14. Nacht über Narnia

Sie standen alle rechts neben Aslan und blickten durch die offene Tür. Das Feuer draußen war erloschen. In Narnia herrschte völlige Finsternis. Daß sie in einen Wald hineinschauten, war daran zu erkennen, daß die Sterne die dunklen Umrisse der Bäume beleuchteten.

Als Aslan zum dritten Male ›Zeit‹ gebrüllt hatte, war draußen, jenseits der Tür, eine schwarze Gestalt erschienen. Das heißt, sie alle sahen nur einen dunklen Fleck, weil dort keine Sterne leuchteten. Der Fleck stieg höher und höher und nahm die Form eines Mannes an, des ungeheuersten aller Riesen. Sie kannten Narnia so gut, daß sie leicht den Platz errieten, wo er stehen mußte: auf den Hochmooren, eine Strecke weiter nach Norden, über dem Fluß Drub. Da erinnerten sich Jutta und Eugen, daß sie einmal, vor langen Zeiten, in den tiefen Höhlen unterhalb dieser Moore einen mächtigen Riesen schlafend gesehen hatten. Sie erfuhren damals, daß sein Name ›Vater Zeit‹ war. Man erzählte sich von ihm, daß er erst an dem Tag erwachen würde, wenn Narnia zu Ende ginge.

»Ja«, sagte Aslan, obwohl keiner auch nur ein Wort gesprochen hatte. »Als er noch in tiefen Träumen lag, hieß er Zeit. Nun ist er erwacht und bekommt einen neuen Namen.«

Dann hob der Riese ein Horn an den Mund. Sie konnten das an der veränderten schwarzen Gestalt sehen, die sich vor den hellen Sternen bewegte. Etwas später – weil der Klang so langsam wandert – hörten sie den Ton des Hornes, hoch und schrecklich und von einer seltsam tödlichen Schönheit.

Sogleich füllte sich der Himmel mit Sternschnuppen. Wie schön sieht schon eine einzige Sternschnuppe aus, hier aber waren es zuerst Dutzende und dann mehr und mehr, bis sie wie ein silberner Regen stürzten, und noch immer fielen weitere Sterne.

Nach einer Weile glaubten sie wiederum eine dunkle Gestalt am Himmel zu sehen. Sie stand an einer anderen Stelle, gerade über ihnen, oben auf dem höchsten Dach des Himmelszeltes, wie man so sagt.

Vielleicht nur eine Wolke, dachte Edmund. Auf jeden Fall waren dort keine Sterne zu sehen, nur Finsternis. Um diesen dunklen Fleck herum ging der Sternschnuppenfall weiter. Dann fing der sternlose Fleck an zu wachsen, vom Mittelpunkt des Himmels breitete er sich langsam weiter aus. Bald war ein Viertel des gesamten Himmels schwarz, dann die Hälfte, und zuletzt fiel der Sternschnuppenregen nur noch in der Nähe des Himmelsrandes.

Mit Erstaunen und auch etwas Schrecken wurde ihnen plötzlich klar, was da vor sich ging. Die sich ausbreitende Finsternis war durchaus keine Wolke, es war einfach Leere. Das schwarze Stück des Himmels war der Teil, an dem keine Sterne mehr standen. Alle Sterne fielen, Aslan hatte sie heimgerufen.

Die letzten wenigen Sekunden, bevor der Sternenschauer ganz aufhörte, waren aufregend genug. Überall um sie herum fielen Sterne. Aber die Sterne Narnias sind keine großen flammenden Kugeln wie in unserer Welt. Vielmehr sind es Menschen (Edmund und Luzie waren einmal einem solchen Wunderwesen begegnet). So sahen sie nun eine Menge glitzernder Menschen, alle mit langen Haaren wie brennendes Silber und mit Speeren wie weißglühendes Metall. Sie stürzten zu ihnen nieder aus dem schwarzen Himmel, schneller als fallende Steine. Als sie landeten, gab es ein zischendes Geräusch, und das Gras verbrannte. Alle diese Sterne glitten durch das Tor und an Aslan vorüber. Ein wenig rechts hinter ihm stellten sie sich dann auf.

Das war gewiß ein großer Vorteil. Denn da jetzt keine Sterne mehr am Himmel leuchteten, wäre ohne sie alles dunkel gewesen, und man hätte überhaupt nichts mehr gesehen. So aber warf die Menge der Sterne hinter Aslan ein grelles weißes Licht durch das Tor. Man konnte die Wälder und Flüsse von Narnia meilenweit ausgebreitet sehen, wie von Scheinwerfern beleuchtet. Die Büsche und fast jeder Grashalm hatten ihren schwarzen Schatten hinter sich. Die Kante eines jeden Blattes war so scharf gezeichnet, als könnte man sich daran in die Finger schneiden.

Auf dem Gras vor den Zuschauern lagen ihre eigenen Schatten; der größte gehörte Aslan. Sein Schatten breitete sich zu ihrer Linken aus, ungeheuer groß und schrecklich. Das alles geschah unter einem Himmel, der jetzt sternenlos war für immer.

Das Licht hinter Aslan (und auch ein wenig rechts von ihm) war so stark, daß es sogar die Hänge der nördlichen Moore beleuchtete. Dort bewegte sich nun etwas. Riesige Tiere krochen und glitten nieder nach Narnia: große Drachen, Rieseneidechsen, Vögel ohne Federn und mit Schwingen wie Fledermausflügel. Sie verschwanden in den Wäldern. Minutenlang war Schweigen. Bald aber kamen – zuerst von weit her – wehklagende Töne und dann, aus allen Richtungen, ein Rauschen und Klatschen wie von Flügeln. Immer näher kam der Lärm. Nun konnte man schon das Hetzen kleiner Füße von dem Dahintrotten großer Pfoten unterscheiden und das Klick-klack leichter kleiner Hufe vom Donner der größeren. Dann konnte man sehen, wie Tausende von Augenpaaren glänzten, und schließlich rasten – außerhalb des Baumschattens – Tausende und Millionen den Hügel hinauf. Alle Arten von Geschöpfen kamen: sprechende Tiere, Zwerge, Faune, Riesen, Kalormenen, Menschen aus dem Archenland, einfüßige und seltsam unirdische Wesen von weit entfernten Inseln oder aus den unbekannten westlichen Ländern. Sie alle rannten hinauf zur Tür, in der Aslan stand.

Dieses Erlebnis war für die Menschen eher ein Traum, an den sie sich später nur noch ungenau erinnerten. Keiner konnte mehr sagen, wie lange der Zug gedauert hatte. Manchmal schienen es nur wenige Minuten gewesen zu sein, dann aber auch wieder viele lange Jahre. War die Tür etwa höher und breiter geworden oder die Tiere plötzlich so klein wie Mücken? Wie hätte denn sonst eine solche Menge durch die Tür gehen können?

Alle Tiere eilten herbei. Ihre Augen wurden größer, je näher sie den leuchtenden Sternen kamen. Als sie dann vor Aslan standen, wurde jedem von ihnen zuteil, was ihm zukam. Sie alle sahen Aslan gerade ins Antlitz; doch sie hatten wohl auch keine andere Wahl, anderswohin zu schauen. Bei manchen Geschöpfen, die ihn anblickten, schwankte in den Gesichtern der Ausdruck von Furcht bis Haß. Bei sprechenden Tieren aber dauerte das Wechselspiel von Furcht und Haß nur den Bruchteil einer Sekunde. Man spürte es förmlich, wie sie im Nu aufhörten, sprechende Tiere zu sein. Sie wurden wieder gewöhnliche Tiere. Alle Geschöpfe, die Aslan in dieser Weise ansahen, schwenkten rechts ab (von Aslan aus gesehen nach links) und verschwanden in seinem riesigen schwarzen Schatten, der sich zur Linken der Türöffnung ausbreitete. Niemand hat sie je wieder gesehen, niemand weiß, was aus ihnen wurde.

Die anderen Geschöpfe aber blickten in Aslans Gesicht und liebten ihn, wenn auch einige zur gleichen Zeit immer noch Angst hatten. Sie kamen zur Tür herein und gingen zur Rechten Aslans. Unter ihnen gab es auch einige sonderbare Wesen. Eugen erkannte sogar einen Zwerg, der mitgeholfen hatte, die Pferde zu erschießen. Aber Eugen hatte keine Zeit, sich darüber zu wundern (es ging ihn ja auch nichts an), denn er hatte eine große Freude. Unter den glücklichen Geschöpfen, die nun kamen und sich um Tirian und seine Freunde scharten, waren auch alle, die sie tot geglaubt hatten: Runwitt der Zentaur, Kleinod das Einhorn, der gute Eber und der gute Bär, Weitsicht der Adler, die lieben Hunde, die Pferde und Pogge der Zwerg.

»Nur immer weiter und höher hinauf!« rief Runwitt und lief im Galopp nach Westen. Obwohl sie ihn nicht verstanden, gingen ihnen seine Worte zu Herzen. Der Eber grunzte ihnen fröhlich zu. Der Bär wollte gerade murmeln, er verstehe nichts, als er die Obstbäume hinter sich erblickte. So schnell er nur konnte, trottete er zu diesen Bäumen, und dort fand er wohl etwas, das er gut verstand. Die Hunde aber blieben schwanzwedelnd stehen. Auch Pogge hielt an; er schüttelte jedem die Hände und strahlte über sein treuherziges Gesicht. Kleinod lehnte sein schneeweißes Haupt über des Königs Schulter, und der König flüsterte in Kleinods Ohr. Dann aber drehten sie sich um und schauten dem zu, was jenseits der Tür zu sehen war.

Die Drachen und Rieseneidechsen hatten nun Narnia ganz für sich. Sie gingen hin und her, rissen die Bäume mit den Wurzeln heraus und zermalmten sie, als ob es Rhabarberstengel wären. Von einer Minute zur andern verschwanden ganze Wälder. Das weite Land wurde kahl, und man konnte alle möglichen Dinge in ihrer ursprünglichen Gestalt sehen – alle kleinen Buckel und Mulden, die man vorher gar nicht bemerkt hatte. Das Gras verging. Bald merkte Tirian, daß er nur noch auf eine Welt von nackten Felsen und Erde sah. Man konnte es kaum glauben, daß in Narnia je irgend etwas gelebt hatte. Die Ungeheuer selbst wurden alt, legten sich dann nieder und starben. Ihr Fleisch schrumpfte ein, und die Knochen traten hervor. Bald waren sie nur noch riesengroße Gerippe, die da und dort auf den toten Felsen lagen und aussahen, als seien sie schon tausend Jahre früher gestorben. Lange Zeit war alles still.

Zuletzt bewegte sich dort draußen irgend etwas Weißes, eine lange blinkende Linie, die im Licht, das die Sterne hinter dem Tor ausstrahlten, glänzte. Sie lief vom östlichen Ende Narnias auf das Tor zu. Ein Geräusch brach das Schweigen, erst ein Murmeln, hierauf ein Dröhnen und dann ein Brüllen. Nun konnten sie alle sehen, was da kam. Es war ein schäumender Wasserschwall, es war das Meer, das da kam.

In der jetzt baumlosen Landschaft konnte man auch gut beobachten, wie alle Flüsse breiter wurden und die Seen größer, wie getrennte Seen zusammenflössen, Täler zu neuen Seen wurden, Hügel zu Inseln und wie diese Inseln wieder verschwanden. Die Hochmoore zu ihrer Linken und die höheren Berge zu ihrer Rechten zerbröckelten und gingen brüllend unter im steigenden Wasser. Das Wasser stieg quirlend herauf, bis zur Schwelle der Tür (strömte aber nicht hindurch), so daß der Schaum über Aslans Vorderpfoten spritzte. Überall war jetzt nur noch Wasser, vom Tor aus, wo sie standen, bis zum Horizont, wo das Wasser den Himmel traf.

Dort draußen vor dem Tor wurde es jetzt allmählich lichter. Ein Streifen öder, unheilvoller Dämmerung breitete sich vom Himmelsrand aus und wurde weiter und heller. Nun brach die Sonne durch. Da sahen Lord Digor und die Dame Marie einander an und nickten ein wenig. Sie hatten beide einmal in einer andern Welt eine sterbende Sonne gesehen. Sie wußten sogleich, daß auch diese Sonne hier sterben mußte. Sie war dreimal, nein zwanzigmal größer als sonst und dunkelrot. Als ihre Strahlen auf den großen Riesen Zeit fielen, wurde auch er rot, und in dem Widerschein der Sonne sah die ganze Weite des uferlosen Wassers wie Blut aus.

Dann kam der Mond hervor, aber an einer falschen, ungewohnten Stelle, sehr nah bei der Sonne, und auch er sah ganz rot aus. An seiner Seite begann die Sonne große Flammen wie Barte oder Schlangen aus grell-rotem Feuer auf ihn abzuschießen. Wie ein riesiger Tintenfisch versuchte die Sonne, den Mond in ihre Fühlarme zu ziehen. Vielleicht zog sie ihn auch, denn jedenfalls kam er zu ihr, erst langsam, dann immer schneller, bis zuletzt ihre langen Flammen ihn umleckten und die beiden zusammenflössen zu einem riesigen Feuerball. Große Feuerklumpen daraus fielen ins Meer, und Wolken von Dampf stiegen auf.

Dann sagte Aslan: »Nun macht ein Ende.«

Der Riese warf sein Horn ins Meer. Dann streckte er einen Arm, schwarzbehaart und tausend Meter lang, zum Himmel empor, bis seine Hand die Sonne erreichte. Er nahm die Sonne und drückte sie aus wie eine Zitrone oder Orange. Sofort herrschte völlige Finsternis.

Alle, Aslan ausgenommen, wichen vor der eiskalten Luft zurück, die jetzt durch die Tür blies. Der Türrahmen war im Nu mit Eiszapfen bedeckt.

»Peter, Prächtiger König von Narnia«, sagte Aslan, »schließ die Tür!«

Peter, der vor Kälte zitterte, lehnte sich in die Dunkelheit hinaus und zog die Tür zu, die vor Eis knirschte. Dann nahm er schwerfällig (denn schon in diesem kurzen Augenblick waren seine Hände steif und blau gefroren) einen goldenen Schlüssel heraus und verschloß die Tür.

Sie hatten durch die Tür seltsame Dinge gesehen. Doch war es nicht noch seltsamer, als sie sich nun umschauten und sich im warmen Tageslicht wiederfanden, den blauen Himmel über sich, Blumen zu Füßen und Lachen ins Aslans Augen?

Aslan wandte sich rasch um, duckte sich, schlug mit dem Schwanz einen Kreis und schoß davon wie ein goldener Pfeil.

»Kommt weiter, weiter hinein und weiter hinauf!« rief er über seine Schulter zurück. Aber wer konnte Schritt mit ihm halten? Langsam folgten sie ihm nach Westen.

»Nacht fällt auf Narnia«, sagte Peter. »Luzie, du weinst doch nicht etwa? Mit Aslan vor uns und mit uns allen hinterdrein?«

»Willst du mich daran hindern, Peter?« fragte Luzie. »Ist es unrecht, um Narnia zu trauern? Denk doch nur an all diese toten und erfrorenen Dinge hinter der Tür.«

»Ja, und ich hatte gehofft«, sagte Jutta, »daß es mit Narnia für immer so weiterginge. Ich glaubte, Narnia bliebe ewig bestehen.«

»Ich habe seinen Anfang gesehen«, sagte Lord Digor. »Mußte ich weiterleben, um Narnia sterben zu sehen?«

»Ihr Herren«, sagte Tirian, »die Damen haben recht zu weinen. Ich tue es auch. Ich habe meine Mutter sterben sehen. Welche Welt außer Narnia habe ich denn gekannt? Es wäre herzlos, wenn wir nicht klagten.«

Sie entfernten sich immer weiter von der Tür und von den Zwergen, die noch zusammengepfercht in ihrem eingebildeten Stall saßen. Während sie so gingen, sprachen sie von Krieg und Frieden, von uralten Königen und allen Ruhmestaten in Narnia.

Die Hunde waren noch bei ihnen. Sie stimmten nur wenig in die Unterhaltung mit ein, weil sie vor- und zurückliefen, um im Gras herumzuschnüffeln, bis sie niesen mußten. Plötzlich griffen sie eine Spur auf, die sie sehr beschäftigte.

»Ja, es ist … nein, es ist nicht … das habe ich ja gerade gesagt … jeder kann riechen, was das ist … nimm doch deine große Nase aus dem Weg und laß auch andere daran riechen!« So ging es in einem fort.

»Was ist denn, ihr Vettern?« fragte Peter.

»Ein Kalormene, Majestät«, meldeten mehrere Hunde zugleich.

»Dann führt uns zu ihm«, befahl Peter. »Ob in Frieden oder im Krieg, er soll uns willkommen sein.«

Die Hunde stürzten vorwärts und kamen einen Augenblick später zurück, sie rannten, als hinge ihr Leben davon ab, und sie bellten laut, um zu melden, daß es wirklich ein Kalormene war. (Sprechende Hunde benehmen sich nämlich genauso wie die gewöhnlichen Hunde. Sie meinen, daß alles, was auch immer sie tun, gerade in diesem Augenblick ungeheuer wichtig ist.)

Die andern folgten, wohin die Hunde sie führten, und fanden einen jungen Kalormenen unter einem Kastanienbaum sitzen, neben einem klaren Bach. Es war Emeth. Er stand sofort auf und verbeugte sich.

»Mein Herr«, wandte er sich an Peter, »ich weiß nicht, ob Ihr mein Freund oder Feind seid. Aber ich rechne es mir zur Ehre an, wenn Ihr mir das eine oder das andere sein könntet. Hat nicht einmal ein Dichter gesagt, daß ein edler Freund die beste Gabe und ein edler Feind die nächstbeste sei?«

»Mein Herr«, erwiderte Peter, »warum sollte denn Feindschaft zwischen uns sein?«

»Sag uns, wer du bist, und ob wir dir helfen können«, bat Jutta.

»Wenn das eine lange Geschichte wird, wollen wir alle trinken und uns dann hinsetzen«, bellten die Hunde. »Wir sind ganz außer Atem.«

»Kein Wunder, wenn ihr so herumrennt«, sagte Eugen.

So setzten sich die Menschen ins Gras, und als alle Hunde laut aus dem Bach geschlabbert hatten, setzten auch sie sich nieder, kerzengerade und nach Luft schnappend. Die Zungen hingen ihnen seitlich aus dem Maul, und sie hörten sich die Geschichte mit an. Kleinod aber blieb stehen und rieb sein Horn an der Flanke.

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