15

Der Soldat vor mir wühlte das Wasser auf. Die Tiefe betrug hier, ein paar Meter von der Sandbank entfernt, etwa einen Meter. Es war früher Morgen. Der Nachtmarsch hatte uns alle ermüdet. Auf der Sandbank bereiteten einige der Männer bereits das Tageslager vor.

Seit zehn Tagen zogen wir nach Süden, die Männer aus Ar, Ina und ich. Dreimal war der Ruf des Sumpfjard ertönt, das von uns vereinbarte Signal, das uns vor Gefahr warnen sollte. Zweimal war es ein Tarnsmann gewesen, der sich hoch am Himmel vom Mond abzeichnete. Einmal war es eine cosische Patrouille in schmalen Booten gewesen. Jedesmal waren wir in den Sumpf getaucht, bis nur noch unsere Münder und Augen aus dem Wasser ragten. Die Cosianer konnten sich glücklich schätzen, daß sie uns nicht entdeckt hatten, denn sonst wären sie nie zu ihrem Lager zurückgekehrt. In unseren Tageslagern hatte uns das Signal zweimal erreicht, um uns zu warnen, daß sich jemand in der Nähe befand; in beiden Fällen hatte es sich um Rencebauern gehandelt, die fischten oder Rence ernteten.

Plenius und Titus flankierten uns mit Speeren in den Händen. In einer Entfernung von fünfzehn oder zwanzig Metern ragte die schwarze Rückenflosse eines Sumpfhais aus dem tiefen Wasser. Er schwamm träge umher. Gelegentlich durchschnitt seine sichelähnliche Schwanzflosse die Wasseroberfläche.

»Er kommt«, sagte Plenius.

»Hör jetzt auf«, befahl ich dem Soldaten. Die Rückenflosse markierte den Weg des großen Körpers unter der Oberfläche. Ich ging davon aus, daß er sich sein erwähltes Opfer näher betrachtete, bevor er zuschlug. Der Soldat erstarrte.

Die Flosse kam auf uns zu, viel zu schnell für eine erste Erkundung. Plenius und Titus machten sich bereit. Ich packte den Soldaten, der den Lockvogel gespielt hatte, bei den Armen und riß ihn zur Seite.

Beide Speere stießen zugleich nach unten, und plötzlich bäumte sich der sieben goreanische Fuß große Hai auf, der schwarze Körper wand sich, sein Schwanz peitschte das Wasser auf. Titus’ Speer wurde aus den Kiemen freigeschüttelt, aus denen das Blut hervorbrach, aber Plenius’ Speer blieb stecken, und die Bestie tauchte wieder unter und wurde gewaltsam in Richtung Sandbank gedrückt. Der Soldat, den ich zur Seite gestoßen hatte, und ich waren klatschnaß. Ich blinzelte das Wasser aus den Augen, ergriff Titus’ Speer und jagte ihn dem Hai in die Seite. Plenius stemmte sich gegen seine Waffe und zwang ihn weiter auf die Sandbank zu. Zwei Soldaten mit Speeren wateten heran. Einer stieß ihn auf Plenius’ Seite in die Kiemen, und gemeinsam drückten wir die Bestie in die von uns gewünschte Richtung. Dann war der Hai im flachen Wasser, wo er sich wild umherwarf. Einer der Speere, die in seinem Körper steckten, brach ab. Ein paar Tage zuvor hatten wir einen Hai in diesem Augenblick verloren, als er sich so heftig bewegte, daß er es zurück ins Wasser schaffte. Ein zweiter hatte sich kurz vor dem Ufer von den Speeren befreit und war, eine Blutspur hinterlassend, zwischen dem Renceschilf in die Freiheit geschwommen.

Aber diesmal steckten fünf Speere im Körper des Hais, denn uns waren weitere Männer zur Hilfe gekommen. Wir schafften ihn an Land. Seine blutigen Kiemen pulsierten noch immer. Der kräftige Schwanz, dessen Schlag einem Mann durchaus das Bein brechen konnte, bewegte sich kaum noch. Zwei Soldaten schoben eine Schlinge um den Schwanz und zogen ihn zum Lager.

Ich stieg aus dem Wasser und stattete Labienus einen Besuch ab. Der Hauptmann hielt einen dicken Ast in der Hand. Er zog die Rinde mit den Fingern ab. Seine Hände waren mittlerweile hart und grau. Meiner Meinung nach konnte er kaum noch etwas fühlen. Er schien sich die Hände zerstören zu wollen. Sowohl die anderen Männer wie auch ich hatten ihn gedrängt, damit aufzuhören, aber er lächelte bloß und beachtete uns nicht. Auf der einen Seite stand eine Schale Salzwasser. Von Zeit zu Zeit tauchte er die Hände in die scharfe Lösung. Ich bezweifelte, daß er seine Finger überhaupt noch richtig benutzen konnte. Er hatte stets kleinere Äste dabei, mit einem Durchmesser von sechs Zentimetern. Unterwegs nahm er sie manchmal und drückte und zerrte über eine Ahn lang an ihnen herum. Oder er hielt den Ast mit beiden Händen fest und riß ihn entzwei. Sein Griff, der auch zuvor nicht schwach gewesen war, mußte mittlerweile furchterregend stark sein.

Der Hai lag mitten im Lager, das Seil noch immer um den Schwanz gewunden. Die Kiemen bewegten sich nicht länger. Ein Soldat näherte sich ihm mit einem Messer.

»Warte!« rief ich und ging zurück.

»Was ist denn?«

»Was hast du vor?«

»Ich werde dem Hai die Zähne herausschneiden – für eine Halskette.«

»An deiner Stelle würde ich damit noch warten.«

»Der ist doch tot.«

»Das weißt du nicht.«

Er blickte mich stirnrunzelnd an.

Ich nahm einem der umstehenden Soldaten den Speer ab und stieß dem Hai das Ende in den Rachen.

Das Holz war noch nicht richtig eingedrungen, als die Kiefer zuschnappten. Ich zog das zersplitterte Ende des Speeres zurück. Er war sauber durchgebissen worden.

»Ich würde warten«, sagte ich.

Der Mann nickte. »Das werde ich tun. Danke, Krieger.«

»Und selbst dann wäre es nicht verkehrt, sicherzugehen, daß das Maul offenbleibt, vielleicht mit Hilfe von Steinen.«

»Laßt uns das Fleisch herunterschneiden«, schlug einer der Männer vor. »Wir müssen essen. Wir müssen uns ausruhen.«

Der Mann mit dem Messer beugte sich vor, stieß dann aber einen Fluch aus.

»Was ist los?« fragte Titus.

»Das Messer ist scharf, ich habe es eben geschärft. Trotzdem ist schwer, die Haut aufzuschneiden.«

»Brauchst du Hilfe?«

»Nein!«

»Wo ist der Fisch?« fragte Labienus.

Alle wandten sich dem Hauptmann zu. Wir waren überrascht, daß er gesprochen hatte. In den letzten Tagen hatte er kaum ein Wort gesagt. Er war in seine ungewöhnliche Beschäftigung vertieft.

»Führt mich zu ihm«, sagte er. »Legt meine Hände auf ihn, hinter den Kopf.«

Titus geleitete ihn zu dem toten Hai. Labienus kniete neben ihm nieder und legte die Hände darauf. Er tastete umher und ließ die Finger über die rauhe Oberfläche gleiten.

Wir sahen schweigend zu.

Labienus hob die Hände, die Finger gekrümmt wie die Klauen eines Tarn, dann stieß er sie dem Fisch plötzlich in die Seite. Wie Eisenklauen drangen sie ein. Er stand auf, stemmte das gewaltige Gewicht in die Höhe und schüttelte es, und der Fisch drehte sich und fiel wieder in den Sand; ein dreißig Zentimeter breiter Hautstreifen war abgeschält. Zweimal wiederholte er diese Leistung, und zweimal wurden große Hautstreifen zur Seite geschleudert.

»Jetzt dürfte es leichter sein, an das Fleisch zu gelangen«, verkündete Labienus.

»Ja, Hauptmann«, flüsterte der Soldat mit dem Messer. Der Rest von uns schwieg. Titus führte Labienus zurück an seinen Platz, wo er sich stumm mit untergeschlagenen Beinen wie ein Krieger hinsetzte und über den Sumpf hinausstarrte.

»Laßt uns essen«, sagte Plenius.

Der Soldat mit dem Messer fing an zu schneiden. Wenige Augenblicke später kamen in dem Lager gedämpfte Unterhaltungen auf, Essen wurde umhergereicht.

Plenius setzte sich neben mich.

»Tal«, sagte ich.

»Ich bin neugierig, was deine Gefangene angeht«, sagte er.

Ich blickte ihn stirnrunzelnd an.

»Einige der anderen übrigens auch.«

»Tatsächlich?«

»Darf ich sie holen?«

Ich nickte.

Er schnalzte mit den Fingern, und Ina eilte herbei, um in gebührendem Abstand neben uns niederzuknien. Sie hatte noch nicht gegessen.

Ich hielt Ina ein Stück Fisch hin, und sie beugte sich vor und nahm es mit dem Mund. Sie hatte keine Erlaubnis erhalten, die Finger zu benutzen.

»Du hast deine Ina gut ausgebildet«, sagte Plenius. »Sie ist hübsch. Hübsch genug für eine Sklavin.«

»Das ist wahr.«

»Sehr hübsch für ein Rencemädchen.«

»Im Rence leben viele Schönheiten«, erwiderte ich. Vor einigen Jahren waren Sklavenjäger ins Delta gekommen, um sie fast ungehindert zu jagen. Seitdem die Rencebauern über den großen Bogen verfügten, war es eher üblich, ganz offen zu kommen und sie zu kaufen.

»Zweifellos«, meinte Plenius. »Aber ich bin mir einfach nicht sicher, was sie betrifft.«

»Sprich.«

Einige der Soldaten hatten sich um uns versammelt und hörten zu.

»Es ist nicht nur auffallend, daß sie für ein Rencemädchen außergewöhnlich schön ist, sondern viele andere kleine Dinge sind ungewöhnlich – wie sie geht, wie sie sich gibt.«

Ich schwieg.

»Wir haben sie oft ohne Fesseln gehen lassen, und doch hat sie keinen Versuch unternommen, sich ins Schilf zu schlagen.«

»Ich verstehe.«

»Wir halten sie für kein Rencemädchen, wir glauben, daß sie Lady Ina aus Ar ist!«

Ina schrak zurück; sie zitterte am ganzen Leib.

Diese Reaktion kam plötzlich, unwillkürlich und fast wie ein Reflex. Er war den Männern bestimmt nicht entgangen. Ich befürchtete sofort, daß sie sich verraten hatte. Außerdem befürchtete ich, sie werde einen Fluchtversuch unternehmen. Glücklicherweise war sie klug genug, es nicht zu versuchen. Die Männer hätten sie nach wenigen Schritten erwischt.

»Es hat den Anschein, als hätte sie von der Lady Ina gehört«, bemerkte Plenius.

»Das ist schon möglich«, sagte ich, »und vielleicht hat sie Angst, mit ihr verwechselt zu werden.« In aller Ruhe kaute ich das Stück Fisch zu Ende und schluckte es. Das verschaffte Ina die nötige Zeit, sich wieder zu beherrschen.

»Seht sie euch an«, sagte ich dann.

Die Männer betrachteten Ina, die den Kopf senkte.

»Ist sie nicht hübsch?«

»Ja«, sagte Titus.

»Und ist sie nicht heiß, wenn man bedenkt, daß sie gar keine Sklavin und für derlei Zwecke nicht ausgebildet ist?«

»Das ist sie.«

»Und was ist Lady Ina?« fragte ich.

»Ein hochmütiges, anmaßendes Sleen-Weibchen«, sagte Plenius.

»Also ist es doch wohl ziemlich unwahrscheinlich, daß es sich bei dieser hübschen, willigen und gut ausgebildeten Schlampe und Lady Ina um ein- und dieselbe Person handelt.«

Die Soldaten wechselten vielsagende Blicke.

»Es erscheint doch ziemlich unwahrscheinlich, nicht wahr?«

»Ja, schon«, sagte Titus, »aber…«

»Wollen wir doch sehen, ob sie sich wie die Lady Ina benimmt«, schlug ich vor. Ich schnippte mit den Fingern und zeigte auf die Männer. Sofort warf sich Ina auf die Knie und rutschte demütig und mit einem Eifer, der einer Sklavin gut zu Gesicht gestanden hätte, zu den Soldaten hin und fing an, sie zu liebkosen. Ich sah zu, wie sie sie hielt und streichelte, sie küßte und leckte, in der Hoffnung, ihre Aufmerksamkeit zu erringen, für sie begehrenswert zu sein, in der Hoffnung, sie zu erfreuen. Dann blieb sie furchtsam auf dem Bauch liegen.

»Soll das die Lady Ina sein?«

Sie hockte sich auf die Knie, das Gesicht weiter im Sand.

Die Männer lachten.

»Wer weiß«, sagte Plenius.

»Auf jeden Fall gehört sie mir«, sagte ich.

Plenius grinste.

»Vielleicht willst du sie ja retten«, meinte ich.

»Für den Speer?« fragte er.

Ich zuckte mit den Schultern.

»Du hast mich aus dem Treibsand gezogen«, sagte er.

»Wärst du nicht gewesen«, sagte der Soldat, der die Haifischzähne hatte haben wollen, »hätte ich vielleicht eine Hand oder einen Arm verloren.«

»Ohne dich wären wir irgendwo im Delta verschollen, vielleicht sogar tot«, sagte Titus.

Plenius wandte sich an seine Kameraden. »Ich glaube nicht, daß sie Lady Ina ist«, verkündete er.

»Nein«, sagte der Soldat mit dem Messer.

»Hauptmann?« fragte Titus.

»Nein«, lächelte Labienus. »Das ist nicht die Lady Ina.«

»Du bist sicher, Ina«, sagte ich der knienden Gefangenen.

Erleichtert schluchzte sie los, ihre Tränen benetzten den Sand.

»Du solltest ihr erlauben zu sprechen«, sagte Plenius.

»Hauptmann?« fragte ich.

»Auf jeden Fall«, sagte Labienus.

»Selbst wenn sie zufällig mit dem Akzent einer Lady von Ar sprechen sollte?« fragte ich.

»Aber sicher.«

»Das wäre großartig«, sagte Titus. »Wie oft habe ich mir schon gewünscht, eine jener hochwohlgeborenen Damen zu meinen Füßen liegen zu sehen, als eine echte Frau.«

Ich wandte mich wieder Ina zu. »Du darfst sprechen.«

»Danke, mein Herr«, flüsterte sie.

»Ich glaube, aus ihr könnte man eine gute Sklavin machen«, meinte Plenius grinsend. Dann zuckte er zusammen, und ich glaube, einige der anderen auch, denn plötzlich ertönte ein ziehendes, reißendes Geräusch. Wir blickten uns um und sahen, daß Labienus ein großes Stück Rinde von einem kräftigen, fast schon stammdicken Ast abriß. Die Fingerkuppen hatten in dem abgeschälten Holz sogar tiefe Abdrücke hinterlassen. Er blickte wieder auf den Sumpf hinaus und tauchte die Hände in das Salzwasser.

Ich bot Plenius ein Stück Fisch an, er nahm es, und wir aßen gemeinsam.

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