Schnell wie der Blitz sprang Rischda Tarkhan zurück aus der Reichweite von Tirians Schwert. Er war kein Feigling und hätte, wenn nötig, auch auf eigene Faust gegen Tirian und den Zwerg gefochten. Aber er konnte es nicht gleichzeitig noch mit dem Adler und dem Einhorn aufnehmen. Er wußte, wie Adler einem Menschen ins Gesicht fliegen, nach den Augen picken und mit den Flügeln blenden können. Er hatte auch von seinem Vater gehört (der damals in der Schlacht den Narnianen gegenüberstand), daß keiner ein Einhorn besiegen kann, außer mit Pfeilen oder einem langen Speer. Dieses Tier richtet sich auf seinen Hinterfüßen auf, während es jemanden überfällt, und dann muß man sich mit seinen Hufen, seinem Horn und seinen Zähnen gleichzeitig befassen. So stürmte denn Rischda Tarkhan in die Menge und rief:
»Zu mir, zu mir, Krieger des Tisrok, lang lebe er! Zu mir, alle treuen Narnianen, oder der Zorn von Taschlan fällt über euch!«
Derweil geschahen noch andere Dinge. Der Affe hatte die Gefahr nicht so schnell wie der Tarkhan erkannt. Etwa eine Sekunde blieb er neben dem Feuer hocken und starrte die Fremden an. Tirian stürzte auf das jämmerliche Geschöpf zu, packte es beim Kragen, schleuderte es zum Stall zurück und rief: »öffnet die Tür!« Pogge öffnete sie. »Geh und nimm deine eigene Arznei, Kniff«, sagte Tirian und warf den Affen in die Dunkelheit hinein. Als der Zwerg die Tür wieder zuschlug, zuckte ein blendendes grünblaues Licht aus dem Innern des Stalles heraus, die Erde erbebte, und alle vernahmen ein grauenhaftes Geräusch: ein Glucksen und Kreischen, wie die krächzende Stimme eines ungeheuren Vogels.
Die Tiere wehklagten und heulten: »Taschlan! Versteckt uns vor ihm!« Manche fielen nieder, und manche verbargen ihr Gesicht in ihren Schwingen oder Pfoten.
Nur der Adler, der unter allen Lebewesen die besten Augen hat, bemerkte auf einmal das Gesicht von Rischda Tarkhan. Der Adler sah, daß Rischda genauso überrascht und erschreckt war wie jeder andere. »Da hat einer Götter gerufen«, dachte Weitsicht, »an die er nicht glaubt. Wie wird es ihm ergehen, wenn sie wirklich da sind?«
Aber an diesem Abend gab es doch auch etwas Schönes. Alle sprechenden Hunde (es waren zusammen fünfzehn) kamen springend und bellend freudig an des Königs Seite, große, starke Hunde mit vollen Schultern und schweren Kinnbacken. Ihr Kommen war wie das Brechen einer großen Welle am Meeresstrand: Es warf einen fast um. Denn obgleich sprechende Hunde, waren sie doch gewöhnlichen Hunden so ähnlich wie nur möglich. Sie standen alle auf und legten ihre Vorderpfoten auf die Schultern der Menschen, leckten ihre Gesichter und riefen im Chor Tirian zu:
»Willkommen, willkommen! Wir helfen, helfen, helfen. Zeig uns, wie – zeig uns, wo! Wau – wau –wau – wo – wo?«
Das war so rührend, daß man fast weinen konnte. Auf die Hilfe der Hunde hatten die Narnianen doch gehofft. Einen Augenblick später kamen mehrere kleine Tiere (Mäuse und Maulwürfe und ein Eichhörnchen) angetrabt. Sie quiekten vor Freude und sagten: »Schau doch, schau; wir sind hier!«
Wenn jetzt auch Bär und Eber kommen, dachte Eugen, kann vielleicht doch noch alles gut werden. Aber Tirian blickte um sich und sah, daß sich nur wenige andere Tiere gerührt hatten.
»Zu mir, zu mir!« rief er, »seid ihr denn alle Feiglinge geworden?«
»Wir trauen uns nicht«, wimmerten Dutzende von Stimmen. »Taschlan könnte böse sein. Schütze uns vor Taschlan!«
»Wo sind denn die sprechenden Pferde?« fragte Tirian den Eber.
»Wir haben sie gesehen, wir haben sie gesehen«, quiekten die Mäuse. »Der Affe läßt sie schuften. Sie sind alle angeschirrt, unten am Fuß des Hügels.«
»Dann also, ihr Kleinen«, sagte Tirian, »ihr Knabberer und Nager und Nußknacker, fort mit euch, so schnell ihr nur könnt, und schaut, ob die Pferde auf unserer Seite sind. Setzt eure Zähne an die Stricke und nagt sie durch, bis die Pferde frei sind und herkommen können.«
»Wie du befiehlst, Majestät«, ertönten die kleinen Stimmen, und mit wedelnden Schwänzen eilte das scharfäugige und scharfzahnige Volk hinweg. Tirian lächelte gerührt, als er sie so laufen sah. Doch es war Zeit, an andere Dinge zu denken, denn Rischda Tarkhan gab seine Befehle.
»Vorwärts!« rief er. »Nehmt alle gefangen, wenn ihr könnt, und werft sie in den Stall oder treibt sie hinein. Wenn sie alle drin sind, werden wir Feuer legen und mit ihnen unserm großen Gott Tasch ein Opfer bringen.«
»Ha«, sagte Weitsicht zu sich selbst, »so erhofft er von Tasch Vergebung für seinen Unglauben.«
Die feindliche Linie – etwa die Hälfte von Rischdas Macht – bewegte sich jetzt vorwärts, und Tirian hatte kaum Zeit, seine Befehle zu erteilen.
»Hinaus an die Linke, Jutta, und versuch, so viele zu erschießen wie du kannst, ehe sie uns erreichen! Eber und Bär neben Jutta! Pogge an meine linke Seite, Eugen an meine rechte! Halt den rechten Flügel, Kleinod! Steh ihm bei, Grauohr, und gebrauch deine Hufe! Flieg und schlag zu, Weitsicht! Ihr Hunde, genau hinter uns! Geht mitten unter sie, nachdem das Spiel der Schwerter begonnen hat! Aslan hilf uns!«
Eugen stand da, und sein Herz schlug gewaltig. Er hoffte, daß er tapfer sein würde. Obwohl er schon einen Drachen und eine Seeschlange gesehen hatte, erschauerte er doch vor der Menge dunkelgesichtiger, helläugiger Menschen. Da waren fünfzehn Kalormenen, ein sprechender Stier aus Narnia, Schleichfuß der Fuchs und Bolk der Waldgeist, halb Ziegenbock, halb Mensch. Dann hörte er Schwirren und Zupfen zu seiner Linken, und ein Kalormene fiel; dann wieder Schwirren und Zupfen, und der Waldgeist sank nieder. »Gut gemacht, meine Tochter!« ertönte Tirians Stimme, und dann stand der Feind vor ihnen.
Eugen konnte sich nicht mehr erinnern, was in den nächsten Minuten geschah. Es war alles wie im Traum, bis er Rischda Tarkhans Stimme aus der Ferne rufen hörte: »Zieht euch zurück. Hierher zurück, und stellt euch neu wieder auf!«
Dann kam Eugen zur Besinnung und sah, daß die Kalormenen zu ihren Freunden zurückjagten. Aber nicht alle: zwei lagen tot da, einer von Kleinods Horn durchbohrt, der andere von Tirians Schwert. Der Fuchs lag tot zu Eugens Füßen, und er fragte sich, ob er ihn wirklich getötet hatte. Auch der Stier lag tot am Boden, mit einem Pfeil Juttas durch die Augen geschossen und seitlich aufgeschlitzt vom Stoßzahn des Ebers. Aber auch die andere Seite hatte ihre Verluste. Drei Hunde waren getötet worden, und ein vierter humpelte auf drei Füßen hinter die Kampflinie und wimmerte. Der Bär war niedergesunken und bewegte sich nur noch schwach. Er murmelte mit heiserer Stimme, ganz verwirrt: »Ich … ich … ich verstehe nichts«, legte seinen Kopf ins Gras, so ruhig wie ein Kind, das schlafen geht, und rührte sich nicht mehr.
Der erste Angriff war abgeschlagen. Eugen konnte sich kaum darüber freuen: er war sehr durstig, und sein Arm tat ihm weh.
Als die besiegten Kalormenen zu ihrem Befehlshaber zurückliefen, begannen die Zwerge sie zu verhöhnen. »Habt ihr genug, ihr Schwarzgesichter?« riefen sie. »Gefällt es euch nicht? Warum geht nicht euer großer Tarkhan mit und kämpft selbst, anstatt euch in den Tod zu schicken? Arme Schwarzgesichter!«
»Zwerge!« rief Tirian, »kommt her und gebraucht eure Schwerter, nicht eure Zungen. Es ist noch Zeit. Zwerge von Narnia! Ihr könnt gut fechten, ich weiß es. Kehrt zu eurer Pflicht zurück!«
»Ha!« sagten die Zwerge höhnisch lachend. »Denkst du. Ihr seid ebenso große Schwindler wie alle anderen. Wir brauchen keine Könige. Die Zwerge sind für die Zwerge da. Buh!«
Dann begann das Trommeln: diesmal keine Trommel der Zwerge, sondern eine große kalormenische Trommel aus Stierhaut. Die Kinder haßten den Klang vom ersten Augenblick an. Aber dieses Bumm-bumm-ba-ba-bumm wäre ihnen noch verhaßter gewesen, wenn sie gewußt hätten, was es bedeutete. Tirian wußte es. Es hieß, irgendwo in der Nähe gab es noch andere Truppen der Kalormenen, und Rischda Tarkhan rief sie zu Hilfe. Tirian und Kleinod blickten einander traurig an. Sie hatten gehofft, in dieser Nacht zu siegen. Wenn aber neue Feinde erschienen, war für sie alles verloren. Tirian blickte hoffnungslos umher. Mehrere Narnianen standen zusammen mit Kalormenen, sei es aus Verrat, sei es aus ehrlicher Furcht vor Taschlan. Andere saßen still da und überlegten, wem sie sich anschließen sollten. Jetzt waren auch weniger Tiere da, einige hatten sich während des Kampfes heimlich davongeschlichen.
Bumm-bumm-ba-ba-bumm erklang von neuem die schreckliche Trommel. Dann mischte sich ein anderer Ton hinein.
»Hört!« rief Kleinod, und Weitsicht sagte: »Seht nur!«
Einen Augenblick später gab es keinen Zweifel mehr. Mit donnernden Hufen, emporgeworfenen Köpfen, geweiteten Nüstern und wehenden Mähnen stürmten über zwanzig sprechende Pferde von Narnia den Hügel herauf. Die Nager und Knabberer hatten ganze Arbeit geleistet.
Pogge der Zwerg und die Kinder öffneten ihren Mund zum Freudenruf, aber der Ton erstickte in ihrer Kehle. Plötzlich war die Luft voll vom Klang schwirrender Bogensehnen und zischender Pfeile. Die Zwerge schossen, und Jutta traute kaum ihren Augen – sie schossen auf die Pferde. Zwerge sind todsichere Bogenschützen: Pferd um Pferd überschlug sich. Keines dieser edlen Tiere erreichte den König.
»Ihr Schweinehunde!« schrie Eugen und stampfte vor Wut mit den Füßen. »Schmutzige, schwindlerische kleine Scheusale!«
Sogar Kleinod sagte: »Soll ich die Zwerge überrennen, Majestät, und bei jedem Stoß zehn von diesen Schurken auf mein Horn spießen?«
Aber Tirian, mit einem Gesicht hart wie Stein, sagte: »Rühr dich nicht von der Stelle, Kleinod. Und wenn du weinen mußt, Herzchen (das galt Jutta), so dreh dein Gesicht zur Seite und schau, daß du deine Bogensehne nicht naß machst. Sei ruhig, Eugen, schimpf nicht wie ein Küchenmädchen. Kein Krieger schimpft. Höfliche Worte oder harte Schläge sind seine Sprache.«
Aber nun verhöhnten die Zwerge Eugen. »Das war eine Überraschung für dich, kleiner Bub, wie? Du dachtest wohl, wir wären auf eurer Seite? Keine Angst! Wir wollen keine sprechenden Pferde. Wir wollen, daß weder ihr noch die andere Sippschaft gewinnt. Ihr könnt uns nicht betrügen. Die Zwerge sind nur für die Zwerge.«
Rischda Tarkhan sprach noch zu seinen Männern. Er schmiedete Pläne für den nächsten Angriff: er wollte seine ganze Streitmacht auf einen Schlag einsetzen. Dauernd ertönte die Trommel. Dann aber hörten Tirian und seine Freunde zu ihrem Schrecken, wie aus weiter Ferne eine Trommel antwortete. Eine andere Truppe von Kalormenen hatte Rischdas Signal gehört und kam ihm zu Hilfe. Von Tirians Gesicht war nicht abzulesen, ob er nun alle Hoffnung aufgegeben hatte.
»Hört zu«, flüsterte er mit beherrschter Stimme, »wir müssen jetzt angreifen, ehe die Schurken da drüben von ihren Freunden Verstärkung bekommen.«
»Bedenkt, Majestät«, sagte Pogge, »daß wir hier die gute Holzwand des Stalles als Rückendeckung haben. Werden wir nicht eingekreist, und bekommen wir keine Schwertspitzen zwischen unsere Schultern, wenn wir vorgehen?«
»Genauso möchte ich sprechen, Zwerg«, sagte Tirian, »wenn es nicht ihr Plan wäre, uns in den Stall zu zwingen. Je weiter wir von der gefährlichen Tür entfernt sind, um so besser.«
»Der König hat recht«, bemerkte Weitsicht. »Um jeden Preis fort von diesem verwünschten Stall, was für ein Unhold auch immer darin lebt.«
»Ja, gehen wir doch«, sagte Eugen. »Ich kann den Stall schon nicht mehr sehen.«
»Gut«, sagte Tirian. »Nun blickt nach links hinüber. Dort seht ihr einen großen Felsen, der im Feuerschein weiß wie Marmor glänzt. Erst wollen wir die Kalormenen überfallen. Du, Mädchen, gehst links von uns und schießt, so schnell du kannst, in ihre Linie. Du, Adler, fliegst von rechts in ihre Gesichter. Inzwischen wollen wir andern auf sie losstürmen. Wenn wir so nahe sind, Jutta, daß du nicht länger auf sie schießen kannst, ohne uns auch zu treffen, geh zu dem weißen Felsen zurück und warte da. Ihr andern haltet eure Ohren steif, sogar in der Schlacht. In wenigen Minuten müssen wir den Feind in die Flucht schlagen oder auch nicht, denn wir sind weniger zahlreich als sie. Sobald ich ›zurück‹ rufe, stürzt zu Jutta am weißen Felsen. Wir haben dort Rückendeckung und können eine ganze Weile aufatmen. Nun los, Jutta!«
Jutta, die sich allein gelassen fühlte, rannte gut zwanzig Schritt, stellte ihr rechtes Bein zurück, ihr linkes vor und setzte einen Pfeil an die Sehne. Sie wünschte, daß ihre Hände nicht so zitterten.
»Das war ein Fehlschuß«, stellte sie fest, als ihr erster Pfeil dem Feind entgegenschwirrte und über seine Köpfe hinwegflog. Aber im nächsten Augenblick hatte sie wieder einen Pfeil an der Sehne, denn sie wußte, Eile tat not. Sie sah, wie etwas großes Schwarzes in die Gesichter der Kalormenen flog. Das war Weitsicht. Erst ein Mann, dann noch ein anderer ließ sein Schwert fallen und hob beide Hände auf, um seine Augen zu schützen. Dann verletzte Juttas Pfeil einen Mann, ein anderer verwundete einen narnianischen Wolf, der wohl dem Feinde zugelaufen war.
Jutta hatte nur ein paar Sekunden geschossen, als sie wieder aufhören mußte. Mit einem Blitzen der Schwerter, des Ebers Stoßzahn, Kleinods Horn und dem tiefen Gebell der Hunde stürzten Tirian und seine Gesellen auf die Feinde los, wie Menschen bei einem Hundertmeterlauf. Jutta war erstaunt, wie unvorbereitet die Kalormenen kämpften. Sie erkannte nicht, daß sie und der Adler daran schuld waren. Nur wenige Krieger können ständig auf die vordere Front blicken, wenn sie von einer Seite Pfeile ins Gesicht bekommen und auf der anderen Seite von einem Adler angegriffen werden.
»Gut gemacht, gut gemacht!« rief Jutta. Des Königs Gesellen schlugen ihren Weg mitten durch die feindliche Reihe. Das Einhorn schleuderte Männer hoch, wie man Heu mit der Gabel wendet. Jutta schien es sogar, als ob Eugen (der doch kaum etwas über die Fechtkunst wußte) glänzend kämpfte. Die Hunde fuhren den Kalormenen an die Kehle. Alles schien gut zu werden. War ihnen am Ende der Sieg sicher?
Da bemerkte Jutta mit Schrecken, daß zwar Kalormenen mit jedem Schwertstreich der Narnianen fielen, die Zahl der Feinde aber dennoch immer größer wurde. Von allen Seiten liefen sie mit Speeren herbei.
Dann hörte Jutta Tirians Stimme: »Zurück zum Felsen!«
Der Feind hatte Verstärkung erhalten. Die Trommel hatte ihr Werk getan.