14

»Es werden kleine Lager sein«, sagte ich. »Klein, in der Gegend verstreut, gut vor fremden Blicken verborgen, selbst aus der Luft. Sie werden hauptsächlich zum Schlafen dienen. Während des Tages sollen sie wie ausgestorben wirken. Die Augen eines Tarnsmann können selbst die winzigste Bewegung entdecken.«

Die Männer blickten einander an. Ihr Anführer Labienus, der den Rang eines Hauptmannes bekleidete und der der befehlshabende Offizier der Vorhut der Hauptstreitmacht gewesen war, die ins Delta eingedrungen war, saß auf einem Felsen. Ina kniete mit gesenktem Kopf im Hintergrund; die zusammengefesselten Hände waren mit einem Riemen mit den überkreuzten, gebundenen Knöcheln verbunden. Sie trug Sklavenstreifen, ein breites Tau, das um die Taille geschlungen war und zwei Stoffstreifen hielt. Das erleichterte es den Arern, sich in ihrer Gegenwart zu beherrschen. Es wäre nicht gut gewesen, wenn ein paar Augenblicke nach ihrem Betreten des Lagers einige der Männer schon um sie gekämpft hätten. Aber da hatte ich mich gewaltig geirrt. Die Soldaten, die wortkarg, hungrig, besiegt, erschöpft, enttäuscht, zermürbt und krank waren, schienen sie kaum wahrzunehmen. Das überraschte mich.

»Wir werden nachts reisen und uns davon ernähren, was der Sumpf uns zu bieten hat«, fuhr ich fort.

»Er hat nichts zu bieten«, sagte ein Soldat mutlos.

»Das ist deine Entscheidung«, erwiderte ich.

»Und wie sollen wir etwas sehen können?« fragte ein anderer. Er hatte blonde Haare; die Wunde an der Schläfe war verschorft.

»Es gibt das Sternenlicht und die Monde. Die Schwierigkeiten, die ihr haben werdet, wird jeder eurer Jäger auch haben, von denen die meisten sowieso schlafen werden, da sie nicht einmal wissen, daß ihr in der Nähe seid. Außerdem ist es bei einem möglichen Angriff leichter, in der Dunkelheit unterzutauchen.«

Plenius meldete sich zu Wort. »Und da ist der Treibsand.«

»So viele Stellen mit Treibsand gibt es nun auch wieder nicht; wenn ihr wollt, können wir uns anseilen und dicht genug hintereinandergehen, daß man die leisen Rufe des anderen hört.«

Ich schnitt in das kleine Tharlarion, das ich getötet und dessen lederartige Haut bereits abgezogen hatte. Ich hatte es über die Schulter gelegt mitgebracht, als ich mich am Lagerrand zu erkennen gegeben und nach Plenius verlangt hatte, um sicheres Geleit zu erhalten. Ich war davon ausgegangen, daß die Soldaten etwas Eßbares zu schätzen wußten, selbst wenn es sich um solches Essen handelte.

Ich nahm ein Stück rohes Fleisch und hielt es dem Mann hin, der seinen Unglauben darüber zum Ausdruck gebracht hatte, daß das Delta einen ernähren konnte.

Er schüttelte den Kopf.

»Du bist hungrig«, sagte ich.

»Das kann ich nicht essen.«

Ich steckte mir das Stück selbst in den Mund und schnitt einen weiteren Bissen ab.

»Das ist nicht mal gekocht«, sagte der blonde Soldat.

»Ihr werdet kein Feuer anzünden«, sage ich. »Eine Rauchwolke markiert ein Lager. Nachts kann die Flamme einer Tharlarionöl-Lampe noch Hunderte von Metern weit gesehen werden, das gilt sogar schon für einen Feuermacher. Ich versichere euch, daß einem Tarnspäher in der Luft so etwas keineswegs entgehen wird. Wer will diese Köstlichkeit haben?« Ich hielt das Tharlarionfleisch in die Runde.

»Ich nicht.«

»Allein schon der Anblick verursacht mir Übelkeit.«

Wären sie hungriger gewesen, wären sie vermutlich weniger wählerisch gewesen. Aber dann dachte ich daran, daß Männer schon auf tragische Weise verhungert waren, obwohl es um sie herum in Hülle und Fülle zu essen gegeben hatte, vielleicht aus Unwissen, vielleicht auch weil sie Angst gehabt und auf unerklärliche Weise gezögert hatten, die nötigen Schritte zum Überleben zu ergreifen.

»Kannst uns aus dem Delta bringen?« fragte Labienus. Er starrte auf den Sumpf hinaus.

»Ich glaube schon«, erwiderte ich.

»Wir sind fünfzehn Mann.«

»Aber ich glaube auch, daß es nicht einfach wird.«

»Und doch machst du uns Hoffnung.«

»Ja.«

»Es gibt keine Hoffnung mehr«, sagte der Soldat, der so völlig mutlos klang.

»Iß«, erwiderte ich und hielt ihm das rohe Tharlarionfleisch hin.

Er zuckte zurück.

»Wir sind dem Untergang geweiht«, sagte ein anderer Soldat.

»Genau«, stimmte ihm der Mutlose zu.

»Solche Ansichten zeugen nicht von dem Geist, der Ar zur Pracht und zum Schrecken ganz Gors gemacht hat«, meinte ich.

»Ar gibt es nicht länger.«

»Es ist im Delta zugrunde gegangen.«

»Ich bin wirklich überrascht, so etwas von Männern zu hören, die einst Ars Heimstein gehalten und geküßt haben müssen.« Das war eine Bürgerzeremonie, bei der man den Heimstein tatsächlich berührt, nachdem man der Stadt den Treueschwur geleistet hat. Im Leben der meisten Bürger ist es das einzige Mal, daß sie den Heimstein berühren dürfen. Wie in den meisten goreanischen Städten wird auch in Ar die Bürgerschaft mit einer solchen Zeremonie bestätigt. Die Weigerung, an dieser Zeremonie teilzuhaben, kann zur Vertreibung aus der Stadt führen. Dahinter steckt der Gedanke, daß die Gemeinschaft das Recht hat, von ihren Mitgliedern Treue zu erwarten.

Plenius hob den Kopf. »Ar ist nicht tot«, sagte er. »Es ist nicht im Delta zugrunde gegangen.«

»Nein«, erwiderte der Mutlose. »Nicht Ar ist tot. Wir sind es, die tot sind.«

Ich schüttelte den Kopf. »Ihr seid nicht tot.«

»Ohne seine militärische Macht ist Ar nicht mehr dasselbe«, meldete sich der blonde Soldat wieder zu Wort.

»Ohne seine militärische Macht kann Ar nur wenig mehr als ein kulturelles Signalfeuer sein, eine Erinnerung an eine goldene Zeit, etwas, auf daß man zurückblicken kann, ein Ansporn für andere, eine Lektion.«

»Vielleicht kann es aus der Niederlage heraus seine Eroberer kulturell erobern«, meinte der Mutlose düster.

»So etwas ist in der Vergangenheit oft genug geschehen«, sagte der Blonde. »Auf diese Weise werden wir vielleicht doch noch den Sieg davontragen.«

Das war nicht unbedingt von der Hand zu weisen. Es ist schon oft vorgekommen, daß die Barbaren, die über eine schwächere Zivilisation herfielen, später selbst verweichlichten, um dann von neuen Barbaren mit neuen Peitschen und Ketten unterworfen zu werden. Um diesem Schicksal zu entgehen, legen manche Barbarenstämme großen Wert darauf, ihre Herkunft zu bewahren, ihre jungen Männer Härten zu unterziehen und an den Waffen auszubilden sowie sich von der unterworfenen Bevölkerung fernzuhalten, wie es sich für fremde Herrscher gehört.

»Bei allem nötigen Respekt«, sagte ich, »aber es gibt auf diesem Planeten noch ein paar andere Städte, und einige davon schätzen ihre Kultur wesentlich höher ein, als Ar es tut.«

Einige der Männer blickten mich skeptisch an.

»Ko-ro-ba, Telnus und Jad auf Cos, Turia im Süden«, zählte ich auf. Zugegeben, die Kultur der Stadtstaaten war sich sehr ähnlich. Um wirklich andere Kulturen zu finden, mußte man nach Torvaldsland, in die Tahari, das Land des Wagenvolkes oder in das Land östlich von Schendi reisen.

»Die kann man nicht mit Ar vergleichen«, sagte Plenius.

»Da bin ich anderer Meinung.«

»Was weißt du denn schon?« meinte der Blonde. »Du bist ein Cosianer.«

»Das stimmt nicht.«

»Warum bist du überhaupt gekommen, um uns in unserem Elend noch zu quälen?« beharrte der Blonde.

»Ein Stück Tharlarion?« bot ich ihm freundlich an.

Er blickte angewidert zur Seite.

»Viele Leute, die an Ar denken, denken dann nicht an seine Musiker, seine Dichter und dergleichen, sondern an die Männer der Verwaltung, die Ingenieure und Soldaten.«

»Auch das ist Ar«, gab Plenius widerstrebend zu.

»Tötet ihn«, sagte der Blonde.

»Die Cosianer sagen, daß ihre Gesetze mit ihren Speeren marschieren«, warf der Mutlose ein.

»Das gilt auch für Ar«, sagte Plenius.

»Aber heute ist es Cos, das marschiert«, erwiderte der Mann.

»Ar ist verloren«, sagte der Blonde.

»Nein, nur wir sind es, die verloren sind«, schränkte der Mutlose ein.

»Ihr seid nicht verloren«, widersprach ich.

»Der Heimstein wird überleben.«

»Das können wir nicht wissen.«

»Hier geht es nicht um historische Mutmaßungen«, sagte ich, »sondern um unser Überleben.«

Der Mutlose sah auf. »Das Problem hat das Delta bereits für uns gelöst.«

»Keineswegs«, erwiderte ich. »Nimm ein Stück Fleisch.«

»Nein, danke.«

Labienus starrte weiter auf den Sumpf hinaus. »Trägst du uns etwas nach?«

»Ja«, sagte ich. »Und ob ich euch etwas nachtrage.«

»Warum bist du dann überhaupt gekommen?«

»Meine Gründe, welchen Wert sie auch haben mögen – und ich glaube, es dürfte kein allzu großer Wert sein –, sind allein meine Sache.«

»Bist du ein Krieger?«

»Ja.«

»Hört ihr?« wandte sich Labienus an seine Männer. »Er ist ein Krieger.«

Der Mutlose schnaubte. »Er kann uns viel erzählen.«

»Wie lautet der siebenundneunzigste Aphorismus des Kodex?« fragte Labienus.

»Meine Schriftrollen entsprechen vielleicht nicht denen Ars«, sagte ich. Aber sie würden sich nicht sehr von ihnen unterscheiden.

»Sag ihn«, verlangte Labienus.

»Entfernt die Frau.«

»Er ist ein Krieger«, sagte Plenius.

Einer der Soldaten lud sich die gefesselte Ina auf und trug sie fort. Augenblicke später war er wieder da.

»Die Frau ist außer Hörweite?« fragte Labienus und starrte weiter geradeaus.

Der Soldat setzte sich wieder. »Ja. Und dort wird sie auch bleiben. Sie ist an einen Strauch gebunden.«

»Der siebenundneunzigste Aphorismus, der mir beigebracht wurde«, fing ich an, »hat die Form eines Rätsels. Er lautet: ›Was ist unsichtbar und schöner als ein Diamant?‹«

»Und wie lautet die Antwort?« wollte Labienus wissen.

»Das, was keine Geräusche macht, aber den Donner übertönt.«

Die Soldaten blickten einander an.

»Und was ist das?« fragte Labienus.

»Das gleiche, das keine Waagschale sinken läßt, aber schwerer als Gold wiegt.«

»Und was ist das?«

»Die Ehre!«

»Er ist ein Krieger«, sagte der Mutlose.

Plenius wandte sich beschämt ab.

»Aber es ist mir auch schon widerfahren, daß ich den Kodex gelegentlich verraten mußte.«

Plenius drehte sich wieder mir zu, auf seinem Gesicht lag ein seltsamer Ausdruck.

»Meiner Meinung nach ist das nicht besonders schwer.«

Labienus lächelte. »Ja, ich glaube, das hat jeder von uns schon einmal getan.«

»Du bist sehr freundlich«, sagte ich.

»Du glaubst also, du kannst uns von hier wegbringen«, sagte Labienus.

»Ich glaube schon«, erwiderte ich und verzweifelte daran, daß keiner der Kerle auch nur einen Hauch von Appetit auf das Tharlarion zeigte, das ich abgeschnitten hatte, darum schob ich es mir den Mund und kaute.

»Was tust du da?« fragte Labienus.

»Essen.«

»Gib mir ein Stück.«

Ich schnitt etwas ab und drückte es dem Hauptmann in die Hand. Seine Männer beobachteten ehrfürchtig, wie er die einfache Handlung des Kauens durchführte.

»Schmeckt ähnlich wie Vulo«, sagte er.

»Stimmt.« Das war in der Tat richtig. Ich schnitt ein weiteres Stück ab und hielt es Plenius hin. Er nahm es, und die anderen Männer rückten näher heran. Bald waren von dem Tharlarion nur noch die Knochen und die abgezogene Haut übrig.

»Das Fleisch hätte etwas Salz gebrauchen können«, meinte der Mutlose.

»Aber dein Hunger ist jetzt nicht mehr so groß«, bemerkte ich.

»Das ist wahr.«

»Und du besitzt Salz, nicht wahr?« fragte ich.

»Ja, schon, aber wir hatten nichts, das wir damit würzen konnten. Als wir jetzt etwas hatten, haben wir nicht daran gedacht.«

»So ist das mit dem Hunger.«

»In Zukunft werden wir daran denken, da kannst du sicher sein.«

»Du sprichst von der Zukunft«, bemerkte ich.

»Ja«, sagte er nachdenklich. »Ich habe von der Zukunft gesprochen.«

»Das ist der erste Schritt aus dem Delta hinaus.«

Die Männer blickten einander an.

»Das Delta ist voller Leben. Gäbe es nicht die Rencebauern und die Cosianer, könntet ihr für alle Zeiten hierbleiben. In kleinen Gruppen könntet ihr es trotzdem schaffen. Aber so wie ich es verstanden habe, wollt ihr nach Ar zurückkehren.«

»Das glorreiche Ar«, sagte der Blonde voller Sehnsucht. »Glaubst du wirklich, es gibt ein Entkommen?«

»Ja.«

»Vielleicht bist du ja ein Spion«, sagte ein Soldat, der damit beschäftigt war, einen Tharlarionknochen auszusaugen, »der geschickt wurde, um uns in einen Hinterhalt zu locken.«

»Warum sollte ich dann zu euch kommen, nachdem ich euch doch bereits aufgespürt hätte«, gab ich zu bedenken. »Wäre es nicht viel einfacher und sicherer für mich, eure Position einfach den Rencebauern oder Cosianern zu melden? Hätten sie euch nicht schon längst angreifen müssen?«

So einfach war der Bursche nicht zu überzeugen. »Aber vielleicht sind sie noch nicht so weit, und du bist hier, um unsere Position zu markieren und ihren Angriff zu koordinieren. Vielleicht willst du uns ja auch am Deltarand in einen Hinterhalt führen und dann das Kopfgeld kassieren.«

»Das ist eine ausgezeichnete Idee«, meinte ich. »Ich werde darüber nachdenken.«

Der Soldat zeigte mit dem Knochen auf mich. »Solltest du dich dazu entscheiden, hoffe ich doch, daß du uns Bescheid gibst.«

»Du kannst dich darauf verlassen.«

»Das ist ehrenhaft«, meinte er.

»Es gibt viel, das du den Männern beibringen mußt«, sagte Labienus.

»Mindestens ein Mann muß ständig den Himmel beobachten«, bestätigte ich. »Außerdem muß er wie auch alle anderen, sei es Späher oder Vorhut, natürliche Zeichen kennen, mit deren Hilfe er mit den anderen in Verbindung treten kann.«

»Die Rencebauern benutzen solche Signale«, warf Plenius ein.

»Dann werden wir das auch können«, sagte der Blonde.

»Ihr werdet viele Dinge lernen«, fuhr ich fort. »Ganz wichtig ist es, die Konturen des menschlichen Körpers zu verschleiern. Das kann mit Büschen oder aufgetragenen Farben geschehen. Man kann das Gesicht dunkler machen, um mit den Schatten zu verschmelzen, um seine Züge zu verzerren. Wir werden einzeln gehen, aber jeder Mann soll mindestens mit zwei anderen in ständigem Kontakt bleiben, und zwar die ganze Zeit über. Wird dieser Kontakt gebrochen, muß das den anderen so schnell wie möglich mitgeteilt werden. Falls offene Flächen überquert werden müssen, werden sie einzeln und in Abständen überschritten – aber erst dann, wenn mit Signalen mitgeteilt wurde, daß sie sicher sind. Keiner wird immer aufrecht gehen, sondern öfter auch geduckt. Manchmal werden wir uns auch auf allen vieren bewegen oder auf dem Bauch kriechen. Jede mögliche Deckung wird benutzt. Keiner wird jemals erhöhtes Gelände überqueren, sondern es sich zunutze machen, es umkreisen, damit er sich nie vor dem Horizont abhebt.«

»Das ist eine ganze Menge, woran man denken muß«, sagte der Mutlose.

»Es gibt auch noch viele Kleinigkeiten«, fuhr ich ungerührt fort. »Bedenkt zum Beispiel die schlichte Tatsache, daß man das Urinieren in der Nacht weithin hören kann. Es ist also wichtig, daß man die Geräusche einer solchen Erleichterung dämpft, indem man, was weiß ich, in den Sand uriniert, sich hinhockt, sich schräge Oberflächen zunutze macht, eben solche Dinge.«

»Man sollte auch Abfälle, Fäkalien, Anzeichen für Lagerstätten bedenken«, sagte Plenius.

»Genau.«

»Das ist viel, woran man denken muß«, seufzte der blonde Soldat.

»Diese Dinge werden euch zur zweiten Natur werden«, erwiderte ich.

»Es wird beinahe so sein, als wären wir überhaupt nicht da«, sagte der Mutlose staunend.

»So leise wie der Wind, so lautlos wie ein Schatten«, zitierte ich.

Labienus’ Soldaten blickten einander an. In diesem Augenblick kamen sie mir wie verwandelt vor. Ich staunte, daß man mit nichts als ein paar Bissen Fleisch und einem Quentchen Hoffnung soviel erreichen konnte. Wie wunderbar ist doch der Mensch, daß er mit so wenig so weit über sich hinauswachsen kann! Und sind nicht Königreiche aus dem Sumpf und Ubarate auf dem Staub entstanden?

»Bei Einbruch der Dunkelheit brechen wir auf«, sagte Labienus und blickte über unsere Köpfe.

»Ja, Hauptmann«, sagte mehr als nur einer der Soldaten.

»Behaltet einen kühlen Kopf«, empfahl ich. »Die Reise ist lang und schwierig, die Gefahren sind zahlreich und groß. Wir müssen überaus vorsichtig sein. Wir müssen überaus geduldig sein.«

»Ich kann sehr geduldig sein«, sagte Labienus und blickte auf den Sumpf hinaus. Er lächelte. In seiner Stimme hatte ein seltsamer Unterton gelegen, den ich nicht verstanden hatte. »Ihr auch, Jungs?« fragte er dann im Tonfall eines Offiziers.

»Ja, Hauptmann!« sagten die Männer.


Bald würde die Dämmerung über uns hereinbrechen.

»Tarl aus Port Kar«, sagte Labienus.

»Ich bin hier, Hauptmann«, sagte ich. Labienus saß noch immer auf dem Felsen.

»Ist jemand in der Nähe?«

»Jedenfalls nicht so nahe, daß sie uns zuhören könnten, wenn wir leise sprechen.«

»Außerdem sind sie vermutlich beschäftigt«, lächelte er.

»Das glaube ich auch.«

Labienus sah mich beim Sprechen nicht direkt an. Statt dessen schweifte sein Blick über den Sumpf.

Allerdings konnte er nichts sehen.

Er war blind.

Das war das Werk der Stechfliegen. Er hatte sich nur unzureichend gegen ihre Angriffe zur Wehr gesetzt, die viel zu oft gegen die Augen gerichtet sind. Die meisten Männer schlossen natürlich die Augen oder würden sie bedecken, mit den Händen oder einem Stück Stoff. Die Rencebauern benutzen aus Rence geflochtene Matten oder Helme, die es einem erlauben, durch die Ritzen zu blicken, ohne daß die Fliegen hineinkönnen. Hätte sich der Hauptmann geschützt und nicht versucht, seinen Rang und sein Auftreten als Kommandant um jeden Preis zu bewahren, hätte er die Fliegen zweifellos daran hindern können, ihm derartige Verletzungen zuzufügen. Er muß wohl mehrmals in die Augen gestochen worden sein.

Meiner Meinung nach war Labienus ein guter, verantwortungsvoller, vertrauenswürdiger Offizier. Allerdings hatte er bei seinem Kommando einige Fehler gemacht. Er hatte seine Befehle zu starr ausgelegt; er hatte zuviel Vertrauen in die Weisheit und Lauterkeit seiner Vorgesetzten gehabt; er hatte die Möglichkeit, daß sie Opfer eines Verrates waren, viel zu zögernd in Betracht gezogen. Er hatte in einer hoffnungslosen Situation, in der es längst nicht mehr angebracht war, die ursprünglichen Befehle weiter auszuführen, nicht schnell genug die Konsequenzen gezogen; sogar was die Führung und Taktik seines Regimentes anging, hatte er, indem er die Möglichkeit beträchtlicher Verletzungen zuließ, auf lange Sicht nicht nur sich selbst in Gefahr gebracht, sondern auch die Männer, die auf ihn angewiesen waren.

Zugegeben, viele dieser von mir als Fehlleistungen bewerteten Handlungen waren Vorzüge – wenn man sie von einem anderen Standpunkt aus betrachtete. Es war meiner Meinung nach bestimmt kein Zufall, daß Hauptmann Labienus den Befehl über die Vorhut erhalten hatte. Vermutlich hatte Saphronicus einen vertrauensvollen, verläßlichen, hartnäckigen, rastlosen und nicht sonderlich phantasievollen Offizier auf diesem Posten haben wollen, jemanden, der seine Leute unbeirrt immer tiefer ins Delta führte, ganz gleich, welche Gefahren oder Unwägbarkeiten sich aus der Situation ergäben.

»Das Rencemädchen, das du mitgebracht hast, ist stumm«, sagte er.

»Ja.«

»Ist es nicht ziemlich unwahrscheinlich, daß ein im Sumpf entdecktes Rencemädchen stumm ist?«

»Ja, das ist es allerdings.«

»Aber so etwas kann durchaus vorkommen.«

»Das kann es.«

»Soviel ich mitbekommen habe, warst du es, der das Tharlarion für die Männer vorbereitet hat.«

»Das ist richtig.«

»Warum hat das Mädchen das nicht getan?« fragte er. »Sicher hat sie doch erwartet, damit betraut zu werden.«

»Ich wollte ihr keine Waffe in die Hand geben«, erwiderte ich. Das erschien mir als plausible Antwort, da sie, angeblich erst kurze Zeit eine Gefangene, sich unter Umständen noch nicht völlig über die Sinnlosigkeit jeden Widerstandes im klaren war. Außerdem werden in manchen Städten Sklaven schon mit dem Tod bestraft, wenn sie auch nur eine Waffe berühren.

»Zweifellos erwartest du doch von ihr, daß sie gelegentlich mit spitzen Gegenständen hantiert, wenn sie zum Beispiel kocht.«

»Sie hat bis jetzt weder ein Brandmal noch den Kragen erhalten.«

»Es überrascht mich, daß die Rencebauern nicht durch den Sumpf streifen, um sie zurückzuholen.«

»Vielleicht tun sie es ja.«

»Vielleicht. Es besteht auch die Möglichkeit, daß ein stummes Rencemädchen, zweifellos eine Ausgestoßene, ganz allein im Sumpf lebte, bis du auf sie gestoßen bist.«

»Auch das ist möglich.«

»Die Lady Ina aus Ar, nach der du deine Gefangene benannt hast, war, wenn ich mich recht erinnere, für eine Frau etwas kurz geraten.«

»Tatsächlich?« Ich hatte Ina dem Hauptmann in allen Einzelheiten beschrieben, aber im Gegensatz zu seinen Männern hatte er keine Neigung für sie gezeigt.

»Das würde den Namen noch passender machen.«

»Da gebe ich dir recht.«

»Du sagtest, daß deine Ina blond ist?«

»Das ist richtig.«

»Lady Ina aus Ar auch.«

»Wirklich?«

Labienus nickte. »Ich sah einmal einige Strähnen ihres Haares, die aus der Kapuze hervorragten.«

»Welch ein Zufall.«

»Aber dadurch wirkt der Name nur noch passender.«

»Richtig.«

»Wie ich hörte, sind blonde Rencebauern sehr selten.«

»Aber es gibt sie.«

»Zweifellos.«

Ich sagte vorsichtig: »Obwohl du blind bist, habe ich den Eindruck, daß du einige Dinge klarer als deine Männer siehst.« Wir lauschten einigen Augenblicken den Geräuschen, die von den Soldaten herüberdrangen.

»Glaubst du an Gerechtigkeit?« fragte der Hauptmann.

»Gelegentlich.«

»Wie sieht deiner Meinung nach Gerechtigkeit für eine Verräterin aus?«

»Es gibt verschiedene Arten von Gerechtigkeit«, erwiderte ich.

»Du beanspruchst das Mädchen für dich, durch das Recht der Gefangennahme?«

»Ja.«

»Wir werden nicht länger über die Angelegenheit sprechen.«

»Damit bin ich einverstanden.«

»Wenn du möchtest, könntest du ihr erlauben zu sprechen.«

»Ich möchte nicht«, erwiderte ich. »Deine Männer könnten ihr den Hals durchschneiden.«

»Das ist wahr.«

Labienus blickte über den Sumpf hinaus. »Fünfzigtausend Mann sind in das Delta eingedrungen.«

»Ich habe mir schon gedacht, daß es so viele sind.«

»Wie viele davon haben es deiner Meinung nach geschafft, sich unversehrt zurückzuziehen?«

»Vermutlich eine ganze Menge. Vor allem vor dem Angriff der Rencebauern. Nicht alle Kommandanten waren wohl so entschlossen wie du.«

»Die Rencebauern hatten sehr schnell ihre Stellung bezogen.«

»Das ist wahr.«

»Was glaubst du, wie viele?«

»Keine Ahnung«, sagte ich ehrlich.

»Laut meinen Informationen, zusammen mit plausiblen Schätzungen, sind es schätzungsweise mindestens fünfhundert, höchstens aber nicht mehr als fünftausend.«

»Selbst wenn fünftausend Mann den Rückzug geschafft haben sollten«, sagte ich, »wäre dies noch immer eine der größten militärischen Katastrophen in der Geschichte des Planeten.«

»Und wie viele von diesen fünftausend Soldaten, falls es so viele sind, haben es deiner Meinung nach bis nach Holmesk, Venna oder Ar geschafft?«

»Das kann ich nicht sagen. Hoffentlich viele, besonders wenn es Saphronicus geschafft hat, sich nach Holmesk zurückzuziehen.«

»Er wird dort sein«, sagte Labienus.

»So?«

»Bestimmt. Dann kann er in südöstlicher Richtung marschieren, zur Viktel Aria.«

»Die Cosianer werden nicht versuchen, sich ihm in den Weg zu stellen?«

»Nicht zwischen Holmesk und der Viktel Aria«, erklärte der Hauptmann grimmig. »Aber sie werden irgendwo zwischen dem Vosk und Brundisium lauern – und nicht zu vergessen zwischen dem Delta und Holmesk, um den Weg zum Heerlager abzuschneiden.«

»Ich verstehe.«

»Nur die Klügsten und Gerissensten werden Holmesk erreichen.«

»Ar könnte man auf verschiedenen Wegen erreichen«, sagte ich. »Ich ginge zuerst nach Brundisium und von dort dann weiter nach Ar.«

»Das wäre ein kühner Versuch.«

»Für dich und deine Männer wäre diese Route jedoch nicht empfehlenswert – bei eurem Akzent.«

Er nickte.

»Und du glaubst wirklich nicht, daß die Cosianer versuchen werden, Saphronicus an einer Rückkehr nach Ar zu hindern?«

»Nein«, erwiderte er entschieden. »Saphronicus wird nach Ar zurückkehren, ein tragischer Held, der oftmals verraten wurde und den man dafür feiern wird, daß er einen Teil seiner Streitkräfte gerettet hat. Er wird dort im Triumph eintreffen.«

»Du klingst bitter.«

»Saphronicus hat mir versichert, ich sei einer seiner besten Offiziere.«

»Das ist bestimmt richtig.«

»Aus diesem Grund hat man mich zum Befehlshaber der Vorhut gemacht«, fuhr er fort, »damit ich der erste bin, der auf die flüchtenden Cosianer stößt.«

»Ich bin davon überzeugt, daß du einer der entschlossensten, verläßlichsten und treuesten Offiziere warst.« Nach dem, was ich über ihn wußte, bestand daran für mich nicht der geringste Zweifel.

»Und er hat es in aller Öffentlichkeit verkünden lassen.«

»Ich verstehe.«

»Sollte ich es bis Holmesk schaffen, gewährt man mir vielleicht sogar eine Ehrenbeflaggung. Möglicherweise verleiht man mir als Veteran des Deltas einen Orden.«

»Wer weiß.« Ich fragte mich, ob Labienus den Verstand verloren hatte. Doch nichts an seinem Benehmen wies darauf hin.

»Zuerst muß es mir gelingen, meine Männer aus dem Delta zu führen.«

»Ich werde tun, was in meiner Macht steht, um dabei zu helfen«, versprach ich.

Er streckte die Hand aus, und ich nahm sie. Er griff fest zu.

»Dann bleibt mir nur noch eine letzte Pflicht zu erfüllen«, sagte er.

»Was denn?«

»Ich muß Saphronicus Bericht erstatten.«

»Ich verstehe.« Ich kam zu dem Schluß, daß der Hauptmann doch den Verstand verloren hatte.

»Sollte ich Holmesk erreichen, wird es nicht schwer sein, eine Audienz bei ihm zu bekommen. Es wäre politisch unmöglich, sie zu verweigern. Ich bin ein Veteran des Deltas, der Anführer der Vorhut, einer seiner besten Offiziere.«

»Natürlich.«

Labienus ließ meine Hand los. Sein Griff war sehr stark.

»Vertraust du mir?«

»Natürlich«, sagte der Hauptmann.

»Warum?«

»Um dessen willen, das unsichtbar und doch schöner ist als ein Diamant«, sagte Labienus. »Wegen der Stille, die lauter ist als der Donner, um dessen willen, das keine Waagschale niederdrückt und doch schwerer ist als Gold.«

»Du kannst nicht einmal sehen.«

»Man kann auf mehr als nur eine Weise sehen.« Er verstummte. »Einer der Männer soll mir eine Schale mit Wasser bringen. Und Salz. Und ich brauche ein Stück Holz oder Äste, aber mit vollständiger Rinde.«

»Krieger«, rief ich einem der Soldaten zu, die in der Nähe saßen. Er kam zu uns herüber, »dein Hauptmann verlangt eine Schale mit Wasser, Salz und Holz, Äste oder so etwas in der Art, aber mit der Rinde!«

Der Mann sah mich verständnislos an.

Ich zuckte nur mit den Schultern.

Er ging, vermutlich um den Auftrag auszuführen.

»Ich werde diese Dinge regelmäßig brauchen«, sagte Labienus, »zumindest aber so lange, bis wir das Delta verlassen haben.«

»Selbstverständlich«, sagte ich. Das Schicksal, dem sich Labienus ergeben hatte, hätte auch stärkere Männer gefällt.

»Du darfst dich jetzt zurückziehen«, sagte er.

»Du kommst zurecht?« fragte ich.

Der Hauptmann nickte.

»Was willst du tun?«

»Ich werde über meinen Bericht nachdenken.«

»Ich verstehe.« Ich hoffte, daß Labienus’ Wahnsinn unsere Bemühungen, uns aus dem Delta zurückzuziehen, nicht gefährden würde. Der Soldat, der mit den Besorgungen beauftragt war, blickte zu Labienus hinüber und redete dabei weiter auf einen Kameraden ein.

In etwa einer Ahn würde es vollends dunkel sein. Wir alle brauchten Ruhe.

Ich setzte mich in den Sand und beobachtete, wie der Soldat Labienus eine Schale mit Wasser und ein Säckchen Salz brachte. Er hatte auch ein paar Äste gefunden. Der Hauptmann stellte das Wasser und das Salz neben sich ab. Dann zupfte er die Rinde gründlich mit den Fingern ab. Ich legte mich hin. Einige Zeit später nahm er die Wasserschale und balancierte sie auf den Knien. Er schüttete Salz hinein, bis er eine dickflüssige Salzlake hatte. Dann tauchte er die Hände hinein. Die Zweige der kleinen Äste waren völlig blank; er hatte die Rinde vollständig abgezogen. Es stimmte mich traurig, daß sein Verstand zerbrochen war.

Ina kam und setzte sich zu mir. Sie sah erschöpft aus, schien aber sehr zufrieden mit sich zu sein. Als sie meinen Blick bemerkte, schlug sie schnell die Augen nieder.

»Ruh dich aus.« Ich wollte, daß sie ausgeruht war, wenn wir weiterzogen.

»Wann brechen wir auf?« fragte sie im Flüsterton.

»In wenigen Ahn«, erwiderte ich. »Ich werde dich etwas früher wecken, um deinen Körper hier und da mit Schlamm aus dem Sumpf dunkler zu machen.«

Sie sah zu mir hoch.

»Es ist eine Sache der Tarnung.«

»Du kannst damit anfangen, was du willst«, raunte sie. »Es sind das Gesicht und der Körper einer Sklavin.«

Lady Ina aus Ar hatte sich seit unserer ersten Begegnung wirklich sehr verändert.

Ich nickte, stand auf und ließ sie allein.

Labienus hatte seine Hände aus der Salzlauge entfernt und vertiefe sich darin, den nächsten Ast von der Rinde zu befreien.

Ich legte mich schlafen.

Die nächsten Tage würden anstrengend werden.

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