6

»Da will dich jemand sehen«, sagte Plenius.

Die Cosianer waren angeblich noch immer irgendwo vor uns. So wie Saphronicus, der Kommandant, irgendwo hinter uns war.

Ich blickte von dem Sand auf, auf dem ich zwischen zwei Pfosten angebunden lag, die Hände auf dem Rücken zusammengekettet.

»Säubert ihn«, befahl ein Soldat, den ich bis jetzt noch nie zuvor gesehen hatte. Er trug das Abzeichen eines Adjutanten.

»Kämmt sein Haar, wascht ihn. Aber schnell«, ergänzte sein Begleiter, ebenfalls ein mir unbekannter Soldat. »Er soll ordentlich aussehen.«

Man löste meine Fußfesseln. Das Seil um meinen Hals wurde für den Augenblick, den sie brauchten, um mich auf die Knie zu ziehen, gelöst, um dann sofort wieder angelegt zu werden, diesmal meiner knienden Position angepaßt. Sand und Schlamm wurden von meinem Körper gewischt. Meine Hände blieben auf den Rücken gefesselt. Man kämmte mein Haar.

»Soll er ein Lendentuch bekommen?« fragte Plenius.

»Das wird nicht nötig sein«, erwiderte der Adjutant.

»Was ist los?« fragte ich.

»Du sollst verhört werden«, antwortete er.

»Ist er sicher gefesselt?« Ich war überrascht. Wie jeder, der diese Stimme hier im Delta gehört hätte. Es war eine Frauenstimme!

»Das ist er, Lady«, sagte der Adjutant.

Sie ging vorsichtig über den feuchten Sand, die in Pantoletten steckenden Füße machten tastende, angeekelte kleine Schritte. Die Schuhe waren vermutlich ziemlich teuer gewesen. Vermutlich wollte sie sie nicht beschädigen.

Sie betrachtete mich.

Sie war klein, und ihre Figur, die von dem schweren Stoff ihres Gewandes, das hier im Delta sowohl lächerlich wie auch unbequem aussah, verborgen wurde, schien recht mollig zu sein. Sie war verschleiert, wie es sich für eine goreanische Frau – vor allem eine von hohem gesellschaftlichen Rang – aus einer der großen Städte gehörte. In einigen Städten ist der Schleier für die freien Frauen durch das Gesetz vorgeschrieben, nicht zu vergessen durch Schicklichkeit und Etikette, so wie das Gesetz verbietet, daß Sklavinnen verschleiert gehen dürfen.

»Zieht euch zurück«, befahl sie den Umstehenden. »Ich will ungestört mit ihm sprechen.«

Plenius überprüfte die Handschellen und die Länge und Festigkeit der Leine um meinen Hals. Dann zog er sich mit den anderen zurück.

Sie hob den Saum ihres Gewandes ein winziges Stück von dem feuchten Sand hoch und hielt den Stoff mit einer Hand fest. Sie wollte ihn wohl nicht beschmutzen. Sie wirkte hochmütig, unzufrieden, verachtungsvoll und verwöhnt. Zweifellos gab es andere Orte, an denen sie lieber als im Delta gewesen wäre, so wie die Arkaden und Basare von Ar. Ich konnte die Spitzen der bestickten Pantoletten sehen.

»Weißt du, wer ich bin?« fragte sie.

Ich blickte an ihr vorbei, über die Fackeln hinaus. Da ich nun kniete, konnte ich die purpurne und vergoldete Barke sehen, die mit der goldenen Kabine und dem goldenen Netz.

»Weißt du, wer ich bin?«

Mir entging nicht, daß sie den Saum des Gewandes kaum mehr als einen Hort hob, kaum genug, um ihn vom Sand zu heben. Die Soldaten von Ar, alles Berufs-Soldaten, unterlagen einer strengen und genauen Disziplin. Doch ich vermutete, daß sie schlau genug war, ihnen nicht ihre Fußknöchel zu zeigen. Schließlich waren es alles Männer, goreanische Männer, die schon lange keine Frau mehr gehabt hatten.

»Ich bin Ina, eine Lady aus Ar«, sagte sie, »und gehöre zum Stab von Saphronicus, dem Kommandanten des Nordens.«

»Ich weiß«, sagte ich.

»Ich bin eine Beobachterin, im Auftrag von Talena, der Lady aus Ar, der Tochter des Marlenus.«

»Der ehemaligen Tochter von Marlenus«, berichtigte ich. »Er hat sie enterbt und verstoßen, und zwar rücksichtslos.«

»Du scheinst dich in der Politik von Ar auszukennen.«

»Es kommt mir ungewöhnlich vor, daß eine solche Frau, die enterbt und verstoßen wurde, die doch sicherlich im Zentralzylinder entehrt unter Hausarrest stand, daß eine solche Frau in der Lage ist, eine Beobachterin ins Delta zu schicken.«

»Sie ist wieder im Aufstieg begriffen.«

»Den Eindruck habe ich auch.«

»Du bist Tarl, aus Port Kar?«

»Schon möglich.«

»Du wirst meine Fragen auf befriedigende Weise beantworten!«

Ich schwieg.

»Mach die Beine auseinander!« fauchte sie.

Ich gehorchte.

»Du bist Tarl, aus Port Kar.«

»Man kennt mich an allen möglichen Orten, unter verschiedenen Namen.«

»Du bist Tarl, aus Port Kar«, wiederholte sie ärgerlich.

»Ja.« Ich war Tarl aus Port Kar, Stadt des großen Arsenals, Stadt der vielen Kanäle, Juwel des schimmernden Thassa.

»Du bist ein ansehnlicher Bursche, Tarl.«

Ich schwieg.

»Aber da sind viele Wunden an deinem Körper«, schalt sie mich.

»Die sind von Schlägen, von Fesseln, von dem scharfen Renceschilf, von den Bissen der vielen Insekten, von den Zähnen der Sumpfegel.«

Sie erschauderte.

»Es ist schwierig, das Delta unbeschadet zu durchqueren«, erklärte ich, »besonders wenn man nackt im Wasser ein Floß zieht.«

»Eine passende Beschäftigung für einen Spion«, lachte sie.

»Zweifellos.«

»Du siehst gut aus, nackt, angekettet, auf den Knien vor mir, Spion aus Cos.«

»Bei der Hitze und der Luftfeuchtigkeit hier im Delta ist dein verhüllendes Gewand sicher sehr unbequem«, sagte ich.

Sie sah mich ärgerlich an.

»Zweifellos würdest du sich besser fühlen, wenn du es auszögest.«

»Heute haben wir einen großen Sieg errungen«, sprach sie wütend, ohne auf meine Bemerkung einzugehen.

»Über die Cosianer?«

»In gewisser Weise«, sagte sie verdrossen.

»Nein«, sagte ich. »Über Rencebauern.«

Ihre Augen blitzten über dem Rand des Schleiers auf.

»Die Männer der rechten Flanke stolperten über ein Dorf von Rencebauern«, sagte ich. »Das ist alles.« Ich hatte mir das aus den Gerüchten zusammengereimt, die heute aus dieser Richtung gekommen waren.

»Die Rencebauern sind Verbündete von Cos!« behauptete sie.

Cos hatte im Delta einen starken Einfluß, das war richtig, aber ich hielt die Bauern nicht für offizielle Verbündete von Cos. Mit ihren kleinen, weit verstreuten Gemeinschaften neigten sie dazu, ein geheimniskrämerisches, ausgesprochen unabhängiges Völkchen zu sein.

»Das Dorf wurde zerstört!« Sie lachte.

»Es tut mir leid das zu hören.«

»Weil du Cos unterstützt.«

»Die Bürger Port Kars befinden sich mit Cos im Krieg.« Dieser Krieg bestand hauptsächlich aus Scharmützeln, die fast immer auf See stattfanden, und politischen Formalitäten. Seit der Schlacht am 25. Se’Kara im ersten Jahr der Herrschaft des Kapitänrates von Port Kar, oder, um die Chronologie Ars zu benutzen, dem Jahr 10120 C.A., Contasta Ar, nach der Gründung Ars, hatte keine größere Auseinandersetzung mehr stattgefunden. In dieser Schlacht hatten die Streitkräfte von Port Kar die vereinigten Flotten von Cos und Tyros besiegt.

»Unter den Bürgern von Port Kar gibt es zweifellos genau solche Verräter wie in den anderen Städten auch.«

Ich nickte.

Sie lachte wieder verächtlich. »Aber du jammerst über das Schicksal deiner Verbündeten, der Rencebauern.«

»Nicht nur sie tun mir leid«, sagte ich.

»Wer denn noch?«

»Die Männer aus Ar.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Es gab doch sicher Warnsignale, Tücher an zepterähnlichen Rencestengeln, zuerst weiße, später dann rote, die man in der Nähe des Dorfes aufspannte.«

Lady Ina nickte. »Sie wurden in den Berichten erwähnt.«

»Trotzdem sind eure Späher weitergezogen.«

»Ar geht dorthin, wo es will. Davon abgesehen hätten diese Zeichen auch von Cos aufgestellt worden sein können.«

»Diese Zeichen dienen dazu, Fremde zu warnen«, erklärte ich. »In ihrer Nähe wären Cosianer genauso wenig willkommen wie Arer.«

Sie lachte erneut. »Wir Arer kennen keine Furcht. Außerdem spielt das alles keine Rolle mehr. Wir haben gesiegt. Das Dorf wurde zerstört.«

»Ist deine Barke in der Nähe des Dorfes gesehen worden?«

»Vermutlich.«

»Gab es Überlebende?«

»Woher soll ich das wissen?«

Ich schwieg.

»Es war ein großer Sieg.«

Darauf gab es nichts zu erwidern. Ich kannte ein paar Rencebauern. Allerdings lebten die viel weiter im Westen.

Sie lachte wieder. »Denk nicht länger darüber nach, mein hilfloser, hübscher Spion«, sagte sie dann. »Es ist vorbei. Erledigt.«

»Vielleicht.«

Sie hob den Kopf. »Hör doch, im Sumpf sind Vosk-Möwen.«

»Vielleicht.«

»Was willst du damit sagen?«

Ich schwieg wieder.

»Ich habe die Befehlsgewalt über viele Männer«, warnte sie mich.

»Warum bist du gekommen?« fragte ich sie. »Um mich zu quälen?«

»Mach die Knie noch weiter auseinander«, fauchte sie.

Ich gehorchte.

Sie lachte. »Wie ich hörte, hat man dir heute einen Knebel verpaßt, da keiner dein Gejammer mehr hören wollte.«

Das entsprach der Wahrheit. Der Hauptmann hatte mich knebeln lassen. Ich hatte ihn sprechen wollen. Plötzlich sah ich eine Gelegenheit.

»Hören die Offiziere auf dich?«

»Vielleicht«, lachte sie.

»Dann laß mich dir ein paar Dinge anvertrauen«, fuhr ich drängend fort.

»Sprich weiter.«

»Diese Dinge müssen an die hohen Offiziere weitergeleitet werden. Das ist unglaublich wichtig.«

Sie lachte wieder. »Sag schon, du lügnerischer Spion.«

»In Ar findet ein Verrat von gigantischen Ausmaßen statt«, fing ich an. »Einige der höchsten Würdenträger der Stadt haben Anteil an diesem Verrat, darunter Seremides, der Hohe General, und Saphronicus, dessen Stab du zugeteilt wurdest. Aus diesem Grund kam niemand Ar-Station zur Hilfe, und es fiel. Aus diesem Grund hat Ar den Winter untätig verstreichen lassen. Und jetzt hat man Ar ins Vosk-Delta gelockt! Ich sage dir, es war kein Zufall oder unerwartetes Glück, daß in Turmus und Ven Hunderte von Booten aller Art für die Delta-Expedition bereitstanden. Wäre das möglich gewesen, wenn vorher cosische Truppenverbände in großer Zahl das Delta betreten hätten, um der Rache von Ar zu entfliehen? Hätten sie diese Gefährte nicht selbst benutzt oder sie zumindest zerstört? Was glaubst du, wo die Sympathien der Bürger von Turmus oder Ven liegen, bei Ar oder bei Cos?

Begreifst du nicht, daß man diese Boote für Ar zusammengesucht hat, daß diese Boote fast alle in erbärmlichem Zustand sind? Das Holz ist alt, die Planken weisen Risse auf, die Rümpfe sind nachgiebig; vielleicht hat man sogar die Kalfaterung entfernt oder sie durch Pech und Schlamm ersetzt. Bei vielen Rencebooten sind die Schilfbündel schon halb verfault. Ich glaube nicht einmal, daß sich überhaupt cosische Verbände im Sumpf aufhalten! Sicherlich muß doch ein halbwegs intelligenter Offizier diese Möglichkeiten in Betracht gezogen haben! Ich gebe dir nur zu bedenken, daß Saphronicus, dein Kommandant, nicht im Delta ist!«

»Nein«, antwortete Lady Ina. »Saphronicus hält sich nicht im Delta auf.«

»Das weißt du?«

»Aber sicher.« Sie lachte wieder.

»Leite diese Überlegungen an die hohen Offiziere weiter, ich beschwöre dich!« sagte ich. »Und wenn du das nicht tun willst, laß sie wenigstens überprüfen! Ar muß sich so schnell wie möglich aus dem Delta zurückziehen!«

»Das sehe ich anders.«

»Ich verstehe nicht«, sagte ich. »Selbst du müßtest doch verstehen können, was ich eben gesagt habe.«

»Aber sicher.« Und wieder lachte sie.

»Dann trag alles den Offizieren vor.«

»Nein.«

»Warum denn nicht?«

»Das sind die wilden Hirngespinste eines Spions.«

»Das glaubst du doch selbst nicht.«

»Nein, natürlich nicht.«

Plötzlich ließ ich mich auf die Fersen zurücksinken. »Du!« sagte ich. »Du bist die Spionin! Du gehörst zu ihnen!«

Sie lachte spöttisch. »Ja. Ich gehörte zu ihnen.«

»Aus diesem Grund wolltest du mich verhören, um zu erfahren, was ich weiß oder vermute.«

»Natürlich.«

»Ich war ein Narr«, sagte ich.

»Wie alle Männer.«

Ich dachte nach. Dann sagte ich: »Aber ich glaube nicht, daß ich hier der einzige Narr bin.«

»Wieso?«

»Du bist auch im Delta.«

»Meine Barke wird mich beschützen«, sagte sie. »Sie ist bekannt. Die Cosianer haben den Befehl, nicht auf sie zu schießen, sie unbehindert passieren zu lassen.«

»Darauf würde ich mich nicht verlassen.«

»Was willst du damit sagen?«

»Du weißt eine Menge«, antwortete ich. »Meiner Meinung nach ist dein Leben nicht so sicher, wie du glaubst.«

»So einen Unsinn muß ich mir nicht anhören.«

Ich zuckte mit den Schultern.

»Aber ich wollte dich noch aus einem anderen Grund verhören«, fuhr sie fort. »Sklavinnen in Ven, die dich im Käfig sahen, bevor wir nach Westen aufbrachen, berichteten von dir. Sie meinten, du wärst ein attraktives, kräftiges Exemplar von einem Mann.« Sie lachte. »Anscheinend hat dein Anblick sie heiß gemacht.«

»Sie wissen vielleicht, was es heißt, einem Mann zu gehorchen.«

»Vielleicht.«

»Und du?« fragte ich. »Mache ich dich auch heiß?«

»Sei nicht vulgär.«

»Vielleicht mußt du ja weniger um dein Leben fürchten, als ich dachte. Vielleicht ist für dich ja etwas anderes geplant.«

»Was denn?«

»Der Sklavenkragen.«

»Sleen!« fauchte sie.

»Falls du ausgezogen schön genug sein solltest«, fügte ich hinzu.

Sie versteifte sich vor Wut. »Verdammter Sleen. Das bringt dir zehn Peitschenhiebe ein. Ich bin eine freie Frau. Ich bin unbezahlbar.«

»Aber nur bis man dich auszieht und verkauft.«

»Ich bin wunderschön.«

»Du kannst mir viel erzählen.«

»Warte ab«, erwiderte sie. »Um dich wirklich zu quälen, werde ich meinen Schleier senken, damit du einen kurzen Blick auf meine Schönheit werfen kannst, eine Schönheit, die du niemals besitzen wirst, die du niemals küssen oder berühren wirst, einen kurzen Blick, den du nie vergessen wirst und der dich quälen wird auf deinem Marsch durch den Sumpf!«

Langsam und anmutig senkte sie den Schleier.

Ich betrachtete sie.

»Bin ich nicht wunderschön?«

»Falls wir uns je noch einmal begegnen sollten, werde ich dich nun wiedererkennen können.«

»Du hast mich reingelegt!«

Ich zuckte mit den Schultern.

»Wachen!« schrie sie wütend, während sie an dem Schleier herumzerrte und ihn wieder befestigte. Soldaten eilten auf sie zu. Sie zeigte auf mich. »Es ist wahr«, rief sie. »Er ist ein Spion, ein Sleen aus Cos. Er will aufwieglerische Gedanken unter den Truppen verbreiten. Gebt ihm zehn Hiebe!«

»Wird erledigt, meine Lady«, sagte Plenius.

»Danach soll er geknebelt werden.«

»Jawohl, Lady.«

Ein anderer Soldat machte sich bereits an meinen Handschellen zu schaffen. Einen Augenblick später waren mir die Hände vor den Bauch gefesselt.

Dann pfiff auch schon die Peitsche durch die Luft.

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