19. Kapitel


Prilicla durchbrach das darauffolgende Schweigen, indem er sagte: »Freund Hewlitt, zunächst einmal würden wir gern denselben Weg zurückverfolgen, den Sie damals genommen haben, und zwar von dem Loch im Gartenzaun, durch das Sie entwischt sind, bis zu dem besagten Baum, von dem Sie gefallen sind. Wenn Sie soweit sind, gehen Sie uns bitte voran.«


Hewlitt stapfte auf der anderen Seite des Gartenzauns durch das hohe, dichte Gras, das, wenn man nicht genauer hinsah, wie eine terrestrische Wiese aussah. Überhaupt hatte man das Gefühl, auf der Erde zu sein, zumal die Insekten viel zu klein waren, als daß man Unterschiede hätte erkennen können, und wenn man auf die heiße Sonne und den blauen Himmel mit seinen bizarren Wolken blickte, dann war einem hier als Terrestrier eigentlich gar nichts mehr fremd. Stillman hielt mit ihm Schritt, sagte aber keinen Ton, und die anderen blieben zu weit hinten, als daß Hewlitt ihre Gespräche hätte verstehen können. Er befürchtete, daß sie sich höchstwahrscheinlich gerade über ihn unterhielten und die medizinischen und psychologischen Auswirkungen seiner letzten Geschichte erörterten, die sie bestimmt wieder einmal als eine Ausgeburt seiner übersteigerten Phantasie betrachteten.


»Anfangs bin ich mir zwar nicht ganz sicher gewesen, Doktor Stillman, aber dann habe ich Sie doch wiedererkannt«, versuchte er schließlich den Monitoroffizier in ein Gespräch zu verwickeln, um auf andere Gedanken zu kommen. »Damals sind Sie mir natürlich viel größer vorgekommen, aber das liegt wohl daran, daß Kinder die meisten Erwachsenen für Riesen halten. Das liegt an der Perspektive. Trotzdem scheinen Sie sich kaum verändert zu haben.«


»Ehrlich gesagt, habe ich Sie überhaupt nicht wiedererkannt«, antwortete Stillman und klopfte sich lächelnd auf seinen etwas fülligen Bauch. »Nun ja, ich bin eben mehr in die Breite gegangen, während Sie offensichtlich in die Höhe geschossen sind.«»Jedenfalls kann man von Glück reden, Sie hier auf Etla noch angetroffen zu haben«, fuhr Hewlitt fort. »Ich habe nämlich immer gedacht, daß Mitarbeiter des Monitorkorps häufiger ihren Einsatzort wechseln.«


»Ich bin eigentlich sehr glücklich hier auf Etla«, murmelte Stillman.


Danach gingen die beiden wenigstens dreißig Schritte schweigend weiter, und Hewlitt begann sich bereits zu fragen, ob er eben etwas Beleidigendes gesagt haben könnte, als Stillman fortfuhr: »Die Kulturkontaktsituation auf diesem Planeten ist noch immer… nun ja, sehr interessant und auch ein wenig komplizierter als üblich, weil uns die Einheimischen hier kaum fremd sind. Wenn man es nämlich mit einer völlig fremden intelligenten Spezies zu tun hat, dann werden bei eventuell auftretenden Mißverständnissen auf beiden Seiten rasch Zugeständnisse gemacht. Hier auf Etla versuchen wir hingegen, eine Zivilisation, die auf Abwege gebracht worden war, sowohl zu verstehen, als auch allmählich umzuerziehen. Besser gesagt, sind die Etlaner von ihrem Imperator falsch informiert und zur Massenxenophobie aufgehetzt worden, um sich mit allen Mitteln gegen eine nicht existierende Bedrohung zu verteidigen. Also mußten wir erst einmal ihr Vertrauen gewinnen und ihnen beweisen, daß fremde intelligente Lebensformen nicht unbedingt besser oder schlechter sind als sie, sondern einfach nur anders.


Schon zu Ihrer Zeit auf Etla waren ganz bewußt einige Extraterrestrier hier auf dem Stützpunkt stationiert. Dahinter steckte die Idee, den etlanischen Fremdenhaß abzuschwächen, indem wir gezeigt haben, daß Aliens Seite an Seite mit uns harmonisch leben und arbeiten können. Hin und wieder haben wir einige ETs zu sehr sorgfältig vorbereiteten Besuchen öffentlicher Veranstaltungen geschickt, natürlich stets in Begleitung verdeckt arbeitender Leibwächter. Zum Beispiel wohnten sie als Zuschauer wichtigen Sportveranstaltungen bei oder nahmen an Aussichtsfahrten teil, wobei sie zumeist selbst zur größten Attraktion wurden. Am wichtigsten aber waren die Besuche von Schulen und die dort geführten Gespräche mit den Kindern. Heute kommen auf jeden terrestrischen oder sonstigen Mitarbeiter des Stützpunktpersonals drei Etlaner, so daß das Kulturkontaktprogramm sehr große Fortschritte macht.Erschwert wird diese Arbeit allerdings durch den Umstand, daß die Etlaner, obwohl sie im Grunde sehr umgängliche und freundliche Wesen sind, über einen enormen Stolz verfügen. Selbst ich vergesse manchmal, wie anders sie sind, so daß immer noch Mißverständnisse tagtäglich auftreten. Deshalb ist Shech-Rar auch alles andere als erfreut – und bei seinem natürlichen Mangel an Charme mögen sich seine Äußerungen etwas unwirscher anhören, als sie gemeint sind -, daß ein so bunt gemischter Haufen wie der Ihre hier eine nicht genauer umrissene Untersuchung durchführt und womöglich in völliger Verkennung der Situation auf diesem Planten überall herumstromert.


Nehmen Sie das bitte nicht persönlich«, fügte Stillman hinzu. »Sie haben nämlich soeben eine knappe und leicht abgeänderte Zusammenfassung meiner Begrüßungsrede für neu eingetroffenes Monitorkorpspersonal gehört.«


Hewlitt hielt es nicht für angebracht, etwas darauf zu erwidern, zumal er hörte, daß die anderen allmählich von hinten aufrückten und augenscheinlich lieber zuhören wollten, worüber er sich gerade mit Stillman unterhielt, als selbst miteinander zu reden.


Stillman lachte kurz auf und fuhr dann fort: »Wenn ein engagiert und erfolgreich arbeitender Korpsoffizier erst einmal das Vertrauen der Einheimischen gewonnen hat, sehen es seine Vorgesetzten natürlich gern, wenn er so lange wie möglich bleibt, um eine Kontinuität dieses Prozesses zu gewährleisten. Offenbar habe ich diesbezüglich eine ganz besondere Begabung an den Tag gelegt, denn schließlich habe ich eine Etlanerin geheiratet und bin sogar noch nach meiner Pensionierung auf diesem Planeten geblieben. Meine Frau ist natürlich auch der Grund, weshalb ich Ihnen eben gesagt habe, daß ich hier sehr gerne lebe.«


»Ich verstehe«, merkte Hewlitt an.


Stillman schien Hewlitts leichte Verlegenheit zu registrieren und sagte: »Keine Sorge, ich werde auf meine alten Tage schon nicht sentimental. Ich habe meine Frau bereits im zweiten Jahr hier auf Etla kennengelernt. Sie hat damals als das gearbeitet, was man hier als › Lehrmeisterin der Kinder ‹bezeichnet. Das sind etlanische Frauen, die die Vier- bis Siebenjährigen unterrichten. Und meine Frau ist damals die erste Etlanerin gewesen, die sich damit einverstanden erklärte, ihre Klasse gemeinsam mit einem tralthanischen Lehrer zu unterrichten. Also ist sie schon zu jener Zeit davon überzeugt gewesen, Kinder am besten möglichst frühzeitig mit Aliens zu konfrontieren, damit sie erst gar nicht in die Versuchung geraten konnten, die Vorurteile ihrer Eltern zu übernehmen. Meine Frau ist damals Witwe gewesen. Seinerzeit gab es hier furchtbar viele Witwen und Waisenkinder. Da wir logischerweise selbst keine Kinder kriegen konnten, haben wir vier adoptiert, bevor wir zu alt wurden, um… «


»Doktor Stillman?« rief Murchison, die größere Schritte machte, bis sie die beiden eingeholt hatte. »Ich weiß zwar, daß die Natur der gemeinsamen Fortpflanzung unterschiedlicher Arten einen Riegel vorgeschoben hat, doch wenn Sie von einer Ausnahme wissen sollten, die die Regel bestätigt, könnte das eine Antwort auf einige ungeklärte medizinische Fragen sein. Vielleicht würde dadurch auch alles nur noch verwirrender. Haben Sie schon mal von einem solchen Ausnahmefall gehört? Und wenn ja, ist es möglich, daß ein Elternteil von Hewlitt etlanisch oder er selbst vielleicht ein etlanisches Pflegekind gewesen ist?«


Stillman schüttelte den Kopf. »Tut mir leid. Ich weiß nur, daß seine Eltern immer kerngesund gewesen sind, und bei Hewlitts Geburt bin ich sogar dabeigewesen.«


»Das war auch nur so eine verrückte Idee«, entschuldigte sich Murchison und ballte die ausgestreckte Hand zur Faust. »Wenn man nicht mehr weiter weiß, greift man eben nach jedem hypothetischen Strohhalm.«


Hewlitt sagte weiterhin nichts. Zeitweilig hatte er sogar das merkwürdige Gefühl, alles doppelt wahrzunehmen. Das Gras ging ihm bis zu den Hüften, als ob er vier Jahre alt wäre, die Bäume und Büsche waren nun höher und dichter, aber auch er war gewachsen, und der Geruch der sonnengewärmten Vegetation und die surrenden Laute der Insekten waren genauso wie früher. Lediglich die Entfernungen zwischen den Orientierungspunkten waren mit dem Alter geschrumpft.»Ich kann mich an all das hier sehr gut erinnern«, sagte er schließlich und zeigte dabei auf einen Busch. »An dieser Stelle habe ich mich etwas länger aufgehalten und gespielt.«


»Können Sie sich auch daran erinnern, ob Sie etwas gegessen haben?« erkundigte sich Murchison. »Irgendwelche Wildbeeren? Oder haben Sie vielleicht auf Grashalmen herumgekaut? Eventuell haben Sie nämlich irgendein Gegengift zu sich genommen, durch das die Wirkung der toxischen Frucht, die sie dann später gegessen haben, neutralisiert wurde.«


»Nein«, antwortete Hewlitt knapp und zeigte auf eine Hausruine. »Als nächstes bin ich da vorne bei dem zerstörten Gebäude gewesen. Ich wundere mich nur, daß es bis heute noch nicht abgetragen oder wiederaufgebaut worden ist. Mir kommt diese ganze Gegend noch immer wie die reinste Wildnis vor.«


Stillman blieb kurz stehen und machte eine weit ausladende Geste. »Man hat hier alles ganz bewußt unverändert gelassen. Genau an dieser Stelle wurde nämlich die entscheidende Schlacht geschlagen, durch die der Imperator letztendlich gestürzt wurde, und am Rande dieser Gegend wohnen auch die meisten Fremdweltler. Es soll sowohl als Mahnung an eine finstere Vergangenheit als auch als ein Versprechen an eine bessere Zukunft dienen. Bislang scheint das funktioniert zu haben. An Feiertagen kann man hier sehr schön picknicken, es sei denn, etlanische Kinder finden irgendwelche fremdweltlerischen Blagen zum Spielen, dann ist der Radau nämlich unerträglich.«


In dem bis auf die Grundmauern abgebrannten Haus konnte man durch das offene Dach hindurch den Himmel sehen, und der überall auf dem Boden herumliegende Schutt war von Unkraut überwuchert. Eine Wand war von Brandflecken übersät, und selbst nach all den Jahren bildete man sich ein, den stechenden Geruch des Rauchs in der Nase zu spüren. Eine neue Generation kleinerer Tiere und Insekten krabbelte und huschte durch das Unkraut, und Murchison erkundigte sich bei Hewlitt, ob er sich daran erinnern könne, von einem dieser Tiere gebissen oder gestochen worden zu sein. Obwohl er daraufhin nur den Kopf schüttelte, bat sie Naydrad, ihrbeim Sammeln und Einfangen einiger der selteneren Exemplare für eine spätere Untersuchung zu helfen.


»Als nächstes bin ich da hinten zu dem ausgebrannten Kampfpanzer gegangen«, erinnerte sich Hewlitt.


Dieses Mal übernahm Fletcher den Hauptteil der Erkundungen. Draußen konnte man hören, wie er durch das dunkle Innere kroch und mürrisch vor sich hin murmelte, daß es dort drinnen für einen erwachsenen Mann sehr viel enger als für ein Kind sei, bis sein Kopf wieder in der Einstiegsluke auftauchte.


»Bei dieser Rostlaube handelt es sich um einen technisch etwas rückständigen Schützenpanzer für eine dreiköpfige Besatzung«, berichtete er. »Das größere Geschütz dient zum Abfeuern von Granaten, das kleinere ist eine Art Maschinengewehr. Die Munition, der Brennstoff und die meisten Bedienungselemente sind entfernt worden. Außer ein paar wertlosen Gerätschaften und einer Menge Insekten gibt es da drinnen nicht mehr viel zu entdecken. Brauchen Sie ein paar Exemplare?«


»Ja, bitte«, antwortete Murchison. »Und wenn möglich andere als aus dem Haus.«


»Für mich sehen diese Viecher eins wie's andere aus«, grummelte Fletcher und verschwand wieder in der Versenkung.


»Falls Sie Informationen über einheimische Insekten benötigen, dann sollten Sie sich an meine Frau wenden«, schlug Stillman vor. »Sie ist Ihnen bestimmt gern behilflich. Wonach suchen Sie denn?«


»Das wissen wir selbst nicht so genau, Doktor«, antwortete Murchison. »Es ist aber durchaus möglich, daß Hewlitt damals beim Spielen viel zu aufgeregt war, um sich heute noch daran zu erinnern, ob er gebissen oder gestochen wurde, und das wiederum könnte durchaus von Bedeutung für das sein, was später mit ihm geschehen ist.«


»Aha, ich glaube, ich verstehe«, meinte Stillman. Die anderen folgten Hewlitt jetzt zu einem zweiten Panzerfahrzeug, und zwar zu jenem, das auf die Seite gekippt war und dessen gerissene Ketten wie schmaleRostteppiche im Gras lagen. Danach begaben sie sich auch zu den anderen Fahrzeugen, in oder auf denen er einst gespielt hatte. Alle anderen Gespräche waren längst eingestellt, denn Hewlitt erzählte während des Erkundungsgangs jede Einzelheit, an die er sich erinnern konnte. Schließlich gelangten sie zu dem großen Baum mit den gewundenen Ästen und Zweigen, die weit über den steilen Abhang der Schlucht hinausragten und an denen die grün-gelben, birnenförmigen Früchte hingen.


»Die Äste sehen nur auf den ersten Blick so kräftig aus, aber das täuscht!« rief Stillman, als Fletcher gerade auf den Baum klettern wollte. »Glauben Sie mir, das Gewicht eines Erwachsenen werden die nicht tragen.«


»Das ist kein Problem, Freund Stillman«, meinte Prilicla und schwang sich mit zunehmendem Flügelschlag wie eine schillernde Riesenlibelle in die Lüfte, bis er über den fruchttragenden Zweigen in der Höhe der Baumkrone schwebte.


»Seien Sie bitte vorsichtig, Doktor!« rief Stillman ihm mit besorgter Stimme hinterher. »Um diese Jahreszeit ist die Schale nur sehr dünn, und die Früchte sind randvoll mit Saft.«


Danach sagte der Major keinen Ton mehr, obwohl man ihm ansehen konnte, daß er sich einige Male gern eingemischt hätte, als Hewlitt beschrieb, wie er damals die Frucht gepflückt und gegessen hatte und wie er vom Baum gefallen und erst unten in der Schlucht wieder aufgewacht war, als sich der junge Stabsarzt Stillman über ihn gebeugt hatte. Während sie den steilen Abhang hinabstiegen, preßte der Major die Lippen derart fest zusammen, daß man hätte denken können, sie wären zusammengenäht worden.


»Ich merke, daß Sie etwas sagen wollen, Freund Stillman«, stellte Prilicla nicht ganz zu unrecht fest. »Worum geht's?«


Der Monitoroffizier blickte zunächst auf den von Felsgestein und Trümmern übersäten Boden der Schlucht und dann zu den hoch oben hängenden Früchten des Pennisithbaums hinauf. Im Gegensatz zu damals schien die Sonne sehr hell, und erst jetzt wurde Hewlitt bewußt, wiegefährlich dieser steile Abhang war und welch unsägliches Glück er gehabt hatte, den Sturz ohne ernsthafte Verletzungen überstanden zu haben.


Stillman räusperte sich und sagte: »Pennisithbäume sind auf Etla sehr selten und stehen trotz ihrer hochgiftigen Früchte unter Naturschutz. Dieser Baum hier ist sehr alt und wächst nur noch äußerst langsam, so daß er heute höchstens ein, zwei Meter höher ist als zu der Zeit, da der kleine Hewlitt von ihm herabfiel und in diese tiefe und gefährliche Schlucht stürzte. Wenn er damals bis in die obersten Zweige hinaufgeklettert ist und auch nur einen kleinen Happen von einer dieser Früchte gegessen hat und dann auch noch in diese Schlucht gestürzt ist, dann hätte er sozusagen in doppelter Hinsicht tot sein müssen.


Ich möchte Ihnen wirklich nicht zu nahe treten«, fuhr er fort und blickte Hewlitt dabei direkt in die Augen, »doch kann ich mir die Ereignisse nur dadurch erklären, daß Sie nach dem langen Spielen in der sengenden Sonne übermüdet, hungrig und durstig gewesen sind. Der Anblick der Früchte hat Sie höchstwahrscheinlich tatsächlich dazu verlockt, den Baum hinaufklettern zu wollen, doch mußten Sie dieses im wahrsten Sinne des Wortes fruchtlose Unterfangen vorzeitig abbrechen und sind auf dem Hosenboden die Schlucht hinuntergerutscht und nicht etwa in sie hineingefallen. Der damalige Zustand ihrer Kleidung sowie der Umstand, daß Sie nicht einen einzigen Kratzer oder blauen Flecken abbekommen haben, bestätigt nur diese Theorie. Nach dem gescheiterten Versuch, auf den Baum zu klettern, um an die Früchte zu gelangen, sind Sie eingeschlafen, so daß Ihre Erinnerungen an dieses Ereignis eine Mischung aus Realität und Träumen sind.


Tut mir leid«, beendete Stillman seine Ausführungen, »bestimmt haben Sie nicht bewußt gelogen, aber genausowenig können Sie die Wahrheit gesagt haben.«


Die folgenden Minuten zog es das medizinische Team vor, auf diplomatische Weise zu schweigen und sich lieber dem Sammeln von Pflanzen- und Insektenproben für Murchison zu widmen. Hewlitt hatte sich über all die Jahre hinweg längst an die höflich geäußerte Skepsis anderergewöhnt, und Stillman war nur einer von vielen Ärzten, die zu dem Schluß gelangt waren, daß er lediglich ein Opfer seiner übersteigerten Phantasie sei, so daß er auf die Äußerungen des Majors eher gelassen als zornig reagierte. Deshalb wunderte er sich auch zunächst, als Prilicla beim Fliegen gewisse Anzeichen von Instabilität verriet – an seiner eigenen emotionalen Ausstrahlung konnte es nach seinem Dafürhalten nicht gelegen haben. Weniger überrascht war er allerdings, daß der Empath die Ursache für sein Zittern bereits verkündete, bevor sich jemand danach erkundigen konnte.


»Sie strahlen in einem sehr hohen Maß Neugier und Aufregung aus, Freund Fletcher. Warum?«


Der Captain kniete neben einem dicken, torpedoförmigen Gegenstand, der von dem Unterholz und dem Erdreich, das durch starke Regenfälle den Abhang hinuntergespült worden war, fast völlig verdeckt wurde. Fletcher öffnete seine Ausrüstungstasche und holte daraus ein Gerät hervor, das wie eine Tiefenscanner aussah.


»Es gibt bei diesem Flugobjekt Hinweise auf eine außerplanetarische Technik«, stellte er fest. »Baulich scheint es mir höher entwickelt zu sein als die anderen Trümmer, die hier herumliegen. Sobald ich einen näheren Blick ins Innere geworfen habe, kann ich mehr dazu sagen.«


»Vielleicht ist das, was ich jetzt sage, nicht so wichtig, aber Hewlitt ist damals direkt neben diesem Ding aufgefunden worden«, merkte Stillman an. »Zu dem Zeitpunkt interessierte mich der Gesundheitszustand des kleinen Hewlitt natürlich mehr als irgendeins von diesen überall herumliegenden Wrackteilen.«


»Vielen Dank, Doktor«, sagte Murchison, die sich sofort zu Fletcher gesellt hatte. »Danalta und Naydrad! Bevor wir nicht genau wissen, worum es sich bei diesem Fluggerät handelt, brauchen Sie auch keine weiteren Proben einzusammeln.«


Sowohl aufgrund der emotionalen Ausstrahlung der anderen als auch durch seine eigene Aufregung noch immer zitternd, ließ sich Prilicla auf dem Boden neben den anderen nieder und sagte: »Sämtliche Aufzeichnungsgeräte sind eingeschaltet, Freund Fletcher. Sie können jetztanfangen.«


Während der Captain buchstäblich alles, was er während jedes einzelnen Stadiums seiner Untersuchung sah, dachte oder tat, laut beschrieb, fielen die Wörter und Handlungen des Captains derart präzise und gelassen aus, daß sich Hewlitt zu fragen begann, ob Fletcher den Bericht allein für die Nachwelt erstellen wollte, da ihm das Ding jeden Augenblick um die Ohren fliegen könnte. Doch selbst Prilicla, für den Ängstlichkeit zum Überleben unabdingbar war, und alle anderen standen oder schwebten so nahe wie möglich bei Fletcher, ohne ihn bei der Arbeit zu behindern, und sie schienen völlig unbekümmert zu sein. Hewlitt faßte sich ein Herz und trat nun auch näher heran.


Laut Fletcher handelte es sich bei dem raketenähnlichen Flugobjekt um einen knapp drei Meter langen Hohlzylinder mit einem Durchmesser von einem halben Meter, ausgestattet mit jeweils vier Dreiecksflügeln in der Mitte und am Leitwerk. Die Außenfläche des Gehäuses war verrostet und stark verfärbt, und es gab Schmelzspuren, so daß es kurzfristig extrem hohen Temperaturen ausgesetzt gewesen sein mußte. Außerdem stellte Fletcher eine sehr schwache und harmlose radioaktive Reststrahlung fest, was daraufhindeutete, daß der Flugkörper vorübergehend einer externen Quelle starker atomarer Strahlung und extremer Hitze ausgesetzt gewesen sein könnte. Der Antrieb wurde durch ein chemisches Gemisch bewirkt, das einst Dreiviertel des Gesamtvolumens ausgemacht hatte. Aufgrund einer ersten Analyse der Schmauchspuren und Brandrückstände und nach einer ungefähren Berechnung des Gewichts schätzte Fletcher die Reichweite des Flugobjekts auf hundert bis hundertzwanzig Kilometer.


Entlang der Längsachse befanden sich zwei kleine, vertieft angebrachte Schotts mit geöffneten schwenkbaren Klappen, die etwa einen Meter auseinander lagen und vom Schwerpunkt des Flugobjekts exakt gleich entfernt waren. Die Überreste von jeweils vier verrotteten Kabelsträngen, die aus den Öffnungen hervorragten, ließen darauf schließen, daß das Flugobjekt mit Hilfe eines Zwillingsfallschirms in waagerechter Position weich landen sollte. Zwar waren keine Fallschirmstoffreste mehr zuentdecken, doch Fletcher meinte, dies könne auch daran liegen, daß sie entweder biologisch abbaubar gewesen seien oder auf dem Weg nach unten an Ästen und Zweigen hängengeblieben und abgerissen worden seien.


»Die ersten zwanzig Zentimeter der Rumpfnase sind nach unten geklappt«, fuhr Fletcher fort. »Wahrscheinlich ist die Luke bei der Landung aufgesprungen und wurde später von Gras und Erdreich bedeckt. Neben dem Schnappmechanismus scheint sie dicht mit Polstern ausgestattet zu sein, die nicht verrottet sind. Das vordere Viertel des Flugobjekts, in dem ich normalerweise den Sprengkopf erwartet hätte, ist ebenfalls mit Polstern gefüllt, abgesehen von einem zylindrischen Hohlraum von etwa zehn Zentimetern Durchmesser, der sich etwa über einen Dreiviertelmeter entlang der Längsachse erstreckt. In diesem Hohlraum befindet sich eine ebenfalls zehn Zentimeter breite Plastikscheibe, die auf der Vorderseite dick gepolstert und auf der Rückseite mit einer kurzen Stange verbunden ist und… und das sieht ganz wie ein Kolbenmechanismus aus, der dazu dient, irgendeine Art zylindrischen Behälter aus dem inneren Hohlraum zu katapultieren. Aufgrund einer möglichen Fehlfunktion oder Bruchlandung ist der Kolben jedoch auf halbem Wege steckengeblieben, so daß der Behälter nicht völlig ausgestoßen und unbekannte Zeit später zerstört wurde.«


Die Handschuhe, die er trug, waren wie eine zähe, durchsichtige zweite Haut und boten sowohl eine fast uneingeschränkte Beibehaltung des Tastgefühls als auch einen maximalen Schutz. Fletcher blickte unentwegt auf das Display des Scanners, während er die freie Hand vorsichtig in die Öffnung hineinführte.


»Neben ganzen Horden von Insekten, die in den Polstern nisten, gibt es da drinnen kleine Stücke aus glasähnlichem Material und… ja, und in der Erde und im Gras um die aufgeklappte Luke herum kann ich auch ein paar Splitter davon erkennen. Auf der einen Seite scheinen sie stark poliert und auf der anderen mit einem dunkelbraunen Anstrich versehen zu sein. Ich nehme an, Sie wollen ein paar Proben haben, stimmt's?«Murchison, die bereits auf Händen und Knien neben Fletcher robbte, stimmte selbstverständlich sofort zu.


Hewlitt konnte sich nicht daran erinnern, jemals zuvor aus dem Munde eines Menschen das Wort ›Ja‹ in einer solchen Mischung aus Leidenschaftlichkeit und unterdrückter Begeisterung gehört zu haben. Der Captain reichte Murchison eins der Bruchstücke, das sie sofort in den transportablen Analysator steckte, der an ihrem Ausrüstungsgurt hing. Danach warteten alle ungeduldig auf die Ergebnisse.


»Unser Analysator stimmt mit Ihnen völlig überein«, sagte Murchison schließlich zu Fletcher. »Es handelt sich um dünnes und etwas spröde gewordenes Plastik, das stark an herkömmliches Glas erinnert. Der Krümmungsgrad läßt zudem daraufschließen, daß es sich um das Fragment eines zylindrischen Körpers handelt. Neben einiger weniger Reste von Insektenexkrementen ist die Außenfläche sauber und blank poliert. Bei dem undurchsichtigen Anstrich auf der Innenseite scheint es sich um synthetische Nährstoffe zu handeln, wahrscheinlich in flüssiger Form, die nun getrocknet sind. Wenn ich noch ein paar Proben bekomme, um sie später zur genaueren Bestimmung in den Analysator an Bord der Rhabivar m geben, kann ich Ihnen auch demnächst verraten, welche Lebensform damit ernährt werden sollte. Zur Zeit kann ich nur sagen, daß dieses Flugobjekt einen oder mehrere Organismen beherbergt hat, die am Leben erhalten werden sollten.«


Fletcher wollte der Pathologin gerade ein weiteres Bruchstück übergeben, als er kurz innehielt und Stillman mit ernster Miene fragte: »Haben die Etlaner eigentlich jemals chemische oder biologische Waffen eingesetzt, Doktor?«


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