18.

Am Abend des vierzehnten Tages, den er auf der Burg verbrachte, ließ ihn Drask zu sich rufen. Skar dachte sich nichts Außergewöhnliches dabei - mit Ausnahme eines halben Tages, den er draußen im Lager verbracht hatte, um Enwass und seine Familie zu besuchen, hatte es kaum eine Stunde gegeben, die er nicht zusammen mit Drask verbrachte.

Aber als er Drasks Kammer betrat, begriff er, daß etwas geschehen war. Die gelöste Stimmung, in der er dem Diener gefolgt war, verflog wie ein Spuk, als er den Ausdruck auf Drasks Zügen sah. Für einen kurzen Moment schien es, als wäre es plötzlich genau umgekehrt wie bisher: Er wußte, was Drask ihm zu sagen hatte, so sicher, als hätte er nun seine Gedanken gelesen. Der Alte schwieg geduldig, bis sich der Diener, der Skar heraufbegleitet hatte, nach seinen weiteren Wünschen erkundigt hatte und gegangen war; dann bedeutete er Skar mit einer knappen Handbewegung, sich zu setzen. Skar war versucht, die Einladung abzulehnen; dann begriff er, wie kindisch eine solche Reaktion gewesen wäre. Schweigend ließ er sich auf den angebotenen Stuhl sinken und sah zu Drask auf.

»Du weißt, warum ich dich rufen ließ«, begann Drask.

Skar nickte. Ein schlechter Geschmack begann sich auf seiner Zunge breit zu machen. Warum stand er nicht einfach auf und ging?

»Du hast dich erholt in den letzten Wochen«, fuhr der Alte fort. »Ich habe dich beobachtet. Dein Körper ist geheilt, und deine Kraft kehrt zusehends zurück. Vielleicht wirst du nie wieder der werden, der du einmal warst, aber du bist noch immer ein Satai, und ich tat, was mir möglich war.« Er lächelte bedauernd. »Meine Macht reicht lange nicht an die der Gesichtslosen Prediger heran, aber ich habe getan, was ich konnte. Es muß genügen.«

»Ich weiß«, sagte Skar leise. Er versuchte vergeblich, seinen Worten einen bitteren Klang zu verleihen. In ihm war nichts als Leere. Er wußte, was kommen würde. Er hatte diesen Moment herbeigefürchtet, in jeder einzelnen Sekunde der vergangenen beiden Wochen. Jetzt drohte er in Panik zu geraten. Die fast unnatürliche Ruhe, die von ihm Besitz ergriffen hatte, täuschte. Sie war nur eine dünne Tünche, unter der das Entsetzen mit all seinen Fratzen und Grimassen lauerte. »Und jetzt«, sagte er leise, »verlangst du deinen Lohn, nicht wahr?«

»Meinen Lohn?« Drasks Gesicht verdüsterte sich vor Zorn. »Meinen Lohn?!« wiederholte er. »Siehst du es so? Glaubst du wirklich, ich wäre nichts als ein kleiner Krämer, der um eine Belohnung für seine Dienste schachert?!«

»Nein«, sagte Skar hastig. Drasks Zorn war nicht gespielt. Skars Worte hatten ihn verletzt, viel tiefer, als Skar es absichtlich hätte tun können. Es tat ihm leid. Er mochte Drask noch immer nicht, und wahrscheinlich war es überhaupt unmöglich, diesen Mann zu mögen, egal wie gut man ihn kannte. Aber ihn zu verletzen war das letzte, was er wollte. »Entschuldige«, murmelte er. »Ich... wollte das nicht sagen.«

»Doch«, behauptete Drask aufgebracht, »das wolltest du! Du -« Er hob zornig die Hand, eine ganz impulsive Bewegung, wie man sie einem ungezogenen Kind gegenüber machen würde, um es zu züchtigen, brach aber dann plötzlich mitten im Satz ab und ließ auch den Arm wieder sinken.

»Du bist nun einmal so«, fuhr er fort, wenn auch mit gänzlich anderer Betonung. Jeder Zorn war mit einem Male aus seiner Stimme verschwunden. Wenn Skar überhaupt noch etwas darin hörte, dann allenfalls noch eine tiefe, mit Trauer gepaarte Resignation.

»Vielleicht hast du sogar recht«, sagte er plötzlich. »Ja, ich verlange meine Belohnung. Es steht zu viel auf dem Spiel, als daß ich es mir noch leisten könnte, irgend etwas zu verschenken.« Er schwieg einen Moment, schüttelte plötzlich den Kopf, als hätte er sich in Gedanken eine Frage gestellt und im selben Augenblick selbst beantwortet, dann ging er mit schnellen trippelnden Schritten um den Tisch herum und setzte sich ebenfalls. Seine Hände glitten wie kleine selbständige Lebewesen aus grau gewordenem Fleisch über die zerfurchte Platte. Er sprach nicht weiter.

»Du verlangst eine Antwort«, sagte Skar.

Drask nickte. »Ja. Du hattest Zeit genug. Sage nicht, daß ich dir nicht genug Zeit gelassen hätte.«

Zeit... Skar lächelte bitter. Als ob es einen Unterschied machte, ob er eine Stunde oder ein Jahr Frist hatte, eine Frage zu beantworten, die er nicht beantworten konnte.

»Das macht es!« behauptete Drask. »Du warst verwirrt, als du hier ankamst. Verwirrt und verletzt und voller Furcht und Zorn.«

Skar fiel nicht einmal mehr auf, daß er die Worte nicht laut ausgesprochen hatte, sondern nur gedacht hatte. Er fühlte sich in die Enge gedrängt, hilflos, und dieses Gefühl ließ seine Verwirrung unversehens in Zorn umschlagen.

»Warum liest du nicht einfach meine Gedanken, wenn du die Antwort erfahren willst?« schnappte er.

»Weil sie nicht darin steht«, antwortete Drask. »Denkst du, ich hätte es nicht getan?« Er schnaubte, blieb aber trotzdem ganz ruhig. Nur in seinem Blick war mit einem Male etwas Neues; etwas, das Skar nicht greifen konnte, das ihn aber mehr und mehr verunsicherte. Er erinnerte sich, wie angenehm ihm Drasks Gegenwart in den ersten Tagen gewesen war. Während der vergangenen zwei Wochen war er lange genug mit dem Alten zusammen gewesen, dieses Gefühl schlichtweg zu vergessen, ganz einfach, weil er sich daran gewöhnt hatte. Jetzt war es wieder da, und heftiger als zuvor. »Ich habe deine Gedanken gelesen, Skar«, bekannte er freimütig, »öfter, als du ahnst - willst du es mir vorwerfen?«

Skar schwieg.

»Die Antwort steht nicht darin. Du weißt sie selbst noch nicht, weil du dich bisher geweigert hast, wirklich danach zu suchen. Du hast Angst davor, und das kann ich verstehen. Aber ich kann nicht mehr warten. Was wirst du tun?«

Skar starrte ihn an. Nicht einmal jetzt war es ihm möglich, zu einer Entscheidung zu kommen. Was Drask von ihm verlangte, war... unmöglich. »Warum jetzt?« fragte er leise. »Warum nicht gestern? Oder morgen?«

»Weil etwas... geschehen ist«, antwortete Drask mit unmerklichem Zögern. Seine Hände hörten auf, mit kleinen scharrenden Bewegungen über die Tischplatte zu huschen, und lagen mit einem Male ganz still. Der Anblick erinnerte Skar an zwei große, tote Spinnen.

»Ich habe dir gesagt, daß ich ihn finden könnte, wenn es sein müßte«, fuhr Drask halblaut fort. Er wich Skars Blick aus. Skar verstand es nach Sekunden. »Du hast...«

»Ich habe getan, was ich tun mußte«, unterbrach ihn Drask, sehr scharf und lauter, als notwendig gewesen wäre. »Zum Teufel, starr mich nicht so an! Ja, ich habe ihn suchen lassen.«

»Und gefunden?« Skars Stimme war fast tonlos. Sein Herz jagte, und er spürte, wie seine Hände vor Erregung feucht wurden. Was hatte dieser alte Narr getan ?!

Drask nickte. Er wollte antworten, aber zum ersten Mal, seit Skar ihn kannte, schienen ihm die Worte zu fehlen. Seine Selbstsicherheit zerbröckelte wie eine Maske aus Gips. Mit einem Male sah er sehr besorgt aus; mehr noch - das Glitzern in seinen Augen war eindeutig Furcht. Eine ganz bestimmte Art von Furcht, die auch Skar nur zu gut kannte: die Angst, einen Fehler begangen zu haben. »Ja«, sagte er schließlich. »Jedenfalls... glaube ich es.«

»Du glaubst?« Skar richtete sich kerzengerade auf. »Du bist nicht sicher, Drask?« fragte er scharf. »Du selbst hast mir erzählt, wie groß das Risiko ist, das du eingehst, wenn du nach...« Er brachte es nicht fertig, zu sagen: meinem Sohn, »...dem Kind suchst. Und jetzt bist du nicht einmal sicher?«

Drask hob beschwichtigend die Hand. »Ich bin fast sicher«, sagte er. »Und das Risiko ist kleiner, als du denkst. Ich weiß nicht, ob sie meine...« Er lächelte matt. »Manipulationen... überhaupt bemerken. Und wenn... Nun, täusche ich mich, so führt sie die Spur, die ich hinterlassen habe, nur in die Irre.« Er lächelte nervös, und Skar begriff, daß zumindest der letzte Teil seiner Antwort wohl eher dem Bedürfnis entsprang, sich selbst zu beruhigen, als wirklicher Überzeugung.

»Ich erwarte den endgültigen Beweis noch im Laufe der nächsten Stunden«, fuhr Drask fort. »Und bis dahin brauche ich deine Antwort, Skar.«

»Du läßt mir keine Wahl«, antwortete Skar zornig. »Wenn du recht hast, und das Kind, das du aufgespürt hast, ist wirklich mein Sohn -«

»Werden wir ihn töten«, sagte Drask ruhig. »Ob mit oder ohne deine Hilfe. Wenigstens werden wir es versuchen.«

»Und wie?« Skar schüttelte den Kopf, seufzte, und zwang sich, dem Blick von Drasks dunklen Augen standzuhalten. Es war schwer, aber er konnte es. »Wo ist er?«

»Deine Antwort.«

»Wo?« beharrte Skar. »Wo ist er, Drask?«

Der alte Magier seufzte, aber er schien einzusehen, daß er diese Runde des Spieles nicht nur nach seinen Regeln spielen konnte. »Nicht sehr weit von hier«, sagte er resignierend. »Zwei Tagesreisen zu Pferde, eine halbe Nacht, auf dem Weg, den ich dir zeigen kann.«

»So nahe?« fragte Skar zweifelnd, wobei er den letzten Teil von Drasks Worten geflissentlich überhörte. Er wollte nichts von Zauberei und Magie hören. Obwohl er noch immer nicht wirklich an derartige Dinge glaubte, hatten sie ihm schon zu viel Schaden zugefügt. Und anderen.

»Es ist nur logisch«, erwiderte Drask. »Er ist der Schlüssel zu ihrer Macht. Ihr Trumpf. Würdest du deine stärkste Waffe nicht dorthin schicken, wo sie gebraucht wird?«

Es dauerte einen Moment, bis Skar der Fehler in Drasks Argumentation auffiel. Dann schüttelte er heftig den Kopf. »Nein«, sagte er ruhig. »Zumindest nicht, wenn ich nicht einmal genau wüßte, wo sie ist.«

Drask lächelte. Ganz offensichtlich hatte er mit dieser Antwort gerechnet. Wieder einmal spürte Skar, wie grenzenlos unterlegen er diesem verbrauchten alten Mann war. »Natürlich wissen sie es nicht«, antwortete er. »Aber er. Er ist klug, Skar. Immerhin ist er dein Sohn.«

»Wenn er es ist«, sagte Skar rasch.

Drask nickte. »Wenn er es ist. Aber wie gesagt - ich bin fast sicher. Und ich denke, in spätestens zwei Stunden den endgültigen Beweis zu haben.« Er erhob sich mühsam, schlurfte zu einer Truhe an der gegenüberliegenden Wand und stemmte ächzend den schweren Deckel in die Höhe. Einen Moment lang kramte er vor sich hinmurmelnd darin herum, dann kam er zurück und breitete eine sorgsam gemalte Karte des Grenzgebietes zwischen Orkala und Bayfour zwischen sich und Skar auf dem Tisch aus, ehe er sich wieder setzte.

»Hier sind wir«, sagte er und stieß mit einem dürren Finger nach einer kunstvoll gemalten Burg, die quer über dem Fluß thronte. Skar beugte sich neugierig vor, um den Gesten des Alten bei der schlechten Beleuchtung besser folgen zu können. Drasks Zeigefinger folgte ein kurzes Stück weit dem gewundenen Band des Flusses und wich dann nach Osten ab. »Und hier ist ihr Lager.«

»Wessen?«

»Das Hauptquartier der Satai«, sagte Drask. Sein Blick haftete bei diesen Worten unverwandt auf Skars Gesicht. Etwas Lauerndes war in seine Augen getreten. Skar versuchte es zu ignorieren. »Du... denkst, er ist bei ihnen?«

»Es ist die einzig logische Erklärung«, sagte Drask nickend. »Niemand hat die Verbotenen Inseln oder gar den Berg der Götter betreten seit jenem schrecklichen Tag vor fünf Jahren, aber wir wissen, daß zumindest einer der Hohen Satai den Heereszug angeführt hat. Er ist hier!« Sein Zeigefinger stieß so wuchtig auf die Karte herab, als wolle er sie durchbohren. »Und dein Sohn ist bei ihm! Ich weiß es, Skar!«

»Die... die Hohen Satai?« Skar sah verwirrt auf, dann blickte er wieder auf die Karte. »Aber sie... verlassen niemals...«

»Dieser schon!« unterbrach ihn Drask. »Vielleicht hat dein Sohn ihn dazu gebracht, vielleicht ist er auch dein Sohn - alles ist möglich. Der Kriegsherr der Satai ist hier, in diesem Lager, hundert Meilen im Osten. Schon allein seinetwegen würde ich den Angriff riskieren!«

»Wie viele sind bei ihm?« fragte Skar atemlos. Etwas in ihm begann zu arbeiten. Der Kriegsherr der Satai? Einer der Dreizehn Unberührbaren? Wie so vieles, was er in den letzten Tagen erlebt und gehört hatte, war es unvorstellbar. Niemals, niemals! verließen die Hohen Satai den Berg der Götter, oder gar ihre Insel.

»Satai? Nicht viele«, antwortete Drask. »Seine Leibwache: ein Dutzend der besten Krieger, die er hat.«

»Mehr nicht?« fragte Skar zweifelnd. »Dann -«

»Und ungefähr vierzigtausend Quorrl«, fügte Drask ungerührt hinzu. Skar zog es vor, nicht weiter zu sprechen.

»Trotzdem ist es möglich«, fuhr Drask fort. »Ich kann binnen einer Woche genug Krieger zusammenziehen, den Angriff zu riskieren, und wir können ihr Lager erreichen, ehe sie Entsatz erhalten. Aber ich muß dir nicht sagen, welchen Preis wir bezahlen müßten.«

Nein, das mußte er nicht. Skar sah die Szene wie in einer blitzartigen, entsetzlichen Vision vor seinem geistigen Auge: selbst wenn Drasks Truppen die Schlacht gewannen - was nicht gesagt war, denn es waren Quorrl, gegen die sie kämpften, und sie wurden von einem Mann geführt, der wahrscheinlich jeden militärischen Trick und Winkelzug kannte, der jemals ersonnen worden war - selbst dann wäre es eine Schlacht, die die Geschichte Enwors verändern mußte.

»Du könntest es schaffen«, sagte Drask eindringlich. »Du bist Satai. Niemand kennt dich dort im Lager. Es ist gefährlich...« Er schwieg einen Moment. »Nein, ich will dir nichts vormachen. Wahrscheinlich würdest du getötet. Aber du könntest hingehen, ohne entdeckt zu werden. Niemand würde Verdacht schöpfen, bei einem Satai. Du könntest ihn töten.« Er seufzte. »Du oder hunderttausend meiner Krieger, Skar.«

Skars Hände schlossen sich so fest um die Tischkante, daß das zollstarke Holz zu knirschen begann. »Das ist nicht fair«, sagte er gepreßt. »Du... du wirfst das Schicksal einer ganzen Welt in die Waagschale, und verlangst von mir, daß ich entscheide!«

»Fair?« Drask schnaubte. Sein Gesicht verzerrte sich. Für einen Moment sah er wirklich aus wie der uralte Mann, als den Skar ihn kennengelernt zu haben glaubte. Seine Hand ballte sich zur Faust und krachte auf die Karte hinunter. »Fair?« wiederholte er. »Was redest du, Skar? Die Völker Enwors kämpfen um ihr Überleben! Ich kann es mir nicht leisten, fair zu sein. Nicht zu dir oder irgendeinem sonst. Nicht einmal zu mir selbst.« Skar schloß die Augen und versuchte mit aller Macht, an nichts zu denken. Es gelang ihm nicht. Es war einfach nicht fair! hämmerten seine Gedanken. Es war nicht richtig. Drask hatte kein Recht dazu! Wenn es ihm nicht gelang, das Kind zu töten? »Dann verfahren wir nach meinem Plan und greifen das Lager an«, sagte Drask. »Der Einsatz ist hoch, Skar, aber uns bleibt keine Wahl.«

Und wenn er versagte? Wenn er dieses Kind des Schreckens gar nicht töten konnte?

»Du kannst es, Skar«, sagte Drask. »Du mußt es!«

Skars Bewegung kam so schnell, daß selbst Drasks Reaktion zu spät kam; obgleich er im selben Moment wie Skar wußte, was er tun würde. Skar sprang hoch, griff mit beiden Händen über den Tisch und zerrte den Alten so grob in die Höhe und zu sich heran, daß seine Rippen mit einem hörbaren Laut über die Tischkante scharrten. Drask keuchte vor Schmerz.

»Hör auf, meine Gedanken zu lesen«, sagte Skar gepreßt. »Noch einmal, und -«

»Laß... mich... los«, keuchte Drask. Er zappelte hilflos in Skars Griff. »Du... erwürgst mich... ja!«

Skar ließ los. Drask sackte mit einem halberstickten Keuchen zurück, griff sich an den Hals und verfehlte den Stuhl, auf den er sich sinken ließ. Mit einem neuerlichen Schmerzlaut ging er zu Boden und blieb einen Moment stöhnend liegen, ehe er sich umständlich auf Hände und Knie hochstemmte. Was war das in seinem Blick? dachte Skar entsetzt. Wut und Zorn und Furcht - aber auch Triumph. Ein böser, kaum mehr unterdrückter Triumph.

»Damit änderst du nichts, Skar«, keuchte er. Seine Augen flammten, als er zu Skar hochsah, aber es war ein Zorn, der auf sonderbare Weise nicht Skar zu gelten schien, sondern etwas anderem, das er in diesem Moment in ihm sah. »Ich... ich habe dir schon einmal gesagt, daß du dich vielleicht selbst belügen kannst, aber mich nicht.«

Er stand auf, die linke Hand gegen den Hals, die rechte gegen seine schmerzenden Rippen gepreßt, und humpelte auf Skar zu. Sein Haar hing wirr in die Stirn, so daß Skar die große, weiß umrandete Narbe erkennen konnte, die bisher darunter verborgen gewesen war.

»Schlag mich ruhig, wenn es dich erleichtert«, zeterte er.

»Schlag mich, aber danach antworte! Verdammt, stell dich einmal im Leben der Wahrheit!«

»Was... was meinst du damit?« stammelte Skar. Ganz instinktiv wich er ein Stück vor Drask zurück, als wäre er plötzlich der Angegriffene, der sich fürchten mußte.

»Was ich damit meine?« Drask zog eine Grimasse. »Du weißt es wirklich nicht, wie? Du belügst dich selbst jetzt noch! Aber bitte: Ich meine, daß du diesmal nicht davonlaufen kannst, Satai. Diesmal mußt du dich entscheiden, ob es dir gefällt oder nicht!«

»Davonlaufen?« Davonlaufen? Er war niemals in seinem Lehen vor irgend etwas geflohen!

»Jawohl, davonlaufen!« schrie Drask. »So wie du es immer getan hast. Du hast nie eine Entscheidung gefällt, Skar, niemals. Ich weiß, daß du es nicht wahrhaben willst, aber ich kenne dich. Ich kenne dich besser als du selbst, vergiß das nicht! Du hast dich niemals entschieden. Du bist stark, und trotzdem bist du im Grunde nichts als ein elender Feigling, Satai. Und vielleicht ist das auch der einzige Grund deiner Stärke. Du hast immer andere deine Entscheidungen treffen lassen, ist es nicht so? Du hast niemals gesagt, was zu tun ist. Und du hast immer andere den Preis zahlen lassen, wenn du einen Fehler begangen hast. Aber diesmal geht das nicht mehr!«

Er humpelte auf Skar zu, packte ihn mit seiner dünnen Greisenhand bei der Schulter und schüttelte ihn so lange, bis Skar seinen Arm mit einer wütenden Bewegung beiseite fegte.

»Du redest irre, alter Mann!« sagte er aufgebracht.

»So?« keifte Drask. »Tue ich das? Dann sag mir, wann du jemals für das bezahlt hast, was geschehen ist! Alle sind tot - Vela, Kiina, die Sumpfleute, Del, Herger, selbst die Freisegler, die das Pech hatten, ihr Schiff an dich zu vermieten. Du lebst. Du lebst, weil du es immer verstanden hast, anderen die Verantwortung für dein Tun zuzuschieben, so geschickt, daß du es nicht einmal selbst gemerkt hast. Aber das geht jetzt nicht mehr, Satai! Du bist der Vater dieses Kindes, und du bist der einzige, der es töten kann! Der einzige, verstehst du?« Er schüttelte die Faust vor Skars Gesicht.

»Aber das... das ist nicht wahr!« keuchte Skar. Drasks Worte trafen ihn wie Peitschenhiebe. Etwas in ihm krümmte sich wie ein getretener Wurm. Eisiges Entsetzen griff nach seiner Seele und lähmte ihn. »Das ist nicht wahr!« wiederholte er. »Du -«

»Es ist wahr!« schrie Drask. »Und du weißt es! Aber leugne es ruhig. Meinetwegen geh. Geh!« Er versetzte Skar einen Stoß mit der flachen Hand und deutete wütend zur Tür. »Geh, Satai! Nimm dir ein Pferd und reite fort! Ich werde dich nicht aufhalten! Reite so weit, wie du kannst. Wer weiß, vielleicht entkommst du auch diesmal wieder. Vielleicht findest du eine Ecke, in der dich nicht einmal die Quorrl aufspüren. Steige von mir aus auf den höchsten Berg Enwors und sieh zu, wie sie unsere Welt in Schutt und Asche legen. Aber mach nicht mich dafür verantwortlich!«

»Du lügst!« wimmerte Skar. Es war nicht wahr! Es durfte nicht wahr sein. Vela, Kiina, Del - es war nicht seine Schuld! »Du lügst, alter Mann! Du hast selbst gesagt, daß du es warst, der -«

»Nichts habe ich«, fauchte Drask. »Gar nichts. Ich zwinge dich nur, dich zu entscheiden, das ist alles. Enwor wird untergehen, ob ich ihnen nun den Weg zu deinem Teufelskind zeige oder nicht! Wir haben nur noch eine Chance, und das bist du!« Skar schlug ihn nieder. Seine Faust traf Drask im Gesicht, dicht unter dem linken Auge, ließ die dünne Haut aufplatzen und Blut über seine faltigen Züge rinnen. Drask torkelte mit einem spitzen Schrei zurück, prallte gegen die Tischkante und sank mit einem gepeinigten Wimmern zu Boden, Bruchteile von Sekunden, bevor Skar aus dem Zimmer stürmte und die Tür hinter sich zuwarf.

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