5

Plenius fluchte. Der Soldat stand hinter mir, mit dem Ruder in der Hand. Er wechselte sich mit anderen darin ab, mich zu bewachen. Wir standen knietief im Wasser.

Der Bug des Rencebootes, der noch immer trocken war, bahnte sich einen Weg durch das Schilfgras. Hinter ihm kamen andere Boote.

»Wir müßten doch schon längst auf die Sleen aus Cos gestoßen sein!« schluchzte ein Mann entnervt.

»Halt!« rief eine Stimme von vorn.

Aufgescheucht flatterte ein Gant aus dem Schilf, gewann an Höhe und ging wieder tiefer.

»Da treibt eine Leiche im Wasser«, meldete ein Soldat, der linkerhand auf einem schmalen Floß stand.

»Ein Cosianer?« fragte Plenius.

»Nein.«

Wir schlossen näher auf. Die Barke, die der Hauptmann zu seinem schwimmenden Befehlstand gemacht hatte, kam heran; sie wurde mit Hilfe von Stangen fortbewegt.

Im Sumpfwasser trieb eine Leiche, halb untergegangen, mit dem Gesicht nach unten.

»Das ist einer von uns«, sagte Plenius. »Das waren die Cosianer.«

»Das ist unwahrscheinlich«, meinte ich.

»Wer soll es denn gewesen sein?«

»Sieh dir die Wunde an.« Es waren drei Einstiche, alle im Rücken.

»Man hat dreimal auf ihn eingestochen.«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, einmal.«

»Es sind aber drei Wunden.«

»Sieh sie dir genau an, die geradlinige Anordnung, der dazwischenliegende Abstand.«

»Ein Dreizack«, sagte mein Bewacher.

»Ja«, erwiderte ich. »Der dreizackige Fischspeer.«

»Das ist keine Waffe.«

»Aber man kann ihn so benutzen, wie man sieht.«

»Genau, wie in der Arena.« Plenius bezog sich auf einen beliebten Schaukampf in der Arena, in dem der ›Fischer‹ mit Netz und Dreizack kämpft. »Aber hier im Vosk-Delta gibt es bestimmt keine Arenakämpfer.«

Man zog die Leiche auf ein Floß.

»Aber Fischer kämpfen oft mit solchen Waffen«, sagte ich. »Bei ständiger Übung sind sie tödlich, nur aus diesem Grund haben die Arenakämpfer sie übernommen.«

»Rencebauern?« fragte mich der Hauptmann, der zugehört hatte.

»Zweifellos.« Rencebauern leben im Vosk-Delta. Sie bewohnen Renceinseln, gewaltige Flöße aus zusammengewobenem Renceschilf. Da die Rencehalme unten verfaulen, werden sie ersetzt, indem man oben neue hinzufügt. Wie bereits erwähnt sind die Sandbänke ungeeignet für eine permanente Besiedlungen. Da die Renceinseln schwimmen, sind sie transportierbar. Auf diese Weise kann ein ganzes Dorf an einen anderen Ort gebracht werden. Diese Mobilität kann für die Rencebauern sehr nützlich sein, wenn sie neue Fischgründe suchen oder frisches Rence ernten wollen, ihr wichtigstes Handelsgut, das unter anderem der Herstellung von Stoff und Papier dient. Es ist auch ganz nützlich, um gelegentlichen Ansammlungen von Tharlarion aus dem Weg zu gehen oder unerwünschte Begegnungen mit seinen Mitmenschen zu vermeiden. Der Standort solcher Dörfer ist für gewöhnlich geheim. Handelskontakte werden von den Rencebauern geknüpft, nach ihren Bedingungen, an bekannten Treffpunkten. Solche Dörfer sind selbst aus der Luft schwierig zu entdecken.

»Glaubst du, von ihnen sind welche in der Nähe?« fragte der Hauptmann.

»Das weiß ich nicht«, erwiderte ich. »Schon möglich. Vielleicht auch nicht.«

»Sie könnten überall im Rence stecken«, sagte ein Soldat unbehaglich.

»Das ist wahr.« Ich bezweifelte, daß sich Bauern in der Nähe befanden. Hier marschierten überall Regimenter aus Ar.

»Warum sollten sie ihn umbringen?«

»Wer kann das schon sagen.« Tatsächlich hatte ich eine ziemlich genaue Vorstellung, was hier vorgefallen war.

»Übergebt die Leiche dem Delta«, befahl der Hauptmann.

Man rollte die Leiche vom Floß ins Wasser.

»Weiter«, sagte der Hauptmann.

»Beweg dich«, sagte Plenius, der im Bug des kleinen Rencebootes stand. Wir waren mindestens dreihundert Pasang tief ins Vosk-Delta eingedrungen. Die Soldaten hatten den ausdrücklichen Befehl erhalten, mich am Leben zu erhalten.

Ich kämpfte mich vorwärts durch das Schilf, stemmte mich gegen das Wasser, das mir hier bis an die Brust reichte; das Seil um meinen Hals war an dem Boot befestigt. Meine Hände waren mit Handschellen auf den Rücken gefesselt. Ich zog sie jedem Seil vor, denn sie waren viel angenehmer zu tragen. Natürlich hatten meine Aufseher dies nicht aus reiner Menschenfreundlichkeit getan. Sie wollten sich meiner ständigen Hilflosigkeit versichern, jetzt, wo meine Hände nicht mehr ununterbrochen in Sicht waren. Ein Seil konnte man unter der Wasseroberfläche lockern oder abstreifen. Das Eisen würde mich halten. Ich hatte nicht dagegen protestiert. Unter umgekehrten Umständen hätte ich vermutlich ähnliche Vorsichtsmaßregeln getroffen. Ich wußte nicht, wer den Schlüssel für die Handschellen hatte.

Ich tauchte einen Augenblick lang unter und kämpfte mich hustend wieder an die Oberfläche. Auf dem Grund gibt es viele Löcher. Schilfhalme schnitten mir ins Gesicht. Ich spuckte Wasser aus.

»Beweg dich, zieh!« hörte ich hinter mir Plenius’ Stimme.

Ich wandte den Kopf zur Seite, so daß das Seil mehr auf einer Halsseite ruhte. Ich versuchte mit aller Kraft, das kleine Boot zu ziehen. Das Rudern fiel immer schwerer, das Rence, aus dem es bestand, hatte sich mit Wasser vollgesogen. Man hatte mich am Morgen mit einem Strick um den Hals vom Boot gestoßen, damit mein Gewicht wegfiel. So würde das Gefährt ein oder zwei Tage länger halten.

»Nun zieh schon, du fauler Sleen!« Der Bug tauchte neben meiner Schulter auf, das Seil wurde schlaff und tauchte ins Wasser. Plenius stieß mit dem Ruder zu und traf mich am Rücken. Ich stolperte, konnte aber das Gleichgewicht wiederfinden. Dann kämpfte ich mich weiter durch das Schilf.

Etwas Lebendiges berührte mein Bein, und ich hätte um ein Haar aufgeschrien.

Ganz in der Nähe trieb eine Barke, eines der größeren Gefährte unser zusammengewürfelten Flottille, das etwa fünfzig Mann beförderte. Sie wurde mit Stangen fortbewegt; auf jeder Seite standen zehn Soldaten, die in Schichten arbeiteten. Ein paar Männer schöpften mit ihren Helmen Wasser heraus. Ein paar Arer klammerten sich am Heck fest. Ich konnte von meinem Standort aus nicht viel sehen, aber überall waren Soldaten und kleine Boote.

Dabei war ich nicht der einzige Mann im Wasser. Ganz im Gegenteil. Die meisten Soldaten bewegten sich in langen Marschreihen vorwärts. Auf diese Weise konnte der Mann an der Spitze den Weg für diejenigen prüfen, die hinter ihm kamen, während jeder Soldat seinen Vordermann im Auge behielt. Gewöhnlich bildete ein kleines Boot die Nachhut für eine solche Reihe.

»Zieh, du Sleen!« befahl mein Aufpasser.

Ich stemmte mich wieder gegen das Seil, um das Boot weiterzubefördern.

»Hätte ich eine Peitsche, würdest du dich schneller bewegen!« rief er.

»Blutegel!« rief ich da. »Ein Blutegel.« Ich konnte ihn auf dem Rücken spüren. Er war ziemlich groß. Vielleicht war er es gewesen, der vorhin mein Bein berührt hatte. Mit meinen zusammengeketteten Händen kam ich nicht an ihn heran.

Da erscholl ein lauter Hilfeschrei.

Ich drehte mich um und beobachtete, wie einige Meter entfernt ein Soldat die Hände hob; aus seinen Augen sprach blankes Entsetzen. »Ich kann mich nicht bewegen!« rief er. »Ich versinke!« Er hatte sich einen seichteren Weg gesucht. Von denen gab es einige. Das Wasser hatte ihm dort nur bis zu den Knien gereicht. Nun war er schon bis zur Taille eingesunken.

»Treibsand!«

Ein Kamerad hielt dem Soldaten einen Speer hin, und er packte ihn verzweifelt, denn das Wasser stand ihm nun schon bis zum Hals. Man zog ihn heraus.

»Bleib in der Reihe!« brüllte ihn ein Offizier an. Aber der mit Sand bedeckte Soldat, der seinen Dank stammelte, brauchte keine weiteren Ermahnungen mehr. Er nahm schnell wieder seinen Platz in der Reihe ein.

Der Verlust an Menschenleben durch Treibsand war durch die Einführung der Marschreihen zurückgegangen. In den ersten Tagen hatte es Verluste von über zweihundert Mann gegeben, in einem Fall hatte es sogar einen ganzen Zug erwischt. Möglicherweise hatte der trügerische Untergrund sogar noch größere Verluste gefordert, die nur nicht bekannt geworden waren.

»Beweg dich gefälligst!« rief Plenius aus dem Boot.

»Auf meinem Rücken, ein Blutegel«, sagte ich. »Ich kann ihn fühlen. Macht ihn weg!«

»Von mir aus kannst du damit übersät sein, du spionierender Sleen«, knurrte er.

»Ich möchte, daß man ihn entfernt!« beharrte ich.

»Keine Angst, die haben nur Hunger. Wenn er genug hat, fällt er schon von selbst ab.«

»Hier ist noch einer«, sagte ein Mann, der neben mir durch das Wasser watete, und hielt einen nassen, platten, sich windenden Egel hoch. Er war etwa zehn Zentimeter lang und vielleicht einen Zentimeter dick. »Von denen gibt’s hier vermutlich eine ganze Menge«, sagte er und warf ihn zurück ins Wasser.

Ich schauderte.

»Komm ja nicht zum Boot zurück«, warnte mich Plenius.

Ich erschauderte erneut. Da war eine zweite dieser Kreaturen an meinem Bein, hoch oben an der Hinterseite.

»Anhalten!« rief da ein Ausguck. Er stand hoch oben auf einer Plattform, die man im Bug eines der Lastkähne aufgestellt hatte. Von dieser Position aus konnte er über das Rence blicken. »Da vorn!« rief er. »Da ist eine Barke!«

Ein Offizier kletterte hinauf. Er hielt sich schützend die Hand über die Augen. »Jawohl!« rief er dann hinunter. »Eine Barke! Keine von unseren! Wir haben sie!«

Aus vielleicht tausend Mündern erschallte Jubel.

»Vorwärts!« riefen anderen Offiziere. »Vorwärts, Männer!«

Die Soldaten drängten nach vorn. Ich konnte Rufe unserer Nachhut hören, so schnell hatte sich die Nachricht verbreitet.

»Die Verfolgung ist zu Ende!« rief mein Bewacher. »Ars Rache steht unmittelbar bevor!«

Mein Hals war wund.

»Bald, Sleen«, sagte er schadenfroh. »Bald wirst du deine cosischen Herrn sehen, wie sie unter unseren Klingen fallen.«

Ich stand auf unsicheren Beinen im Wasser. Ich konnte die Blutegel deutlich auf meinem Körper spüren, einen auf dem Rücken, den anderen am Bein. Plötzlich spürte ich einen weiteren. Er sog sich neben dem ersten fest, auf meinem Rücken.

»Zieh schon!«

Ich stemmte mich wieder gegen das Seil; es schnitt mir in die Haut ein.

Die Sonne stand hoch am Himmel.

Wir kamen nur langsam voran; es dauerte eine scheinbare Ewigkeit, bis wir die Lücke zu der angeblichen Barke schlossen. Sie wurde von Zeit zu Zeit erneut gesichtet. Nach einiger Zeit begannen die Männer aus Ar zu singen. Der Sumpf hallte von ihren Liedern wider.

»Wessen Barke ist das?« fragte ich plötzlich.

Sie glitt an uns vorbei, von mehreren Männern mit Stangen fortbewegt, wie eine Geistererscheinung. Sie war purpurn und vergoldet; ihr Bug war dem anmutigen langen Hals und spitzschnäbeligen Kopf eines Gant nachempfunden; die Heckschnitzereien stellten Federn dar. Sie verfügte über eine offene, vergoldete Kabine, die von einem durchsichtigen, goldenen Netz verhüllt wurde. Die Stangen, die das Gefährt vom Grund abstießen, waren vergoldet. Ein solches Schiff stellte einen verblüffenden, unzumutbaren Gegensatz zu dem erbärmlichen, verkommenen und zusammengewürfelten Rest der Flotte dar. Es gehörte nicht ins Delta, sondern in einen Kanal oder auf eine ruhige Wasserstraße.

»Sie will dabeisein, wenn wir sie vernichten«, sagte ein Soldat.

»Sie?«

»Ina, eine Lady aus Ar.«

»Ina«, wiederholte ich. »Könnte ein Sklavenname sein.«

»Das ist aber keine Sklavin.«

»Nein, allerdings nicht«, lachte ein anderer, vielleicht sogar etwas bedauernd.

»Das ist Ina, eine Lady aus Ar«, erklärte der Soldat. »Sie gehört zum Stab von Saphronicus, eine politische Beobachterin, angeblich eine Vertraute von Lady Talena aus Ar; sie erstattet ihr Bericht.«

»Wo ist Saphronicus’ Barke?« fragte ich.

»Die ist zweifellos irgendwo hinter uns.«

»Zweifellos«, sagte ich.

»Zieh jetzt endlich!« befahl Plenius.

Ich stemmte mich wieder gegen das Seil und zog das mit Wasser vollgesogene Boot weiter.

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