25

Ich stand auf, streckte mich und lachte. Ina, die an meiner Seite geschlafen hatte, sah mich überrascht an. Ich fühlte mich ausgeruht.

»Ihr kettet mich ja los«, sagte sie.

»Bleib in meiner Nähe.«

»Wohin gehen wir?«

»Neugier bekommt einer Kajira nicht.«

Ich wollte zum Sklavenlager. Dort gab es Hunderte von Sklavinnen. Möglicherweise bot sich mir dort die Gelegenheit, Ina zu verstecken oder sie entkommen zu lassen. Allerdings war ich, wenn ich mir gegenüber ehrlich war, nicht besonders zuversichtlich.

Ein Mann stellte sich mir in den Weg. »Bleib stehen!« sagte er. »Du verläßt das Lager nicht.«

»Tritt beiseite«, sagte ich, »oder ich entferne dich aus meinem Weg.«

Er lachte. Und Ina schrie auf.

»Ihr habt ihn getötet!«

Ich wischte die Klinge an seiner Tunika ab. Ich war nicht in scherzhafter Stimmung.

»Was wollte er?« fragte sie. »Warum wollte er uns am Gehen hindern?«

Ich blickte mich um. Die sieben Männer schienen wie aus dem Nichts zwischen den Zelten aufgetaucht zu sein.

»Was wollen sie?« rief Ina.

»Stell dich mir nicht in den Weg«, sagte ich zu dem Mann vor mir.

Er warf einen Blick auf seinen gefallenen Kameraden, auf das Blut im Straßenstaub.

Ich trat bedrohlich einen Schritt auf ihn zu, und er wich schnell zur Seite, genau wie ein anderer seiner Kameraden, der ebenfalls den Weg verstellt hatte.

Ich ging mit gezogener Klinge an ihnen vorbei. Ina eilte hinter mir her.

Sofort nahmen sie die Verfolgung auf, kamen aber nicht nahe genug, um in einen Kampf verwickelt zu werden.

Ich drehte mich um, drohte ihnen, und sie wichen zurück. Ich ging schnell auf einen zu, und er drehte sich um und lief davon. Da schrie Ina auf. Ich fuhr herum, und ein anderer Mann, der nahe an mich herangekommen war, wich zurück.

»Kommt her, na los!« lud ich sie ein. Meine Stimme muß sich schrecklich bedrohlich angehört haben. Ina wimmerte. Ich glaube, sie hatte Angst, mir zu folgen.

»Geh nicht mit ihm, kleine Vulo!« rief einer der Männer.

»Komm mit uns«, lockte ein anderer.

»Er ist verrückt«, sagte ein dritter. »Sieh dir nur sein Gesicht an, seine Augen.«

»Ich muß mit ihm gehen«, rief Ina. »Er ist mein Herr.«

»Wir werden deine Herren sein.«

»Was wollen sie von Euch«, fragte sie mich. »Was habt Ihr getan?«

»Komm mit«, erwiderte ich nur.

Ich schob das Schwert in die Scheide, scheinbar voller Hochmut, drehte ihnen bewußt den Rücken zu und ging los. Ich zählte bis drei, warf mich ohne Vorwarnung herum und zog die Klinge. Ina sprang beiseite.

Der Verfolger spuckte Blut, taumelte zurück und stürzte in den Staub. Ich drehte mich im Kreis. Keiner der anderen hatte sich mehr als einen Meter genähert; sie waren stehengeblieben. Ich sah mir den Mann, der zu Boden gegangen war, genauer an. Es war derselbe Bursche, der eben versucht hatte, mich von hinten niederzuschlagen. Ich hatte mir schon gedacht, daß er es war und daß er es auf die gleiche Weise erneut versuchen würde, und er hatte es tatsächlich versucht. Mit einer solchen List kann man einen Gegner manchmal auflaufen lassen.

»Er ist tot«, sagte einer seiner Kameraden, der ihn umdrehte.

Ina schrie auf.

Sie starrte mich entsetzt an.

Ich hatte Angst, sie könnte vor mir davonlaufen, also ergriff ich sie am Arm und schob sie auf das Sklavenlager zu. Keiner der Männer stellte sich mir in den Weg. Allerdings blieben sie so nahe auf den Fersen, wie es ihr Mut zuließ.

Unbeirrt ging ich weiter.

Im Lager drehten sich Köpfe zu uns um.

Ich schritt schneller aus. Ina keuchte. Sie kam kaum mit. »Herr!« schluchzte sie.

»Still, Sklavin!« sagte ich. Ich war wütend. Ich konnte mir nicht mehr vorstellen, Ina im Lager verschwinden zu lassen oder gegen jemanden auszutauschen. Die Verfolger waren zu nahe. Ich kam nie mehr als an einen oder zwei von ihnen heran; das verschaffte den anderen mehr als genug Zeit, sich zurückzuziehen oder – was wahrscheinlicher war – die Gelegenheit zunutze zu machen und die Sklavin zu entführen oder zu töten.

Ich stieß Ina durch das Tor des Sklavenlagers.

Ein Mann, der dort herumlungerte, lachte, als er sah, wie die hübsche Sklavin ins Lager gebracht wurde, aber dann verstummte er, als er die Gruppe bemerkte, die uns verfolgte und die plötzlich von fünf auf ein Dutzend angewachsen war.

Ich ging eine Zeitlang stur geradeaus, zwischen Zelten und überdachten offenen Ständen vorbei, durch Korridore aus Käfigen, Wagen und Käfigwagen, vorbei an dem Krankenzelt, an Ständen, an denen man Salben, Parfüm, Tuniken, Stricke, Riemen, Peitschen, Handschellen, Ketten und Eisenkragen erwerben konnte. Irgendwo in der Mitte des Lagers blieb ich stehen, auf einem runden Platz, auf dem sich sonst während der Auktionen Großhändler drängten und ihre Gebote machten.

Unsere bedrohlichen Gefährten waren uns nicht von der Seite gewichen; sie begleiteten uns wie Schatten, bewaffnet und stumm. Mittlerweile waren es fünfzehn Mann.

Ich ließ Ina los, und sie sank schluchzend auf die Knie. In ihren Augen flackerte die nackte Angst.

»Warum wollen sie mich töten?« Sie war klug; sie hatte begriffen, worum es hier ging.

»Ich vermute, daß Ar jemanden für die Katastrophe im Delta zur Verantwortung ziehen will. Deine Mitverschwörer haben dich und vielleicht einige andere auserwählt, öffentlich von euch Abstand genommen und die Behauptung in die Welt gesetzt, daß ihr die anderen getäuscht habt und so weiter. Auf diese Weise können die mächtigeren Verschwörer Ars Ruf nach den Verantwortlichen befriedigen und zur gleichen Zeit die Aufmerksamkeit von sich ablenken. Andererseits wollen deine einflußreicheren Freunde das Risiko nicht eingehen, daß deine Aussage bei einer Gerichtsverhandlung zur Sprache kommt.«

»Aber ich bin doch nur eine Sklavin«, sagte sie.

»Aber eine Sklavin, die mehr weiß, als gut für sie ist.«

»Ich könnte doch versprechen, nichts zu sagen.«

»Du würdest sprechen«, sagte ich.

Sie starrte mich ängstlich an.

»Wie du weißt, wird die Aussage einer Sklavin unter der Folter aufgenommen.«

»Gib sie uns, und wir lassen dich gehen!« rief einer der Männer.

Ich musterte ihn.

»Schnappen wir sie uns und teilen die Belohnung allein unter uns«, schlug ein anderer vor.

»Ja, genau«, rief einer eifrig. Er ließ sich wohl zu leicht von seinem Freund beeinflussen, denn er stürzte sich auf mich. Mit einem Tritt löste ich ihn von der Klinge, dann fuhr ich herum, um mich seinem Freund zu stellen, der den Vorschlag gemacht hatte. Der blieb wie angewurzelt stehen, rutschte aus, fiel auf ein Knie und kroch auf allen vieren zurück. Mir blieb nicht genug Zeit, ihm einen Hieb zu verpassen, da ich einen weiteren von Octantius’ Männern von Ina verscheuchen mußte, die hinter mir auf dem Boden kniete.

»Überlaß sie uns, wir teilen die Belohnung mit dir!«

»Ja, wir geben dir zehn Goldstücke, Tarnscheiben aus Ar!«

»Das ist mehr, als du sonst für sie bekämst.«

Ich betrachtete Ina. Ja, dachte ich, das ist mehr, als sie mir auf dem Auktionsblock einbrächte.

»Octantius wird bald hier sein«, sagte einer der Verfolger und warf einen Blick über die Schulter. »Dann muß die Belohnung zwischen zu vielen Leuten aufgeteilt werden.«

»Einige dich mit uns.«

»Octantius wird Bogenschützen mitbringen. Dann ist jeder Widerstand zwecklos.«

»Einige dich mit uns«, wiederholte der erste Sprecher.

»Bleibt zurück!« warnte ich die Männer. Dann zerrte ich Ina auf die Beine und ging einfach weiter geradeaus, zwischen den Jägern hindurch, die den Weg freigaben. Aber sobald ich an ihnen vorbei war, nahmen sie die Verfolgung wieder auf, kamen so nahe heran, wie sie es nur wagen konnten. Gelegentlich tat ich einen Schritt auf den einen oder anderen zu, der dann die Flucht ergriff, aber die Meute blieb bei uns wie ein Rudel Sleen, das einen Larl verfolgt und darauf wartet, daß er einen Fehler begeht oder müde wird.

»Wohin willst du eigentlich?« rief mir einer nach.

Ich beachtete ihn nicht.

Es ging weiter in die Richtung, in die der Mann geblickt hatte, der befürchtete, daß Octantius mit seinen Männern zu früh eintreffen und so den Anteil an der versprochenen Beute verkleinern könnte.

Ich hatte zwei Pläne, denen ich ehrlich gesagt allerdings keine großen Erfolgssaussichten zubilligte. Beide Pläne verlangten das Zusammentreffen mit Octantius; falls er das Gold nicht bei sich trug, wollte ich ihn in ein dreistes Täuschungsmanöver verwickeln und ihn davon überzeugen, wie es zweifelhaft war, daß er es überhaupt bekam; hätte er das Gold dabei, wollte ich ihn zu einem Zweikampf verleiten, nach dem ich, falls ich siegreich wäre, mir das Gold schnappen und es an die Männer verteilen könnte, um sie auf diese Weise hoffentlich loszuwerden.

»Da ist Octantius!«

Ich blieb stehen und fand mich in der Mitte eines aus Männern gebildeten großen Kreises wieder, der etwa einhundert Meter durchmaß; wir befanden uns in der Nähe des Haupttores, und es mußten mindestens siebzig oder achtzig Mann sein.

»Tal«, sagte Octantius, erhob sich von dem Stuhl, auf dem er unter einem Baldachin saß, und reichte einem Untergebenen seinen Becher.

»Tal«, erwiderte ich den Gruß.

Er zeigte auf einen Ledersack, den ein Mann an seiner Seite in beiden Händen hielt. »Ich habe nicht damit gerechnet, daß man mir die unversehrte Sklavin liefert«, sagte er. »Ich dachte, ich erhielte nur ihren Kopf, der dann in diesen Sack gesteckt werden sollte.«

Keiner der Männer, die den Ring bildeten, trat vor. Ich vergewisserte mich dessen mit einem Blick in die Runde.

Ina sank auf die Knie. Ich glaube nicht, daß sie noch die Kraft hatte, sich auf den Beinen zu halten. Andererseits war es angemessen, daß sie niederkniete, befand sie sich schließlich in der Gegenwart von freien Männern.

»Erinnerst du dich an mich?« rief Octantius.

»Ja«, sagte sie.

»Ich mußte einst von ihr Befehle entgegennehmen«, sagte er.

Gelächter erscholl.

»Wo sind dein Schleier und deine schönen Gewänder jetzt?« rief er. Sie schwieg.

»Jetzt bist du, was du schon immer hättest sein sollen«, sagte er. »Eine Sklavin.«

Ina antwortete nicht.

»Ist das nicht richtig?«

»Ja«, sagte sie.

Ich warf ihr einen scharfen Blick zu.

»Ja, Herr!« rief sie Octantius zu.

Erneut erscholl Gelächter. Mittlerweile hatten sich weitere Männer dazugesellt, die neugierig sehen wollten, was sich hier abspielte.

»Mir ist berichtet worden, daß du gut gekämpft hast«, wandte sich Octantius an mich.

Ich schwieg.

»Köpf sie!«

»Nein.«

»Übergib sie uns, und du kannst gehen.«

»Nein.«

Octantius zuckte mit den Schultern. »Wie du willst. Es ist deine Entscheidung.« Auf ein Signal hin traten einige seiner Männer vor. Armbrustschützen. Sie zogen Bolzen und legten sie ein.

»Warte!« rief ich.

Er hob die Hand, und die Schützen warteten mit dem Anlegen.

»Das Gold wird niemals für sie bezahlt werden.«

»Warum nicht?« fragte er.

»Saphronicus ist tot!«

Plötzlich schien er nachdenklich zu werden.

Ich war natürlich von der Annahme ausgegangen – eine unter diesen Umständen naheliegende und anscheinend auch gerechtfertigte Annahme –, daß er einer von Saphronicus’ Agenten war. Nur Saphronicus, im Norden vermutlich der wichtigste Verschwörer, konnte derjenige sein, der Octantius lenkte und die Belohnung zur Verfügung stellte.

»Saphronicus ist nicht tot!« sagte er.

»Doch, er ist tot«, beharrte ich auf meiner Behauptung.

»Wo willst du das gehört haben?« erkundigte sich Octantius lächelnd.

»Ich habe eben davon gehört.« Natürlich hatte ich nichts dergleichen gehört. Ich hatte gehofft, daß Octantius das Gold nicht bei sich trüge und daß ihm im Fall von Saphronicus’ Tod Zweifel kämen, ob es jemals bezahlt werden würde. Auf diese Weise hatte ich Zeit gewinnen wollen. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß man Ina ohne den nötigen Anreiz umbringen würde.

Octantius warf den Kopf in den Nacken und lachte.

»Saphronicus ist tot!« beharrte ich, was diesmal aber mehr an die Männer als an Octantius gerichtet war.

Die Männer, ein rauher Haufen, blickten einander unbehaglich an. Mittlerweile waren noch mehr Fremde dazugekommen, die wissen wollten, was hier geschah.

»Octantius?« rief einer der Männer fragend.

»Er lügt.«

Die Männer tauschten Blicke aus.

»Es ist ein Spiel, eine List, um Zeit zu gewinnen«, sagte Octantius. »Merkt ihr das nicht?«

Zu meiner Zufriedenheit sah ich, daß nicht alle Männer davon überzeugt waren. Neuigkeiten verbreiten sich auf Gor nicht auf eine geradlinige, verläßliche Weise. Außerdem reisen sie bei den Entfernungen, den Übertragungsmöglichkeiten und den gelegentlich gefährlichen Reisewegen nicht immer schnell. Zweifellos gab es auf Gor noch immer Städte, die noch nichts vom Fall Ar-Stations gehört hatten. Daher ist es nicht verwunderlich, daß sich in einem solchen Milieu Gerüchte oft verselbständigen. Selbst am Hof eines Ubars fällt es bisweilen schwer, das eigentliche Geschehen zu ergründen, weil die Berichte der untergeordneten Städte und Dörfer verzerrt und von Meinungen entstellt wiedergegeben werden.

»Selbst wenn Saphronicus tot wäre, was er nicht ist«, sagte Octantius wütend, »würde das keine Rolle spielen.« Er zerrte eine Geldbörse unter der Tunika hervor. »Das Gold ist hier!«

Seine Männer jubelten.

Einhundert Goldstücke sind eine Menge Geld, wenn man sie mit sich herumzutrüge, es ist ein Vermögen, vor allem in allgemein gültigen Tarnscheiben. Es wäre durchaus vorstellbar gewesen, daß Octantius das Gold nicht bei sich trüge; ebenso hätte er einen Wechsel über das Geld dabei haben können. In diesem Fall hätte ich versucht, den Wert des Wechsels in Zweifel zu ziehen. Viele der Kerle konnten vermutlich nicht einmal lesen. Sie gehörten zu den Männern, die Papieren wie Wechseln oder Kreditbriefen nicht trauten. Das war etwas anderes als eine Geldmünze in der Hand oder eine Frau im Arm.

»Fordere mich doch heraus!« lud ich Octantius ein.

Er lächelte.

»Wenn du sie haben willst, laß uns das Klingenspiel spielen.«

Er schob das Gold zurück unter die Tunika.

»Laß die Schwertkunst entscheiden.«

»Nein, das will ich nicht.«

»Kämpfe!«

»Warum sollte ich? Sie gehört mir doch schon. Was hätte ich durch einen Kampf zu gewinnen?«

Ich erwiderte: »Feigling!«

»Das kannst du nicht behaupten, und selbst wenn es der Wahrheit entspräche, wüßtest du es nicht.«

»Feigling!« wiederholte ich ärgerlich.

»Ich halte mich für mutig genug, um unter Männern bestehen zu können«, sagte er. »Andererseits ist es nicht meine Auffassung von Mut, in einen Abgrund zu springen oder mich in den Rachen eines Larls zu stürzen.«

»Du gibst deine Feigheit also zu?«

»Du beleidigst eher meine Fähigkeit zu denken als meinen Mut, da du tatsächlich glaubst, du könntest mich auf so billige Weise beeinflussen.«

»Kämpfe!«

»Wie ich gehört habe, hast du bereits einige meiner Männer getötet«, sagte er, »und darunter waren einer oder zwei, die weitaus bessere Schwertkämpfer waren als ich.«

»Wenn du nicht kämpfst, verlierst du vor deinen Männern das Gesicht.«

»Ich bin nicht ihr Hauptmann«, antwortete er. »Ich bin ihr Arbeitgeber.«

»Was ist mit der Ehre?« fragte ich.

»Etwas Lästiges«, sagte er, »ein Hindernis auf dem Weg zur Macht.«

»Dann laß die Männer gegen mich antreten, einer nach dem anderen.«

Die Schläger tauschten beunruhigte Blicke aus.

»Schützen«, sagte Octantius. »Legt an.«

Mittlerweile hatten sich zweihundert oder mehr Männer um uns versammelt. Viele waren durch das Tor gekommen.

»Ich wünsche dir alles Gute, Ina«, sagte ich.

»Ich wünsche Euch alles Gute, Herr«, flüsterte sie.

»Zielt!« befahl Octantius.

Ich war neugierig, wie es wohl wäre, die auf mich zurasenden Bolzen in ihrem Flug zu beobachten. Ich fragte, ob es mir gelänge, ihre Bahn zu verfolgen.

»Schießt!«

Ich weiß nicht, ob ich unwillkürlich die Augen schloß oder nicht. Ina hatte den Kopf gesenkt.

Plötzlich ergriff ein seltsames Gefühl Besitz von mir, so als würde ich verdrängen, daß ich getroffen worden war.

Aber dann sah ich die Schützen, zehn oder mehr, beinahe wie im Traum, wie sie sich umdrehten, taumelten und in den Staub sanken oder fielen. Ich war mir undeutlich der Bolzen bewußt, die sich in den Boden bohrten oder Furchen hineingruben wie Pflüge und Staubwölkchen aufsteigen ließen, während andere wild in den Himmel schossen, zehn, fünfzehn Meter hoch, bis sie aus der Sicht verschwanden. Unwillkürlich kam mir der Gedanke ob es sich etwa so verhielt, wenn jemand in meiner Lage die Wirklichkeit nicht anerkennen wollte. Aber dann sah ich mehr als einen Schützen im Staub liegen, aus dessen Rücken ein Bolzen ragte oder dessen Hals blutverschmiert war, wo ihm die Kehle durchtrennt worden war.

Ina sah verblüfft auf.

Ich konnte in meinem Körper keinen Eisenbolzen entdecken. Dann erst begriff ich, daß ich unverletzt war. Ich roch die Gerüche des Lagers. Ich sah die Unruhe in der Menge, die Bewegung von Gewändern. Octantius hatte die Hände gehoben. Seine Leute wurden entwaffnet.

»Wir sind am Leben!« sagte ich zu Ina. »Ich bin mir sicher! Wir leben!«

Aber sie war zu Boden gefallen. Ich drehte sie um. Sie war ohnmächtig geworden.

»Du hast uns ja eine schöne Verfolgungsjagd geliefert«, rief Marcus wütend und blickte über die Schulter. »Warum bist du nicht in unserem Lager geblieben? Wie sollten wir wissen, wo wir dich finden?« Er riß Octantius’ Tunika auf und nahm sich die Geldbörse. »Hier!« sagte er und warf das Gold einem großen Burschen zu, dessen Gesicht von einem breiten Halstuch so gut wie unkenntlich gemacht wurde. »Hier ist dein Gold!«

»Marcus!« rief ich.

»Du hättest im Lager bleiben sollen«, sagte Marcus wütend.

»Was hast du getan?«

»Ich habe Söldner angeheuert«, sagte er. »Ich ging gestern nacht zur Juwelenverzierten Peitsche und traf die nötigen Vorbereitungen. Es wäre auch alles glatt vonstatten gegangen, wärst du da geblieben, wo du hingehörtest.«

»Du hattest kein Gold, um Söldner zu bezahlen.«

»Der hier besaß genug«, erwiderte Marcus und deutete mit dem Daumen auf Octantius, der noch immer dastand und die Hände auf dem Kopf gefaltet hatte. »Also benutzte ich sein Gold.«

»Mein Freund«, sagte ich.

»Wir hätten dich nie gefunden, hätten die Leute nicht von einem Verrückten erzählt, der durch das Sklavenlager lief und Unschuldige tötete. Mir war sofort klar, daß das nur du das sein konntest.«

»Natürlich.«

»Also eilten wir herbei.«

»Wie viele sind es?«

»Etwas mehr als hundert Mann«, sagte Marcus. »Und ich kann dir versichern, diese Sleen sind wirklich nicht billig.«

Ich sah zu, wie Octantius und seine Leute gefesselt wurden. Man leerte ihre Geldbeutel.

»Wir bringen diese Kerle ein paar Pasang außerhalb von Brundisium«, sagte der Anführer der Söldner, »ziehen sie aus und lassen sie frei.«

»Ich danke dir«, sagte ich zu ihm, und mein Dank kam von Herzen.

»Du brauchst dich nicht bei ihnen zu bedanken«, sagte Marcus. »Sie sind Sleen, die man mieten kann. Es steht alles im Vertrag.«

»Weißt du, mit wem du es da eigentlich zu tun hast?« fragte ich Marcus.

»Er hat mit Edgar von Tarnwald zu tun«, sagte der Anführer der Söldner schnell.

Ich nickte. Unter diesen Umständen war das ein ausreichender Name. »Natürlich.«

»Der Söldnersleen ist nicht billig«, sagte Marcus. Als echter Soldat hatte er nur Verachtung für den Söldner übrig. Er hatte noch nicht gelernt, zwischen Söldner und Söldner zu unterscheiden. Das hatte einigen Kommandanten regulärer Verbände den Untergang beschert.

»Warum hast du mich nicht benachrichtigt, daß du da bist?« fragte ich ihn.

»Wir waren nicht da«, sagte Marcus. »Wir sind gerade erst eingetroffen.«

Ich mußte schlucken.

»Du hättest in unserem Lager bleiben sollen.«

»Offensichtlich.«

Ich ging zu Octantius herüber, dem gerade die Hände auf den Rücken gefesselt wurden. Ein Strick lag um seinen Hals. Er und seine Männer wurden in einer Reihe aufgestellt.

»Ich gehe davon aus«, sagte er, »daß man uns fortbringt und tötet.«

»Du bist ein tapferer Mann«, sagte ich.

»Es ist leicht, mutig zu sein, wenn man keine Hoffnung mehr hat.«

»Es tut mir leid, was ich eben zu dir gesagt habe.«

»Dein Plan war offensichtlich. Du hast mich nicht beleidigt.«

»Sie werden dich nicht töten«, sagte ich. »Ihr werdet fortgebracht und freigelassen.«

Er blickte mich überrascht an. Dann wurde er auch schon in Richtung auf das Tor gestoßen, wo er stehenbleiben mußte, da die nächsten Männer in die Reihe eingegliedert wurden.

Der Söldnerhauptmann wog den Beutel mit dem Gold in der Hand. Er blickte Marcus an. »Du hast uns angeheuert und dabei verschwiegen, daß du kein Gold hattest.«

»Ich hatte Aussichten auf eine größere Summe«, erwiderte Marcus.

»Und wenn du es nicht bekommen hättest?«

»Dann«, sagte Marcus, »hätte ich mein Leben teuer verkauft.«

»Ich verstehe«, sagte Edgar von Tarnwald.

Es freute mich, daß Marcus einen Plan für diese Möglichkeit geschmiedet hatte.

»Nun, jetzt hast du dein Gold«, sagte Marcus. »Du kannst gehen.«

»Marcus«, flüsterte ich. »Bitte.«

Der Söldner ging zu Ina hinüber, die noch immer bewußtlos im Staub lag. »Das ist also die kleine Verräterin und Sklavin«, sagte er. Er drehte sie mit dem Fuß auf den Bauch. »Nicht schlecht.« Er drehte sie wieder auf den Rücken. »Schöner Sklavenkörper«, meinte er.

Ich nickte.

»Wohin gehst du?« fragte er mich dann.

»Nach Ar.«

»Es wäre gefährlich, die Sklavin mit dorthin zu nehmen.«

»Diese Absicht habe ich nicht«, lächelte ich.

»Gut«, sagte er.

»In einer Ahn in meinem Lager?«

»Ich werde Mincon schicken.«

»Gut.«

»Du wirst sie kaufen müssen, wenn du sie haben willst«, mischte sich Marcus ein. Er wußte noch immer nicht, wem er eigentlich gegenüberstand.

»Welch ein mutiger Bursche«, sagte der Hauptmann. Dann warf er Marcus mit einem Lachen das Gold zu.

Marcus fing den Beutel auf und drückte ihn überrascht an die Brust.

»Ich wünsche dir alles Gute«, sagte Edgar von Tarnwald zu mir.

»Ich wünsche dir ebenfalls alles Gute.«

Dann wandte er sich Marcus zu. »Ich wünsche dir ebenfalls alles Gute, mein junger Freund.«

»Ich verstehe nicht«, sagte Marcus.

»Das liegt daran, daß du kein Söldner bist«, erklärte der Hauptmann.

»Ich verstehe noch immer nicht.«

»Wir haben unsere Belohnung bereits erhalten.«

»Aber… das Gold?«

»Gold ist nicht die einzige Münze, mit der bezahlt werden kann.«

»Nochmals danke«, sagte ich.

»Nicht der Rede wert«, antwortete der Hauptmann. Er wandte sich zum Gehen, blieb dann aber noch einmal stehen. »Ich hörte eben, wie ein Zuschauer erzählte, du hättest behauptet, Saphronicus sei tot.«

»Das ist richtig.«

»Woher hast du das gewußt?«

»Ich weiß es nicht. Ich habe es mir einfallen lassen, da ich Zeit gewinnen wollte.«

»Ein bemerkenswerter Einfall.«

»Warum?«

»Weil Saphronicus tot ist.«

Ich konnte es nicht glauben. »Woher willst du das wissen?«

»Ich habe einen Agenten im Heerlager von Ar vor Holmesk«, sagte Edgar von Tarnwald.

»Was ist geschehen?«

»Das ist unklar«, sagte er. »Die Berichte widersprechen sich.« Dann drehte sich der Hauptmann um und verließ mit wehendem Umhang das Lager.

»Ich wünsche dir alles Gute!« rief Marcus ihm verblüfft hinterher.

»Du bist reich«, sagte ich.

»Die dunkelhaarige Sklavin!« rief er. »Jetzt kann ich mir sie leisten.«

Er drehte sich um und rannte davon.

Ich ging neben Ina in die Hocke und schüttelte sie.

»Bin ich am Leben?« fragte sie und kniete sich hin.

»So sieht es wohl aus.«

»Wo sind sie?«

»Man hat sie weggebracht«, sagte ich.

»Werden sie zurückkehren?«

»Ich glaube nicht«, sagte ich. »Das Gold ist weg.«

»Dort, wo es herkommt, gibt es noch mehr.«

»Da bin ich mir nicht so sicher«, sagte ich. »Ich habe gehört, daß Saphronicus tot ist.«

»Er ist tatsächlich tot?«

»Ich glaube schon.«

»Dann droht mir keine Gefahr mehr?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht.«

»Und was geschieht mit mir?«

»Während du ohnmächtig warst, fand jemand Gefallen an deinem Sklavenkörper.«

»Mein Sklavenkörper!« Entsetzt preßte sie die Knie zusammen und bedeckte die Brüste mit den Händen.

»Ja«, sagte ich. »Und jetzt spreiz die Knie und leg die Hände auf die Oberschenkel.«

Sie gehorchte.

»Was geschieht mit mir?« fragte sie erneut.

»Komm mit«, sagte ich, und wir kehrten zurück in unser Lager.

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