Die Ebene breitete sich unter ihnen aus wie ein mit zarten Farben gemaltes Bild: flach und scheinbar endlos, denn der Blick verlor sich schon auf halber Strecke zum Horizont hin in grauem Nebel, der wie Dampf aus dem Boden stieg. Der Himmel hing tief, und er war bedeckt mit schweren, bauchigen grauen Wolken, die so aussahen, wie die Luft roch: nach Schnee.
Skar blickte sehr lange auf das Bild herab, das sich ihm bot, ohne ein Wort zu sagen. Der Anblick der schneebedeckten Ebene vor den Bergen war nicht der erste Dämpfer, den sein neu erwachter Optimismus erhielt, seit er Syrr und Talin getroffen hatte - aber es war der gründlichste. Als er den Tempel der Gesichtslosen Prediger erreicht hatte, hatte der Sommer Einzug gehalten - und jetzt lag auf den Bäumen unter ihnen Schnee! Er mußte fünf, vielleicht sogar sechs Monate geschlafen haben! Die Vorstellung war zu erschreckend, als daß er sie jetzt schon verarbeiten konnte; wirklich begreifen. Aber ihn schwindelte, als er auch nur daran dachte, wie lange er reg- und hilflos dagelegen haben mußte, allem ausgeliefert, was mit ihm geschah.
»Dort unten!« Syrrs Worte rissen ihn abrupt in die Wirklichkeit zurück. Das Mädchen deutete mit der Hand auf eine Baumgruppe, nicht mehr als zwei oder drei Pfeilschußweiten entfernt. Mit der anderen bedeutete sie ihm gleichzeitig, sich möglichst still zu verhalten. Als sie weitersprach, war ihre Stimme zu einem hastigen hellen Flüstern geworden. Skar hätte ihr sagen können, daß man ein auf diese Art gesprochenes Wort fast ebensoweit hörte wie ein ganz normal gesprochenes; aber es war nicht nötig. Es waren keine Quorrl in der Nähe. Über einem Teil der Landschaft lag schon Dämmerung, und wie oft an früh zu Ende gehenden Wintertagen war alles irgendwie grau und verschleiert, so daß er nicht sehr weit sehen konnte. Trotzdem wußte er, daß die Fischgesichter nicht da waren. Er hätte sie gespürt. Er spürte sie immer.
Dann begriff er den Fehler in diesem Gedankengang. Bisher hatte er die Nähe von Quorrl immer gespürt. Vor seinem langen Schlaf. Er hatte keinen Beweis, daß es noch so war.
Wütend auf sich selbst ballte Skar die Faust und sah das Mädchen an. »Wo genau?«
»Ihr Lager liegt hinter diesen Bäumen.«
»Bist du sicher?«
Syrr zögerte, blickte noch einmal aus eng zusammengepreßten Augen zu der kleinen Baumgruppe hinab, deren Äste sich unter dem Gewicht des Schnees bogen, und zuckte hilflos die Achseln. »Wenigstens war es dort, als wir in den Tempel geflohen sind«, sagte sie. Sie sah Skar zweifelnd an. Obwohl sie sich nahe waren, konnte Skar ihr Gesicht nur als verwaschenen hellen Fleck ausmachen. Aber er sah das Blitzen von Angst in ihren Augen. »Glaubst du wirklich, du könntest sie besiegen?«
Skar antwortete nicht. Er wäre sehr froh gewesen, hätte er die Antwort auf diese Frage selbst gewußt. Vier oder fünf Quorrl, dazu noch ein, vielleicht zwei Krieger - und die Hunde. Das war selbst für einen Satai ein bißchen viel, auch wenn er den Vorteil der Überraschung auf seiner Seite hatte. Und er war - sehr vorsichtig ausgedrückt - nicht unbedingt in seiner Bestform. Während er Syrr und ihrem Bruder hier herauf gefolgt war, war er ein paarmal außer Atem gekommen. Sein Rücken schmerzte, und seine Beine schienen sich in einen einzigen Krampf verwandelt zu haben. Vielleicht war es ganz gut, daß er sich Syrr und Talin gegenüber noch nicht als Satai zu erkennen gegeben hatte, dachte er finster. Wahrscheinlich hätte er sich nur lächerlich gemacht mit dieser Behauptung.
»Ich habe nicht vor, mit ihnen zu kämpfen«, sagte er schließlich. »Aber wir brauchen die Pferde.«
»Sie werden dich töten«, behauptete Syrr. »Warum warten wir nicht, bis es dunkel ist?« Sie deutete in den wolkenverhangenen Himmel. »In einer Stunde geht die Sonne unter. Mit etwas Glück können wir uns davonschleichen, ohne daß sie es auch nur merken.«
»Bis zum Morgen, ja.« Skar deutete mit säuerlichem Gesicht auf den Schnee herab, der sich wie eine weiße Decke über dem Gras ausbreitete. »Sie sehen unsere Spuren, kaum daß die Sonne aufgegangen ist. Wie lange, glaubst du, brauchen sie mit ihren Pferden, um uns einzuholen?« Er schüttelte entschieden den Kopf, als nun Talin widersprechen wollte. »Wir haben keine Chance, wenn wir zu Fuß zu fliehen versuchen. Aber die Hunde machen mir Sorgen. Was sind es für Tiere?«
»Kampfhunde«, antwortete Talin an Syrrs Stelle. »Sie töten dich, wenn sie dich erwischen, Skar. Ich habe gesehen, wie sie einen Mann aus unserem Dorf zerrissen haben. Die Quorrl haben sie auf ihn gehetzt, nur aus Spaß.« Er zog eine Grimasse, die wohl Entsetzen verdeutlichen sollte, in Wahrheit aber einfach nur albern aussah. »Sie haben ihm hundert Schritte Vorsprung gegeben und die Tiere dann losgelassen. Und uns haben sie gezwungen, zuzusehen.«
Skar schwieg einen Moment, dann erhob er sich wortlos ein wenig weiter hinter dem Felsbrocken, hinter dem sie Deckung gesucht hatten, und hielt das Gesicht in den Wind, um seine Richtung zu prüfen. Ihre Glückssträhne schien zu Ende zu sein - der Wind kam von Osten, und das bedeutete, daß er einen großen Bogen schlagen und sich dem Lager von der entgegengesetzten Richtung her nähern mußte, um von den Hunden nicht gewittert zu werden. Selbst wenn alles gut ging, würde es dunkel sein, bis er zurück war.
Seufzend ließ er sich wieder auf Hände und Knie herabsinken, drehte sich herum und blickte zum Tempeleingang zurück. Selbst jetzt, wo er genau wußte, wonach er zu suchen hatte, fiel es ihm schwer, ihn auszumachen: es war nicht mehr als ein kaum mannsbreiter, schräger Riß in der Flanke des Berges, noch dazu so geschickt durch Felsen und genau berechnete Schatten getarnt, daß ein Ortsfremder auf Armeslänge daran vorübergehen konnte, ohne ihn auch nur zu sehen.
Für einen winzigen Moment glaubte er eine Bewegung in den Schatten wahrzunehmen. Sein Herz machte einen schmerzhaften Sprung. Irgend etwas stand dort, etwas Kleines und Lauerndes und...
Dann wiederholte sich das Blitzen, und Skar sah, daß es nur ein Sonnenstrahl gewesen war, der sich auf vereistem Fels brach. Er unterdrückte ein erleichtertes Lächeln und schalt sich in Gedanken einen Narren. Der Tempel war so leer, wie er nur sein konnte. Er hatte genau auf Spuren geachtet, während er Talin und seiner Schwester nach oben gefolgt war. Dort war niemand. Es war nur seine eigene, überreizte Phantasie, die ihm einen bösen Streich spielte.
Skar versuchte, die Vorstellung zu verscheuchen und konzentrierte sich wieder auf die näherliegenden Probleme. Die Dunkelheit allein würde als Schutz nicht ausreichen, so wenig wie das Felsenlabyrinth der Gesichtslosen Prediger. Die Quorrl waren nicht allein auf das angewiesen, was sie sahen, überlegte er besorgt. Sie hatten die Hunde. Wenn er wenigstens eine Waffe hatte!
»Geht zurück«, sagte er. »Verbergt euch in der Höhle, bis es dunkel ist. Wir treffen uns eine halbe Stunde nach Sonnenuntergang, ein Stück westlich von hier, dort unten, wo die Felsen aufhören.«
»In die Höhle zurück?« Syrr erbleichte. Skar konnte ihr ansehen, wie unangenehm ihr die Vorstellung war, in das von Schatten und Furcht erfüllte Labyrinth zurückzugehen, und sei es nur für eine Stunde. »Und... und wenn sie uns suchen?«
Skar schüttelte entschieden den Kopf. »Es wird bald dunkel«, sagte er. »Hätten sie euch heute noch verfolgen wollen, hätten sie es längst getan. Sie werden in aller Ruhe abwarten, bis es hell ist. Der Tempel hat nur diesen einen Ausgang, und wahrscheinlich verlassen sie sich auf die Hunde.« Er lächelte aufmunternd, um seine Worte zu bekräftigen. »Jetzt geht, schnell.« Er machte eine auffordernde Handbewegung und registrierte zufrieden, wie sich auch Syrr und ihr Bruder erhoben.
»Talin«, sagte er.
Der Junge blieb gehorsam stehen und sah ihn fragend an. »Wenn... ich nicht zurückkomme«, sagte Skar ernst, »dann gib auf deine Schwester acht, ja? Versucht euch irgendwie durchzuschlagen, und bleibt in den Bergen, so lange ihr könnt. Die Quorrl hassen Kälte.«
Talin nickte. »Ich verspreche es«, sagte er stolz. Dann drehte er sich herum und folgte seiner Schwester.
Skar sah den beiden lächelnd nach, bis sie im Schutz des Tempeleinganges verschwunden waren. Er wußte selbst nicht, warum, aber es tat ihm sonderbar gut, nach so langer Zeit wieder mit Menschen zusammen zu sein, die ihm nicht entweder nach dem Leben trachteten oder unentwegt über den bevorstehenden Untergang der Welt faselten. Und - ja, auch wenn es vielleicht noch zu früh war: er mochte die beiden.
Er verscheuchte den Gedanken, drehte sich abermals herum und blickte wieder zu den Bäumen herab, hinter denen sich das Lager der Quorrl verbergen sollte.
Was er sah, gefiel ihm nicht. Das Stück Weg von der Höhle hierher war leicht gewesen: der Hang war ein wahres Labyrinth zyklopischer Felstrümmer und -brocken, zwischen denen sich eine ganze Armee verstecken konnte, und die Quorrl waren sicher nicht sehr aufmerksam, denn sie rechneten mit einem Mädchen und einem Kind, nicht mit einem Krieger. Aber schon zwanzig Schritte weiter änderte sich das Bild total. Die Felsen, die ihm bis hierher Deckung gegeben hatten, gab es dort nicht mehr. Der Hang war so glatt, daß nicht einmal ein Hund darauf Deckung gefunden hätte, und auf dem gesamten Weg zu den Bäumen hin gab es nichts außer ein paar Sträuchern, denen der Herbst bereits alle Blätter genommen hatte.
Einen Moment lang überlegte Skar, einfach hierzubleiben, bis es dunkel geworden war, verwarf den Gedanken aber beinahe sofort wieder. Die Kälte würde ihn töten, wenn er noch lange so reglos hier hockte. Er spürte schon jetzt, wie seine Muskeln sich verkrampften. Seine Zehen und Finger prickelten vor Kälte. Und was das Verhalten der Quorrl und ihrer menschlichen Begleiter anging, war er nicht ganz so zuversichtlich, wie er Talin und Syrr gegenüber behauptet hatte.
Er beugte sich noch einmal vor, raffte eine Handvoll Schnee auf und rieb sie sich ins Gesicht, um die Müdigkeit zu vertreiben und den Schmerz in seinem Kiefer zu betäuben. Dann richtete er sich vollends hinter dem Felsen auf.
Geduckt schlich er los.