4.

Es war hell, als er erwachte. Das Feuer war zu einem düsteren Glutklumpen zusammengesunken, der kaum noch Wärme spendete, aber jemand - vermutlich Syrr - hatte den Mantel wie eine Decke über ihn gebreitet und sogar ein zusammengerolltes Kleidungsstück als Kissen unter seinen Kopf geschoben. Trotzdem war die Kälte bis in die letzte Faser seines Körpers gekrochen; er fühlte sich steif und betäubt und gelähmt, und in seinem Bein pochte ein dumpfer, quälender Schmerz.

Skar hatte Mühe, aufzuwachen. Seine Lider waren verklebt, und als er sie auseinanderzwang, schmerzte das Licht der Morgensonne in seinen Augen. Fetzen eines Traumes schossen durch seinen Kopf - es war ein sehr angenehmer Traum gewesen, und für einen Augenblick war die Verlockung übermächtig, die Augen wieder zu schließen, sich zu entspannen und sich wieder in ihn hineinfallen zu lassen.

Aber er wußte, daß er sterben würde, wenn er das tat. Er würde erfrieren; schlicht und einfach erfrieren.

Vorsichtig schob er den Mantel von sich herab, setzte sich auf und sah sich um. Ihm war kalt. Eisiger Matsch klebte an seinem Rücken, denn seine Körperwärme hatte den Schnee geschmolzen, in dem er gelegen hatte. Auf seiner rechten Hand, die unter der improvisierten Decke hervorgesehen hatte, glitzerten Eiskristalle. Der Mantel selbst war hartgefroren und knisterte, als er ihn vollends von sich herunterschob, um an sich herabzublicken. Was er sah, kam nicht überraschend, aber es erschreckte ihn trotzdem: Von den Hüften abwärts war er mit dem Blut und Kot des Hundes beschmiert. Er stank, trotz der Kälte, die sich wie eine zweite, unsichtbare Decke aus Glas über der Lichtung ausgebreitet hatte. Die zahllosen Kratzer und Wunden, die er davongetragen hatte, würden sich entzünden, wenn er nicht sofort etwas dagegen unternahm.

Trotzdem war das das kleinere Problem - mehr Sorgen bereitete ihm der Anblick seines Fußgelenkes.

Es gab keinen Zweifel mehr daran, daß es gebrochen war, ganz egal, was Syrr behauptet hatte: Sein Fuß war unförmig angeschwollen und schmerzte höllisch, und an zwei Stellen begann die Haut sich bereits dunkel zu färben. Wenn er hierblieb, dachte er - wenn auch eigentlich eher mit einem Gefühl von Ärger als wirklicher Angst - dann hatte er die Wahl, an Wundbrand zu sterben oder zu erfrieren.

Oder erschlagen zu werden.

Unsicher, ob dieser Teil seiner Erinnerungen nun wirklich wahr oder nur Teil eines Alptraumes gewesen war, hob er die Hand und tastete nach seiner Schläfe. Ein dünner Schmerz schoß durch seinen Kopf und stach wie eine Nadel in sein Auge, und seine Fingerspitzen ertasteten Schorf und heiße, geschwollene Haut. Es war wahr. Träume pflegen keine Wunden zu hinterlassen. Syrr hatte ihn niedergeschlagen, als...

Ja, dachte er, mehr verstört als zornig: Als er sich als Satai zu erkennen gegeben hatte.

Und bei den Quorrl war ein Satai gewesen.

Skar weigerte sich, die Folgerung zu akzeptieren, die sich aus diesen beiden Tatsachen ergab.

Er biß die Zähne zusammen, stemmte sich hoch, so weit er konnte, und versuchte sein Schwert als Krücke zu benutzen. Es ging nicht. Die rasiermesserscharfe Klinge glitt in den hartgefrorenen Boden wie in weichen Sand; Skar konnte sich gerade noch zurückfallen lassen, ehe er das Gleichgewicht verlor und nach vorne stürzte.

Wütend legte er das Tschekal aus der Hand und sah sich nach etwas anderem um, auf das er sich stützen konnte. Sein Blick blieb an dem Speer hängen, der noch immer aus dem Leib des Hundes ragte. Es war ein gutes Stück bis dorthin - sechs, vielleicht sieben Meter - er registrierte erst jetzt, daß Syrr oder Talin den Kadaver ein gutes Stück fortgeschleift hatten. Die Entfernung zu den Pferden betrug das Doppelte, aber es war die entgegengesetzte Richtung.

Abermals ließ er sich zurücksinken, zog den Mantel fröstelnd bis an die Schultern hoch und sah sich auf der Lichtung um. Syrr und Talin hatten zwei Pferde genommen - irgendwie befriedigte ihn der Gedanke, daß sie damit eine reelle Chance hatten zu entkommen - und die beiden anderen Tiere dort stehen lassen, wo sie waren. Der tote Satai und die beiden Quorrl lagen noch so, wie sie gestürzt waren, aber es hatte in der Nacht geschneit, und die drei Leichen waren schon halb unter einer flockigen weißen Decke verschwunden. Skar zögerte noch einen Moment, dann schloß er mit klammen Fingern die Spange des Mantels, um ihn nicht zu verlieren, ließ sich zur Seite fallen und kroch mit zusammengebissenen Zähnen auf den toten Satai zu, der den Pferden näher war als der Hund.

Skar brauchte fast eine Viertelstunde, die knapp zwanzig Schritte zurückzulegen, und mehr als einmal während dieser Zeit war er nahe daran, einfach aufzugeben. Es war zuviel; selbst für einen Mann wie ihn. Er war zu Tode erschöpft, vermutlich sehr viel schwerer verletzt, als er sich selbst eingestehen wollte, und der endlose Schlaf hatte ihn fast aller Kräfte beraubt. Der Mantel drückte wie eine Zentnerlast auf seine Schultern, und der Schmerz in seinem Knöchel breitete sich aus und ergriff bald das ganze Bein; er konnte direkt spüren, wie es steif wurde. Dazu kam die Kälte. Der frisch gefallene Schnee war über Nacht gefroren, aber nur in einer dünnen Schicht, die wie brüchiges Glas unter seinem Körpergewicht nachgab, so daß er immer wieder in die eiskalte flockige Masse darunter einsank; und unter dem Schnee verbargen sich spitze Steine und stechende Äste. Skars Hände waren blutig, als er den Toten erreichte. Er fragte sich, ob er noch die Kraft haben würde, die Fesseln der Pferde zu lösen und sich in den Sattel zu ziehen.

Die Augen des Satai standen offen, und in seinem Blick war das ungläubige Entsetzen eingefroren, das er verspürt haben mußte, als er starb - er, der Satai, der Unbesiegbare, der vielleicht im allerletzten Moment begriffen hatte, wem er wirklich gegenüberstand.

Skar verspürte... Trauer.

Dieser Mann war sein Feind gewesen, und er hatte sich letztendlich selbst zum Tode verurteilt mit dem, was er tat. Skar hatte ihn töten müssen, den heiligen Gelübden seines Clans zufolge. Aber es waren die gleichen Gelübde gewesen, die auch dieser Mann irgendwann einmal geschworen hatte - Leben zu schützen und für die Gerechtigkeit zu kämpfen, und wenn es sein eigenes Leben kostete. Er hatte sie gebrochen, und er hatte die Strafe gekannt, die darauf stand. Trotzdem spürte Skar weder Triumph noch Haß auf diesen Mann. Trotz allem war er sein Bruder gewesen, ein Satai wie er, der irgendwann einmal für die gleichen Ziele gekämpft und die gleichen Eide geschworen hatte.

Plötzlich scheute Skar vor dem Gedanken zurück, den Toten auszuplündern, wie er es ursprünglich vorgehabt hatte - er wäre sich wie ein Leichenfledderer vorgekommen, die Kleider seines erschlagenen Bruders zu nehmen. Er wußte, daß dieser Gedanke albern war - er würde schlicht und einfach erfrieren, halbnackt, wie er war, aber als er die Hand ausstreckte, um den Toten herumzudrehen und ihn seines Mantels und Wamses zu berauben, konnte er es nicht.

Statt dessen beugte er sich fast behutsam vor, löste das schmale Stirnband mit dem fünfzackigen Stern der Satai und legte es neben sich in den Schnee. Dann schloß er die Augen des Toten, versuchte seine Hände auf der Brust zu falten und hätte am liebsten aufgeschrien, als er begriff, daß es nicht mehr ging. Kälte und Totenstarre hatten die Glieder des Satai steif wie Holz werden lassen.

Einen Moment lang überlegte Skar, ihn zu verbrennen - im Feuer war noch Glut, und mit etwas Glück konnte er die Flammen noch einmal zum Leben erwecken. Aber dann wurde ihm klar, daß er Stunden dazu brauchen würde, halb verkrüppelt, wie er war, und wahrscheinlich nicht einmal mehr die nötige Kraft hatte. Der Gedanke, den Toten wie ein Stück Aas zurückzulassen, damit ihn die Wölfe fraßen, erfüllte ihn mit einer Mischung aus Entsetzen und Wut - aber er hatte keine andere Wahl. Und da war noch Trash. Er war entkommen, und wenn er Skar nicht den Gefallen getan hatte, unterwegs vom Pferd zu fallen und sich den Hals zu brechen, war er jetzt wahrscheinlich schon wieder auf dem Weg hierher - zusammen mit einer Bande mordlüsterner Quorrl, denen der Sinn danach stand, einen Satai zu töten.

Nein - er mußte hier weg. Sofort.

Er wußte nicht wie, und er wußte nicht, wie lange es dauerte, aber irgendwann nach einer Ewigkeit, in der er nur Schmerz und Erschöpfung gespürt hatte - und irgendwo, tief verborgen in seinem Inneren, den eisernen Willen, nicht aufzugeben - fand er sich halb bewußtlos im Sattel des größeren der beiden Pferde sitzend wieder, die Hände um das hartgewordene Leder des Zaumzeugs gekrampft, den linken Fuß im Steigbügel, das verletzte, steif gewordene rechte Bein in fast absurdem Winkel abgespreizt.

Mühsam zwang er das Tier herum, ritt zu dem toten Hund zurück und zog den Speer aus seinem Leib. Er bildete sich nicht ein, die Kraft zu haben, einen weiteren Kampf durchzustehen - aber die Waffe würde wenigstens eine halbwegs brauchbare Krücke abgeben, sollte er aus irgendeinem Grunde laufen müssen. Der kleine Ausschnitt des Himmels, den er über der Lichtung erkennen konnte, drehte sich vor seinen Augen. Für einen Moment schienen sich die Wolken rot zu färben.

Aber er durfte nicht aufgeben. Nicht jetzt. Es war egal, wenn er starb, aber vorher mußte er noch etwas tun, etwas Bestimmtes und Wichtiges, von dem er vergessen hatte, was es war, aber das unbedingt getan werden mußte. Del. Der Name blitzte in seinem Bewußtsein auf, wie etwas, das zu einer lange zurückliegenden Zeit gehörte, einer Zeit, zu der er längst jeden Bezug verloren hatte. Sein Sohn. Das Kind. Irgend etwas war mit dem Kind, aber das Fieber verhinderte, daß er sich erinnerte, was. Vielleicht war es auch etwas anderes, etwas, das er nur für Fieber hielt, weil es ebenso fremd war und ebenso weh tat. Das Kind. Das Kind. Sein Kind. Er mußte es finden. Er mußte es finden und...

...töten?

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