2. Der voreilige König

Es war etwa drei Wochen später. Der letzte König von Narnia saß vor seinem Jagdhaus unter einer großen Eiche. Hier hielt er sich für zehn Tage oder auch etwas länger bei herrlichem Frühlingswetter auf. Das Haus war ein niedriger, strohgedeckter Bau, nicht weit vom östlichen Ende des Laternendickichts und oberhalb der Stelle, wo zwei Flüsse zusammentrafen. Der König liebte es, dort einfach und zwanglos zu leben, ohne den Glanz und den Prunk von Otterfluh, der Hauptstadt seines Landes. König Tirian war etwa zwanzig bis fünfundzwanzig Jahre alt, er hatte breite und starke Schultern und kräftige Muskeln, nur sein Bart wuchs spärlich. Er hatte blaue Augen und ein furchtloses, ehrliches Gesicht.

An diesem Frühlingsmorgen war nur sein bester Freund bei ihm: Kleinod, das Einhorn. Sie waren wie Brüder zueinander, und im Kriege hatten sie einander das Leben gerettet. Das edle Tier stand am Stuhl des Königs, den Nacken gebeugt, und rieb sein blaues Horn an seiner weißen Flanke.

»Ich kann heute keine Arbeit verrichten oder Spiel und Spaß treiben, Kleinod«, erklärte der König. »Ich muß immerzu an diese wunderbare Nachricht denken. Ob wir heute noch mehr davon erfahren?«

»Wirklich die schönste Nachricht, die wir jemals hörten, Majestät«, erwiderte Kleinod. »Wenn sie nur wahr ist.«

»Warum sollte sie nicht wahr sein?« fragte der König.

»Vor einer Woche flogen die ersten Vögel über uns und riefen: Aslan ist hier, Aslan ist wieder nach Narnia gekommen. Und dann die Eichhörnchen! Sie hatten Aslan zwar nicht gesehen, aber sie meinten, er sei ganz bestimmt in den Wäldern. Dann meldete sich der Hirsch, er hätte ihn mit eigenen Augen gesehen, von fern bei Mondschein im Laternendickicht. Dann kam jener dunkle Mann mit dem Bart, ein Kaufmann aus Kalormen. Seine Landsleute kümmern sich zwar nicht um Aslan wie wir; doch der Mann sprach ganz überzeugt von ihm. Dann der Dachs gestern, auch er hatte Aslan gesehen.«

»Majestät«, antwortete Kleinod, »ich glaube das alles. Man sieht es mir nur nicht so an, weil ich mich zu sehr freue. Es ist fast zu schön, um daran zu glauben!«

»Ja«, sagte der König mit einem tiefen Seufzer, einem Hauch von Glück, »das übertrifft alles, was ich bisher in meinem Leben erhofft habe.«

»Hör nur!« rief Kleinod plötzlich, wandte seinen Kopf zur Seite und richtete die Ohren steil auf.

»Was ist denn?« fragte der König.

»Klappernde Hufe, Majestät«, erwiderte Kleinod, »ein Pferd im Galopp. Ein schweres Pferd. Sicher ein Zentaur. Schau, da ist er schon!«

Ein großer Zentaur mit goldgelbem Bart, halb Mensch, halb Pferd, galoppierte auf den König zu, hielt an und verneigte sich. »Zum Gruße, König!« rief er mit tiefer Stimme wie ein Stier. Menschenschweiß stand ihm auf der Stirn, Pferdeschweiß auf den roten Flanken.

»Hallo, sieh da!« sagte der König. Er blickte über seine Schulter hinweg zur Tür des Jagdhauses und rief: »Einen Becher Wein für den edlen Zentauren. Willkommen, Runwitt! Wenn du wieder bei Atem bist, sagst du uns deinen Auftrag.«

Ein Edelknabe kam aus dem Haus. Er trug einen großen, reich verzierten Holzbecher und gab ihn dem Zentauren.

Der Zentaur hob den Becher und sprach:

»Zuerst trinke ich auf Aslan und die Wahrheit, mein Gebieter, und dann auf Eure Majestät.«

Er trank den Wein (der für sechs starke Männer gereicht hätte) in einem Zug aus und gab den leeren Becher dem Edelknaben zurück.

»Nun, Runwitt«, erkundigte sich der König, »bringst du uns gute Nachrichten über Aslan?«

Runwitt blickte finster und runzelte die Stirn.

»Majestät«, sprach er, »Ihr wißt, wie lange ich schon lebe und die Sterne studiere; denn wir Zentauren leben länger als ihr Menschen und sogar länger als dein Geschlecht, Einhorn. Niemals in meinem ganzen Leben sah ich so schreckliche Zeichen in den nächtlichen Himmel geschrieben wie zu Beginn dieses Jahres. Die Sterne künden nichts von dem Erscheinen Aslans, nichts von Frieden und nichts von Freude. Durch meine Kunst weiß ich, daß es fünfhundert Jahre lang keine so unheilvolle Verbindung der Planeten gegeben hat. Ich muß Euer Majestät warnen, ein großes Unglück schwebt über Narnia. Gestern abend kam auch zu mir das Gerücht, daß Aslan draußen in Narnia ist. Majestät, glaubt dieses Märchen nicht. Es kann nicht wahr sein. Die Sterne lügen nie, aber Menschen und Tiere lügen. Wenn Aslan wirklich nach Narnia käme, hätte es der Himmel vorausgesagt. Wäre er wirklich gekommen, hätten sich die freundlichsten Sterne zu seiner Begrüßung versammelt. Seid gewiß, dies alles ist eine gemeine Lüge!«

»Eine Lüge!« rief der König erbost. »Wer in Narnia oder irgendwo in der ganzen Welt wagte es, in einer so ernsten Sache zu lügen?« Und er griff unbewußt nach seinem Schwert.

»Das weiß ich nicht, Herr und König«, antwortete der Zentaur. »Aber eins weiß ich: Auf der Erde gibt es Lügner, aber niemals unter den Sternen.«

»Ich frage mich«, gab Kleinod zu bedenken, »ob Aslan auch dann kommt, wenn die Sterne es anders voraussagen. Er ist kein Sklave der Sterne, sondern ihr Herr. Heißt es nicht in den alten Geschichten, daß er kein zahmer Löwe ist?«

»Gut gesprochen, gut gesprochen, Kleinod«, rief der König. »Das sind die richtigen Worte: kein zahmer Löwe! So kommt es in vielen Erzählungen vor.«

Runwitt lehnte sich gerade vor, um dem König etwas sehr Ernstes zu sagen, als plötzlich alle drei ihre Köpfe wandten. Sie hörten einen wehklagenden Laut. Westlich von ihnen war der Wald so dicht, daß sie den Ankömmling noch nicht sahen, aber seine Worte vernahmen.

»Weh, weh, weh!« rief die Stimme. »Weh über meine Brüder und Schwestern! Weh über die heiligen Bäume! Die Wälder sind verwüstet. Die Axt wird auf uns losgelassen. Wir werden niedergestreckt. Große Bäume fallen, fallen, fallen.«

Mit diesen Worten erschien eine Gestalt, die aussah wie eine Frau, die aber so groß war, daß ihr Kopf in gleicher Höhe mit dem des Zentauren lag; außerdem erinnerte sie auch an einen Baum. Es war eine Waldnymphe. König Tirian, Runwitt und Kleinod wußten sogleich, daß es die Nymphe einer Buche war.

»Gerechtigkeit, Herr König!« rief sie. »Komm uns zu Hilfe. Schütze dein Volk. Sie fällen uns im Laternendickicht. Vierzig große Stämme meiner Brüder und Schwestern liegen schon auf dem Boden.«

»Wie, edle Frau? Sie fällen das Laternendickicht, morden die sprechenden Bäume?« schrie der König, sprang auf und zog sein Schwert. »Wie können sie es wagen? Und wer wagt es? Bei der Mähne von Aslan!«

»A-a-a-ah!« japste die Nymphe, fröstelnd vor Schmerz, wie unter geheimen Schlägen erschauernd. Dann fiel sie plötzlich zur Seite, so unvermutet, als wären ihre Füße unter ihr weggeschnitten worden. Die drei sahen sie sekundenlang wie tot im Grase liegen, doch dann verschwand sie. Sie wußten, was geschehen war: Meilenweit von ihnen entfernt war der Baum der Nymphe gefällt worden.

Für einen Augenblick war des Königs Kummer und Zorn so groß, daß er verstummte. Dann sagte er: »Kommt, Freunde! Wir müssen schnell den Fluß hinauf und die Schurken finden, die das getan haben. Ich werde keinen von ihnen am Leben lassen.«

»So soll es geschehen, Majestät!« rief Kleinod.

Aber Runwitt warnte: »Majestät, seid vorsichtig, auch in Eurem gerechten Zorn. Seltsame Wesen sind am Werk. Gegen Rebellen in Waffen sind wir drei machtlos. Wartet lieber noch eine Weile.«

»Auch nicht den zehnten Teil einer Sekunde warte ich«, rief der König. »Während Kleinod und ich vorgehen, galoppiere so schnell du kannst nach Otterfluh, Runwitt. Hier ist mein Ring als dein Zeichen. Hol mir eine Anzahl gut bewaffneter Leute, eine Menge sprechender Hunde und zehn Zwerge, allesamt grimmige Bogenschützen, einen Leoparden und Steinfuß, den Riesen. Schick sie alle hinter uns her, so schnell es geht.«

»Wie Ihr befehlt, Majestät«, sagte Runwitt, wandte sich sogleich um und sprengte ins Tal nach Osten.

Der König ging schnellen Schrittes davon, murmelte manchmal vor sich hin und ballte die Faust. Kleinod neben ihm sagte nichts.

Weithin gab es keinen Laut außer dem leisen Klingeln der goldenen Kette um Kleinods Hals und dem Geräusch von zwei Menschenfüßen und den vier Hufen des Einhorns.

Sie erreichten den Fluß auf einem grasbewachsenen Pfad, das Wasser zur Linken und den Wald zur Rechten. Bald danach kamen sie zu einer Stelle, wo der Boden uneben wurde und sich dichter Wald bis zu dem Ufer des Wassers ausdehnte. Der Pfad, oder was noch von ihm übriggeblieben war, lief nun jenseits des Flusses weiter, und sie mußten den Fluß durchwaten, um dorthin zu kommen.

Das Wasser ging Tirian bis zur Brust, Kleinod (mit vier Beinen standfester) hielt sich rechts von ihm, um so die Wucht der Strömung zu brechen. Tirian legte seinen starken Arm um Einhorns kräftigen Hals, und so kamen die beiden sicher hinüber. Der König, noch voller Zorn, spürte kaum die Kälte des Wassers. Sobald sie ans Ufer kamen, putzte er sorgsam sein Schwert auf der Schulter seines Mantels, dem einzigen trockengebliebenen Teil. Dann gingen sie auf dem Pfad weiter, mit dem Fluß zur Rechten und dem Laternendickicht in der Ferne vor sich. Sie waren noch nicht weit gegangen, als beide stehenblieben und gleichzeitig sprachen.

Der König rief: »Was ist das?« und Kleinod: »Schau!«

»Ein Floß!« stellte König Tirian fest.

Das stimmte. Ein halbes Dutzend frisch gefällter und geschälter Baumstämme, zu einem Floß zusammengebunden, glitt geschwind den Fluß hinab. Vorn stand eine Wasserratte mit einer Stange zum Steuern.

»He, Wasserratte! Was ist los?« schrie der König.

»Ich schaffe Holz hinunter, um es den Kalormenen zu verkaufen, Majestät«, sprach die Ratte und legte die Pfote zum Gruß an die Stirn, als hätte sie eine Mütze auf.

»Den Kalormenen?« donnerte Tirian. »Was redest du da? Wer gab den Befehl, diese Bäume zu fällen?«

Die Strömung des Wassers war zu dieser Jahreszeit so groß, daß das Floß schon an dem König und Kleinod vorbeigeglitten war. Aber die Wasserratte rief zurück:

»Des Löwen Befehl, Majestät, von Aslan selbst.« Sie fügte noch etwas hinzu, aber sie konnten es nicht mehr verstehen.

Der König und das Einhorn starrten einander an.

»Aslan«, sagte der König schließlich sehr leise, »Aslan. Könnte das sein? Ließ Aslan die heiligen Bäume fällen und die Nymphen morden?«

»Ich kann es nicht glauben. Es sei denn, die Nymphen hätten alle etwas schrecklich Unrechtes getan«, murmelte Kleinod.

»Aber sie an die Kalormenen zu verkaufen!« wunderte sich der König. »Ist das möglich?«

»Ich weiß nicht«, sagte Kleinod kläglich. »Er ist kein zahmer Löwe.«

»Nun gut«, meinte schließlich der König, »wir müssen das herausfinden, komme, was da wolle.«

»Uns bleibt ja gar nichts anderes übrig, Majestät.«

Das Einhorn erkannte in diesem Augenblick nicht, wie gefährlich es war, nur zu zweit weiterzugehen, auch der König nicht. Sie waren zu wütend, um klar denken zu können.

Plötzlich lehnte sich der König schwer auf seines Freundes Nacken und beugte sein Haupt. »Kleinod«, klagte er, »was erwartet uns noch alles? Ich ahne Schreckliches. Glücklich könnten wir sein, wären wir vor dem heutigen Tag gestorben.«

»Ja«, stimmte Kleinod ihm zu. »Wir haben zu lange gelebt. Schlimmes wird über uns kommen.« Sie standen minutenlang still und gingen dann weiter.

»Obwohl sie noch nichts sehen konnten, weil ein Erdhügel sie daran hinderte, hörten sie schon lange vorher das Hack-hack- hack von Äxten, die Holz schlugen. Als sie die Höhe erreicht hatten, blickten sie unmittelbar in das frühere Laternendickicht. Des Königs Antlitz wurde weiß, als er die Wildnis sah.

Mitten durch den alten Wald – den Wald, wo goldene und silberne Bäume standen und wo ein Kind unserer Welt den Baum des Friedens gepflanzt hatte – war schon eine breite Schneise geschlagen worden, eine entsetzliche Schneise, eine klaffende Schnittwunde im Land, voll von schlammigen Spuren der gefällten und zum Fluß hinabgezogenen Bäume. Eine Menge Leute war am Werk: Peitschen knallten, und Pferde zogen und zerrten die Holzstämme.

Zuerst erkannten der König und das Einhorn verwundert, daß die Hälfte der Arbeiter keine sprechenden Tiere, sondern Menschen waren. Dann bemerkten sie, daß es nicht die hellhaarigen Bewohner von Narnia, sondern die dunklen und bärtigen Kalormenen waren. Diese grausamen Übeltäter kamen aus einem großen Land, das jenseits Archenland und hinter der Wüste im Süden liegt. Kein Grund, warum man nicht einen oder zwei Kalormenen in Narnia treffen sollte – einen Kaufmann oder einen Gesandten –, denn in diesen Tagen herrschte Frieden zwischen Narnia und Kalormen. Aber Tirian konnte nicht verstehen, warum dort so viele Kalormenen einen narnianischen Wald vernichteten. Fester packte er sein Schwert und rollte den Mantel um seinen linken Arm. Sie rannten hinunter, mitten in die Menge.

Zwei Kalormenen trieben ein Pferd, das vor einen Baum gespannt war. Als der König sie erreichte, war der Stamm gerade im Schlamm steckengeblieben.

«Vorwärts, du Sohn der Faulheit! Zieh, träges Schwein!« schrien die Kalormenen und knallten mit den Peitschen. Das Pferd zog so angestrengt, wie es nur konnte, mit blutunterlaufenen Augen und Schaum vor dem Maul.

»Los, du faules Vieh!« rief einer der Kalormenen und schlug auf das Pferd ein. Da geschah das Schreckliche. Bis jetzt glaubte Tirian, die Pferde, die die Kalormenen antrieben, seien ihre eigenen Pferde, stumme Tiere ohne Verstand, wie die Pferde unserer Welt. Obwohl Tirian nicht ertragen konnte, wenn auch nur ein stummes Pferd mißhandelt wurde, dachte er mehr an den Mörder der Bäume. Es wäre ihm nie eingefallen, daß es jemand wagen könnte, eines der freien sprechenden Pferde von Narnia zu mißbrauchen und dazu eine Peitsche zu benutzen. Unter dem grausamen Schlag bäumte sich das Pferd auf und schrie wehklagend:

»Du Narr und Tyrann! Siehst du denn nicht, daß ich schon alles tue, was in meinen Kräften steht?«

Als Tirian erkannte, daß das Pferd eines seiner eigenen narnianischen war, überkam ihn und Kleinod solche Wut, daß sie nicht wußten, was sie taten. Der König erhob sein Schwert, und Kleinod senkte sein Horn. Dann stürmten sie zusammen vor. Im nächsten Augenblick lagen beide Kalormenen tot da: der eine durch Tirians Schwert enthauptet, der andere durch Kleinods Horn mitten durchs Herz gebohrt.

Загрузка...