22.

Lange, endlos lange, saß er einfach da und hielt den Körper seines toten Sohnes in den Armen. Er weinte nicht mehr. Seine Tränen waren versiegt, vielleicht für immer, und auch der Schmerz, auf den er wartete, kam nicht. Auf eine schreckliche Art fühlte er sich selbst tot, und vielleicht war er es, denn er hatte nicht nur seinen eigenen Sohn umgebracht, sondern auch ein Stück von sich selbst. Sie waren mehr gewesen als bloße Blutsverwandte, mehr als Vater und Sohn. Es hatte eine Verwandtschaft der Seelen zwischen ihnen gegeben, die weit über das normale Maß hinausgegangen war, und etwas von Croyd war noch immer hier, wie ein unsichtbarer, nur ganz allmählich verblassender Schatten. Nach einer Weile ließ er den Leichnam behutsam auf sein Lager zurücksinken, schloß mit Daumen und Zeigefinger seine gebrochenen Augen und stand auf. Ja, dachte er matt, noch immer ohne irgendeine Spur von echtem Gefühl, er hatte einen Teil von sich getötet. Seine Seele. Sein Menschsein. Jetzt wurde es Zeit, daß er auch seinen Körper vernichtete. Nichts mehr sollte von ihm bleiben. Nicht einmal mehr eine Erinnerung.

Er zog sein Schwert aus dem Gürtel, wandte sich um und schlug mit einem Ruck die Zeltplane zurück.

Das kleine Halbrund aus Zelten lag noch immer so still und einsam da, wie er es in Erinnerung hatte. Er hatte das Gefühl, Stunden im Inneren des Zeltes verbracht zu haben, aber in Wahrheit konnten es wohl nur Minuten gewesen sein. Der Streifen aus grauer Dämmerung am Himmel war kaum breiter geworden, und auch das Fehlen der Posten war noch niemandem aufgefallen. Für einen Moment kam ihm der absurde Gedanke, daß er tatsächlich eine Chance hatte, lebend davonzukommen. Es waren nur wenige hundert Schritte bis zur Sicherheit der Berge. Welch närrischer Einfall!

Skar trat mit einem entschlossenen Schritt aus dem Zelt, packte sein Tschekal fester und nahm den Dolch in die linke Hand.

»Satai!« schrie er. »Du, der sich den Hohen Satai nennt - wer immer du bist! Komm heraus! Ich fordere dich!«

Er erschrak fast selbst, so laut erschien ihm seine eigene Stimme in der Stille des Morgens. Und die Reaktion ließ nur Sekunden auf sich warten.

Die Plane des Zeltes zu seiner Rechten wurde zurückgeschlagen, und ein Satai stürmte heraus, nur mit Hosen und Stirnband bekleidet, aber ein Schwert in der Hand. Skar empfing ihn mit einem blitzschnellen, geraden Stich, der ihn auf der Stelle tötete. »Satai!« schrie er noch einmal. »Ich fordere dich zum Zweikampf! Zeige dich!«

Mehr Krieger stürmten aus dem Zelt. Skar duckte sich unter dem Schwerthieb des ersten durch, stieß ihm den Dolch in einer blitzschnellen, aufwärts gerichteten Bewegung in den Leib und empfing den dritten Angreifer mit einem Schwertstreich gegen die Beine, der den Mann schreiend zusammenbrechen ließ. Auch hinter ihm waren plötzlich Schritte. Etwas zischte durch die Luft, grub eine brennende Linie aus Schmerz in seine Schulter und durchschlug die Zeltplane neben ihm. Skar sprang zur Seite, tötete einen weiteren Satai mit einem gewaltigen, beidhändig geführten Hieb und fegte einen anderen Krieger mit einem Tritt zu Boden.

Dann waren sie über ihm. Etwas traf mit entsetzlicher Wucht seine Waffenhand und entriß ihm das Schwert. Ein Fausthieb explodierte an seiner Schläfe, und plötzlich war Blut in seinem Mund. Sein Blick färbte sich rot, und in das Keuchen und die gemurmelten Flüche der Männer, die ihn niederrangen, mischte sich ein immer stärker und stärker werdendes Rauschen. Der Tod. Sie würden ihn töten. Jetzt. Jetzt.

Aber sie töteten ihn nicht. Schläge trafen seine Brust, sein Gesicht und seine Seiten, bis er aufhörte, sich zu wehren. Harte Stiefel nagelten seine Hand- und Fußgelenke an den Boden, und eine Schwertspitze berührte seine Kehle und ritzte sie. Aber der letzte, erlösende Schmerz kam nicht. Warum brachten sie ihn nicht endlich um?

Dann lockerte sich der erbarmungslose Griff des halben Dutzends Männer, die ihn hielten. Ein riesiger, von seiner eigenen Schwäche und Übelkeit verzerrter Schatten erschien über ihm, scheuchte die Männer mit einer knappen Bewegung beiseite und musterte ihn aus kalten, glitzernden Augen.

»Du forderst mich also.« Die Stimme klang spöttisch. »Was bist du? Besonders mutig, oder besonders dumm?« Der verzerrte Schatten kam ein wenig näher. Es war zu dunkel, als daß Skar sein Gesicht deutlicher denn als hellen Fleck erkennen konnte, aber er hörte ein überraschtes Einatmen, als er die Kleider erkannte, die Skar trug, und die Waffe, die ihm die Krieger aus den Händen gerungen hatten.

»Ein... Satai?« Diesmal glaubte er Zorn in den Worten des anderen zu hören. Er seufzte. »So hat Drask also endlich einen Verräter gefunden, der...« Er brach ab, schüttelte den Kopf und blickte einen Moment auf die Krieger herab, die Skar erschlagen hatte. »Aber natürlich«, sagte er, in beinahe resignierendem Tonfall. »Niemand anderes wäre dazu fähig gewesen. Hast du auch die Wachen erschlagen?«

Skar schwieg, aber der andere hatte auch nicht ernsthaft mit einer Antwort gerechnet, wie seine nächsten Worte bewiesen. »Das war unnötig. Sie hätten sich dir nicht in den Weg gestellt, wenn du ihnen gesagt hättest, wozu du hier bist.« Er machte eine unwillige Handbewegung. »Laßt ihn los.«

Zwei der Männer, die ihn hielten, wichen auch tatsächlich zurück, aber die anderen blieben, und auch das Schwert, das seine Kehle ritzte und ihm das Atmen fast unmöglich machte, verschwand nicht.

»Laßt ihn los«, sagte der Hohe Satai noch einmal. »Dieser Mann hat mich gefordert. Er hat das Recht, auch von meiner Hand zu sterben.«

Das Schwert verschwand, und auch der entsetzliche Druck auf Skars Handgelenke war mit einem Mal nicht mehr da. Trotzdem blieb er noch sekundenlang reglos liegen, ehe er sich auf die Ellenbogen hochstemmte und nach seinem Hals griff. Er konnte kaum atmen. An seinen Fingern war Blut, als er die Hand zurückzog.

»Kannst du kämpfen?« fragte der Mann in den Kleidern des Hohen Satai kalt. »Oder brauchst du Zeit, dich zu erholen?« Zur Antwort griff Skar nach seinem Schwert, schob es in den Gürtel und stand umständlich auf. In seinem Körper pochten zahllose Schmerzen, aber keiner davon war so schlimm, ihn wirklich zu behindern.

Die Krieger wichen respektvoll zurück und bildeten einen Kreis, und auch der Kriegsherr der Satai zog seine Waffe. Skar sah ihn nun zum ersten Mal deutlicher: Er war ein Riese, mindestens sieben Fuß groß und mit Schultern, die den schwarzen Zeremonienmantel zu sprengen schienen, den er trug. Das Tschekal wirkte in seinen Händen wie ein Spielzeug. Trotzdem bewegte er sich mit der Geschmeidigkeit und Kraft einer großen Katze. Skar glaubte nicht, daß er ihn besiegen konnte. Eigentlich wollte er es auch gar nicht.

Skar lächelte, obwohl er wußte, daß der andere sein Gesicht in der Dunkelheit so wenig erkennen konnte wie er das seine, deutete eine Verbeugung an und zog seine Waffe. Er war sehr ruhig. Aber der Kampf begann noch nicht. Aus Croyds Zelt erscholl plötzlich ein gellender Schrei. Die Plane wurde zurückgeschlagen, und ein Satai taumelte heraus, so hastig, daß er das Gleichgewicht verlor und zwischen ihm und dem Hohen Satai auf die Knie fiel. »Croyd!« keuchte er. »Er hat Croyd umgebracht, Herr!«

»Croyd? Er hat -« Skar hatte selten zuvor ein solches Entsetzen in der Stimme eines Menschen gehört wie jetzt. Er sah, wie sich die hünenhafte Gestalt versteifte. Dann fuhr er plötzlich herum, rammte das Schwert in den Boden und lief mit wehendem Mantel auf das Zelt zu. »Haltet ihn!« rief er zurück. »Aber rührt ihn nicht an!«

Der Kreis der Satai zog sich zusammen. Ein halbes Dutzend Schwerter richtete sich drohend auf ihn, und Skar spürte den Haß, den die Männer ihm plötzlich entgegenbrachten.

Aber da war auch noch mehr. Ein Entsetzen, für das es keinen Grund zu geben schien, das aber mit jedem Atemzug deutlicher wurde, fast, als begriffen sie nur ganz allmählich, was wirklich geschehen war.

Es dauerte nur Sekunden, bis der Kriegsherr der Satai zurückkam. Seine Bewegungen waren starr, fast wie die einer Puppe, die an den Fäden eines nicht besonders talentierten Spielers hing, und wie bei seinen Männern konnte Skar auch bei ihm eine Mischung aus mörderischer Wut und Haß und maßlosem Entsetzen spüren. Mit starren, fast ungelenken Schritten ging er dorthin zurück, wo er sein Schwert in den Boden gestoßen hatte, nahm die Waffe wieder an sich und machte eine zornige Bewegung mit der freien Hand. Der Kreis aus Schwertspitzen, der Skar umgab, weitete sich wieder.

»Du Narr«, sagte er. Seine Stimme bebte vor Zorn. »Du verdammter, wahnsinniger Narr! Was hast du getan? Warum hast du das getan, wenn du mich wolltest?!« Den letzten Satz schrie er. Und mit dem letzten Wort griff er an.

Schon sein erster, ungestümer Angriff sagte Skar, daß er verlieren würde. Es war nichts als der bodenlose Zorn des Satai, der seine Bewegungen eine Spur zu hastig und unsicher werden ließ und Skar rettete, aber selbst so entkam er den wütenden Schwerthieben des Riesen nur mit äußerster Not. Die Klinge des Satai pfiff immer und immer wieder auf ihn herab, so schnell, daß Skar sie kaum sah, und mit solcher Kraft geführt, daß er jeden einzelnen Hieb, den er auffing, wie eine Explosion von Schmerz in den Schultern fühlte.

Er taumelte zurück, parierte einen weiteren Hieb des tobenden Giganten und trat nach dessen Beinen. Er traf, aber der Riese wankte nicht einmal, sondern versetzte Skar im gleichen Moment einen Fauststoß in die Seite, der ihn aus dem Gleichgewicht brachte und zu Boden schleuderte. Instinktiv rollte er sich zur Seite, bemerkte im letzten Moment seinen Fehler und sprang mitten aus der Bewegung heraus auf. Die Klinge des Satai hämmerte dort in den Boden, wo er gewesen wäre, hätte er die Bewegung zu Ende geführt. Skar trat nach seiner Waffenhand, verfehlte sie und sprang aus der gleichen Bewegung heraus vor. Sein Knie bohrte sich in den Leib des anderen und ließ ihn zurücktaumeln, aber den Hieb, den er nachsetzen wollte, konnte er nicht ausführen, denn der Satai stach nach ihm, so daß er keine andere Wahl hatte, als sich mit einem fast grotesken Hüpfer in Sicherheit zu bringen.

Sie trennten sich. Der Satai blieb einen Moment stehen, reglos, leicht nach vorne gebeugt und mit gespreizten Beinen, trotzdem aber noch größer als Skar. Skars Atem ging schnell und in unregelmäßigen, fast schmerzhaften Stößen. Die Luft brannte in seinen Lungen, und seine Schultermuskeln schmerzten unerträglich von dem halben Dutzend Hieben, das er pariert hatte. Und trotzdem war dieser erste Zusammenprall nichts als ein Kräftemessen gewesen. Der wirkliche Kampf begann erst. Und Skar wußte, daß er keine Chance hatte, ihn zu gewinnen. Der Satai war ihm an Technik und Schnelligkeit zumindest ebenbürtig. Und er war dreimal so stark wie er. Wenn seine Wut verrauchte und dem kalten berechnenden Denken eines Satai Platz machte, würde er ihn töten.

Diesmal war es Skar, der angriff. Seine Klinge pfiff in einem geraden, vorgetäuschten Stich nach dem Gesicht des Satai durch die Luft, bewegte sich plötzlich nach unten und rechts und ruckte wieder hoch, als der andere versuchte, den Hieb abzulenken. Der Satai drehte blitzschnell Kopf und Oberkörper zur Seite. Skars Hieb verfehlte sein Gesicht um Haaresbreite; gleichzeitig züngelte seine eigene Klinge nach Skars Beinen und zwang ihn zu einem zweiten, verzweifelten Hüpfer, der ihn wertvolle Sekundenbruchteile kostete.

Als er wieder sicher auf den Beinen stand, traf das Tschekal des Satai seinen Brustpanzer und spaltete ihn. Skar spürte, wie die Klinge seine Haut zerriß und von einer Rippe abprallte, sie dabei brach und in der rückwärtigen Bewegung noch einen tiefen, blutenden Schnitt in seinem Arm hinterließ, aber er unterdrückte den Schmerz, wandelte ihn in Jähzorn und diesen in Kraft um und führte einen gewaltigen, beidhändigen Hieb nach dem Hals des Angreifers. Er traf nicht, aber sein ungestümer Schlag zwang den Satai zum Rückzug, und Skar setzte sofort nach.

Er erkannte die Falle zu spät. Der Satai floh nicht, sondern ließ ihn in eine komplizierte, kaum mehr abzuwehrende Parade aus Schwerthieben und -stichen hineinlaufen. Wie durch ein Wunder gelang es Skar, der tödlichen Schneide des Tschekal immer wieder zu entgehen - aber dem simplen Fußtritt, den der Riese nachsetzte, nicht mehr.

Skar fiel. Mit entsetzlicher Wucht prallte er auf, riß instinktiv das Schwert über den Kopf und begriff den tausendsten Teil einer Sekunde zu spät, daß er zum zweiten Mal einen Fehler begangen hatte. Der Fuß des Satai traf ihn mit erbarmungsloser Kraft in die Seite und brach ihm eine weitere Rippe. Skar keuchte vor Schmerz. Er sah den Angreifer nur noch als verzerrten Schemen, stemmte sich mit einer Kraft in die Höhe, von der er selbst nicht mehr wußte, woher sie kam, und hob das Schwert. Das Schwert des Satai prallte funkensprühend gegen seine eigene Waffe und prellte sie ihm aus der Hand.

Skar erstarrte mitten in der Bewegung. Aber der Tod, auf den er wartete - den er herbeisehnte - kam noch immer nicht. Der Satai trat zurück, streckte den Arm weit zur Seite aus und ließ seine Waffe fallen.

»Steh auf«, sagte er kalt. »Ich töte keinen Mann, der am Boden liegt.« In seiner Stimme war nicht das mindeste Gefühl. Sie war wie aus Eis, kälter und schneidender als der Rand eines zerbrochenen Glases, und alles, was Skar darin hörte, war der unbezwingbare Wille zu töten.

Er erhob sich taumelnd, preßte die Hand auf seine linke Seite und spürte Blut und einen heftigen, lähmenden Schmerz.

Der Kampf ging weiter. Der andere gönnte ihm keine Pause, nicht die winzigste Rast; es gab nichts Ritterliches, Faires mehr in ihrem Kampf. Und er würde nicht mehr sehr lange dauern. Skar taumelte schon unter den ersten Hieben des schwarzhaarigen Riesen zurück. Wie durch ein Wunder gelang es ihm, den tödlichen Schlägen und Tritten immer wieder auszuweichen oder sie abzublocken, um ihnen wenigstens einen Teil ihrer entsetzlichen Kraft zu nehmen, aber der andere kämpfte mit der Wut eines tobsüchtigen Quorrl, rücksichtslos Skar und auch sich selbst gegenüber. Und er war schneller. Immer nur um eine Winzigkeit, Bruchteile von Sekunden, die den Beobachtern des Kampfes nicht einmal auffallen konnten, die aber am Ende entscheiden mußten. Skar wurde getroffen, traf selbst und taumelte unter einer fürchterlichen Kombination von Hieben und Tritten zurück, fiel, fegte in der gleichen Bewegung auch den Satai von den Beinen und sprang auf, wieder den Bruchteil einer Sekunde langsamer als der Hüne.

Wieder trennten sie sich. Skar wankte. Seine Kräfte ließen rapide nach, und sein Atem ging so schnell, daß seine Lungen brannten, während der andere noch keine Anzeichen von Ermüdung zeigte. Der nächste Zusammenstoß würde der letzte sein, das wußte er.

Er riskierte alles. Er wollte nicht mehr kämpfen, er wollte nicht gewinnen, sondern wartete auf den Tod, aber etwas in ihm war stärker als sein bewußter Wille. Instinkte und jahrzehntelang trainierte Reflexe übernahmen die Rolle seines bewußten Denkens. Mit einer Kraftanstrengung, die seine Muskeln schier zu zerreißen schien, stieß er sich ab, federte mit einem gellenden Kampfschrei auf den Satai zu, wie ein lebendes Geschoß waagerecht durch die Luft fliegend, das rechte Bein an den Körper gezogen, um mit erbarmungsloser Kraft zuzustoßen. Der Satai spreizte die Beine und drehte den Oberkörper leicht zur Seite. Seine Arme kamen hoch, um den Sprungtritt abzuwehren und Skar gleichzeitig zu Boden zu schleudern.

Aber Skar trat nicht zu.

Statt dessen vollführte er eine zweite, an sich völlig unmögliche Drehung im Sprung, wandelte den Tritt in einen gewaltigen, taumelnden Salto um und war plötzlich fast über dem Satai. Die Arme des anderen schlugen ins Leere, aber Skars Hände packten zu, krallten sich in sein Haar und sein Gesicht, um mit der ganzen furchtbaren Gewalt des Sprunges sein Genick zu brechen. Es gelang ihm nicht. Es ging zu schnell, als daß Skar wirklich sah, was der andere tat, aber mit einem Male war sein Griff leer. Ein entsetzlicher Schmerz pulsierte durch seine linke Hand, als drei seiner Finger auf einmal brachen. Hilflos und schreiend vor Schmerz und Überraschung flog er durch die Luft, prallte schwer auf dem Rücken auf und blieb benommen liegen. Es war unmöglich! dachte er. Unmöglich! Es konnte nicht sein! Es gab außer ihm nur einen Menschen auf der Welt, der diese Kampftechnik kannte, denn er hatte sie selbst entwickelt, und es gab nur einen Menschen außer ihm, der wußte, wie sie abzuwehren war, aber das war unmöglich. Der Zufall war zu groß, es konnte einfach nicht sein, nicht nach all der Zeit, nicht - Als er die Augen öffnete, war der Satai über ihm, auf ein Knie gestützt, die linke Hand wie eine Kralle über seinem Gesicht, die rechte zur Faust geballt an der Hüfte, bereit zum letzten, tödlichen Hieb, in dem all die Kraft seines Titanenkörpers liegen würde.

Aber er schlug nicht zu. Sein Gesicht war erstarrt, eine Maske aus Entsetzen und Unglauben, seine Augen weit und dunkel und voll eines Schreckens, der tiefer war als alles, was Skar jemals erblickt hatte.

Unmöglich! dachte er. Es war unmöglich! Nicht nach all der Zeit! Und doch...

Er versuchte, sich das Gesicht des Satai um zwanzig Jahre jünger vorzustellen. Das schwarze Haar, die starken, aber sehr ebenmäßigen Züge, deren Schnitt ihn ein wenig an das Antlitz seines Sohnes erinnerten, ohne daß es sein idiotisches Lächeln verzerrte, die dunklen Augen, die so gerne lachten, daß man oft vergaß, wie gefährlich und hart dieser Mann sein konnte... Del erkannte ihn im gleichen Moment.

»Skar?« Seine Stimme brach fast, sank zu einem Flüstern herab, und schwoll jäh zu einem Schrei an: »SKAR!!!«

Skar starrte ihn an. Gelähmt. Unfähig zu denken. Zu atmen. Irgend etwas zu tun. Nicht auch noch das. Bei allen Göttern, dachte er, nicht nach allem auch noch das!! Nicht Del! Nicht der einzige Freund, den er je gehabt hatte!

Und doch war es so. Nach allem war das Schicksal auch noch grausam genug zu diesem letzten, abgrundtief bösen Scherz. Der Kriegsherr der Satai, der Mann, der ausgezogen war, an der Spitze eines Heeres aus Quorrl und anderen Ungeheuern die Welt zu erobern, war Del.

»Skar! Das... das ist doch nicht möglich! Du bist Skar!« Dels Fäuste öffneten sich. Er begann zu zittern, fiel plötzlich auch auf das andere Knie herab und riß Skar an den Schultern in die Höhe, so grob, daß er vor Schmerz aufstöhnte. »Großer Gott, Skar!« schrie er. »Was hast du getan?!«

Ja, dachte Skar, was hatte er getan? Was hatte er getan, daß er am Ende auch noch das allerletzte verlieren mußte, was ihm geblieben war - die Erinnerung an einen Freund. Warum? Wenn er schon ein Werkzeug grausamer Götter sein mußte, warum taten sie ihm auch noch dies an, ehe er starb? Warum?!

Plötzlich wurde Del ganz ruhig. Fast behutsam ließ er Skar zurücksinken, ballte die Hände zu Fäusten und stieß ein tiefes, qualvolles Seufzen aus, ein Laut wie von einem gepeinigten Tier, das sterben wollte und es nicht konnte. »Du«, flüsterte er. »Du bist zurück. Nach all der Zeit. Du bist zurückgekommen. Warum, Skar? Warum hast du das getan?«

Skar hätte nicht einmal antworten können, wenn er es gewollt hätte. Sein Mund war voller Blut. Etwas Dunkles, Schweres, das sehr freundlich und sanft war, griff nach seinem Bewußtsein. »Du hast ihn getötet«, flüsterte Del. »Du hast das einzige vernichtet, was noch zwischen uns und ihnen stand, Skar. Warum?« Er blickte ihn an, und Skar sah voller Staunen, daß seine Augen voller Tränen waren. »Du hast deinen eigenen Sohn getötet, Skar.«

»Ich... weiß«, stöhnte Skar. Das Sprechen fiel ihm schwer, so unendlich schwer. Warum ließen sie ihn nicht endlich sterben? Er hatte doch getan, was sie von ihm verlangt hatten. Warum verwehrten sie ihm nun auch noch die Umarmung des letzten Freundes, den er noch hatte - des Todes. »Ich... weiß«, wiederholte er mühsam. Er hustete. Blut lief in seine Kehle und drohte ihn zu ersticken. »Es ist... gut so. Und es ist... gut, daß... daß du es warst, der mich besiegt hat«, stöhnte er. »Auch wenn wir jetzt Feinde sind.«

Del starrte ihn an, schwieg endlose Sekunden und schüttelte wieder den Kopf. Dann straffte er sich mit einem sichtbaren Ruck. »Du!« sagte er, an einen der Krieger gewandt, die neugierig und erstaunt näher gekommen waren. »Hole Bradburn. Schnell!«

Der Satai rührte sich nicht. Sein Gesicht verschmolz vor Skars Blick zu einem formlosen hellen Fleck, aber Skar konnte den Haß darin fast fühlen.

»Wieso tötest du ihn nicht?« fragte er. »Er hat Croyd umgebracht!«

Del sprang auf, packte den Mann an den Schultern und riß ihn so heftig heran, daß er vor Schmerz aufstöhnte. »Geh und hole Bradburn, habe ich gesagt!« brüllte er. »Oder ich erschlage dich gleich hier auf der Stelle!« Er versetzte dem Mann einen Stoß, der ihn rücklings davontaumeln ließ, drehte sich um und sank erneut neben Skar auf die Knie. Der Zorn in seinem Blick machte wieder jenem tiefen Schmerz und Schrecken Platz, den Skar noch immer nicht verstand.

»Du«, flüsterte er. »Du warst es. Du... du warst es auch, der Trash getötet hat, nicht wahr?« Er lächelte, ohne daß Skar geantwortet hätte. »Natürlich. Wer außer dir hätte so etwas tun können. Ihr Götter, Trash war mein bester Mann. Mein Heerführer. Ich selbst habe ihn ausgebildet, und du hast ihn erschlagen, ganz allein, und fast ein Dutzend seiner Quorrl mit ihm. Ich hätte es wissen müssen.«

Skars Sinne begannen sich immer rascher zu verwirren. Es fiel ihm schwer, Dels Worten zu folgen, aber er war fast froh darum, denn irgendwie spürte er, daß sie mehr waren als ein Ausruf seines Schreckens, sondern eine tiefere Bedeutung haben mochten; eine Bedeutung, die ihn umbringen würde, wenn er sie erführe. »Du bist zurück«, flüsterte Del. »Großer Gott, zwanzig Jahre, und... und du bist nicht um einen Tag älter geworden. Bradburn hatte recht. Ich habe ihm nicht geglaubt, aber er hatte recht. Aber warum, Skar?« Er beugte sich vor, griff nach Skars Schultern und schüttelte ihn. »Warum? Warum hast du ihn getötet?«

»Weil... es sein mußte«, flüsterte Skar. »Sie dürfen nicht... siegen.«

»Sie?!« Dels Augen wurden weit. »Sie, Skar? Wovon sprichst du? Du -«

Er brach ab. Ein spitzer, wie ein nicht mehr ganz zurückgehaltener Schrei klingender Laut kam über seine Lippen. Sein Gesicht verlor vor Skars Blicken alle Farbe.

»Aber natürlich!« stammelte er. »Du... du warst im Süden, als Trash starb. Du warst... du warst bei Drask! Ist es so?«

Skar nickte. Ein entsetzlicher Verdacht begann in ihm Gestalt anzunehmen. Aber das konnte nicht sein. NICHT DAS!

»Drask.« Dels Stimme war ein eisiges Flüstern. »Bei allen Göttern, du... du warst bei Drask. Was hat er dir erzählt? Daß die Satai und die Quorrl sich aufgemacht haben, die Welt zu erobern?«

Skar konnte nicht mehr sprechen, aber Del las die Antwort in seinen Augen. »Warum hast du ihm geglaubt?« flüsterte er. »Warum bist du nicht zu mir gekommen und hast mich gefragt, Skar? Es... es sind Drask und die Anderen, die die Welt bedrohen, nicht wir.«

»Drask?« Das Entsetzen gab ihm noch einmal die Kraft, zu sprechen. »Aber wieso... der Überfall... die... die Mörder... die du geschickt hast...« Er wußte die Antwort längst, aber er konnte nicht aufhören, mußte einfach weitersprechen, um noch weitere kostbare Sekunden zu gewinnen, ehe er sich der Wahrheit stellen mußte. Dem Wahnsinn, der sie begleitete. »Sie haben Syrr getötet und ihren Bruder und... der Krieg...«

»Ich weiß nicht, wer Syrr ist«, unterbrach ihn Del. Er schrie fast. »Und ich weiß nichts von Mördern, die ich geschickt haben soll. Skar, es ist gerade anders herum! Die alten Götter sind zurückgekehrt, aber es sind Drask und die Anderen, die Enwor erobern wollen. Die Sumpfleute und wir und die Quorrl sind die einzigen, die sie noch aufhalten! Warum hast du ihm geglaubt!!«

»Weil er keine andere Wahl hatte«, unterbrach ihn eine Stimme. Del fuhr auf, und auch Skar wandte mühsam den Kopf. Auch sein Sehvermögen begann nun nachzulassen, aber er erkannte eine schlanke, in ein schmutzigweißes Gewand gehüllte Gestalt. Gebeugt vom Alter und zu weit, als daß er ihr Gesicht sehen konnte. Aber er kannte die Stimme.

Es war der Prediger. Der Alte, dem er vor so langer Zeit seinen Sohn und sein Leben gegeben hatte. Der Ordensherr der Gesichtslosen Prediger.

»Keine andere Wahl?« wiederholte Del.

Der Prediger machte eine komplizierte Handbewegung.

»Drask ist ein Magier, vergiß das nicht«, sagte er sanft. »Ein Mann, dessen Fähigkeiten die meinen um ein Tausendfaches übersteigen. Und sie sind alle Meister der Lüge.« Seine Stimme wurde bitter, als er näher kam und neben Skar niederkniete. Eine alte, pergamenttrockene Hand berührte seine Stirn. »Es ist meine Schuld«, flüsterte er. »Niemand wäre dem Gespinst aus Lügen und Betrug entgangen, das die Anderen zu weben wissen, aber ich hätte da sein müssen, um ihn zu warnen.« Er sah zu Del auf. »Bringt Verbandszeug. Und meine Salben. Er ist schwer verletzt, aber ich kann ihm helfen. Er wird leben, wenn die Götter auf unserer Seite sind. Wir werden ihn brauchen. Nötiger denn je.«

»Wozu, Bradburn?« fragte Del leise. »Croyd ist... tot.«

»Tot?« Der Prediger erschrak.

»Er hat ihn getötet«, bestätigte Del. In seiner Stimme war kein Vorwurf mehr. Nur noch Mutlosigkeit. »Wozu noch kämpfen, Bradburn? Croyd ist tot, und damit das letzte, was noch zwischen uns und ihrer Magie stand. Es ist aus.«

»Seit wann?« fragte Bradburn. Plötzlich klang er erregt. »Wie lange ist es her, daß er starb?«

»Nicht lange. Zehn Minuten.«

»Dann ist vielleicht noch nicht alles verloren«, sagte Bradburn. Er sprang mit einer Behendigkeit auf, die bei einem Mann seines Alters überraschte, fuhr herum und verschwand mit weit ausgreifenden Schritten im Zelt des Jungen.

Er blieb nur wenige Sekunden. Als er zurückkam, flammte sein Gesicht vor Erregung. Sein Atem ging schnell. »Ich kann es tun«, sagte er. »Es ist noch nicht zu spät, Del. Bringt ihn herein, rasch. Rasch!«

Del keuchte. »Was -«

»Bringt ihn herein!« unterbrach ihn Bradburn aufgeregt.

»Schnell! Zum Reden ist später Zeit. Ich kann es tun, aber jeder Augenblick zählt. Drask wird wissen, was hier geschehen wird, und er wird kommen, mit all seiner Macht! Wir sind verloren, wenn wir auch nur eine Sekunde zu lange zögern! Bringt ihn herein! Und sorgt dafür, daß er nicht einschläft. Er darf auf keinen Fall einschlafen, sonst stirbt er!«

Skar verstand längst nicht mehr, was die Worte des Alten bedeuteten. Warum ließen sie ihn nicht endlich sterben?

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