»Mein armes Pferd, mein liebes tapferes Pferd«, sagte Tirian und schnitt ihm eilig die Zugriemen durch, »wie konnten dich die Fremden zu so schwerer Arbeit zwingen? Ist Narnia etwa unterworfen? Hat es eine Schlacht gegeben?«
»Nein, Majestät«, keuchte das Pferd. »Aslan ist hier. Es geht alles nach seinem Befehl. Er hat befohlen …«
»Vorsicht, Gefahr, mein König!« mahnte Kleinod. Und Tirian sah, daß Kalormenen mit ein paar sprechenden Tieren aus allen Richtungen auf sie zurannten. Die beiden toten Männer waren lautlos gestorben. Die andern hatten gar nicht bemerkt, was geschehen war; aber nun wußten sie es. Die meisten hielten blanke Krummsäbel in den Händen.
»Schnell, auf meinen Rücken!« rief Kleinod.
Der König schwang sich auf seinen treuen Freund, der umdrehte und fortpreschte. Sobald sie von ihren Feinden nicht mehr gesehen werden konnten, wechselte Kleinod zwei- oder dreimal die Richtung und kreuzte auch einen Bach. Immer noch im selben Schritt, rief er:
»Wohin jetzt, Majestät? Nach Otterfluh?«
»Halt, warte, mein Freund«, sagte Tirian. »Laß mich absteigen.« Und er glitt vom Rücken des Einhorns.
»Kleinod«, klagte der König, »wir haben etwas Schreckliches getan.«
»Man hat uns doch bis aufs Blut gereizt«, antwortete Kleinod.
»Aber wir sind plötzlich auf sie eingesprungen, und sie waren ohne Waffen. Wir sind gemeine Mörder, Kleinod, und für immer entehrt.«
Kleinod ließ den Kopf hängen, auch er schämte sich.
»Noch etwas«, sagte der König, »das Pferd meinte, alles sei Aslans Befehl. Von der Ratte hörten wir dasselbe. Alle sagen, Aslan ist hier. Wenn das nun wahr ist?«
»Aber, Majestät, wie könnte Aslan solche entsetzlichen Dinge anordnen?«
»Er ist kein zahmer Löwe«, meinte Tirian. »Wie sollen wir wissen, was er täte, wir, die wir Mörder sind? Kleinod, ich will umkehren. Ich will mein Schwert ablegen und mich selbst in die Hände dieser Kalormenen begeben. Sie sollen mich vor Aslan bringen, und er soll über mich Recht sprechen.«
»Das wird dein Tod sein!« sagte Kleinod.
»Glaubst du, ich frage danach, wenn Aslan mich zum Tode verurteilt?« erwiderte der König. »Das macht mir nichts aus. Wäre es nicht besser, tot zu sein, als diese schreckliche Angst zu haben, daß Aslan zwar gekommen ist, aber nicht als der, an den wir geglaubt haben? Es ist, als ginge plötzlich eine schwarze Sonne auf.«
»Ich weiß«, sagte Kleinod. »Oder, als ob man Wasser trinken will, und das Wasser ist vertrocknet. Du hast recht, Majestät. Das ist das Ende aller Dinge. Wir sollten gehen und uns Aslan überliefern.«
»Beide müssen wir nicht gehen.«
»Wenn wir jemals Freunde waren, dann laß mich jetzt mit dir gehen«, sagte das Einhorn. »Wenn du tot bist, was bliebe mir vom Leben?«
Sie kehrten um und gingen weinend zurück.
Als sie zu der Stelle kamen, wo noch immer gearbeitet wurde, liefen ihnen schreiend die Kalormenen mit Waffen in den Händen entgegen. Aber der König hielt ihnen sein Schwert mit dem Griff hin und sprach:
»Ich, früher König von Narnia, jetzt aber Knecht, unterwerfe mich Aslans Urteil. Bringt mich zu ihm!«
»Für mich gilt das gleiche«, erklärte Kleinod.
Da stürzte sich die Menge auf die beiden und umzingelte sie. In den dunklen Gesichtern der Kalormenen blitzten die weißen Augäpfel bedrohlich. Dem Einhorn wurde ein Halfterriemen um den Nacken gelegt. Dem König entrissen sie das Schwert und banden ihm die Hände auf dem Rücken zusammen. Ein Kalormene, der statt des gewohnten Turbans einen Helm trug, wohl der Befehlshaber, riß den goldenen Stirnreif von Tirians Kopf und versteckte ihn hastig unter seinem Gewand. Sie führten die beiden Gefangenen bergauf zu einer großen Lichtung.
Hier, auf dem höchsten Punkt des Hügels, stand eine kleine strohgedeckte Hütte, eine Art Stall. Die Tür war geschlossen. Davor saß ein Affe im Gras. Tirian und Kleinod hatten gehofft, Aslan zu sehen. Von einem Affen hatten sie noch nichts gehört, und deshalb waren sie sehr erstaunt, als sie ihn sahen.
Der Affe war kein anderer als Kniff, aber zehnmal häßlicher als früher am Kesselteich, denn er hatte sich herausgeputzt. Er trug eine scharlachrote Jacke, die ihm zu klein war, weil sie einem Zwerg gehörte. An seinen Hinterfüßen trug er gold- und edelsteinbesetzte Pantoffeln. Sie paßten nicht, weil die Hinterpfoten eines Affen, wie man weiß, eigentlich wie Hände sind. Auf dem Kopf trug Kniff eine Papierkrone. Neben ihm lag ein großer Haufen Nüsse, und er schwitzte vor Eifer, um sie zu knacken und die Schalen auszuspucken. Natürlich krempelte er zwischendurch auch seine scharlachrote Jacke hoch und kratzte sich. Eine große Anzahl sprechender Tiere stand dabei und schaute ihm zu; fast jedes Gesicht sah besorgt und befremdet aus. Als sie merkten, wer die Gefangenen waren, seufzten und wimmerten sie.
»Graf Kniff, Wortführer Aslans«, sagte der Befehlshaber der Kalormenen. »Wir bringen dir zwei Gefangene. Wir waren so geschickt und tapfer, und unser großer Gott Tasch war uns gnädig, daß wir die beiden verwegenen Mörder lebend festnehmen konnten.«
»Gebt mir das Schwert dieses Mannes«, befahl der Affe. So händigten sie des Königs Schwert mit allem Zubehör dem Affen aus. Er hing es sich um seinen Hals und wirkte damit noch alberner.
»Später werden wir nach den beiden sehen«, erklärte der Affe und spuckte eine Nußschale zu den Gefangenen hinüber. »Ich habe jetzt Wichtigeres zu tun, sie können warten. Nun hört mal alle zu. Zuerst will ich über Nüsse sprechen. Wo steckt denn das Obereichhörnchen?«
»Hier, mein Gebieter«, rief ein rotes Eichhörnchen, kam vor und machte hastig ein Männchen. »Eichhörnchen Flitzeflink meldet sich zur Stelle.«
»So, du bist es?« fragte der Affe mit bösem Blick. »Nun gib acht. Ich brauche, das heißt, Aslan braucht noch mehr Nüsse. Die du da gebracht hast, sind bei weitem nicht genug. Du mußt mehr heranschaffen, hörst du? Zweimal soviel. Sie müssen morgen vor Sonnenuntergang hier liegen, und es dürfen keine schlechten dabei sein und keine kleinen.«
Da murrte und murmelte es bestürzt in der Reihe der Eichhörnchen. Nur das kleine Obereichhörnchen sagte mutig: »Bitte, könnte nicht Aslan selbst mit uns darüber sprechen? Oder dürfen wir ihn gar nicht sehen?«
»Nein, das wird euch nicht erlaubt«, kreischte der Affe. »Er wird so gnädig sein und heute abend ein paar Minuten herauskommen. Das ist schon mehr, als die meisten von euch verdienen. Dann werdet ihr ihn ja sehen. Aber er kann es nicht leiden, daß ihr euch alle um ihn schart und ihn mit Fragen belästigt. Alles, was ihr ihm sagen wollt, wird durch mich geschehen – wenn ich glaube, daß man ihn damit behelligen darf. Inzwischen solltet ihr Eichhörnchen lieber gehen und Nüsse suchen. Sorgt dafür, daß sie morgen abend hier sind, sonst, auf mein Wort, sonst könnt ihr was erleben!«
Die armen Eichhörnchen hetzten los, als wären wilde Hunde hinter ihnen her. Das war ein schrecklicher Befehl für sie. Die Nüsse, die sie sorgsam für den Winter gehortet hatten, waren schon fast alle verzehrt. Von den wenigen, die geblieben waren, hatten sie dem gierigen Affen schon viel mehr gegeben, als sie erübrigen konnten.
Plötzlich hörte man die tiefe Stimme eines zottigen Bären.
»Aber warum können wir Aslan jetzt nicht sehen? Wenn er früher in Narnia erschien, konnte jeder mit ihm sprechen, von Angesicht zu Angesicht.«
»Das glaubst du doch wohl selbst nicht«, schimpfte der Affe. »Aber, selbst wenn es so war, die Zeiten haben sich geändert. Aslan sagt, er sei früher viel zu sanft mit euch gewesen, versteht ihr? Sanft wird er nicht mehr sein. Diesmal wird er euch gehörig zurechtstutzen. Er wird euch den Gedanken, er sei ein zahmer Löwe, schon austreiben!«
Die Tiere ächzten und wimmerten leise. Danach trat tiefes Schweigen ein, was noch schlimmer war.
»Dann müßt ihr noch etwas anderes lernen«, sagte Kniff. »Einige von euch behaupten, ich sei ein Affe, aber das bin ich nicht. Ich bin ein Mensch. Ich sehe wie ein Affe aus, weil ich so alt bin, schon Hunderte von Jahren alt. Und weil ich so alt bin, bin ich auch so weise. Und weil ich so weise bin, bin ich der einzige, mit dem Aslan überhaupt redet. Man kann ihn nicht damit belästigen, daß er zu einer Menge dummer Tiere sprechen soll. Er will nur mir sagen, was ihr zu tun habt, und ich werde es euch weitersagen. Nehmt meinen Rat an, seht zu, daß ihr es doppelt so schnell tut, denn er läßt nicht mit sich spaßen!«
Danach schwieg alles. Nur ein junger Dachs weinte, und seine Mutter versuchte ihn zu beruhigen.
»Und nun gibt es noch etwas«, fuhr der Affe fort und kaute auf einer frischen Nuß in seiner Backe, »ich höre, daß einige Pferde glauben, sie könnten die Arbeit der Holzfuhren so schnell wie möglich beenden, damit sie dann wieder frei sind. Diesen Gedanken müssen sie sich aus dem Kopf schlagen. Und nicht nur die Pferde allein. In Zukunft wird jeder arbeiten müssen. Das hat Aslan zusammen mit dem König der Kalormenen beschlossen – dem Tisrok, wie eure dunkelgesichtigen Freunde ihn nennen. Ihr Pferde, Ochsen und Esel, ihr werdet euer Leben lang zur Arbeit hinunter nach Kalormen geschickt – zum Ziehen und Schleppen, wie die Tiere in anderen Ländern auch. Auch ihr grabenden Tiere, ihr Maulwürfe und Kaninchen und dazu noch ihr fleißigen Zwerge, ihr werdet in Tisroks Bergwerken arbeiten.«
»Nein, nein, nein!« heulten die Tiere. »Das kann nicht wahr sein. Aslan verkauft uns nicht als Sklaven an den König der Kalormenen.«
»Was soll denn das? Hört auf zu jammern!« knurrte der Affe. »Wer hat etwas von Sklaven gesagt? Ihr werdet keine Sklaven sein. Ihr werdet bezahlt. Ihr bekommt sogar einen sehr guten Lohn. Das heißt, euer Geld wird in Aslans Schatzkasse wandern, und er wird alles zu jedermanns Wohl verwenden.« Dann sah er den Befehlshaber der Kalormenen an und zwinkerte ihm zu.
Der Kalormene verbeugte sich und erwiderte in der prahlerischen Weise seiner Landsleute: »Kluger Sprecher für Aslan, unser König Tisrok (lang soll er leben!) ist bei diesem vernünftigen Plan ganz einig mit Euch.«
»Na, also! Seht ihr!« sagte der Affe. »Es ist alles klug durchdacht zu eurem Wohl. Mit dem Geld, das ihr verdient, machen wir Narnia zu einem Land, in dem es sich zu leben lohnt. Da gibt es dann Orangen und Bananen im Überfluß – und Straßen, große Städte und Schulen und Büros, Peitschen und Maulkörbe, Sättel und Käfige, Zwinger und Gefängnisse und sonst noch vielerlei.«
»Aber diese Dinge brauchen wir doch nicht«, murrte ein alter Bär. »Wir wollen frei sein. Und wir wollen Aslan selber sprechen hören.«
»Nun fangt nicht an, mißtrauisch zu werden«, sagte der Affe aufgebracht, »denn das lasse ich nicht zu. Ich bin ein Mensch. Du aber bist nur ein fetter, törichter alter Bär. Was weißt du schon von Freiheit? Du denkst, Freiheit heißt, du kannst alles tun, was du willst. Da hast du dich aber geschnitten. Das ist keine wirkliche Freiheit. Wahre Freiheit heißt: Ihr müßt tun, was ich euch befehle.«
»H-n-n-ch«, grunzte der Bär und ließ seinen Kopf hängen. Die Dinge so zu sehen, verstand er nicht.
»Bitte, bitte«, sagte die hohe Stimme eines wolligen Lämmchens. Jeder staunte, daß ein so junges Tier überhaupt zu reden wagte.
»Was ist denn nun noch?« fragte der Affe. »Faß dich kurz.«
»Bitte«, sagte das Lämmchen, »ich verstehe das nicht. Was haben wir eigentlich mit den Kalormenen zu tun? Wir gehören zu Aslan, die anderen gehören zu Tasch. Dieser Gott Tasch hat vier Arme und einen Geierkopf. Auf seinem Altar werden Menschen getötet. Wie kann der edle und freundliche Aslan mit dem bösen Tasch befreundet sein?«
Da wandten alle Tiere ihre Köpfe, und ihre hellen Augen funkelten den Affen an. Sie wußten, das war die beste Antwort, die der Affe bisher bekommen hatte.
Wütend sprang Kniff auf und bespuckte das Lämmchen. »Kindskopf!« zischte er. »Dummer kleiner Blöker! Geh heim zu deiner Mutter und trink deine Milch. Was verstehst du schon von solchen Dingen? Hört zu, hört alle zu! Tasch ist nur ein anderer Name für Aslan. Die alte Meinung, daß wir Narnianen im Recht sind und die Kalormenen unrecht haben, ist töricht. Jetzt wissen wir es besser. Die Kalormenen gebrauchen andere Worte, aber wir meinen alle dasselbe. Tasch und Aslan sind nur zwei verschiedene Namen für … ihr wißt, wen ich meine. Deshalb können sie auch nie Streit miteinander haben. Prägt euch das ein, ihr dummes Viehzeug: Tasch ist Aslan, und Aslan ist Tasch.«
Man weiß doch, wie traurig ein Hund einen manchmal anschaut. Die Gesichter jener sprechenden Tiere aber – all dieser redlichen, bescheidenen, erstaunten Vögel, Bären, Dachse, Kaninchen, Maulwürfe und Mäuse –, sie waren alle noch viel trauriger. Jedes Tier zog seinen Schwanz ein, jedes Schnurrbarthaar sträubte sich, und ihre Gesichter waren mitleiderregend.
Nur ein Wesen sah nicht unglücklich aus: Eine rötliche Katze – ein großer schwerer Kater in der Vollkraft seines Lebens – saß kerzengerade da, den Schwanz um die Zehen gerollt, in der ersten Reihe der Tiere. Rotschopf – so nannte man ihn – hatte die ganze Zeit über scharf den Affen und den kalormenischen Hauptmann angestarrt und nicht einmal geblinzelt.
»Entschuldigt nur, Graf Kniff«, bat der Kater sehr höflich, »aber das möchte ich doch gern wissen: Sagt euer Freund aus Kalormen dasselbe wie ihr?«
»Sicher«, antwortete der Kalormene an seiner Stelle.
»Der kluge Affe, ach, ich wollte sagen: der kluge Mensch ist völlig im Recht. Aslan ist weder weniger noch mehr als Tasch.«
»Aslan ist nicht mehr als Tasch?« fragte der Kater.
»Durchaus nicht mehr«, versetzte der Kalormene und sah dem Kater gerade ins Gesicht.
»Genügt dir das, Rotschopf?« fragte der Affe schadenfroh.
»Gewiß«, erwiderte Rotschopf kühl. »Danke vielmals. Ich glaube, ich verstehe allmählich.«
Bis dahin hatten der König und Kleinod geschwiegen. Sie warteten ab, ob der Affe sie aufforderte zu reden. Sie dachten, es hätte keinen Zweck, ihn zu unterbrechen. Aber nun sah Tirian ringsherum die bekümmerten Gesichter der Narnianen; er merkte, wie sie alle anfingen zu glauben, Aslan und Tasch wären ein und derselbe. Das konnte Tirian nicht länger ertragen.
»Kniff«, schrie er laut, »du lügst, du lügst abscheulich, du lügst wie ein Kalormene, du lügst wie ein Affe!«
Er wollte fortfahren und fragen, wie der schreckliche Gott Tasch, der sich vom Blut seines Volkes nährte, derselbe sein könnte wie der gute Löwe, der mit seinem Blut ganz Narnia schützte. Hätte man dem König erlaubt weiterzusprechen, so wäre die Herrschaft des Affen noch an diesem Tag zu Ende gewesen. Aber ehe Tirian noch mehr sagen konnte, schlugen ihn zwei Kalormenen mit voller Wucht auf den Mund, und ein dritter stieß ihm von hinten fast die Füße unter dem Leib weg. Und als der König fiel, befahl der Affe wütend:
»Nehmt ihn weg, nehmt ihn weg! Schafft ihn dahin, wo er weder uns noch wir ihn hören können. Bindet ihn dort an einen Baum. Ich werde – vielmehr Aslan wird – ihm später ein gerechtes Urteil sprechen.«