstungsschlitten anscheinend mit Rennfahrzeugen verwechselten, und nach diesem kurzen Zwischenfall vergingen erst einmal einige Minuten, ehe sich Lioren zu Hewlitts letzter Frage äußern wollte.
»Ich kann mich nicht daran erinnern, weil ich diesen Teil des Gesprächs in O'Maras Büro noch nicht mitgehört habe. Also ist diese Information neu für mich. Dennoch gibt es einen gewaltigen Unterschied, ob man den Ausläufern radioaktiver Strahlung kurzfristig ausgesetzt ist, wie es bei der Virenkreatur der Fall gewesen war, oder ein Leben lang extrem harter Strahlung wie bei den Telfis. Jetzt streiten Sie sich zwar schon wieder mit mir, aber auch dieses Mal könnten Sie durchaus recht haben. Also gut, dann begleiten Sie mich auf die Telfi-Station.«
»Vielen Dank. Sobald ich den Patienten gesehen habe, lasse ich Sie beide allein, damit Sie sich mit ihm privat unterhalten können.«
»Das wird nicht nötig sein, da der Patient bald sterben wird. Außer dem Umstand, daß er sich dieser unumstößlichen Tatsache voll und ganz bewußtist, hat er nicht gesagt, daß ihm irgend etwas auf der Seele liegt. Wie nicht anders zu erwarten, basieren alle telfischen Religionen auf verschiedenen Formen der Sonnenverehrung. Allerdings hat er mir nicht verraten, ob er ein Anhänger einer dieser Glaubensrichtungen ist. Alles, was er zu diesem Zeitpunkt braucht oder sich wünscht, ist der Kontakt mit anderen intelligenten Wesen, die ihm zuhören oder mit ihm reden, bis er nicht mehr in der Lage ist, seine Gedanken in Worte zu fassen. Wir können ihn lediglich auf seinem Leidensweg ein Stück begleiten und ihm zuhören, in der Hoffnung, daß wir ihm damit etwas Gutes tun und Trost spenden.«
Lioren bog plötzlich in einen Seitengang ein, so daß Hewlitt sich beeilen mußte, um ihn einzuholen. »Würde sich der Patient nicht besser fühlen, wenn in einer solch wichtigen Zeit einer seiner Freunde oder Verwandten bei ihm wäre?« keuchte er außer Atem.
»Offensichtlich wissen Sie nicht viel über die Telfis nicht wahr?«
»Zumindest nur wenig«, räumte Hewlitt ein, wobei ihm die Anspielung auf seine Unkenntnis die Schamröte ins Gesicht trieb. »Da ich nie gedacht hätte, jemals einem persönlich zu begegnen, gab es auch keinen Grund für mich, mehr über sie in Erfahrung zu bringen. Ich weiß nur, daß sie aufgrund ihrer Radioaktivität äußerst gefährlich und keine … na ja, keine sehr zugänglichen Wesen sind.«
»Ihre Umwelt ist uns feindlich gesinnt, nicht aber die Wesen selbst«, hielt ihm Lioren entgegen. »Übrigens lernen nur sehr wenige Bürger der Föderation Telfis persönlich kennen, deshalb ist Ihre Wissenslücke auch kein Grund, sich zu schämen. Bevor wir diesen Patienten gleich besuchen, sollten Sie etwas mehr über die Lebensgewohnheiten der Telfis erfahren und, was in diesem Fall noch wichtiger ist, über deren Sterbebräuche. Können Sie eigentlich Wissen aufnehmen, während Sie Ihre unteren Gliedmaßen etwas schneller bewegen?«
»Keine Sorge, ich werde Ihnen schon folgen können«, antwortete Hewlitt.
Lioren überhörte bewußt die Doppeldeutigkeit von Hewlitts Bemerkung und fuhr fort: »Ich habe diesem sterbenden Telfi namens Cherxic – er istTeilwesen eines telfischen Astronavigators – versprochen, seinen letzten Gedanken zuzuhören, solange er noch die Kraft dazu besitzt, diese laut genug für den Translator zu artikulieren. Obwohl wir bislang bei unserer Suche noch keinen Erfolg gehabt haben, möchte ich mir etwas von unserer knapp bemessenen Zeit nehmen, um dieses Versprechen einzulösen.«
»Und würden Sie auch etwas Zeit dafür opfern, mir ein wenig zuzuhören?« erkundigte sich Hewlitt.
»Ja«, antwortete der Padre, ohne zu zögern. »Seit einiger Zeit stelle ich bei Ihnen eine emotionale Unruhe fest. Ob es sich dabei um gegen mich gerichtete Wut handelt, weil ich Ihre Neugierde nicht befriedige, oder ob Ihnen eher persönliche Probleme zu schaffen machen, weiß ich nicht. Falls letzteres zutrifft: Ist die Angelegenheit sehr dringend? Natürlich werde ich Ihnen so oder so zuhören, jetzt oder auch später, aber Sie wissen genauso gut wie ich, daß der Zeitpunkt alles andere als günstig ist. Können Sie mir in möglichst einfachen und hoffentlich auch knappen Worten schildern, was genau Ihnen zu schaffen macht?«
Hewlitt blickte Lioren nicht an, als er antwortete: »Sie haben in beiden Punkten recht, Padre. Zum einen bin ich neugierig und wütend auf Sie, weil Sie mir andauernd irgendwelche Antworten schuldig bleiben. Zum anderen bereitet mir der Umstand, daß man Ihnen verboten hat, meine Neugierde zu befriedigen, immer mehr Angst. Deshalb stelle ich mir andauernd Fragen, die ich mir selbst nicht beantworten kann, was wiederum zur Folge hat, daß ich mir nur noch mehr Sorgen mache. Etwas an dieser ganzen Geschichte macht mir ganz besonders zu schaffen.«
»Fahren Sie fort«, ermunterte ihn Lioren, während er vor einem offenen Schrank stehenblieb, in dem sich terrestrische Strahlenschutzanzüge in verschiedenen Größen befanden. »Legen Sie einen davon an, ohne den jetzigen Anzug auszuziehen. Sprechen Sie ruhig weiter, während ich Ihnen beim Anziehen helfe.«
Damit wir bloß keine Zeit verlieren, ergänzte Hewlitt in Gedanken, aber der Padre war zu höflich, um dies direkt zu sagen.
»In Ordnung. Soweit ich weiß, sind meine Katze, Morredeth, Sie und ichselbst sowie eine oder mehrere unbekannte Personen die einzigen Wesen, die von der Virenkreatur infiziert oder befallen worden sind, oder wie auch immer man das nennen will. Sie hat uns mit einer ungewöhnlich guten Gesundheit ausgestattet sowie aus einem für uns unerfindlichen Grund mit dieser merkwürdigen Fähigkeit, ehemalige Wirtskörper wiederzuerkennen. Warum sollte dieses Wesen das wollen? Und was genau hat es mit uns angestellt?«
Ohne auf eine Antwort zu warten, fuhr Hewlitt fort: »Handelt es sich dabei um telepathische oder eher um empathische Fähigkeiten wie bei Prilicla? Wahrscheinlich nicht, da wir weder die Gedanken noch die Gefühle des anderen empfangen können. Ich verstehe nicht genug von Xenobiologie oder vom Verhalten extraterrestrischer Viren, seien sie nun intelligent oder nicht, aber alle weigern sich, und damit meine ich natürlich insbesondere Sie, Padre, mir irgendwelche Fragen zu beantworten. Gehe ich dennoch recht in der Annahme, daß wir diese Wiedererkennungsfähigkeit nur dadurch erlangt haben können, weil in uns eine physische Veränderung stattgefunden hat? Ist dieses unsichtbare Erkennungsmerkmal, durch das sich ehemalige Wirtskörper gegenseitig identifizieren können, lediglich eine Begleiterscheinung oder steckt noch etwas anderes dahinter? Etwas, das die Virenkreatur mit allen Wesen anstellt, die von ihr befallen werden? Hat womöglich der Fortbestand dieser Spezies irgend etwas damit zu tun? Sind wir alle von diesem Ding besamt worden und züchten munter wachsende Embryos dieser Spezies heran?«
Hewlitt hielt gerade auf einem Bein das Gleichgewicht, während er mit dem anderen in den Strahlenschutzanzug stieg. Der Padre stand, ohne etwas zu sagen, reglos hinter ihm und stützte Hewlitts Oberkörper ab. Das entstandene Schweigen wurde schließlich vom Padre unterbrochen.
»Aus genau den Gründen, die Sie eben genannt haben, hat man mir verboten, Ihnen irgendwelche Fragen zu diesem Thema zu beantworten. Man wollte Ihnen den seelischen wie mentalen Stress ersparen, wenn Sie von unseren beängstigenden Vermutungen erfahren hätten. Da nun aberfeststeht, daß Sie selbst daraufgekommen sind, werde ich mich mit meinen Antworten nicht mehr länger zurückhalten müssen.«
Hewlitt schwieg; er war sich nicht einmal mehr sicher, ob er seine Fragen überhaupt noch beantwortet haben wollte.
»Wie Sie bereits wissen, ist einer der wichtigsten Faktoren bei der Behandlung von Patienten in einem Multispezies-Krankenhaus, daß wir kein Risiko gegenseitiger Ansteckung eingehen müssen, weil Krankheitserreger oder Keime, die sich auf einem Planeten X entwickelt haben, eine auf einem Planeten Y entstandene Lebensform nicht befallen können. Aus dieser Tatsache haben wir sehr viel Zuversicht geschöpft, und in der gesamten erforschten Galaxis ist nie eine Ausnahme von dieser Regel entdeckt worden. Jedenfalls bis heute nicht.«
»Aber dieses Virus ist doch gar nicht schädlich!« widersprach Hewlitt. »Er ist keine Krankheit, sondern genau das Gegenteil.«
»Sicher, und dennoch bleibt es ein Virus, eine Form eines speziesübergreifenden Krankheitserregers, und das mit allen dazugehörigen Konsequenzen. Zugegebenermaßen handelt es sich voraussichtlich um einen intelligenten, vielleicht sogar um einen hochintelligenten Organismus, der wahrscheinlich keinen Schaden anrichten möchte, aber wir können uns dessen nicht sicher sein. Möglicherweise legen wir das selbstsüchtige Verlangen, einen Wirtskörper aufzusuchen und diesen bei optimaler Gesundheit zu halten, irrtümlicherweise als Selbstlosigkeit aus. Sicherlich wäre ein solch selbstloses Verhalten ein sehr tröstlicher Gedanke, aber in einer Einrichtung wie dem Orbit Hospital können wir es uns nicht leisten, die Möglichkeit auszuschließen, daß es sich bei diesem Wesen um den schlimmsten medizinischen Alptraum handelt, den man sich vorstellen kann. Dabei spielt es überhaupt keine Rolle, ob die Handlungen dieses Wesens von Intelligenz und Altruismus gesteuert werden oder Folge eines stark ausgeprägten Selbsterhaltungstriebs sind.«
»Ich verstehe immer noch nicht, warum Sie sich alle solche Sorgen machen. Diese Virenkreatur heilt andere Wesen«, wandte Hewlitt ein.
»Sie vergessen dabei, was sie angerichtet hat«, entgegnete Lioren.»Unseres Wissen hat sie bislang sechsmal diese Speziesbarriere durchbrochen. Dies hat sie mit Leichtigkeit getan und ohne die natürlichen Abwehrkräfte der Wirtskörper zu aktivieren, obwohl sie später auf sämtliche toxischen Stoffe oder Medikamente, die den von ihr befallenen Wesen verabreicht wurden, überreagiert hat. Letztendlich haben wir es mit einem Allroundvirus zu tun, mit einer organisierten, intelligenten Virenansammlung, die ihren Körperbau beliebig verändern kann und sich im hohen Maße den Temperaturen, Physiologien und Metabolismen einer bislang noch unbekannten Anzahl ehemaliger Wirtskörper anpassen kann…«
»Moment mal«, unterbrach ihn Hewlitt. »Hat das medizinische Team der Rhabwar davon gewußt und mir diese Informationen bewußt vorenthalten?«
»Ja, und zwar spätesten zu dem Zeitpunkt, als allen klar wurde, daß Lonvellins ehemaliger Leibarzt darin verwickelt ist und Sie auf neue Medikamente nicht mehr überempfindlich reagiert haben. Prilicla wollte aber nicht, daß Sie sich Sorgen machen.«
»Jetzt fällt mir auch wieder ein, daß Naydrad auf dem Rückflug von Etla gesagt hat, meine Probleme würden jetzt erst anfangen«, erinnerte sich Hewlitt. »Und ich dachte immer, sie hätte damit was ganz anderes gemeint.«
»Nein, genau das hat sie damit gemeint«, bestätigte Lioren Hewlitts Vermutungen und fuhr fort: »Ein Organismus, der zu all dem in der Lage ist, könnte in der Tat sehr gefährlich sein. Auch wenn er keinen Schaden anrichten will, so birgt der Mechanismus, der ihn dazu befähigt, sich so leicht zwischen den verschiedenen Spezies zu bewegen, die Gefahr, tödlichen Krankheitserregern als eine Art Brücke zwischen ehemaligen Wirtskörpern zu dienen. Falls ein solch anpassungsfähiger, speziesübergreifender Krankheitserreger im Hospital freigesetzt wird, kann es selbstverständlich durchaus möglich sein, daß die Virenkreatur die davon befallenen Patienten heilt, wie sie es schon bei früheren Gelegenheiten getan hat. Das heißt, wenn es uns gelingt, mit ihr zu kommunizieren und ihr unsereSorgen mitzuteilen.
Doch würde es in dem Fall nur ein einziges Individuum sein, das versuchen müßte, sämtliche Patienten gleichzeitig zu heilen, und sollte es eine krankenhausweite Epidemie geben, wäre das nicht schnell genug. Das Orbit Hospital und vielleicht die gesamte galaktische Föderation könnten in ernste Schwierigkeiten geraten.
Das würde auch das vorläufige Ende unserer gegenwärtig völlig ungehinderten Kontakte zwischen den planetarischen Kulturen bedeuten«, beendete Lioren seine Erläuterungen. »Und wir wären dazu gezwungen, fast nur noch unsere Heimatplaneten zu bewohnen oder bei Besuchen fremder Welten strikte Vorsichtsmaßnahmen treffen zu müssen.«
»Das also ist der Grund, weshalb die Evakuierungsschiffe noch nicht andocken dürfen«, seufzte Hewlitt.
Dieses Mal stellte er ausnahmsweise keine weiteren Fragen.