16.

Der Gedanke ließ ihn nicht mehr los. Irgendwann im Laufe der Nacht schlief er doch ein, schon aus purer Erschöpfung, aber es war ein unruhiger, von düsteren Visionen und Alpträumen heimgesuchter Schlaf, aus dem er erschöpfter erwachte, als er hineingesunken war.

Lange vor Sonnenaufgang stand er wieder auf, zog sich an und verließ seine Kammer. Er war kein Gefangener - Drask hatte ihm nicht nur erlaubt, sondern ihn sogar ausdrücklich dazu aufgefordert, sich nach Belieben in der Festung umzusehen und auch Vorschläge zu machen, sollte ihm eine Schwäche in ihrer Anlage oder eine Möglichkeit zur Verbesserung auffallen.

Skar nutzte diese Erlaubnis nach Kräften aus. Länger als zwei Stunden lief er durch die weitverzweigten Gänge und Hallen der Burg, begutachtete die Wehrmauern und Türme, prüfte den Abschußwinkel der Katapulte, die Ausrichtung der Schießscharten und die Höhe der Brustwehr - tausend Dinge, die vor ihm schon andere getan hatten, viel gründlicher und erfahrener, als er es gekonnt hätte. Skar glaubte auch nicht wirklich, die Verteidigungsfähigkeit dieser Burg irgendwie verbessern zu können. Und er war sich auch darüber im klaren, daß dies nicht der Sinn von Drasks Worten gewesen war. Er brauchte einfach etwas, um sich abzulenken, und Drask seinerseits wollte wohl erreichen, daß die Männer in der Burg sich an Skars Anblick gewöhnten.

Vielleicht war dies das größte Problem, und Skar hatte noch nicht einmal wirklich damit begonnen, es zu lösen: Er war Satai.

Jedermann hier wußte das, spätestens seit seinem Zusammenstoß mit Gorrn am vergangenen Tage. Und Skar gab sich jetzt keine Mühe mehr, seine Identität zu verheimlichen. Er trug Tschekal und Stirnband der Satai ganz offen, und fast bedauerte er jetzt, die Kleider des Satai, den er erschlagen hatte, nicht doch mitgenommen zu haben, denn er hätte sich im schwarzen Mantel und Brustpanzer seines Clans einfach wohler gefühlt als in den schweren Pelzen, die Drask ihm bereitgelegt hatte. Aber er spürte auch die Angst - und den Haß! - die ihm entgegenschlugen. Furcht und Angst in den Augen der Männer, denen er begegnete, und Haß, sobald sich ihre Blicke voneinander lösten und sie glaubten, er merke es nicht.

Das Gefühl schmerzte, auch wenn er es verstand. Vielleicht gerade deshalb um so mehr.

Was war aus Enwor geworden? dachte er bitter. Was war aus der Welt geworden, die zu beschützen er einst bei seinem Leben geschworen hatte? Was hatten sie getan, daß aus Gut Böse und aus Böse etwas noch Schlimmeres geworden war?

Zwei Stunden nach Sonnenaufgang traf er auf einen Leibdiener Drasks, der ihn offensichtlich schon eine geraume Weile gesucht hatte, denn er begann zu rufen und hektisch mit den Armen zu wedeln, lange ehe er Skar erreichte, und sein Atem ging sehr schnell. »Drask... wünscht Euch zu... sprechen, Herr«, keuchte er, als Skar stehenblieb und ihm so Gelegenheit gab, zu ihm aufzuholen. »Bitte kommt. Er... wartet schon eine ganze Weile auf Euch.«

»So?« Skar lächelte humorlos. »Warum hat er nicht meine Gedanken gelesen, um herauszufinden, wo ich bin?«

Der Diener blinzelte irritiert; offensichtlich verstand er nicht, was Skar meinte. Skar machte eine kurze Handbewegung, als er antworten wollte. »Schon gut. Bring mich zu ihm.«

Der Mann führte ihn zurück in die Turmkammer, in der er schon am Tage zuvor mit Drask zusammen gewesen war. Drask selbst war nicht da. Die Fenster standen jetzt weit offen, und im hellen Licht der Vormittagssonne wirkte die halbrunde Kammer um einiges freundlicher - und auch größer - als am Vortag. In der Luft hing ein schwacher, süßlicher Geruch, wie nach Weihrauch, und Skar sah, daß der Tisch reich gedeckt war - für vier Personen. Natürlich, dachte er. Drask hatte ihn sicher nicht hierhergebracht, weil er Gesellschaft brauchte. Das kurze Gespräch gestern war nur der Auftakt gewesen, und Skar ahnte nur zu gut, was nun kommen würde: lange Tage voller endloser Diskussionen, Beratungen und wieder Diskussionen. Drask - wer immer er war - (Skar kam mit einem Gefühl leiser Verwunderung zu Bewußtsein, daß er bisher nicht einmal einen Gedanken an diese Frage verschwendet hatte) würde sich kaum damit zufrieden geben, sich zu fragen, warum Skar wohl hier war und dann achselzuckend weitermachen, als wäre nichts geschehen. Wahrscheinlich, dachte Skar finster, erwartete er eine Art von Wunder von ihm. Der Gedanke erfüllte ihn mit Zorn. Skar, der Satai, dachte er bitter. Der Retter der Welt. Was sollte er tun? Mit den Fingern schnippen und die Sternengeborenen dorthin zurückhexen, wo sie hergekommen waren?

»Wo ist dein Herr?« fragte er.

Der Diener fuhr zusammen, blickte Skar einen Moment sichtlich erschrocken an und rettete sich in ein verlegenes Lächeln. »Ich... weiß es nicht, Herr«, sagte er. »Man hat mir nur aufgetragen, Euch zu suchen und herzubringen. Aber er wird kommen«, fügte er hastig hinzu.

»Und das da?« Skar deutete auf den reich gedeckten Tisch. »Für wen ist das?«

»Ich weiß nicht«, wiederholte der Diener. »Drask pflegt immer gut zu essen. Und... und gerne in Gesellschaft.«

Ja, dachte Skar finster. Er konnte sich gut vorstellen, was kommen würde: Wahrscheinlich würde er das Vergnügen haben, den Vormittag in Gesellschaft irgendwelcher Generäle oder Heerführer zu verbringen, die ihn blöde anglotzten und darauf warteten, daß er weise mit dem Kopf nickte und ihnen mit acht oder zehn knappen Worten eine Verteidigungsstrategie unterbreitete, mit der sie die Quorrl innerhalb einer Woche in ihre Eiswälder zurücktrieben. Skar hatte plötzlich gute Lust, den Tisch umzuwerfen. Aber natürlich tat er es nicht.

»Es ist gut«, sagte er. »Du kannst gehen.«

Der Diener lief hinaus, noch ehe er ausgesprochen hatte. Skar spürte, wie froh er war, aus seiner Nähe verschwinden zu können. Sein Verhalten ärgerte ihn, aber er konnte es verstehen. Er hätte kaum anders reagiert, an seiner Stelle, hätte er sich unversehens einem Mann gegenübergesehen, dessen Brüder seit fünf Jahren versuchten, die Welt zu erobern.

Da es im Moment nichts anderes gab, was er tun konnte, setzte er sich, goß sich einen Becher Wein ein und nippte vorsichtig daran. Er war süß und sehr schwer, und Skar nahm sich vor, nicht zu viel davon zu trinken. Er hatte sich noch längst nicht richtig erholt und mußte einen klaren Kopf behalten.

Aber er blieb nicht lange allein. Schon nach wenigen Augenblicken hörte er Schritte draußen auf dem Gang, dann wurde die Tür aufgestoßen, und der Diener kam zurück. Er war nicht mehr allein. In seiner Begleitung befanden sich Syrr und ihr Bruder. Skar stand auf, musterte die beiden verwirrt und sah den Diener an. »Was -«

»Drask hat es befohlen, Herr«, sagte der Diener hastig, und eindeutig im Tonfall einer Verteidigung. »Er... er sagte, die beiden hier sollten zu Euch gebracht werden. Er sagte, Ihr würdet ihre Gesellschaft schätzen.«

»Das... stimmt«, antwortete Skar automatisch. »Es ist gut. Du kannst gehen.«

Diesmal lief der Diener fast noch schneller aus dem Raum als beim erstenmal. Skar blickte ihm kopfschüttelnd nach, dann wandte er sich an Syrr. »Was ist mit den anderen?« fragte er. »Mit Enwass und seiner Familie? Sind sie in Ordnung?«

Talin starrte ihn nur wortlos an, während auf Syrrs Gesicht ein fast verletzter Ausdruck erschien. Wahrscheinlich war sie enttäuscht, daß Skar so wenig Freude über ihr unverhofftes Wiedersehen zeigte. Nun - genau das sollte sie schließlich sein.

»Sie... sind gesund«, antwortete sie schließlich. »Gorrn hat sie ins Lager bringen lassen, aber Drask selbst hat ihm noch einmal befohlen, sie gut zu behandeln. Ich war dabei.« Und plötzlich war ihre Selbstbeherrschung dahin. Mit einem halblauten Schrei stürmte sie auf Skar zu, warf sich an seine Brust und umklammerte ihn so fest, daß es beinahe weh tat. »Oh, Skar«, schluchzte sie. »Ich bin so froh, dich wiederzusehen. Ich... ich hatte solche Angst, daß sie dir etwas antun!«

Skar löste ihre Hände mit sanfter Gewalt, schob sie erst auf Armeslänge von sich und dann auf einen Stuhl. »Mir ist nichts geschehen«, sagte er betont knapp. »Wie du siehst, geht es mir sogar sehr gut. Aber was tut ihr hier?«

Syrrs Augen wurden groß. »Aber... aber ich dachte, du...«

»Ich?« Skar schnaubte. »Ich habe nichts damit zu schaffen. Ich habe dir schon einmal gesagt, daß ich weder dich noch deinen Bruder noch sonst irgendeine Familie brauche!«

Syrr war verletzt, aber das berührte ihn nicht. Verdammt, er hatte mehr als genug eigene Probleme und weder die Lust noch die Kraft, sich mit einer erst halb erwachsenen Waise und ihrem verhaltensgestörten Bruder abzugeben. Was dachte sich dieser Drask?!

»Ich dachte mir, es würde dir Freude bereiten, ein bekanntes Gesicht zu sehen, Skar«, antwortete eine Stimme von der Tür aus.

Skar fuhr herum und erkannte Drask, der unbemerkt eingetreten war. Zorn flammte in ihm auf.

»Und ich dachte, du hättest versprochen, es nicht mehr zu tun!« fauchte er.

Drask machte eine schuldbewußte Handbewegung. »Verzeih, Skar«, sagte er. »Alte Gewohnheiten legt man nicht so schnell ab. Wenn du willst, lasse ich diese beiden wieder ins Lager zurückbringen.«

Skar dachte einen Moment ernsthaft über seine Worte nach, aber dann schüttelte er den Kopf. Er hätte sie nicht geholt, hätte man ihn gefragt, aber Syrr und Talin jetzt wieder zurückzuschicken, hieße unnötig grausam zu sein. »Nein«, knurrte er. »Gib ihnen ein Zimmer. Vielleicht findest du für das Mädchen eine Arbeit in der Küche, oder sonst etwas, womit sie sich nützlich machen kann.«

»Aber Skar!« sagte Syrr. »Ich dachte -«

»Du sollst gehorchen, nicht denken!« unterbrach sie Skar grob. »Verschwinde!« Er trat ein Stück zurück und wedelte ungeduldig mit der Hand, als sie noch immer zögerte zu gehorchen. Einen Moment lang starrte Syrr ihn fast entsetzt an; mit einem Blick, der Skar an den eines verwundeten Rehs erinnerte, das einfach nicht begreift, woher das Messer in der Hand gekommen war, nach der es sich gebückt hatte, um sich streicheln zu lassen. Dann stand sie so abrupt auf, daß ihr Stuhl scharrend nach hinten flog und um ein Haar umfiel, warf den Kopf in den Nacken und stürmte hinaus.

Drask runzelte die Stirn, sagte aber kein Wort mehr, bis die beiden das Zimmer verlassen hatten. Dann drückte er die Tür hinter ihnen ins Schloß, wandte sich wieder Skar zu und lächelte verlegen. »Verzeih«, sagte er. »Ich dachte wirklich, es würde dich freuen. Manchmal bewahrt einen nicht einmal die Fähigkeit des Gedankenlesens davor, Fehler zu begehen.« Er seufzte, schüttelte abermals den Kopf und kam mit gemächlichen Schritten näher. »Was machen wir nun damit?« fragte er mit einer Geste auf den gedeckten Tisch. »Ein wenig viel für nur zwei, nicht wahr?«

»Was soll das?« fragte Skar grob. »Rufe einen Hofnarren, wenn du Scherze machen willst.«

Drask lachte leise. »Du magst das Mädchen«, stellte er fest. »Unsinn!«

»Doch«, behauptete Drask. »Du bist nur so gereizt, weil du es nicht zugeben willst. Aber vielleicht ist es ganz gut so - wir haben viel zu besprechen.«

»Sicher«, fauchte Skar. »Ich habe auch schon einen Plan, weißt du? Gib mir ein Schwert und ein gutes Pferd, und ich reite nach Orkala und jage die Quorrl zurück in ihre Wälder.«

»Vielleicht machen wir es wirklich so«, antwortete Drask vollkommen ernst. »Aber erst laß uns essen. Eine Nacht ohne Schlaf macht mich immer sehr hungrig.«

Skar stellte die Frage nicht, die Drask mit seinen Worten provozieren wollte, sondern ließ sich ohne ein Wort auf seinen Stuhl sinken. Drasks einladende Geste, sich doch an den Speisen zu bedienen, ignorierte er. Drask zuckte die Achseln, seufzte abermals und beugte sich vor, um kräftig zuzugreifen.

Er entwickelte tatsächlich einen erstaunlichen Appetit. Und ganz getreu seinen Worten aß er sehr ausgiebig und in aller Ruhe, ehe er das Gespräch fortsetzte. Natürlich war sich Skar darüber im klaren, daß nichts von dem, was Drask tat, Zufall oder auch nur Gedankenlosigkeit war - es war ein Spiel, ein Spiel nach Regeln, die er nicht kannte, und das er verlieren mußte. Vielleicht wollte Drask nur sehen, wie er verlor. Es war nicht sehr fair, dachte Skar wütend, gegen einen Mann zu kämpfen, der seine Gedanken las, wie es ihm beliebte.

Fast eine halbe Stunde verging, bis Drask seinen Teller geleert hatte und zurückschob. »So«, erklärte er aufgeräumt, nachdem er mit einem gewaltigen Schluck Wein nachgespült hatte, »jetzt fühle ich mich schon besser. Du hast nichts gegessen?«

»Ich bin nicht hungrig«, erklärte Skar kurz angebunden.

»Das solltest du aber«, erwiderte Drask ernst. »Du hast so wenig Schlaf gehabt wie ich. Und du wirst deine Kräfte bitter nötig haben.«

»Kommst du endlich zur Sache?« knurrte Skar.

Drask zog eine Grimasse, trank einen weiteren Schluck Wein und füllte seinen Becher neu, ehe er weitersprach: »Warum bist du so, Skar?« fragte er. »Du stößt die vor den Kopf, die dir helfen wollen, und verletzt die am meisten, die dich lieben.«

»Vergiß es«, schnappte Skar. »Ich heirate nicht. Dich schon gar nicht.«

Drask starrte ihn eine Sekunde lang verdattert an, dann begann er schallend zu lachen. »Bravo!« sagte er. »Du schaffst es sogar, mich zu verblüffen. Ich sehe, daß zu stimmen scheint, was man -, sich über dich erzählt.« Er wurde übergangslos wieder ernst. »Aber ich spreche nicht von mir«, fuhr er fort. »Das Mädchen, Skar. Syrr. Sie liebt dich, weißt du das?«

Natürlich wußte er es. Er hatte gefürchtet, daß es so kommen würde, die ganze Zeit über.

»Und du hast Angst davor«, stellte Drask fest, als er nicht antwortete. »Nicht wahr? Du hast zu vielen Unglück gebracht - allen, die du geliebt hast. Und jetzt hast du Angst, daß es wieder geschehen könnte. Du hast Angst, daß deine Liebe den Tod bringt.« Er seufzte. »Ich kann dich sogar verstehen.«

Skars Zorn erlosch, und plötzlich fühlte er sich nur noch elend. Drask hatte recht, tausendmal recht. Und es war nicht nur Einbildung.

»Du magst sogar den Jungen«, fuhr Drask erbarmungslos fort. »Vielmehr, als du zugeben würdest, Skar.«

»Mögen? Dieses kleine Ungeheuer!« Skar lachte schrill.

»Oh, ja«, sagte Drask überzeugt. »Gerade deshalb glaubst du, ihn zu verabscheuen. Er erinnert dich an jemanden. An wen? An dich? Oder an Del?«

Skar fuhr auf. »Woher -« Dann fiel ihm wieder ein, daß es nichts in seinem Kopf gab, was Drask nicht wußte.

»Aber genug«, sagte Drask plötzlich. »Wir... haben anderes zu besprechen.« Er gähnte, ohne sich die Mühe zu machen, die Hand vor den Mund zu nehmen, trank wieder einen Schluck Wein und spielte einen Moment gedankenverloren mit dem Becher, ehe er fortfuhr, in völlig verändertem, sehr sachlichem Ton. »Ich habe nachgedacht, Skar«, sagte er, »über dich, über uns, die Quorrl...« Er machte eine vage Handbewegung. »Ich glaube, ich weiß es jetzt.«

»Was?«

»Den Grund deines Hierseins«, erklärte Drask. Er hob rasch und besänftigend die Hand, als Skar auffahren wollte. »Es ist nur eine Vermutung«, fuhr er mit leicht erhobener Stimme fort. »Aber es ist das einzige, was Sinn macht.«

»Und was?« fragte Skar, als Drask abermals eine Kunstpause einlegte, während der er ihn nur auffordernd anstarrte. Drask schien einen ausgesprochenen Sinn für dramatische Auftritte zu haben; aber nicht unbedingt auch das dazu notwendige Talent. »Sie brauchen dich, Skar«, antwortete Drask gewichtig. »Dein Erwachen war kein Zufall. Sie haben dich geweckt, weil sie dich brauchen.« Er beugte sich ein wenig weiter vor, befeuchtete seine Fingerspitze mit der Zunge und nahm einen Brotkrümel damit vom Teller auf. »Es muß etwas mit dem Kind zu tun haben. Irgend etwas, was nur du tun kannst, und sonst kein anderer. Wäre es nicht so, hätten sie niemals das Risiko auf sich genommen, dich zu wecken.«

»Oh«, sagte Skar spöttisch. »Das hält sich in Grenzen.«

»Unterschätze deine Macht nicht, Skar. Du hast sie schon einmal geschlagen, auch wenn es ein Pyrrhussieg war. Du bist vielleicht der einzige, der ihnen wirklich gefährlich werden kann. Und wir sollten diesen Umstand für uns nutzen.«

»Und wie?«

Drask zuckte die Achseln. »Eine gute Frage, die ich im Moment leider nicht beantworten kann. Noch nicht. Aber noch ist etwas Zeit. Solange du hier bist und nichts unternimmst, scheinen sie stillzuhalten.« Er seufzte. »Ich... habe einen Verdacht«, fuhr er stockend fort. »Einen sehr gewagten Verdacht. Ich gestehe, daß ich der einzige bin, der daran glaubt - aber dein plötzliches Erscheinen bekräftigt ihn.«

Skar unterdrückte ein ärgerliches Schnauben. »Warum erzählst du mir nicht einfach, was du zu wissen glaubst?« fragte er, mühsam beherrscht. »Ich habe wirklich keine Lust, Spielchen mit dir zu spielen.«

Drask zog eine Schnute. »Du gönnst einem alten Mann nicht das geringste Vergnügen, Skar. Aber gut: ich glaube, ich weiß, warum du hier bist. Du mußt das Kind finden.«

»Das... Kind?«

Drask nickte hektisch. »Es gibt keine andere Erklärung«, behauptete er. »Vermutet habe ich es schon länger, aber ich konnte es nie beweisen. Und ich habe nicht gewagt, mich zu überzeugen. Die Gefahr war -«

»Was vermutest du?« unterbrach ihn Skar grob.

»Daß sie nicht wissen, wo es ist«, antwortete Drask. »es ist siebzehn Jahre her, Skar. Eine lange Zeit. Siebzehn Jahre, seit die Prediger das Kind genommen haben und damit fortgegangen sind. Niemand weiß, wohin. Vielleicht wissen sie es selbst nicht.« Er begann aufgeregt zu gestikulieren, als Skar widersprechen wollte. »Es klingt unglaublich, ich weiß, aber es könnte so sein. Siebzehn Jahre sind eine sehr lange Zeit. Es könnte sein, daß sie seine Spur verloren haben.«

»Aber sie sind -«

»Götter?« unterbrach ihn Drask. Er schüttelte den Kopf. »Oh, nein, das sind sie nicht. Sie sind Wesen, deren Macht der von Göttern nahe kommt, aber auch sie sind nicht allwissend, und nicht allmächtig. Wären sie es, dann würden wir jetzt nicht hier sitzen, Skar. Wir haben uns gegen sie gewehrt, fast fünf Jahre lang. Auch sie können Fehler machen. Und überlege: Es kann kein Zufall sein, daß du nach all der Zeit wieder erwacht bist, ausgerechnet jetzt, wo sie zum entscheidenden Sturm ansetzen.« Skar schwieg verwirrt. Drasks Theorie klang haarsträubend im ersten Moment. Und doch... Hatte nicht sein erster Gedanke seinem Kind gegolten, kaum daß er erwacht war?

Aber das war nur natürlich, nach allem, was passiert war. Und Drask hatte - »Ich könnte es beweisen«, drang Drasks Stimme in seine Gedanken.

Skar sah ihn zweifelnd an. »Beweisen?«

»Ja. Aber es ist... es könnte gefährlich sein.« Er hob seinen Becher, setzte ihn an die Lippen und trank wieder, ohne Skar dabei auch nur einen Sekundenbruchteil aus den Augen zu lassen. »Es könnte sein, daß ich alles riskiere. Nicht nur mein Leben.«

»Und wie?«

Drask schüttelte den Kopf. »Erst muß ich wissen, was du tun wirst«, sagte er. »Es ist wichtig, Skar, glaube mir. Was wirst du tun, wenn du deinen Sohn findest?«

»Was soll ich denn tun, deiner Meinung nach?« fragte Skar. Ein sehr ungutes Gefühl begann sich in ihm breitzumachen. Er glaubte zu ahnen, was Drask antworten würde. Und er war sich nicht sicher, ob er diese Antwort wirklich hören wollte.

»Das einzige, was Enwor vielleicht noch rettet«, sagte Drask ruhig. »Das Kind töten.«

Skar erschrak nicht. Drask sprach nur aus, was er selbst die ganze Zeit über schon gewußt hatte. Wenn alles so war, wie Drask behauptete, war es der einzige Ausweg.

»Ich bin nicht einmal sicher, ob ich es könnte«, sagte er, mit einer Ruhe, die ihn selbst erschreckte. »Selbst wenn ich es wollte.«

»Warum? Weil es dein Sohn ist? Dein Fleisch und Blut?« Sein Fleisch und Blut... Skar lächelte bitter. Nein, das war nicht der Grund. Das Kind war sein Sohn. Er hatte es gezeugt, aber das war auch schon alles. Er hatte es nicht gewollt, es nicht gewußt, bis es fast zu spät war, und er hatte es alles in allem weniger als einen Monat gekannt. Einen Augenblick lang lauschte er aufmerksam in sich hinein, aber da war nichts. Keine Vatergefühle, keine Liebe, keine irgendwie geartete Verbindung. Nur Furcht.

»Nein«, sagte er laut. »Aber wenn er das ist, was du behauptest, dann... dann kann man es vielleicht nicht einmal töten.«

»Unsinn«, sagte Drask. »Er ist ein Mensch, oder? Ein Mensch hat ihn gezeugt, und ein Mensch hat ihn geboren. Was immer sein Geist ist, sein Körper ist aus Fleisch und Blut. Er muß essen und atmen, und er kann sterben. Ob das allerdings noch etwas ändert«, fügte er etwas leiser hinzu, »weiß ich nicht.«

Wieder verging viel Zeit, ehe Skar antwortete. »Ihn töten...«, murmelte er schließlich. Etwas an diesem Wort erfüllte ihn mit Schrecken. Er war nicht sicher, ob er es konnte. Er war nicht einmal sicher, ob er es wirklich wollte.

»Denke daran, was er ist«, sagte Drask rasch. »Du erinnerst dich an ein hilfloses Kind, aber er ist jetzt achtzehn Jahre alt, ein Mann. Nun?«

»Gib mir ein wenig Zeit«, bat Skar. »Ich -«

»Zeit«, sagte Drask, »ist so ungefähr das einzige, was wir nicht haben, Skar. Ich weiß ja nicht einmal, ob ich recht habe. Vielleicht ist alles ganz anders. Aber wenn, dann müssen wir schnell handeln.«

»Aber wie willst du ihn finden?«

Drask lächelte dünn. »Ich kann es«, behauptete er. »Du mußt wissen, daß ich nicht nur der Kommandant dieser Festung bin. Ich... verfüge über gewisse Möglichkeiten, den Aufenthaltsort deines Sohnes herauszufinden, wenn ich es wirklich will.«

»Und warum hast du es dann nicht längst getan?«

»Aus Furcht«, erwiderte Drask schnell, und Skar spürte, daß er nur auf diese Frage gewartet hatte. »Ich könnte ihn finden, aber ich liefe Gefahr dabei, daß ich ihnen den Weg zeige. Wenn sie wirklich nicht wissen, wo er ist, möchte nicht ich es sein, der sie mit der Nase darauf stößt. Aber jetzt...« Er seufzte, legte beide Hände flach vor sich auf die Tischplatte und betrachtete einen Moment lang so konzentriert seine kurzgeschnittenen Fingernägel, als stünden die Antworten auf alle seine Fragen darauf geschrieben. »Wir haben nicht mehr viel zu verlieren, Skar. In wenigen Wochen setzt die Schneeschmelze ein, und dann werden sie kommen. Keine Macht der Welt vermag sie dann noch aufzuhalten. Auch nicht die Mauern dieser Festung, oder meine eigene bescheidene Magie. Nur du.«

Skar sah den Alten überrascht an. Es war das erste Mal, daß Drask zugab, ein Magier zu sein. »Magie?«

»Du glaubst nicht daran, ich weiß«, sagte Drask lächelnd. »Nimm es als einen nützlichen Begriff, in einem Wort zu erklären, wozu ich sonst Wochen brauchte. Du hast meine Frage nicht beantwortet.«

Aber das tat Skar auch jetzt nicht. Er konnte es nicht.

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