21.

Wieder einmal hatte er sich verschätzt. Es dauerte annähernd eine Stunde, bis er das Lager erreicht und durchquert hatte, denn der ersten Dünenkette schloß sich eine zweite an, eine dritte, vierte, fünfte und so weiter - die klare Luft über der halbverschneiten Wüste und die Dunkelheit hatten ihm eine Entfernung von einer halben Meile vorgegaukelt, wo zwei oder drei waren. Und schließlich verlor er noch einmal kostbare Zeit, als er sich eng gegen den Sand pressen mußte, um nicht von einer Quorrl-Patrouiile entdeckt zu werden, der er um ein Haar in die Arme gelaufen wäre. Obwohl das Heer mitten in dem von ihm besetzten Gebiet lagerte und der nächste Feind hundert Meilen entfernt war, waren die Quorrl wachsam. Als er das Lager schließlich durchquert hatte und das halbe Dutzend schwarzgolden gemusterter Zelte der Satai vor ihm lag, zeigte sich am Horizont bereits der erste graue Schimmer der Dämmerung.

Trotz aller Schwierigkeiten hatte er Glück gehabt - die Zelte der Satai standen allem, ein Stück abseits jener der Quorrl-Krieger, dicht in einen Halbkreis aus Felsen und zyklopischen Findlingen geschmiegt, die ihnen nicht nur Schutz vor dem eisigen Wind und einem eventuellen Angriff boten, sondern auch Skar ausreichende Deckung. Aufmerksam blickte er zu den Gestalten der beiden Wächter hinüber, die reglos wie Statuen vor dem größten der vier Zelte standen. Skar beobachtete sie seit fünf Minuten, ohne daß sich einer von ihnen auch nur gerührt hatte. Trotzdem zweifelte er nicht daran, daß sie aufmerksam waren und ihnen nicht die mindeste verdächtige Bewegung entging. Sie waren Satai, und daß sie sich im Herzen einer mit ihnen verbündeten Armee befanden, bedeutete gar nichts.

Skar überlegte angestrengt, in welchem der vier Zelte sich sein Sohn befinden mochte. Sicher konnte er das größte der vier schwarzgolden gemusterten Zelte ausklammern - es würde von dem Mann bewohnt werden, den Drask den Hohen Satai genannt hatte und der als zweiter auf Skars Liste stand, sollte er noch die Zeit dazu finden - aber es blieben noch immer drei. Drei Chancen, wo er nur eine hatte. Skar zweifelte nicht daran, die Wächter überwinden zu können, denn er hatte den Vorteil der Überraschung auf seiner Seite: Selbst wenn sie gewußt hätten, wer er war, und selbst wenn sie darüber hinaus gewußt hätten, daß er kam (und sie wußten keines von beiden), konnten sie unmöglich jetzt schon mit ihm rechnen. Nein - er würde die Wächter ausschalten. Aber danach blieben ihm nur noch Augenblicke, bestenfalls Minuten.

Er ließ sich tiefer hinter den Felsen sinken, hinter dem er Deckung gesucht hatte, zog den Dolch aus dem Gürtel und verbarg die Klinge in seiner Hand, ehe er nach Osten sah. Der graue Streifen heraufziehender Dämmerung war noch nicht heller geworden, aber deutlich breiter. Ihm blieb nicht mehr viel Zeit. Er hatte fast eine Stunde damit verloren, das Lager zu durchqueren, und es erschien ihm jetzt, im nachhinein, fast wie ein Wunder, daß es ihm überhaupt gelungen war. Der Anblick des Heerlagers war ein Schock gewesen. Die ungeheure Zahl der Quorrl war zu abstrakt, um sie sich wirklich vorstellen zu können. Selbst als er das Lager überflogen hatte, war es nichts als eine schier endlose Ebene aus rotgepunkteter Finsternis und vager Bewegung gewesen, beeindruckend, aber nicht bedrohlich. Aber dann lag es vor ihm, breitete sich wie eine ungeheuerliche, lebende Masse in alle Richtungen aus und umfing ihn mit seinem Lärm und einem schier unbeschreiblichen Gemisch aus Gerüchen und Lauten und Bewegung. Die Zelte standen manchmal so dicht, daß es unmöglich war, zwischen ihnen hindurchzugehen, und wo ein Stück Boden freigeblieben war, hatten sich große schuppige Gestalten zusammengerollt, um in ihren Pelzen zu schlafen. Skars Mut war für Minuten fast auf den Nullpunkt gesunken, aber am Schluß war es dann doch überraschend leicht gewesen, sich an den Wachen vorbei und ins Lager zu schleichen, wo er sich in der Deckung eines Zeltes aufgerichtet hatte, um das einzige zu tun, was überhaupt Sinn machte - hoch aufgerichtet und mit raschen, aber nicht hastigen Schritten weiterzugehen, wie ein Mann, der ganz genau weiß, was er tut. Auch der Moment, den er am meisten gefürchtet hatte, war ohne Zwischenfälle vorübergegangen: der erste Quorrl, dem er begegnete, hatte ihn mit einer Mischung aus feindseligem Respekt und milder Verwunderung angeblickt, es aber nicht gewagt, ihn anzusprechen oder gar aufzuhalten. Drasks Rechnung schien abermals aufzugehen: dies hier war das Kriegslager der Quorrl, aber der Anblick eines Satai war nichts Ungewöhnliches, Sicher kamen täglich Kundschafter und Boten, um dem Hohen Satai Bericht zu erstatten.

Nein - die Quorrl waren keine wirkliche Gefahr. Sein wahrer Feind war die Dämmerung, denn mit dem ersten Licht würden die Männer in den schwarzen Zelten aufwachen und mit ihrem gewohnten Tagewerk beginnen. Er hatte nur einen Verbündeten: die Dunkelheit.

Skar lächelte bitter in sich hinein, als ihm bewußt wurde, daß er schon wie ein gedungener Mörder zu denken begann. Und viel mehr war er ja auch nicht.

Aber der Gedanke bereitete ihm nicht das Entsetzen, das er noch vor Tagesfrist bedeutet hätte. Ganz im Gegenteil spürte Skar fast so etwas wie eine boshafte Befriedigung: Sie hatten Mörder zu ihm geschickt, und jetzt kam er her, um ihnen zurückzubringen, was er bekommen hatte.

Er verscheuchte den Gedanken, warf einen letzten sichernden Blick ins Lager zurück und richtete sich auf. Der Wind fiel mit unsichtbaren spitzen Zähnen über ihn her, und für einen letzten, schrecklichen Moment drohten ihn noch einmal Kraft und Entschlossenheit zu verlassen. Eine Stimme in seinen Gedanken schrie ihm zu, daß er hier war, um seinen eigenen Sohn zu töten. Er ignorierte sie, schlich geduckt in der Deckung der Felsen weiter, bis er dem Halbrund aus Zelten genau gegenüberstand, und trat mit einem entschlossenen Schritt ins blasse Sternenlicht hinaus.

Die beiden Wächter erwachten aus ihrer scheinbaren Starre, und sie reagierten genauso, wie Skar gehofft hatte - der eine trat ihm entgegen, sichtlich angespannt und die Hand auf dem Schwertgriff, während der zweite Krieger ein Stück zur Seite wich, um Skar keine Gelegenheit zu geben, sie beide mit einem überraschenden Angriff auszuschalten.

»Wer bist du?« drang eine dumpfe Stimme durch die Nacht. »Was willst du?« Der Mann sprach nicht sehr laut, was Skar bewies, daß die Männer in den Zelten noch schliefen und er sie nicht wecken wollte. Gut. Ein weiterer, winziger Vorteil für ihn. Ruhig trat er den beiden Posten entgegen, hob die Hand zum Satai-Gruß und blieb auf ein Zeichen des einen hin gehorsam stehen.

»Mein Name ist Troun«, sagte er auf die gleiche, gedämpfte Weise, auf die der Wächter sprach. »Ich komme aus Denwar. Ich habe eine Nachricht für den Hohen Satai.«

»Eine Nachricht?« Der Wächter kam näher, blieb zwei Schritte vor ihm stehen und musterte ihn mit unverhohlenem Mißtrauen von Kopf bis Fuß. Aber was er sah, schien seine Bedenken zumindest zum Teil zu zerstreuen, denn seine Haltung entspannte sich ein wenig. »Was für eine Nachricht?«

»Eine wichtige Nachricht«, erwiderte Skar, mit genau der Spur von Ungeduld und Überheblichkeit in der Stimme, die ihm in einem Moment wie diesem angebracht schien. »Sie ist nicht für deine Ohren bestimmt.« Er runzelte die Stirn. »Ich bin nicht drei Nächte geritten, um mich mit dir zu streiten. Führe mich vor!« Irgend etwas war falsch. Er hatte einen Fehler gemacht, auch wenn er nicht wußte, welchen - aber aus dem abklingenden Mißtrauen im Gesicht des Postens wurde Überraschung, dann Schrecken, und Skar sah aus den Augenwinkeln, wie sich auch die Gestalt des zweiten Postens versteifte.

Der Satai spürte nicht einmal, wie er starb. Skars Rechte ruckte hoch. Die Dolchklinge glitt zwischen seinen Fingern hervor, wobei sie zwei tiefe, blutende Linien in die Haut riß, bewegte sich in einem unglaublich schnellen, blitzenden Halbkreis nach oben und herum und glitt durch die Kehle des Mannes. Beinahe gleichzeitig senkte sich Skars Linke zum Gürtel, ergriff einen der fünfzackigen Shuriken und schleuderte ihn.

Die Zeit schien stehenzubleiben. Skar streckte die Arme aus, um den zusammenbrechenden Wächter aufzufangen, sah, wie der zweite Krieger herumfuhr und den Mund zu einem Schrei öffnete, gleichzeitig machte er einen Schritt und hob die Arme, dann traf der winzige Wurfstern seine Schläfe mit tödlicher Präzision. Die Wucht des Wurfes war so gewaltig, daß der Mann wie von einem Faustschlag getroffen und zu Boden geschmettert wurde, wo er mit grotesk verrenkten Gliedern liegenblieb. Das Geräusch, mit dem er auf den festgetretenen Boden aufschlug, hallte wie ein Peitschenhieb in Skars Ohren.

Für die Dauer von drei, vier endlosen Herzschlägen blieb er reglos stehen und lauschte, jeden Sekundenbruchteil darauf gefaßt, Lärmen und Schreie zu hören.

Aber nichts geschah. So unglaublich es ihm selbst erschien - niemand hatte etwas gehört. Das Schicksal gab ihm noch eine letzte Chance.

Skar widerstand der Versuchung, den toten Wächter einfach liegen zu lassen, sondern hob ihn vorsichtig hoch, wandte sich um und trug ihn hinter die Felsen, hinter denen er selbst vor Augenblicken Deckung gesucht hatte. Dann ging er zurück, hob auch den zweiten Wächter auf die Arme und legte ihn neben seinen toten Kameraden. Auch das Fehlen der Posten würde Alarm auslösen, aber vielleicht gewann er auf diese Weise kostbare Sekunden, die entscheiden mochten.

Unschlüssig blieb er stehen. Er wußte noch immer nicht, wo er suchen sollte - der Posten hatte versucht, das direkt hinter ihm stehende Zelt zu erreichen, wohl um Alarm zu schlagen und Verstärkung herbeizurufen, so daß er auch dies mit einiger Sicherheit ausklammern konnte, aber es blieben immer noch zwei Zelte, und wenn er das falsche wählte und sich plötzlich inmitten eines Dutzends Satai wiederfand, die bei seinem Eintreten zweifellos aufwachen würden, war alles vorbei.

Und wenn sein Sohn bei ihnen war? wisperte die Stimme in seinem Kopf. Zum ersten Mal kam ihm zum Bewußtsein, daß er ja keine Ahnung hatte, nach wem er überhaupt suchte. Er hatte einen Säugling zu den Gesichtslosen Priestern gebracht, aber er war hier, um einen achtzehnjährigen Knaben zu finden, möglicherweise einen - wahrscheinlich sogar - der die Kleider eines Satai trug. Aber irgendwie würde er ihn erkennen.

Skar wählte willkürlich das linke der beiden verbliebenen Zelte aus, schlug lautlos die Plane beiseite und legte gleichzeitig die Hand auf das Schwert.

Und im gleichen Moment, in dem er das Zelt betrat, wußte er, daß es das richtige war.

Es war nicht dunkel hier drinnen. Der schwarze Stoff hatte jeden Lichtschimmer verschluckt, aber er sah jetzt, daß gleich neben dem Eingang eine kleine Öllampe brannte, die das Zelt mit einem verwirrenden Muster aus rötlichem Licht und grauer Schattenbewegung erfüllte, und viel mehr, als er sah, spürte er. Es war, als berührten eisige Finger seine Seele. Etwas war hier, die Hälfte eines zerbrochenen Ganzen, das einmal in ihm gewesen und gewaltsam getrennt worden war, etwas gleichzeitig unendlich Vertrautes wie Entsetzliches. Sein Kind. Das schreckliche Erbe, das er ihm mitgegeben hatte, ohne es zu ahnen. Es war hier. Das Erbe der Götter. Der Fluch, der sein Leben bestimmt hatte. Es war hier!

Irgendwo draußen erscholl ein Geräusch. Skar wußte nicht, was es war, aber er trat rasch vollends in das Zelt hinein, verschloß die Plane wieder und überzeugte sich sorgsam davon, daß kein verräterischer Lichtschimmer nach draußen dringen konnte; dann zog er sein Schwert, wandte sich wieder um und trat auf die schlafende Gestalt in der Mitte des Zeltes zu.

Sein Sohn war allein. Dieses Zelt gehörte offensichtlich nur ihm, was Skar bewies, daß zumindest die Satai sich seines Wertes und seiner Bedeutung durchaus bewußt waren. Ein rascher Hieb, und - Skars Hand löste sich hastig vom Griff des Tschekal, als hätte er glühendes Eisen berührt. Er konnte es nicht. Nicht so. Er mußte ihn sehen, nur ein einziges Mal sehen, in seine Augen blicken, um sich davon zu überzeugen, daß das Böse wirklich da war, von dem Drask gesprochen hatte und das er fühlte, wie eine unsichtbare knisternde Aura, in die er hineinschritt, als er sich der zusammengerollten Gestalt näherte. Schweiß erschien auf seiner Stirn. Seine Hände und Knie zitterten. Er mußte seine Augen sehen.

Wieder begann die lautlose Stimme in seinem Schädel zu flüstern, sagte ihm, daß es vielleicht ein Fehler war, daß er ihn gar nicht mehr würde töten können, wenn er ihm jetzt in die Augen sah, und daß er sogar eine Chance hatte, mit dem Leben davonzukommen, wenn er nur vernünftig blieb und schnell genug war. Bisher hatte niemand ihn bemerkt, und die Berge waren nicht weit, nur ein paar hundert Schritte in nördlicher Richtung. Sie würden ihn jagen, aber es gab Verstecke dort oben, die ausgereicht hätten, eine Armee zu verbergen, und er war nicht irgendwer, sondern Skar.

Dann lächelte er. Er war gekommen, um zu sterben, nicht, um zu fliehen. So leise er konnte, näherte er sich der schlafenden Gestalt auf dem Boden, und kniete neben ihr nieder. Sein Blick streifte eine Holzkiste, die neben dem Kopfende des Schlafenden stand. Der Deckel war zurückgeklappt, so daß Skar ihren Inhalt erkennen konnte.

Es war Spielzeug - hölzerne Bausteine und Klötze, kleine Stoffpuppen und Pferde, dazu eine große Anzahl aus Holz geschnitzter, liebevoll bemalter Figuren, die Männer in Satai-Kleidern, aber auch Quorrl und Veden und andere Völker darstellten. Skar war ein wenig verwirrt - gab es Kinder hier?

Aber diese Frage war im Moment unwichtig. Er wandte sich von der Kiste ab und beugte sich vor, um das Gesicht des Jungen zu betrachten. Ein Gefühl absurder Zärtlichkeit durchflutete ihn. Er verscheuchte es.

Der Junge war sehr groß, ein Riese, der ihn fast um Haupteslänge überragen mußte, wenn er aufrecht stand. Seine Muskeln waren noch nicht voll ausgebildet, denn er hatte den Schritt zum Mann noch nicht ganz getan, aber er war schon jetzt ein Gigant, der sicherlich stärker war als Skar. Er hatte das schwarze, fast bläulich glänzende Haar aus Skars Jugend, und sein Gesicht... Skar war verwirrt. Der Knabe ähnelte ihm kein bißchen, aber er sah auch nicht seiner Mutter ähnlich; eigentlich sah er niemandem ähnlich, den Skar jemals gesehen hatte. Seine Züge waren so ebenmäßig und edel, daß es Skar im ersten Moment fast unmöglich erschien. Es war das Gesicht eines sehr starken Mannes, aber es war gleichzeitig sanft und milde... schön, dachte Skar erstaunt, auf eine mit Worten kaum zu beschreibende, unglaublich männliche Art schön.

Dann begriff er.

Es war perfekt. An dem Gesicht seines schlafenden Sohnes war kein Makel, kein Fehler, nicht die kleinste Unregelmäßigkeit. Hätte ein Gott das Urbild eines Mannes erschaffen wollen, hätte es so ausgesehen.

Er schauderte. Er hatte nie etwas so Perfektes gesehen. Und niemals etwas, das ihn gleichzeitig so erschreckte. Wenn er noch Zweifel an Drasks Worten gehabt hatte, hatte sie dieser Anblick beseitigt. Kein Mensch konnte so perfekt sein. Warum mußte sich das Böse hinter der Maske absoluter Schönheit verbergen? Wieder glitt seine Hand zum Schwert, und wieder führte er die Bewegung nicht zu Ende. Seine Muskeln gehorchten ihm nicht mehr. War es schon zu spät? dachte er. Hatte der bloße Anblick, die bloße Nähe seines Sohnes schon ausgereicht, ihn seines Willens zu berauben? Ihn wieder zu dem Werkzeug zu machen, als das sie ihn schon einmal benutzt hatten? Skar stöhnte, krümmte sich wie unter Schmerzen und versuchte das Schwert zu ziehen, aber es ging nicht, er war gelähmt, starr, unfähig, sich zu bewegen. Ein schwarzer Wirbel entstand hinter seiner Stirn, wuchs und wuchs und umschlang mit rauchigen Armen seine Gedanken. Der Junge schlief weiter, aber etwas - etwas Entsetzliches, das in ihm war - spürte Skars Anwesenheit, und es wußte, warum er hier war und wehrte sich mit verzweifelter Kraft. Skar keuchte wie unter Schmerzen, schloß die Augen und versuchte, das Bild Syrrs herbeizuzwingen, ihr blutüberströmtes, erstarrtes Gesicht, den Ausdruck von ungläubigem Entsetzen und Schmerz, den er in der allerletzten Sekunde ihres Lebens darin gesehen hatte.

Es gelang ihm. Der schwarze Wirbel in seinen Gedanken blieb, aber plötzlich war der Zorn da, der gleiche, entsetzliche Schmerz, den er verspürt hatte, als Syrr in seinen Armen starb, und er gab ihm Kraft. Seine Hand senkte sich auf das Schwert und zog es halb aus der Scheide.

In diesem Moment erwachte der schlafende Junge. Und Skar blickte in seine Augen.

Es war wie ein Schlag ins Gesicht. Der Junge hob die Lider und sah ihn an, aber seine Augen waren nicht klar, sein Blick blieb verschleiert. Und im gleichen Moment, in dem er erwachte, ging eine entsetzliche Veränderung mit seinem Göttergesicht vonstatten.

Seine Züge erschlafften. Gerade anders herum, als es normal gewesen wäre, wich jegliche Spannung und Glätte aus ihnen, als er den Schlaf abschüttelte. Die Mundwinkel des jungen Satai sanken herab wie bei einem traurigen Clown. Glitzernder Speichel erschien in kleinen feuchten Bläschen auf seinen Lippen und begann an seinem Kinn herabzulaufen. Einen Herzschlag lang starrte er Skar erschrocken an, dann erschien ein dümmliches Lächeln auf seinen Zügen. Er setzte sich auf; viel umständlicher, als nötig gewesen wäre. Sein Kopf pendelte dabei von rechts nach links und wieder zurück, als wäre er zu schwer für den Hals. Der Blick, mit dem er Skar ansah, war der eines Idioten. Der Junge war schwachsinnig. Die Natur hatte seinem Geist genommen, was sie seinem Gesicht zu viel gegeben hatte. Er war ein Riese, ein Gigant mit dem Gesicht und der Stärke eines jungen Gottes. Und dem Geist eines Kindes.

Skar löste die Hand vom Schwert, hob die Arme und ballte die Hände vor dem Gesicht zu Fäusten, so fest, bis er vor Schmerz aufstöhnte und Blut unter seinen Fingernägeln hervorkroch. Dies also war sein Erbe. Das war es, was er seinem Sohn mitgegeben hatte, die Macht der Götter, vor Äonen in den Genen seiner Vorfahren verankert, aber gefangen in einem zerstörten Geist. Vielleicht mußte es so sein, dachte er, in dem fast verzweifelten Versuch, einen Grund zu finden, nicht wahnsinnig zu werden. Er hatte die geballte Macht gespürt, die in der Seele des Kindes lauerte, damals, als er gerade geboren war und er ihm das erste Mal in die Augen blickte, eine Macht, die fähig war, Welten zu verheeren und die Götter selbst zu stürzen. Vielleicht war kein menschlicher Geist fähig, mit diesen Gewalten zu leben, ohne sich selbst zu verzehren, daran zu verbrennen wie eine Motte, die dem Licht zu nahe gekommen war.

Der Blick des Jungen war seinen Bewegungen aufmerksam gefolgt. Er lächelte blöde, hob die Hand und griff nach Skars Schulter, berührte ihn aber nicht. »Wer bist du?« fragte er. Seine Stimme war eindeutig die eines Idioten, aber sie war trotzdem sehr klar und wohltönend. Jedes einzelne Wort brannte wie Säure hinter Skars Stirn.

Skar schluckte den bitteren Kloß herunter, der in seiner Kehle saß, atmete tief ein und aus und wieder ein und zwang sich zu einem Lächeln. Tränen liefen über sein Gesicht, aber er spürte es nicht einmal. »Ich bin Skar«, sagte er.

»Skar?« Der Junge legte den Kopf schräg, als hätte das Wort eine bestimmte Bedeutung für ihn. Aber wenn, dann hatte er sie wohl vergessen, denn plötzlich grinste er. »Skar«, wiederholte er. »Ich bin Croyd.« Er erschrak. Wieder hob er die Hand, streckte vorsichtig den Arm aus und berührte Skars Wange. Seine Fingerspitzen glitzerten feucht, als er sie zurückzog. »Du weinst«, stellte er überrascht fest. »Hast du dir weh getan?«

»Nein«, antwortete Skar. »Es ist... alles in Ordnung.« Langsam, beinahe zärtlich, ergriff er die Schultern des jungen Riesen, zog ihn zu sich heran und drückte ihn an sich, ganz in der Art, in der er ein kleines Kind in die Arme geschlossen hätte. Croyd ließ es willenlos geschehen.

»Aber warum weinst du, wenn du dir nicht weh getan hast?« fragte er. »Hast du Angst?«

Skar schwieg. Seine Linke glitt an Croyds Rücken hinauf, schmiegte sich um seinen Nacken, hielt ihn, während er die andere Hand fast sanft unter das Gesicht des Jungen legte, den Handballen unter dem Kinn. Behutsam drückte er Croyds Kopf nach oben, bis er ihm ins Gesicht blickte. Croyds Augen waren groß vor Verwirrung, aber Skar suchte vergeblich nach einer Spur von Furcht.

»Bist du... ein Freund?« fragte Croyd zögernd.

Skar nickte. Dann schüttelte er den Kopf, lächelte. »Ich bin dein Vater, Junge«, flüsterte er.

»Mein... Vater?«

»Ja, Croyd«, antwortete Skar. »Dein Vater. Ich war... lange fort, aber jetzt... jetzt bin ich zurück.« Er schloß die Augen, beugte den Kopf und berührte Croyds Stirn ganz leicht mit den Lippen. »Verzeih mir«, flüsterte er. Seine Hände schlossen sich fester um Croyds Nacken und Kinn.

Croyds Genick brach mit einem harten, hellen Laut, den Skar nie mehr vergessen sollte.

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