3.

Skar hatte sich verschätzt. Es wurde dunkel, lange bevor er das kleine Wäldchen erreichte - was zum Teil daran lag, daß das Gelände noch weniger Deckung bot, als er geglaubt hatte, zum anderen daran, daß auch Syrr sich getäuscht hatte: Bis zum Sonnenuntergang verging keine Stunde mehr, sondern kaum die halbe Zeit. Und als die Dunkelheit dann kam, war sie fast absolut. Die Sonne erlosch, und die dichtgeschlossene Wolkendecke verschluckte auch das letzte bißchen Sternenlicht. Skar konnte kaum weiter als zehn Schritte sehen. Wäre nicht fast unmittelbar nach Sonnenuntergang ein Feuer zwischen den Bäumen vor ihm angegangen, so hätte er das Lager vermutlich gar nicht gefunden. Aber auch so erreichte er es mehr durch Glück als irgend etwas anderes. Ein paarmal stolperte er im Dunkeln über Hindernisse, die unter der trügerisch glatten Schneedecke verborgen lagen, und einmal - hinterher lachte er darüber, aber als es geschah, sprang sein Herz vor Schrecken bis fast in seine Kehle hinauf - fuhr er mit kampfbereit erhobenen Fäusten herum und spannte sich schon zum Sprung, ehe er sah, daß der vermeintliche Gegner, der so unvermittelt neben ihm aus der Nacht aufgetaucht war, nichts anderes als ein Baum war. Skar lächelte über seine eigene Dummheit. Aber er begriff auch, daß dieser an sich harmlose Irrtum eine Warnung war, die er besser beherzigen sollte: Nicht nur seine körperliche Leistungsfähigkeit hatte gelitten, während des vielleicht wochenlangen Schlafes.

Seine Reaktionen waren nicht mehr die eines Satai. Er reagierte noch immer schnell - aber vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben auch falsch.

Skar umging den kleinen Waldflecken in weitem Bogen, prüfte noch einmal die Windrichtung und vergewisserte sich, daß die Hunde seine Witterung nicht aufnehmen konnten, ehe er weiterschlich. Daß er beinahe nackt war, kam ihm jetzt zugute: Die Kälte war quälend, und obwohl er mit aller Macht dagegen ankämpfte, spürte er seine Beine bis zu den Knien hinauf schon nicht mehr. Aber seine bloßen Füße verursachten auf dem verharschten Schnee auch so gut wie kein Geräusch; und er hatte keine Kleider oder Waffen bei sich, die einen verräterischen Laut verursachen konnten.

Sehr vorsichtig näherte er sich dem Feuerschein, der durch das kahle Unterholz schimmerte. Er hörte Stimmen, ohne die Worte zu verstehen, dann das Schnauben von Pferden. Kein Hundegebell. Entweder waren die Tiere gar nicht hier, oder sie nahmen seine Witterung wirklich nicht auf.

Skar näherte sich dem Feuerschein, bis er die zusammengekauerten Schatten davor erkennen konnte.

Es waren Quorrl, wie das Mädchen gesagt hatte, und mindestens eine menschliche Gestalt. Sie unterhielten sich in einer Sprache, die Skar nicht verstand, und laut genug, um ihre Sorglosigkeit zu verdeutlichen. Die Pferde standen ein Stück abseits des Feuers, so angebunden, daß sie an den wenigen Blättern nagen konnten, die der Winter übriggelassen hatte, aber noch in Sichtweite der Quorrl. Skar zählte sie. Es waren vier. Also hatte Syrr sich verschätzt - zu ihrem Vorteil. Vier Pferde, das bedeutete vier Reiter. Und ein kleinerer, struppiger Schatten, der schlafend dalag, den Kopf auf die Pfoten gebettet und die Lefzen nach oben gezogen, so daß das unnatürliche Weiß seiner Fänge durch die Nacht blitzte wie eine stumme Warnung. Den Hund mußte er töten, wenn er die Pferde stehlen wollte, ohne entdeckt zu werden. Aber wie?

Skar unterdrückte einen Fluch. Was hatte er eigentlich getan, daß nichts, was begann, einfach sein konnte?

Aufmerksam sah er sich um. Der Wald war nicht sehr dicht an dieser Stelle. Die Bäume standen eng beieinander, aber es gab kaum Unterholz, und auf dem hellen Schnee mußte sich seine Gestalt deutlich abheben, ganz egal, wie leise er war. Es schien unmöglich, sich den Pferden zu nähern, ohne gesehen zu werden. Sein Blick glitt an den glatten Stämmen der Bäume empor, tastete über die schneeverhangenen, schweren Äste, dann wieder zurück zum Lagerfeuer...

Einer der vier Schatten bewegte sich. Für einen Moment lag sein Gesicht deutlich im roten Widerschein des Feuers.

Der Anblick traf Skar wie ein Schlag.

Er war noch immer sehr weit entfernt - zu weit, um die Züge des Mannes deutlich erkennen zu können. Aber er sah deutlich das schmale lederne Stirnband, das er trug, und den fünfzackigen silbernen Stern, der daran befestigt war.

Das Zeichen der Satai...

Etwas in Skar zog sich zusammen wie ein getretener Wurm. Ein Satai! Ein Satai, der zusammen mit einer Bande fischgesichtiger Quorrl Jagd auf zwei Kinder machte! Unmöglich! Das war unmöglich! Unmöglich!

Der Mann drehte den Kopf wieder zurück, und das Blitzen des fünfzackigen Sternes erlosch. Für einen Moment klammerte sich Skar mit aller Kraft an den Gedanken, daß er sich getäuscht hatte, daß es irgendein Schmuckstück gewesen war, billiger Tand, der nur zufällig dem heiligen Emblem der Satai ähnelte, vielleicht auch ein Beutestück, das der Kerl einem Toten abgenommen oder schlichtweg gestohlen hatte...

Aber das eine war so unmöglich wie das andere, und er wußte es. Niemand - niemand - würde es wagen, den heiligen Stern der Satai nachzuahmen. Und ein Straßenräuber, der sich mit dem Zeichen eines toten Satai schmückte? Ebensogut konnte er sich gleich selbst die Kehle durchschneiden - jeder Satai Enwors hätte ihn gejagt bis ans Ende der Welt und darüber hinaus.

Aber wenn der Mann wirklich Satai war...

Skar spürte ein Gefühl schrecklicher Hysterie in sich emporkriechen. War das überhaupt noch Enwor? War das noch die Welt, die er kannte? War er... ja - war er überhaupt erwacht? Für einen Moment erwog er diese Möglichkeit allen Ernstes: nämlich die, daß er in Wahrheit noch schlief, daß all dies nichts als ein entsetzlicher Alptraum war, in den ihn der Trank der Gesichtslosen Prediger hineingezwungen hatte, und aus dem er nicht erwachen konnte.

Aber dann spürte er die Kälte, die seinen Oberschenkel emporkroch, den dumpfen Schmerz, der noch immer in seinem Gesicht wühlte, das Hämmern seines Herzens... wenn es ein Traum war, dann war es der realistischste, den er jemals geträumt hatte.

Und es gab nur eine Möglichkeit, es herauszufinden...

Skar gab jede Vorsicht auf, ging weiter und trat mit einem entschlossenen Schritt aus den Schatten des Waldes hervor. Er wußte jetzt, daß ein Anschleichen unmöglich war. Der Satai änderte alles.

Die Reaktion der um das Feuer sitzenden Schatten bestätigte seine schlimmsten Befürchtungen. Die drei Quorrl sprangen erschrocken hoch und griffen nach ihren Waffen; eine der plumpen Gestalten verlor gar auf dem schlüpferigen Boden das Gleichgewicht und wäre um ein Haar rücklings ins Feuer gestürzt. Nur der Mann mit dem Stirnband der Satai blieb reglos und scheinbar unbeeindruckt sitzen. Er hob nicht einmal den Blick, aber auf seinen Lippen erschien ein dünnes, nicht sehr humorvolles Lächeln. Seine rechte Hand lag scheinbar gelöst in der Nähe des Schwertgriffes, der unter seinem Fellmantel hervorlugte.

Skar begriff, daß er seine Schritte schon lange gehört hatte, bevor er aus den Schatten heraustrat. Er war ein Satai!

Zwei der drei Quorrl sprangen mit erhobenen Waffen auf ihn zu, und in der Dunkelheit bei den Pferden bewegte sich ein weiterer Schatten. Ein dumpfes, kehliges Knurren erklang. Metall klirrte.

Skar wehrte sich nicht, als die beiden Quorrl ihn packten und grob auf die Knie stießen. Eine Schwertklinge berührte seinen Hals. Skar spürte einen leichten, brennenden Schmerz, dann lief warmes Blut an seiner Kehle herunter. Er unterdrückte den Impuls, sich zu wehren.

»Laßt ihn!«

Die Stimme des Satai war nicht sehr laut, aber von schneidender Schärfe. Der Quorrl, der seinen Arm gepackt und auf den Rücken gedreht hatte, ließ seine Hand los. Aber das Schwert blieb, wo es war, und der Quorrl drückte mit unbarmherziger Kraft zu. Skar bog den Kopf so weit in den Nacken, wie er nur konnte, ohne das Gleichgewicht zu verlieren, aber die Schneide folgte der Bewegung und ritzte seine Haut abermals.

»Tötet mich... nicht!« stöhnte er. »Bitte!«

Die unnatürliche Haltung, zu der ihn die Waffe zwang, ließ seine Stimme verzerrt klingen. Er hoffte zumindest, daß die Quorrl den Ton darin für Angst hielten.

Tatsächlich nahm der Druck der tödlichen Waffe um eine Winzigkeit ab; nicht genug, ihn etwa auf Gedanken an Widerstand oder Flucht kommen zu lassen, aber doch so weit, daß er zumindest wieder atmen konnte.

»Wer bist du, Kerl?« fauchte eine gutturale Stimme. »Was schleichst du hier herum?«

Skar antwortete nicht, sondern starrte den Quorrl nur aus weit aufgerissenen Augen an, der sich über ihn gebeugt hatte. Es war ein Riese, selbst für einen Quorrl - gute zweieinhalb Meter groß und mit Schultern, die den pelzgefütterten Mantel zu sprengen schienen, unter dem sie verborgen waren. Seine Augen waren klein und kalt und starr wie die von Fischen, und als er sprach, blitzte hinter seinen nur angedeuteten Lippen ein Gebiß, das einen Haifisch vor Neid hätte erbleichen lassen. Er unterstrich seine Worte mit einem ärgerlichen Ruck am Schwertgriff. An Skars Hals erschien ein dritter, blutender Schnitt.

»Laß ihn, Trash.« Der Mann mit dem Stirnband der Satai stand auf, kam mit zwei schnellen Schritten um das Feuer herum und drückte den Arm des Quorrl beiseite. Aufmerksam sah er Skar an. Er lächelte, aber seine Augen blieben dabei kalt wie die des Quorrl. Vielleicht noch kälter.

Skar richtete sich vorsichtig auf, hob die Hand und tastete mit spitzen Fingern über die blutigen Schnitte an seiner Kehle. »Ich... danke Euch, Herr«, sagte er stöhnend. »Ich wollte Euch nicht bestehlen, wirklich. Bitte tötet mich nicht.«

»So?« Der Satai lächelte erneut, ließ sich vor Skar in die Hocke sinken und musterte ihn eingehend von Kopf bis Fuß. »Was wolltest du dann?« fragte er. »Du schleichst schon eine ganze Weile hier herum, nicht wahr? Hattest du keine Angst, daß wir den Hund auf dich hetzen?«

»Den Hund?« Skar versuchte, seinen Schrecken möglichst überzeugend zu spielen - was ihm einigermaßen schwerfiel, denn er hatte sehr wohl registriert, daß der Satai in der Einzahl gesprochen hatte. »Ich... ich weiß nichts von Hunden. Ich sah das Feuer und... und hörte eure Stimmen, und da...«

»Und da dachtest du, du könntest ein bißchen Essen stehlen, wie?« unterbrach ihn der Satai. Er lächelte, löste die Hand vom Schwert und machte eine auffordernde Geste. »Gib es ruhig zu. Hunger ist keine Schande.«

Skar schüttelte hastig den Kopf, lächelte verlegen und tastete wieder über die Schnitte an seinem Hals. Die Wunden waren nicht sehr tief, aber sie taten weh. »Ich habe Hunger«, gestand er. »Aber ich stehle nicht. Und schon gar nicht von einem Mann wie Euch. Ihr seid... Satai?« Zögernd deutete er auf das Stirnband unter dem kurzgeschnittenen schwarzen Haar.

»Und wenn?« Die Augen des Satai wurden schmal. Skar begriff, daß er ihn töten würde, wenn er auch nur eine falsche Antwort gab.

»Seid Ihr Satai?« beharrte er.

In den Blick der dunklen Augen mischte sich Ungeduld.

»Nimm an, ich wäre es, Kerl«, sagte er. »Was dann?«

»Dann ist alles gut«, erwiderte Skar mit übertrieben geschauspielerter Erleichterung. »Die Satai sind meine Freunde. Ihr werdet mir helfen.«

»Deine Freunde, so?« Etwas an der Art, in der der Mann das Wort Freunde betonte, gefiel Skar nicht. Er stöhnte, krümmte sich wie unter Schmerzen und verlagerte dabei unmerklich sein Gleichgewicht. Seine rechte Hand spreizte sich und suchte festen Halt im Boden. Gleichzeitig spannte er die Muskeln im linken Oberschenkel an.

»Was ist mit dir?« fragte der Satai. »Bist du verletzt? Wer bist du? Wo kommst du her? Und wieso läufst du fast nackt durch den Schnee?«

Skars Antwort bestand in einem dumpfen Stöhnen.

Der Satai schüttelte ärgerlich den Kopf und stand auf. »Bringt ihn ans Feuer«, befahl er. »Und gebt ihm eine Decke oder einen Mantel, bevor seine Zunge ganz einfriert.«

Skar entspannte sich. Der gefährliche Moment war vorüber, das spürte er. Der Satai hatte ihn nicht durchschaut - was Skar aber nun keineswegs dazu verleitete, ihn etwa zu unterschätzen. Aber zumindest würden sie ihn nicht gleich töten. Wenn er erst einmal zwischen ihnen saß, vielleicht in Reichweite einer Waffe... Der Mann mit dem schwarzen Haar war zweifellos wirklich ein Satai, aber das bedeutete nicht, daß er unverwundbar war.

Grob wurde er auf die Füße gezerrt und zum Feuer geschleift. Trash stieß ihn so derb nieder, daß er um ein Haar in die Flammen gefallen wäre. Skar fing den Sturz ungeschickt ab, rappelte sich hoch und kroch so dicht an das prasselnde Feuer heran, wie er nur konnte, ohne sich zu verbrennen. Die Wärme tat gut, aber sie tat auch weh: seine Finger begannen zu prickeln und zu stechen, während er sie über die Flammen hielt, und dort, wo ihn Syrrs Stein getroffen hatte, erwachte ein dumpfhämmernder Schmerz in seinem Kiefer.

Eine Weile ließen sie ihn vollkommen in Ruhe. Der Satai nahm ihm gegenüber Platz, auf der anderen Seite des Feuers, während Trash und ein zweiter Quorrl sich ein Stück neben und hinter ihn setzten, so, daß sie ihn mühelos packen und niederringen konnten, sollte er zu fliehen versuchen. Der dritte Quorrl schließlich blieb am Waldrand stehen, als fürchte er, daß sich in der Dunkelheit noch mehr uneingeladene Gäste verbargen.

Schließlich ließ Skar sich zurücksinken, verbarg die Hände unter den Achselhöhlen und sah erst die beiden Quorrl zu seinen Seiten, dann den Satai mit einer Mischung aus Erleichterung und Furcht an.

»Ich... ich danke Euch, Herr«, sagte er. »Eine Stunde länger, und ich wäre erfroren.« Das Sprechen bereitete ihm Mühe. Seine Lippen waren noch immer taub, und die Wärme des Feuers ließ den Schmerz in seinem abgebrochenen Zahn zu neuer Wut aufflammen. Irgend etwas, eine Mischung aus Furcht und Erregung und immer größer werdender Unsicherheit, hatte sich in seinem Magen zu einem Klumpen geballt. Was, dachte er, wenn alles ganz anders war? Wenn er einen Fehler beging, einen entsetzlichen, nicht wieder gut zu machenden Fehler?

Der Satai hob die Hand. »Bringt ihm eine Decke«, sagte er. »Und heißen Wein.«

Widerspruchslos erhob sich einer der Quorrl, ging zu den Pferden hinüber und kam nach Augenblicken mit einem zusammengerollten Fellmantel zurück. Skar nahm ihn dankbar entgegen, rollte ihn mit zitternden Fingern auseinander und versuchte, ihn überzustreifen, ohne sich zu erheben. Er stellte sich dabei bewußt ungeschickt an, was Trash zu einem leisen, hämischen Lachen veranlaßte.

Der Satai lachte nicht. Zwischen seinen Brauen entstand eine tief eingegrabene Falte. Mißtrauen blitzte in seinem Blick auf. Aber er schwieg, bis sich Skar in den Mantel gewickelt und den Becher mit dampfendem Wein entgegengenommen hatte, den ihm der Quorrl reichte. Skar stöhnte vor Schmerz, als das heiße Getränk seinen lädierten Zahn berührte.

»Jetzt sprich!« sagte der Satai schließlich. »Wie ist dein Name? Wo kommst du her? Und was ist mit dir passiert?«

»Mein Name ist S... jar«, antwortete Skar. Das unmerkliche Stocken in seinen Worten mußte dem Satai auffallen, denn in seinem Blick blitzte es abermals mißtrauisch auf, aber er sagte nichts, sondern machte nur eine ungeduldige Geste, weiterzusprechen. »Ich bin fremd hier«, sagte er. »Ich wollte hinauf nach Thbarg, vielleicht an die Küste, aber ich wurde überfallen.«

»Überfallen? Von wem?«

Skar zuckte mit den Achseln. »Ich weiß es nicht, Herr«, sagte er. Er stöhnte, hob die Hand an seine schmerzende Wange und verzog das Gesicht zu einer Grimasse der Qual. »Es waren sieben oder acht. Straßenräuber, denke ich. Gesindel, das von dem lebt, was es von ehrlichen Männern wie mir stiehlt. Meinen Begleiter haben sie mit einem Speer durchbohrt, und mir selbst fast den Schädel eingeschlagen.«

»Und dann haben sie dich einfach so laufen lassen?«

Skar schüttelte hastig den Kopf. »Nein. Sie... sie haben mich ausgezogen und an einen Baum gebunden, damit ich erfrieren soll. Aber ich hatte Glück. Ich konnte die Fesseln lösen und entkommen. Ihre Wache hat geschlafen.«

»Soll das heißen, daß sie dich verfolgen?« fragte Trash mißtrauisch.

»Nein«, antwortete Skar, ganz bewußt eine Spur zu schnell, um überzeugend zu wirken. »Sie... sie halten mich sicher für tot. Ich bin den ganzen Tag gelaufen, nur um nicht zu erfrieren, und -«

»Wir sollten ihn davonjagen«, sagte Trash, an den Satai gewandt. »Bevor sie seine Spur aufnehmen und hierher kommen.« Der Satai lächelte dünn. »Und?« fragte er. »Hast du Angst vor ein paar Wegelagerern?«

»Sie werden bestimmt nicht kommen, Herr!« sagte Skar hastig. »Und wenn, werden sie einen Mann wie Euch nicht angreifen. Ihr seid Satai!« Bei den letzten Worten bemühte er sich, seine Stimme bewundernd klingen zu lassen; und gleichzeitig auch mit einer Spur jener Unverschämtheit, die sich nur die Schwachen den Starken gegenüber erlauben durften. Und tatsächlich schien sich der Satai geschmeichelt zu fühlen, denn auf seinen Lippen erschien ein dünnes Lächeln.

Aber nur für einen Moment. Dann wurde er übergangslos wieder ernst.

»Und was erwartest du nun von uns?« fragte er. »Vielleicht eine Eskorte bis Denwar? Oder würde es reichen, wenn wir die Wegelagerer verfolgen und niedermachen?« Der Spott in seiner Stimme war unüberhörbar, aber Skar versuchte, den Ärger zu ignorieren, den seine Worte in ihm wachriefen.

»Wenn Ihr mir... Kleider geben könntet«, sagte er zögernd. »Und vielleicht etwas Proviant. Ich bin ein reicher Mann«, fügte er hastig hinzu. »Auch wenn es im Moment nicht so aussieht. Ich habe Verwandte in Denwar, die Euch entschädigen würden, sehr großzügig sogar.« Er deutete zum Waldrand. »Ihr habt zwei Pferde. Vielleicht könntet ihr mir eines verkaufen?«

Der Satai starrte ihn an - und begann schallend zu lachen. »Du bist ein Narr, Sjar - oder wie immer du heißen magst«, sagte er, nachdem er sich wieder beruhigt hatte. »Ich bin Satai, kein Pfandleiher! Den Mantel da und Essen kannst du haben, aber du wirst wohl zu Fuß nach Denwar laufen müssen.«

»Ihr braucht die Pferde«, stellte Skar betrübt fest. »Ihr trefft Euch hier mit Freunden?«

Wieder lachte der Satai, und diesmal stimmten auch die beiden Quorrl in sein Gelächter ein. »Nicht unbedingt«, antwortete er amüsiert. »Sagen wir - wir sind auf der Jagd. Nach einem ganz besonderen Wild.« Er lachte abermals, beugte sich vor, um einen glühenden Ast aus dem Feuer zu angeln und damit zu spielen, und sah Skar mit schräggehaltenem Kopf an. »Du bist ein bißchen neugierig, findest du nicht, mein Freund?«

Skar antwortete nicht. Er hatte genug gehört - im Grunde mehr, als er hören wollte. Syrr und ihr Bruder hatten die Wahrheit gesagt.

Aber sie hatten ihm nicht gesagt, daß es Satai waren, die sie verfolgten...

Es fiel ihm noch immer schwer, die Tatsachen zu akzeptieren. Er hatte von abtrünnigen Satai gehört, die sich vom Orden und seinen Regeln losgesagt hatten - oder ausgeschlossen worden waren - und auf eigene Faust durch die Welt zogen, als Söldner für Geld oder auch einfach auf der Suche nach Abenteuern. Aber ein Satai, der mit Quorrl gemeinsame Sache machte?

Skar versuchte erst gar nicht, eine Lösung für dieses Rätsel zu finden. Aber er wußte, was er zu tun hatte. Der Satai hatte sein eigenes Todesurteil ausgesprochen, ohne es zu ahnen. Selbst wenn es anders gewesen wäre, wenn es Syrr und Talin nicht gegeben hätte - Skar hätte ihn töten müssen.

»Warum antwortest du nicht, Sjar?« fragte der Satai. »Hat es dir die Sprache verschlagen? Oder gibt es vielleicht irgend etwas, was du uns noch zu erzählen vergessen hast?«

»Ich... überlege«, gestand Skar mit einem verlegenen Lächeln. Er beugte sich ein wenig weiter vor, als suche er die Nähe des Feuers, und spannte sich. Anders als der Satai saß er nicht mit untergeschlagenen Beinen da, sondern in einer an sich unbequemen, halb hockenden Stellung. »Es ist ein weiter Weg bis Denwar, ohne Pferd. Habt Ihr wenigstens ein Paar Stiefel für mich? Und ein Schwert?«

Der Satai starrte ihn an, als zweifele er an seinem Verstand. Seine Hand spielte weiter mit dem brennenden Ast. Die Linke lag auf dem Schwert, aber in falscher Haltung. Er würde Zeit brauchen, die Waffe zu ziehen. Bruchteile von Sekunden nur, aber Skar würde sie ihm nicht geben.

»Bist du verrückt geworden?« sagte er. »Wir haben keine Stiefel für dich.«

»Oh«, sagte Skar enttäuscht. Dann lächelte er. »Aber das macht nichts. Dann nehme ich deine.«

Er sprang.

Seine Bewegung kam selbst für den Satai zu schnell. Skar stieß sich mit aller Gewalt ab, flog mit weit ausgestreckten Armen wie ein lebendes Geschoß über das Feuer und packte ihn bei den Schultern. Der Satai schrie auf und prallte zurück; sein Knie kam hoch, um sich in Skars Leib zu bohren und ihn von sich herab zu schleudern. Aber Skar versuchte nicht, ihn zu Boden zu reißen und bei der Kehle zu packen, womit er wohl gerechnet hatte. Seine Hände ließen die Schultern des Satai los, kaum daß sie sie berührt hatten. Das Knie des Satai bohrte sich schmerzhaft in seinen Magen, aber Skar nutzte die Kraft des Hiebes im Gegenteil aus - er warf sich mitten im Sprung herum; seine Linke glitt zum Schwert des Satai herab und packte es, während die andere Hand tiefe blutige Furchen in seine Wange zog und sich in sein Haar krallte. Die Kraft seines Sprunges war noch immer groß genug, ihn weiter zu tragen. Er spürte, wie sein Leib und seine Oberschenkel über das Gesicht des Satai schrammten. Dann prallte sein Knie mit der ganzen Gewalt des Sprunges gegen das Kinn des anderen, warf seinen Kopf in den Nacken und brach sein Genick.

Skar fiel von dem Toten herunter, noch immer vom Schwung seines Sprunges getragen, rollte im weichen Schnee ab und riß sich die Schulter an einem Stein auf, der darunter verborgen war. Aber noch in der gleichen Bewegung zerrte er das Schwert des Satai vollends aus der Scheide.

Ein gigantischer Schatten wuchs über ihm empor. Quorrl-Stimmen begannen zu schreien. Metall blitzte. Skar rollte weiter, sah eines der gewaltigen Schuppenwesen über sich emporwachsen wie einen mörderischen Dämon und riß das Schwert in die Höhe. Die Klinge parierte die herabsausende Waffe des Quorrl und bohrte sich handtief in seinen Leib.

Skar sprang auf die Füße, ehe der zusammenbrechende Quorrl ihn unter sich begraben konnte. Blitzschnell steppte er einen Schritt zur Seite, packte den lederumwickelten Griff des Tschekal mit beiden Händen und schwang die Klinge in einem gewaltigen Hieb, blind und ungezielt und nur gedacht, sich die beiden Quorrl vom Leib zu halten, die noch am Leben waren. Trotzdem traf er etwas: kein Fleisch, sondern Metall, das unter dem Biß des Satai-Schwertes zerbrach wie Glas. Ein schriller, wuterfüllter Schrei erklang, und etwas Schweres stürzte zu Boden.

Skar wich mit zwei, drei raschen Schritten zum Waldrand zurück, wechselte das Schwert wieder in die Rechte und sah sich blitzschnell um. Trotz allem waren seit seinem Angriff erst Sekunden vergangen; Trash und der zweite Quorrl schienen noch gar nicht richtig begriffen zu haben, was überhaupt geschehen war - und das war wohl auch der Grund, aus dem er noch lebte. Sein überraschender Sieg war nur seiner Schnelligkeit zu verdanken; und der Tatsache, daß der Satai und die drei Fischgesichter mit allem gerechnet haben mochten, nur nicht mit einem Angriff. Aber der Vorteil der Überraschung währte nicht ewig, und die beiden Quorrl waren kräftig und wohl auch erfahren genug, selbst einen Satai zu besiegen, wenn sie wußten, wem sie gegenüberstanden.

Trash näherte sich ihm mit wiegenden Schritten, während sein Kamerad noch versuchte, sich wieder zu erheben und an die Waffe des getöteten Quorrl zu kommen. Wenn es ihm gelang, und sie ihn gemeinsam angriffen, dann war Skar verloren. Die beiden Giganten würden ihn einfach niederwalzen, nur durch ihr pures Körpergewicht.

Er stürmte los. Diesmal war Trash vorbereitet. Als Skar auf ihn zufederte, kam seine Klinge hoch, mit einer leichten, fast spielerischen Bewegung, die den Meister der Schwertkunst verriet, der sich im Körper eines plumpen Titanen verbarg.

Ihre Klingen prallten funkensprühend aufeinander. Skar spürte den Schlag, der durch seinen Arm ging, und er fühlte die ungeheure Körperkraft, die hinter Trashs Hieb steckte - selbst ein einfacher Fausthieb dieses Giganten mußte tödlich sein. Und Trash schien das ebensogut zu wissen wie er. Er schien auch zu wissen, daß er Skar mit dem Schwert allein nicht gewachsen war, denn er versuchte nicht, ein zweites Mal zuzuschlagen, sondern ließ es zu, daß Skars Klinge sein Schwert beiseite fegte und nach seiner Kehle züngelte. Aber im letzten Moment drehte er sich zur Seite, mit einer Behendigkeit, die Skar einem Wesen seiner Größe und Statur niemals zugetraut hätte, nahm einen tiefen blutenden Schnitt in die Schulter in Kauf und schlug mit dem Handrücken nach Skars Gesicht.

Der Hieb verfehlte ihn; nur Trashs Fingerspitzen streiften Skars Schläfe. Trotzdem reichte die Wucht des Hiebes, Skar von den Füßen zu fegen und sich drei-, viermal überkugeln zu lassen. Trash brüllte triumphierend, packte sein gewaltiges Schwert mit beiden Fäusten und setzte ihm nach. Als Skar auf die Füße kam, sah er die Klinge des Giganten wie einen stählernen Blitz auf sich herabsausen.

Er dachte nicht mehr. Etwas, das älter war als sein bewußtes Denken, übernahm die Kontrolle über seinen Körper; Reflexe, die er so lange trainiert und geschärft hatte, bis sie zu eigenständigem Leben erwacht waren, lenkten seine Bewegungen. Trashs Klinge sirrte herab, ein diagonal geführter, unglaublich schneller Hieb, aus fast drei Metern Höhe und so geführt, daß ihm weder Raum noch Zeit zum Ausweichen blieb. Selbst wenn er das Tschekal hochriß und die Götterklinge das Schwert des Quorrl zerschnitt, würde ihn der Faustschlag des Giganten töten. Aber Skar versuchte nicht, auszuweichen. Statt dessen sprang er Trash entgegen, tauchte unter seiner grabschenden Hand hindurch und rammte ihm die Schulter in den Leib, mit aller Kraft, zu der er fähig war.

Es war, als wäre er gegen Fels gelaufen. Unter dem Mantel des Quorrl verbargen sich stahlharte Schuppen, und darunter Muskeln, die in der Lage waren, einen Menschen in Stücke zu reißen, ohne sich besonders anzustrengen. Skar keuchte, als ein betäubender Schmerz durch sein Schultergelenk zuckte, in seinem Arm explodierte und seine gesamte rechte Körperhälfte zu lähmen schien.

Aber auch der Quorrl wankte. Sein Hieb verfehlte Skar. Die Klinge bohrte sich mit einem saugenden Geräusch in den Boden und verkantete sich. Ungeschickt stolperte der Gigant einen halben Schritt zurück, kämpfte mit einem wild rudernden Arm um seine Balance und stürzte auf ein Knie herab.

Skar sah blitzschnell zu dem zweiten Quorrl zurück. Der Riese hatte das Schwert seines toten Kameraden aufgenommen und stürmte brüllend heran. Aber zwischen ihm und Skar lag noch das Feuer; er würde Zeit brauchen, es zu umgehen; nur ein paar Sekunden, aber genug für Skar.

Noch aus der gleichen Bewegung heraus wirbelte er herum, versetzte Trash einen Fußtritt vor die Schläfe und schlug nach seinem Waffenarm.

Er spürte, daß der Hieb zu schnell war, aber er kam nicht mehr dazu, die Klinge abzulenken. Er hatte auf das Handgelenk des Quorrl gezielt, aber Trash stürzte vollends nach hinten, als ihn Skars Fußtritt traf; das Tschekal trennte Trashs Daumen ab, schnitt durch den Schwertgriff wie durch weiches Wachs und beraubte den Quorrl noch des Zeige- und Mittelfingers, ehe es in einem fast eleganten Bogen wieder hochkam und sich dem dritten und letzten Quorrl zuwandte. Trash brach brüllend zusammen und wälzte sich im Schnee, während sein Kamerad auf Skar zustürmte, blind und schreiend vor Wut. Er umging das Feuer nicht, wie Skar geglaubt hatte - er rannte einfach hindurch. Unter seinen Füßen stoben brennendes Holz und Funken davon. Flammen züngelten nach seinem Mantel und setzten einen Zipfel in Brand, aber er schien es nicht einmal zu bemerken.

Skar sprang ihm entgegen, raffte noch einmal alle Kraft zusammen und stieß sich ab. Er sprang, drehte sich halb in der Luft, zog die Knie an den Leib und stieß dann mit aller Wucht zu. Seine Füße und der Schädel des Giganten befanden sich auf gleicher Höhe, als sie zusammenprallten.

Er spürte, wie das Genick des Quorrl brach, aber der Riese rannte einfach weiter, wie ein großes, dummes Tier, das einfach zu stur zum Sterben war, stampfte über die Lichtung und brach wie eine Lawine aus Fleisch und Panzerplatten durch das Unterholz, ehe er endlich gegen einen Baum prallte und zusammenbrach. Die Flammen, die an seinem Mantel züngelten, wurden ganz allmählich größer.

Aber auch Skar stürzte. Sofort versuchte er hochzuspringen, aber er war schlecht aufgekommen: als er sein rechtes Bein belastete, schoß ein entsetzlicher Schmerz durch seinen Knöchel. Er schrie auf, fiel zur Seite und umklammerte stöhnend sein Fußgelenk. Für einen Moment verschwanden der Wald und das Feuer hinter Schleiern aus rotem Schmerz. Trash! dachte er. Trash lebte noch! Und auch mit nur einer Hand war der Gigant durchaus in der Lage, ihn zu töten.

Skar kämpfte den Schmerz nieder, wälzte sich herum und blickte zu ihm hinüber.

Der Quorrl hatte sich auf eine Hand und die Knie erhoben und robbte durch den Schnee, wobei er hohe, fast lächerlich klingende Schmerzlaute ausstieß. Die verstümmelte Hand hatte er eng gegen den Körper gepreßt. Eine breite Blutspur markierte den Weg, den er zurückgelegt hatte.

Aber er bewegte sich nicht auf Skar zu, sondern kroch dorthin, wo die Pferde standen. Er floh!

»Bleib stehen, du verdammter Feigling!« brüllte Skar. »Stell dich« Er packte sein Schwert fester, versuchte noch einmal, aufzustehen und fiel mit einem abermaligen Schrei zurück in den Schnee. Für die Dauer eines Herzschlages blieb er benommen liegen. Der Schmerz hörte nicht auf, auch nicht, als er das Bein entlastete. Sein Fuß war verstaucht, vielleicht sogar gebrochen, dachte er bitter. Mit zusammengebissenen Zähnen stemmte er sich hoch und kroch hinter dem Quorrl her, das verletzte Bein wie eine tote Last hinter sich herschleifend.

Trash blickte zu ihm zurück. Sein Schuppengesicht glänzte im Widerschein der Flammen wie eine Maske aus halbgeronnenem Blut, aber Skar sah auch die Angst in seinem Blick - und noch etwas. In Trashs Augen stand ein Entsetzen, das mit seiner Verwundung und Skars Angriff allein nicht mehr zu begründen war. Unglauben, dachte Skar verwirrt. Er kannte diesen Blick! Er hatte ihn tausendmal gesehen, in tausend verschiedenen Augenpaaren und bei tausend verschiedenen Anlässen - Trash hatte noch gar nicht begriffen, was geschah! Sein Angriff auf Skar war ein bloßer Reflex gewesen, das Tier in ihm, das sich wehrte, wenn ihm Gefahr drohte. Aber selbst jetzt schien er sich noch zu weigern, wirklich zu begreifen.

»Satai...«, gurgelte er. »Du Hund bist... bist ein Satai!« Sein Blick flackerte. Allein das Wort schien ihn mit grenzenloser Panik zu erfüllen. »Du Verräter!« keuchte er. »Du verdammter Verräter! Ich habe immer gewußt, daß man euch nicht trauen darf!«

Skar ignorierte seine Worte und verdoppelte seine Anstrengungen, den Quorrl einzuholen. Aber gleichzeitig wußte er, daß er es nicht schaffen würde - er war den Pferden näher, und er bewegte sich in spitzerem Winkel auf sie zu, aber Trash war viel schneller als er, und die Angst würde ihm zusätzliche Kräfte verleihen. Aber er würde ihn erwischen, wenn er versuchte, auf ein Pferd zu steigen. Er mußte es. Er mußte einfach, oder alles war aus. Und irgendwoher nahm er das feste Wissen, daß damit ganz und gar nicht nur sein Leben gemeint war.

Trash begann vor Schmerzen und Wut zu heulen, als er begriff, daß Skar dabei war, ihm den Weg abzuschneiden. Er kroch schneller, verlor plötzlich den Halt und stürzte mit einem schrillen Schmerzensgebrüll in den Schnee. Sein Gesicht war vor Angst verzerrt, als er sich wieder aufrichtete. Sein Blick flackerte wie der eines Wahnsinnigen. Rosafarbener, blutiger Geifer erschien auf seinen Haifischlippen. Er hatte jetzt kaum mehr Ähnlichkeit mit einem denkenden Wesen, sondern glich nun wirklich einem Monster, als hätten ihn Angst und Schmerz in das reißende Tier zurückverwandelt, aus dem sich die Vorfahren seines Volkes einst entwickelt hatten.

»Bleib stehen!« keuchte Skar. »Ich töte dich nicht, wenn... wenn du vernünftig bist!«

Trash stieß ein hohes, schrilles Geheul aus, grub einen faustgroßen Stein aus dem Schnee und schleuderte ihn nach Skar. Das Wurfgeschoß verfehlte ihn um fast einen Meter; trotzdem fiel auch Skar der Länge nach hin, als er eine erschrockene Bewegung machte.

Diesmal blieb er sekundenlang benommen liegen. Sein Herz jagte. Das Blut rauschte in seinen Ohren, und sein Bein schmerzte unerträglich. Der Wald drehte sich vor seinen Augen. Er konnte kaum mehr klar sehen. Trashs Riesengestalt wurde zu einem auseinanderfließenden Schatten. Er hatte sich überschätzt. Er hatte zu viel von sich verlangt. Etwas in ihm war noch Satai, sein Wille, seine Reflexe; die mühsam herangezüchteten und ebenso mühsam unter Kontrolle gebrachten Killerinstinkte, die die Satai zu dem machten, was sie waren - unbesiegbare Kampfmaschinen, deren bloßes Erscheinen Furcht und Schrecken verbreitete. Aber sein Körper war nicht mehr der eines Satai. Er war alt, und was immer die Gesichtslosen Prediger mit ihm getan hatten, es hatte ihn des größten Teiles seiner Kraft beraubt. Er war wie ein Werkzeug, das sich noch erinnerte, wozu es einmal gut gewesen war, jetzt aber stumpf und spröde geworden war. Ganz kurz schoß ihm der Gedanke durch den Kopf, daß er ebensogut an einem Herzschlag sterben konnte wie an einem Fausthieb des Quorrl.

Die Vorstellung erfüllte ihn mit solchem Zorn, daß er weiterkroch.

Trash heulte wie ein geprügelter Hund, suchte nach einem zweiten Stein im Schnee und robbte weiter, als er keinen fand. Er war noch gute zehn Meter von den Pferden entfernt; doppelt so weit wie Skar. Und dann tat er das, was Skar insgeheim schon die ganze Zeit befürchtet hatte - er erinnerte sich daran, daß er Beine hatte.

Mit einem wütenden Brüllen richtete er sich auf, hob die verstümmelte Hand vor die Augen und starrte auf die beiden verkrümmten, blutbesudelten Finger, die er noch hatte. Er wimmerte; ein Laut, der Skar auf absurd erschreckende Weise an das Heulen eines jungen Hundes erinnerte. Seine starren Fischaugen weiteten sich. Einen Moment lang stand er wie erstarrt da, dann fuhr er herum, war mit ein paar grotesken, humpelnden Schritten bei den Pferden und löste etwas Großes, Dunkles vom Sattel eines der Tiere.

Skar erkannte im letzten Moment, daß es ein Speer war. Verzweifelt ließ er sich zur Seite fallen.

Der Speer zischte mit einem ekelhaften Geräusch durch die Luft, grub eine brennende Linie aus Schmerz in seine Seite und bohrte sich tief in den Boden. Skar schrie auf, denn die jähe Bewegung ließ einen neuerlichen, grauenhaften Schmerz durch sein gebrochenes Bein schießen. Halb blind vor Qual drehte er sich herum, zog die Knie an den Leib und hob schützend das Tschekal. Er war sicher, daß Trash ihn jetzt töten würde.

Aber der Quorrl griff nicht an, obwohl er nun alle Vorteile auf seiner Seite hatte. Statt dessen beugte er sich herab, löste mit einer blitzschnellen Bewegung die Fußfesseln eines Pferdes und griff dann zur Seite. Seine unverletzte Hand näherte sich der Kette, die den tobenden Hund hielt.

Skar erstarrte vor Schreck. Der Hund! Er hatte den Hund vergessen!

Trash lachte schrill, öffnete den Verschluß der Kette und riß den Hund brutal zurück, als er sich unverzüglich auf Skar stürzen wollte. Ungeschickt richtete er sich wieder auf, das riesige, tobende Tier dabei scheinbar mühelos mit sich zerrend, bis der Hund vor lauter Atemnot auf die Hinterläufe stieg, dabei aber noch immer tobend und geifernd vor Wut. Skar sah, daß das Tier aufgerichtet beinahe größer als er selbst war, ein struppiger schwarzer Gigant mit Kiefern, die den Arm eines Mannes spielend zermalmen konnten. Trash lachte abermals, griff mit seiner verstümmelten Hand nach dem Sattelknauf und zog sich auf den Rücken des Pferdes. Das Tier versuchte auszubrechen, als es das Gewicht des Kolosses spürte, aber Trash brachte es mit einem brutalen Ruck am Zaumzeug zur Räson. Dann grub er ihm die Absätze in die Flanken.

Und gleichzeitig ließ er den Hund los.

Das Tier stieß ein schrilles, fast schmerzerfüllt klingendes Jaulen aus, stand einen endlosen Moment fast reglos da - und sprang los.

Skar riß das Schwert in die Höhe, als die Bestie auf ihn zufederte. Aber entweder hatte das Tier Erfahrung im Kampf gegen einen bewaffneten Mann, oder seine Reaktionen waren noch schlechter, als er angenommen hatte: statt den Hund aufzuspießen, schlitzte die Klinge nur sein Fell auf und fügte ihm einen armlangen, blutenden Kratzer zu; längst nicht tief genug, ihn ernsthaft zu verwunden oder behindern - aber gerade schmerzhaft genug, den Hund noch wütender zu machen.

Immerhin verschaffte ihm der Hieb für Sekunden Luft. Trashs Pferd verschwand mit einem gewaltigen Satz im splitternden Unterholz, während der Hund ungeschickt dicht neben Skar auf dem Bauch landete, mit einem schrillen Heulen wieder in die Höhe sprang und ein paar Schritte rückwärts ging, ohne Skar dabei aus den Augen zu lassen. Er jaulte vor Schmerz; aber gleichzeitig drang auch tiefes, drohendes Knurren aus seiner Brust. Aus dem klaffenden Schnitt in seiner Flanke tropfte Blut und hinterließ runde rote Löcher im Schnee.

Skar versuchte, den Blick des Tieres zu fixieren. Seine Augen waren klein und böse und blutunterlaufen, und quer über seine Nase zog sich eine erst halb verkrustete Schramme. Wahrscheinlich hatten die Quorrl das Tier geprügelt, um es noch wilder zu machen. Skar konnte seine Wildheit beinahe riechen - und es war ein Hund, wie er noch keinen zuvor gesehen hatte: eine Bestie von der Größe eines kleinen Kalbes, mit Sicherheit an die zweihundert Pfund schwer und nur aus Muskeln und reißenden Zähnen bestehend. Der Hund würde ihn zerreißen, und wenn er dabei selbst den Tod fand.

Skar begann ungeschickt rücklings vor dem Hund davonzukriechen, zur Mitte der Lichtung und dem Feuer hin. Das schwarze Ungeheuer folgte ihm, langsam, mit zögernden, aber ungemein kraftvollen Bewegungen, immer gerade außerhalb der Reichweite seines Schwertes, und ohne die Waffe auch nur eine Sekunde aus dem Blick zu verlieren. Es war nicht das erste Mal, daß der Hund einem Mann mit einem Schwert in der Hand gegenüberstand, begriff Skar. Wahrscheinlich war er lange und ausdauernd trainiert worden, um gerade mit solchen Gegnern fertig zu werden.

Skar kroch weiter, richtete sich vorsichtig auf und spürte Hitze wie eine schmerzhaftprickelnde Berührung im Rücken. Er hatte das Feuer erreicht. Behutsam verlagerte er sein Körpergewicht, bis er halb aufrecht saß, das verletzte Bein schützend unter den Körper gezogen. Die Spitze des Tschekal deutete weiter auf einen Punkt direkt zwischen den Augen des Hundes, während seine freie Hand im Schnee grub, nach einem Stein oder irgend etwas suchte, was er nach dem Tier schleudern konnte, um seine Aufmerksamkeit für einen Sekundenbruchteil von der Waffe abzulenken. Eine Sekunde, dachte er verzweifelt. Er brauchte eine Sekunde, die Dauer eines Lidzuckens - oder eines schnellen, mit aller Kraft geführten Stiches.

Der Hund gab sie ihm nicht. Er knurrte drohend, bewegte sich vor Skar auf und ab und suchte nach einer Lücke in seiner Deckung, irgendeiner Blöße, die er sich gab. Seine Lefzen waren so weit hochgezogen, daß Skar sein rosiges Zahnfleisch erkennen konnte - und die fast fingerlangen, dolchspitzen Reißzähne, die nur darauf warteten, sich in seine Kehle zu graben. Die Pfoten des Tieres wühlten im Schnee, suchten nach festem Halt, um sich abzustoßen.

Hätte er noch die Kraft dazu gehabt, hätte er vielleicht gelacht - er hatte einen Satai besiegt und drei gigantische Quorrl, und dieser verdammte Hund würde ihn jetzt töten, wenn kein Wunder geschah! Es war absurd.

Der Hund kam näher. Seine nackte Rute peitschte nervös. Geifer troff aus seinem Maul und vermischte sich mit dem Blut im Schnee. Jeder Muskel im Leib des Hundes war angespannt. Aber er sprang noch nicht. Er war klug, dachte Skar; viel klüger als jeder andere Hund, dem er bisher begegnet war. Der Mann, der ihn trainiert hatte, mußte ein wahrer Meister seines Faches gewesen sein.

Endlich ertastete seine suchende Hand Widerstand. Er spürte Hitze, zog die Finger instinktiv zurück und griff noch einmal zu, ohne auf den Schmerz zu achten. Der Hund legte zornig die Ohren an den Schädel, als er den brennenden Ast sah, den Skar aus dem Feuer zerrte. Er spürte die Gefahr.

Vorsichtig richtete Skar sich auf, so weit es sein verletztes Bein zuließ, breitete die Arme aus und schwenkte den brennenden Ast vor dem Gesicht des Hundes hin und her; gleichzeitig bewegte sich das Tschekal in seiner Rechten ein Stück nach oben, fort aus dem direkten Blickwinkel des Tieres und in eine Richtung, aus der es keinen unmittelbaren Angriff erwarten würde. Dann begann er, die improvisierte Fackel langsam von rechts nach links zu schwenken.

Der Trick funktionierte nicht. Der Hund fiel nicht darauf herein. Sein Blick folgte zwar dem brennenden Stock, aber er wich gleichzeitig ein Stück zurück - lange nicht so weit, daß er Skar nicht mehr mit einem einzigen Satz erreichen konnte, aber weit genug, um aus der Reichweite des Schwertes zu sein.

Skar fluchte lautlos in sich hinein. Wäre sein Bein in Ordnung gewesen, hätte er einen Sprung riskiert. Aber so...

Er senkte den brennenden Stock ein wenig. Der Hund knurrte, sprang auf ihn zu und prallte mitten in der Bewegung zurück, als Skar die Fackel wieder hob und nach seiner Schnauze stieß. Ein paar glühende Funken berührten seine empfindliche Nase. Das Tier heulte auf, sprang zur Seite - und federte mit einer schier unmöglichen, verdrehten Bewegung auf Skar zu, wie eine mißgestaltete Katze mit gekrümmtem Buckel direkt aus dem Stand hochspringend, die Vordertatzen weit ausgestreckt, um ihn zu Boden zu stoßen.

Skar warf sich zur Seite, bog verzweifelt den Kopf zurück und schlug gleichzeitig mit Stock und Schwert zu. Seine Fackel verfehlte den Hund, aber das Schwert traf seinen Hinterlauf und trennte ihn dicht über der Pfote ab. Aus dem aggressiven Knurren des Hundes wurde ein schrilles, schmerzgepeinigtes Jaulen. Warmes Blut besudelte Skars Beine.

Aber im gleichen Moment trafen seine Tatzen Skars Brust mit der Wucht von Faustschlägen. Ein gewaltiges, zahnbewehrtes Maul klappte vor Skars Augen zu wie eine Bärenfalle, dann begrub ihn der Hund mit seinem gesamten Körpergewicht unter sich, nagelte seine Schultern mit Pranken am Boden fest und schnappte abermals nach seiner Kehle. Diesmal rissen die mörderischen Zähne ein Stück Haut aus seinem Hals.

Skar ließ seine Waffe fallen, packte den häßlichen Hundeschädel mit beiden Händen und drückte ihn mit aller Gewalt zurück. Gleichzeitig versuchte er das Knie anzuziehen, um es dem Ungeheuer in den empfindlichen Leib zu stoßen; sein linker, unverletzter Fuß trat nach dem verstümmelten Hinterlauf des Ungeheuers. Aber der Hund war zu schwer, und sein gebrochenes Bein meldete sich mit wütenden Schmerzen.

Mit der Kraft der Verzweiflung drückte Skar den Kopf des Tieres zurück, mit Daumen, Zeige- und Mittelfinger seine Lefzen zurückreißend, bis seine Mundwinkel rissen und Blut aus seiner Schnauze lief. Gleichzeitig versuchte er, mit den Mittelfingern nach den Augen des Hundes zu tasten, um sie auszudrücken. Die mörderischen Fänge waren noch zwei Handbreit von seinen Augen entfernt. Heißer, nach Aas stinkender Atem schlug Skar ins Gesicht. Der Hund brach immer wieder in den Hinterläufen zusammen, heißes, klebriges Blut lief an Skars Beinen herab; das des Hundes und sein eigenes, denn die unverletzte Tatze des Ungeheuers riß seine Haut auf wie mit Messern. Der Schmerz trieb ihn an den Rand der Besinnungslosigkeit.

Und er spürte, wie sich das geifernde Maul des Bluthundes wieder seiner Kehle näherte. Die Bestie tobte. Schmerz und Wut gaben ihr zusätzliche Kraft, und sie kämpfte wie ein rasendes Tier, das keine Rücksicht mehr auf sich selbst nahm. Langsam, aber unbarmherzig wurden seine Hände zurückgedrängt. Das Gewicht des Hundes begann ihm den Atem abzuschnüren. Skar riskierte alles. Noch einmal spannte er die Muskeln mit verzweifelter Kraft an, schob den schwarzen Schädel der Bestie ein winziges Stück zurück - und ließ los.

Die Bewegung kam für den Hund zu schnell. Wo wütender Widerstand gewesen war, war plötzlich nichts mehr. Mit einem schrillen, halb überrascht klingenden Jaulen schoß sein weit aufgerissenes Maul an Skars Schulter vorbei, grub sich in den Schnee und schnappte zu.

Skar fuhr hoch, ohne auf den entsetzlichen Schmerz in seinem Bein zu achten, drehte sich halb herum und schmetterte dem Hund den Ellbogen in den Nacken, präzise auf die Stelle, an der der Schädel ins Rückgrat überging. Ein scharfer Schmerz schoß durch seinen Arm, und ein häßliches Knirschen erklang, ein Laut wie das Brechen eines sehr dicken Astes. Der Leib des Hundes zuckte wie in einem Krampf. Urin und Kot liefen an Skars Beinen herab. Schrille, wimmernde Laute drangen aus dem Maul der Bestie.

Aber sie lebte immer noch.

Halb wahnsinnig vor Schmerz schleppte sich der Hund ein Stück davon, biß in blinder Raserei in die Luft und versuchte sich aufzurichten. Es ging nicht. Sein verstümmelter Hinterlauf knickte ein. Blut ließ den Schnee zu klumpigem Rot erstarren, und das Jaulen des Hundes steigerte sich noch mehr. Er wälzte sich herum, kroch, sein Körpergewicht nur mit den Vorderpfoten ziehend, auf Skar los und schnappte immer wieder zu. Sein Kopf pendelte haltlos hin und her, aber er lebte noch. Er würde sterben, aber Skar wußte, daß er ihn vorher erreichen und töten würde.

Irgendwoher nahm Skar noch die Kraft, zur Seite zu greifen und sein Schwert aufzunehmen. Aber die Klinge schien plötzlich Tonnen zu wiegen. Er hatte kaum mehr die Energie, sie zu heben. Ungeschickt stocherte er nach dem Hund, fügte ihm einen weiteren, klaffenden Riß in der Schnauze zu und spürte, wie ihm die Waffe aus der Hand geschlagen wurde. Der Hund kam näher. Seine Kiefer schnappten zu, öffneten sich wieder, schnappten wieder zu. Noch zwei- oder dreimal, und sie würden sich um seine Kehle schließen.

Skar hatte nicht mehr die Kraft, vor ihm davonzukriechen. Irgendwo, weit am Rande seines schon halb erloschenen Bewußtseins, erklang ein schriller Schrei, dann Schritte, die hastig näherkamen. Trash, dachte er müde, der zurückgekommen war, um ein Ende zu machen.

Aber es war nicht der Quorrl.

Skar sah einen Schatten, der zu klein für den eines Quorrl, selbst zu klein für den eines erwachsenen Mannes war, dann erscholl ein abermaliger Schrei, voller Wut und Haß diesmal, und plötzlich zischte etwas durch die Luft, bohrte sich in die Flanke des Hundes und erstickte sein wütendes Jaulen.

Skar versuchte sich aufzurichten, aber die Bewegung war zu viel. Einen halben Meter neben dem Tier brach er zusammen, krümmte sich im Schnee und versuchte, die Bewußtlosigkeit zurückzudrängen, die wie eine schwarze Hand nach seinen Gedanken griff. Er hörte Talin schreien, dann sah er, als arbeiteten seine Sinne nicht mehr richtig und zeigten ihm nur noch kleine, auf das Wesentliche reduzierte Ausschnitte der Welt, den Schädel des Hundes, eine Maske aus Blut und Haß, in deren Augen gegen jede Logik noch immer Leben war.

Sein Gesicht sank kraftlos in den Schnee. Mühsam versuchte er den Kopf zu drehen, um nicht zu ersticken, aber selbst diese kleine Anstrengung überstieg seine Kräfte. Er sah, wie Talin heranstürmte, absurd langsam dem Speer folgend, den seine Schwester geschleudert hatte, und etwas zog sich krampfhaft in ihm zusammen, als er sah, wie der Junge sich mit einem wütenden Kreischen auf den Hund warf, mit beiden Händen den Speer umklammerte und ihn tiefer in seinen Leib hineinstieß. Der Hund jaulte, schnappte hilflos und jetzt schon ohne Kraft in die leere Luft und erschlaffte endgültig. Das Feuer in seinen Augen erlosch.

Aber Talin hörte nicht auf. Immer wieder warf er sich mit seinem ganzen Körpergewicht gegen den Speer, riß und zerrte mit aller Macht an der Waffe und schrie dabei wie unter Schmerzen. Gleichzeitig trat er den Hund. Sein Gesicht war vor Haß zu einer Grimasse geworden, vor der selbst Skar erschrak. Er schien in einer Art Blutrausch zu sein, ein völlig sinn- und zielloses Toben, das nicht nachließ, sondern im Gegenteil immer schlimmer wurde.

»Talin! Hör auf!«

Syrrs Stimme war so scharf, daß sie selbst den Nebel der heraufdämmernden Bewußtlosigkeit durchdrang, der sich über Skars Gedanken ausbreitete. Das Mädchen trat auf ihn zu. Einen Moment lang blieb sie halb vorgebeugt über ihm stehen, dann, als sie sah, daß seine Augen offen waren und er noch lebte, fuhr sie herum, packte ihren Bruder bei den Schultern und riß ihn unnötig grob vom Kadaver des Hundes fort. Skar sah, daß sie all ihre Kraft aufwenden mußte, um seine Hände vom Schaft des Speeres zu lösen.

»Hör auf!« schrie sie noch einmal. Talin versuchte, ihre Hände beiseite zu schlagen und sich sofort wieder auf den Hund zu stürzen. Syrr packte ihn mit der linken Hand an der Schulter, zerrte ihn grob herum und ohrfeigte ihn. Talins Wutschreie wurden zu einem schluchzenden Wimmern. Er stolperte zurück, preßte beide Hände gegen das Gesicht und setzte sich unsanft in den Schnee. Einen Moment lang blickte Syrr ihn noch scharf an; ihre Hände waren leicht geöffnet, und auf ihrem Gesicht lag ein sonderbar angespannter Ausdruck, der Skar verriet, daß es nicht das erste Mal war, daß sie so etwas erlebte.

Aber dann entspannte sie sich, wandte sich wieder zu ihm um und fiel neben ihm auf die Knie. Der Ausdruck in ihren Augen wandelte sich in Schrecken, als sie sah, in welchem Zustand er war.

»Großer Gott, Skar, was ist passiert?« stammelte sie.

»Mein... Bein«, preßte Skar mühsam hervor. Mit aller Kraft wälzte er sich auf den Rücken, keuchte vor Schmerzen und deutete auf seinen rechten Fuß. »Ich glaube, er ist... gebrochen.« Das Mädchen erbleichte noch mehr, aber sie reagierte trotzdem mit erstaunlicher Kaltblütigkeit. Rasch stand sie auf, beugte sich über sein Bein und betastete den geschwollenen Knöchel; mit sehr kundigen, aber nicht sehr sanften Fingern. Skar stöhnte vor Schmerz.

»Gebrochen ist nichts«, stellte Syrr nach einer Weile fest. »Aber du wirst trotzdem ein paar Tage lang nicht gehen können.«

Skar keuchte, als sie die Hand auf seinen Knöchel legte und ganz sacht zudrückte, um ihre Worte zu beweisen. »Verdammt, paß doch auf!« keuchte er. »Was tut ihr überhaupt hier? Ich hatte euch befohlen, bei den Felsen auf mich zu warten!«

»Du bist nicht gekommen«, antwortete Syrr stirnrunzelnd. »Und dann haben wir Schreie gehört und wollten wissen, was... was geschieht.« Sie stockte, richtete sich ein wenig auf und wandte den Kopf nach rechts und links.

Sie brauchte nur Sekunden, um die Lichtung zu überblicken, aber in diesen wenigen Momenten ging eine erschreckende Veränderung in ihrem Gesicht vor sich. Skar sah, wie ihre Erleichterung erst in Schrecken und dann in pures Entsetzen umschlug. »Was ist... passiert?« stammelte sie.

»Wir waren verschiedener Meinung, was die Pferde anging«, sagte Skar gepreßt. Schwärze stieg aus seinem Inneren auf, wollte seine Gedanken ersticken, aber das durfte er nicht zulassen. Nicht jetzt. Wenn er das Bewußtsein verlor, würde er vielleicht nicht nieder aufwachen. Trash lebte noch. Und er hatte ein Pferd. Er würde wiederkommen.

»Sie wollten mir kein Tier leihen, weißt du«, keuchte er. »Und da mußte ich grob werden.«

Syrr starrte ihn an, als zweifelte sie an seinem Verstand.

»Du... du hast sie... erschlagen?« murmelte sie. »Du allein? Du... du hast zwei Quorrl erschlagen und...«

»Und einen Satai«, fügte Talin hinzu.

Syrr erstarrte vollends. Einen Moment lang blickte sie Skar aus geweiteten Augen an, dann flog ihr Kopf mit einem Ruck in den Nacken. Mit einem einzigen Schritt trat sie über Skar und den Kadaver des Hundes hinweg und beugte sich über den Toten. »Er ist ein Satai!« sagte Talin noch einmal. »Sieh! Er trägt ihr Zeichen!« Seine Hand deutete aufgeregt auf das schmale Stirnband des Toten. »Er... er hat einen Satai erschlagen! Mit bloßen Händen!«

»Aber das ist unmöglich!« stammelte Syrr. Sie richtete sich auf, blickte Skar an, dann den Toten, dann wieder Skar. Ihr Gesicht hatte alle Farbe verloren. Und in ihren Augen stand ein Ausdruck, den Skar nur zu gut kannte: Angst.

Angst vor ihm.

»Du hast einen Satai erschlagen«, wiederholte sie die Worte ihres Bruders. »Mit bloßen Händen. Niemand kann das. Niemand außer -«

»Einem Satai«, sagte Skar. Alles drehte sich. In seinem Mund war Blut. Ihm wurde übel. »Ich bin Satai, ja. Aber darüber können wir später reden. Wir müssen... fort. Einer der Quorrl ist entkommen.« Er versuchte, sich auf die Ellbogen hochzustemmen, und irgendwie gelang es ihm sogar. Talins und Syrrs Gestalten begannen vor seinen Augen zu zerfließen. Die Schwäche ließ häßliche Grimassen aus ihren Gesichtern werden.

»Du bist... Satai?« wiederholte Syrr ungläubig. Ihre Stimme war nur noch ein Flüstern.

Skar nickte. »Helft mir... auf«, sagte er müde. »Die Quorrl werden zurückkommen. Wir müssen... fort. Helft mir auf ein... ein Pferd.«

Syrr trat auf ihn zu. Ihr Gesicht war starr, wie eine Maske aus Stein, in der das Entsetzen für alle Zeiten eingefroren war. Und plötzlich blieb sie stehen, bückte sich und hob einen fast armdicken, qualmenden Ast aus dem Feuer. »Satai«, sagte sie noch einmal.

Etwas im Klang dieses Wortes warnte Skar.

Er sah den Schlag kommen. Aber er hatte nicht einmal mehr die Kraft, den Kopf zur Seite zu drehen.

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