16

Ich blickte auf und musterte das von Bäumen durchsetzte Unterholz hinter Titus.

Dort gab es etwas Bemerkenswertes zu sehen.

Plenius stand neben mir. Wir befanden uns im Lager. Im sumpfigen Delta sind Bäume eher eine Seltenheit, aber jetzt, da wir uns dem südlichen Rand näherten, kamen sie öfter vor.

Vor elf Tagen war die Wahrheit über die Gefangene Ina aufgedeckt worden. Vor neun Tagen hatten wir die Sandinsel überquert, über die die Rencebauern die Tharlarionherde getrieben und dann einen Pfeilregen hatten folgen lassen. Die meisten der Pfeile waren verschwunden; vermutlich hatten die Schützen sie später wieder eingesammelt. Wie bereits erwähnt sind die Pfeile aus Temholz kostbar, da es diese Art Holz im Delta nicht gibt.

Vor vier Tagen waren wir weit genug nach Osten gereist, um hoffen zu können, daß sich die cosischen Patrouillen nun hinter uns befänden, und schlugen einen Bogen nach Süden. Das würde uns in eine Gegend bringen, die weit genug sowohl von Brundisium als auch von Ven entfernt lag, eine Gegend, die die Cosianer – so hoffte ich – nicht länger für überwachenswert hielten. Sie würden vermutlich von der Annahme ausgehen, daß Flüchtlinge von der Stelle, an der ihr Regiment aufgehalten worden war, geradewegs nach Norden oder Süden fliehen würden, in dem Bemühen, den Gefahren des Deltas so schnell wie möglich zu entkommen. Ihnen würde hoffentlich nicht der Gedanke kommen, daß die Flüchtlinge eine Zeitlang auf ihrer früheren glücklosen Route zurückgingen, die ohnehin höchstwahrscheinlich von den Rencebauern blockiert und für sie so unglaublich verlustreich gewesen war. Und genau diese Route, die die Vorhut eingeschlagen hatte, war diejenige, die ich ausgesucht hatte.

Allerdings hatten wir sie mittlerweile verlassen. Ich vermutete, daß wir noch vier oder fünf Tage vom Deltarand entfernt waren. Natürlich würden wir nicht weiter nach Osten reisen, denn das würde uns in die von Turmus und Ven beherrschten Gebiete bringen, beides Städte, die Cos’ Politik zugetan waren.

Ich sagte: »Plenius?«

Er blickte auf.

»Sieh doch einmal in Titus’ Richtung ins Unterholz, in eine Entfernung von etwa dreißig Meter, wo die beiden Bäume nahe zusammenstehen.«

»Und?«

»Das reicht schon.«

»Ich verstehe nicht.«

»Was hast du gesehen?«

Er zuckte mit den Schultern. »Nichts.«

»Was du gesehen hast, will ich wissen.«

»Nur Gebüsch«, sagte er. »Gras, Renceschilf, zwei Bäume.«

»Welche Art von Gebüsch?«

»Etwas Festal, Tes, ein bißchen Tor.«

»Bist du sicher, daß es ein Torbusch ist?«

Er vergewisserte sich. »Ja.«

»Ich halte es auch für einen Torbusch.« Man kennt den Strauch unter mehreren Namen; einer davon ist Torstrauch, was man mit heller Strauch oder Lichtstrauch übersetzen könnte, was auf der verschwenderischen Blütenpracht beruht, die weiß oder gelb sein kann. In voller Blüte ist es ein prächtiger Strauch. Jetzt blühte er nicht, schließlich war es nicht Herbst.

Plenius blickte mich an. »Und?«

»Fällt dir daran nichts Ungewöhnliches auf?«

Er schüttelte den Kopf.

»Wie hoch ist er?«

»Ich würde sagen, so etwa anderthalb Meter.«

»Das ist auch meine Schätzung.«

»Ich verstehe nicht, worauf du hinauswillst.«

»Kommt dir das nicht ungewöhnlich vor?« fragte ich.

»Eigentlich nicht.«

»Mir schon.«

»Warum?«

»Der Torstrauch wächst einem Mann nur bis zur Hüfte.«

Er stand ganz ruhig da, etwas vornübergebeugt, und beobachtete unser Lager.

Ich hatte Plenius stehen lassen, war unauffällig weggegangen und hatte dann einen großen Bogen geschlagen. Auf diese Art hatte ich ihn umgangen.

Meine linke Hand verschloß ihm den Mund und drückte ihm den Kopf zurück; ich zog ihn gegen meinen gedrehten Körper und entblößte so seinen Hals für mein Messer, das ich ihm an die Kehle hielt. Er war hilflos, war zum Schweigen gebracht worden und konnte sofort getötet werden.

»Keine Bewegung, Rencebauer«, sagte ich, »oder du bist tot.«

Er bewegte sich nicht, gab nicht den geringsten Laut von sich.

»Auf die Knie«, flüsterte ich ihm ins Ohr.

Er gehorchte.

Dann zwang ich ihn auf den Bauch, kniete mich auf ihn, das Messer zwischen die Zähne geklemmt, zog in rasender Eile einen Lederriemen hervor und fesselte ihm die Hände auf den Rücken.

»Keinen Laut«, warnte ich ihn.

Soweit ich feststellen konnte, befanden sich keine anderen Rencebauern in unmittelbarer Nähe. Die Zeichen auf seinem Gesicht und der Strauch, mit dem er sich getarnt hatte, verrieten, daß es sich bei ihm um keinen gewöhnlichen Rencebauern handelte, der seinen täglichen Pflichten nachkam und sich seinen Lebensunterhalt verdiente. Er war vielleicht ein Späher oder ein Menschenjäger. Allerdings war er noch jung, kaum älter als ein Junge. Doch auch die können sehr gefährlich sein. Ein erfahrener Krieger nimmt sie durchaus ernst.

»Auf die Füße!« befahl ich. Dann schob ich ihn in Richtung unseres Lagers.

»Ein Rencebauer«, verkündete ich und stieß ihn in unsere Mitte.

Sofort drängten sich Männer um uns.

»Stellt Wachen auf!« befahl ich.

Titus und ein anderer Mann brachen sofort auf.

Neugierig kam Ina näher; auch sie wollte sehen, was geschehen war.

»Das ist ein Mann«, sagte ich. Sofort fiel sie auf die Knie, legte die Hände in den Sand und den Kopf dazwischen. Er war jung, aber sie als Frau hatte ihm ihren Gehorsam erwiesen, hatte ihre Weiblichkeit seiner Männlichkeit unterworfen.

Er blickte sie einen Augenblick lang verblüfft an. Vermutlich blieben ihm auf seiner Rence-Insel derartige Aufmerksamkeit und die Ehrerbietung einer schönen Frau verwehrt. Im allgemeinen sind Rencefrauen launisch, leicht gekränkt und eifersüchtig auf die Männer. Viele von ihnen scheinen die Meinung zu vertreten, daß es eine Erniedrigung ist, eine Frau zu sein; sie scheinen lieber die Männer zu imitieren statt wahre Frauen zu sein. Die ständig wachsende Zahl der ins Delta importierten Sklavinnen (eine Tendenz, die die freien Frauen, aus welchen schwer vorstellbaren Gründen auch immer – pochen sie doch stets auf ihre Überlegenheit über derartige Geschöpfe –, von ganzem Herzen verabscheuen) hat dazu geführt, daß die Männer, die das Glück haben, eine von ihnen zu besitzen, nicht mehr so mißtrauisch und zaghaft sind, wie es einst der Fall war.

»Ein Rencebauer«, knurrte ein Soldat.

Der Junge drückte den Rücken durch, wich aber ein Stück zurück.

»Erinnert euch an die Tharlarion, an die Pfeile!«

»Ja, genau!«

»Erinnert euch an den Marsch durch das Rence!«

»Richtig!«

Der Junge schien Mut zu haben.

»Seht die Zeichen auf seinem Gesicht, und das hier!« Der Soldat riß ihm die Zweige des Strauches vom Leib.

»Mörderischer Rencebauer«, sagte ein anderer Soldat und zog ein Messer. »Töten wir ihn.«

»Wartet!« warf ich ein.

»Ich werde ihm die Kehle durchschneiden.«

»Wartet!« wiederholte ich. »Wo ist Labienus?«

»Da hinten«, sagte ein Mann. Der Hauptmann saß vor einem Baum, lehnte sich gegen den Stamm, als würde er meditieren, und umschloß ihn mit den Armen.

»Bringen wir ihn zum Hauptmann«, schlug ich vor.

Das erschien mir als die vernünftigste Methode, das Leben des Jungen zu retten. Seine Jugend würde den Männern, die im Pfeilregen gestanden und geliebte Kameraden verloren hatten, nicht das geringste bedeuten. Sie würden nur die Meinung vertreten – und das zu Recht –, daß ein so großer und kräftiger Junge schon jetzt dazu fähig war, den großen Bogen zu spannen, und selbst wenn er nicht könnte, würde er in einem oder zwei Jahren soweit sein. Mir war da ein verrückter Gedanke gekommen. Ich war neugierig, ob Labienus ähnliche Gedanken hegte.

»Ja«, sagte der Soldat, der mit dem Messer herumfuchtelte, »bringen wir ihn zum Hauptmann!«

Der Junge wurde bleich.

Sie stießen ihn bis zu Labienus, der sich aus seinen Gedanken löste und sich zu uns umdrehte.

»Wir haben dir einen Rencebauern gebracht.«

»Einen Spion!«

»Tarl hat ihn gefangen.«

»Seinem Aussehen nach ist er ein Jäger und Mörder.«

»Er ist noch ein Junge«, sagte ich.

Labienus wandte uns den Kopf zu. Seine Augen waren eine Masse entstellender Narben.

»Wie ist dein Name, Junge?« fragte er.

»Ho-Tenrik«, antwortete der Junge stolz.

»Hat er eine besondere Bedeutung?« fragte ich. So, wie er den Namen aussprach, war es vorstellbar, daß dies zutraf. Im Goreanischen ist ›Ho‹ eine weit verbreitete Vorsilbe, die auf die Abstammung hinweist. Manchmal wird sie benutzt, manchmal auch nicht. In diesem Zusammenhang war es ein Hinweis, daß es sich bei dem jungen Mann um den Sohn oder Abkömmling eines Mannes namens ›Tenrik‹ handelte. Ich hätte den Namen auch als ›Tenriksohn‹ übersetzen können, zog es aber vor, beim Goreanischen zu bleiben.

»Ich bin Tenriks Sohn«, sagte er, »Tamruns Bruder.«

Die Soldaten blickten sich an. Ich sah, daß ihnen das nicht das geringste sagte.

»Also Tamruns Neffe«, fuhr der Junge fort.

»Ich verstehe.« Mir entging nicht, daß Labienus sich ebenfalls an den Namen zu erinnern schien. Vor langer Zeit hatte ich ihn ihm gegenüber einmal erwähnt.

»Kommst du aus Tamruns Dorf?« fragte ich.

»Nein.«

»Aber aus einem Dorf in dessen Nähe?«

Er nickte.

»Du bist weit weg von zu Hause.«

»Wir jagen die Männer aus Ar!«

»Tötet ihn!« verlangte ein Soldat.

Plenius fragte: »Wer ist Tamrun?«

»Tamrun ist im Rence ein hochrangiger Führer«, erklärte ich. »So etwas wie eine Legende, eine Art Stratege und Staatsmann, so ähnlich wie Ho-Hak aus den Gezeitensümpfen, einer der wenigen Männer, die zu jeder Zeit eine beliebige Anzahl von Dörfern mobilisieren können.«

»Dann war er in die Angriffe verwickelt?«

»Davon gehe ich aus«, sagte ich.

»Ja!« sagte Ho-tenrik stolz. »Und ich auch, und die Männer aus meinem Dorf!«

Unter diesen Umständen war diese enthusiastische, feierliche Erklärung des Jungen meiner Meinung nach eher unangebracht.

»Welch eine süße Rache, einen Neffen dieses Tamruns in unserer Gewalt zu haben!« erklärte Plenius.

»Ich fürchte die Folter nicht«, sagte Ho-Tenrik.

Er war wirklich mutig. Ich selbst habe der Folter seit jeher eine gesunde Abneigung entgegengebracht, man könnte sogar so weit gehen und es als entschiedenen Abscheu bezeichnen.

»Warum habt ihr uns angegriffen?« fragte Labienus.

»Ihr seid unsere Feinde«, sagte der Junge. »Ihr seid in unser Land eingefallen.«

»Wir haben die Cosianer verfolgt!« rief Plenius.

»Im Delta halten sich nur wenige Cosianer auf«, behauptete der Junge.

»Von seinem Blickpunkt aus scheint diese Meinung durchaus gerechtfertigt«, sagte ich. »Außerdem wußte er, daß es im Delta keine auf dem Rückzug befindliche cosische Streitmacht gab; also konnte er davon ausgehen, daß euch das ebenfalls bekannt war. Unglücklicherweise wurde eines ihrer Dörfer niedergebrannt, was man verständlicherweise für einen Kriegsakt gehalten hat. Wenn ihr einem Larl einen Tritt versetzt, könnt ihr es ihm nicht verdenken, wenn er darauf reagiert.«

»Stellst du dich auf seine Seite?« fragte ein Soldat.

»Was hättet ihr gedacht, wenn ihr im Rence leben würdet?« stellte ich eine Gegenfrage.

»Wir wußten, daß ihr der Feind seid«, verkündete Ho-Tenrik. »Schon lange bevor ihr in unser Land eingedrungen seid.«

»Wieso denn das?« fragte ich.

»Unsere Freunde, die Cosianer, haben uns gewarnt.«

»Und ihr habt ihnen geglaubt?«

»Euer Verhalten hat ihre Worte bestätigt.«

»Nein!« sagte Plenius.

»Aber den Bauern muß das so vorgekommen sein«, sagte ich.

Die Männer warfen sich wütende Blicke zu. »Tötet ihn!« stieß einer hervor.

»Ich habe keine Angst vor dem Tod«, behauptete Ho-Tenrik. Aber seine Unterlippe zitterte ein wenig.

Ein Soldat hielt ihm das Messer unter das Kinn. »Du machst Jagd auf Männer aus Ar, das stimmt doch?« fragte er.

»Ja«, erwiderte Ho-tenrik und hob das Kinn ein Stück, damit die Klinge nicht in die Haut schneiden konnte.

»Aber du bist jetzt in unserer Gewalt, gefesselt«, fuhr der Mann fort. »Es sieht also so aus, als wäre der Jäger gejagt worden.«

»Und in die Falle gegangen«, fügte Plenius hinzu.

»Aber nicht dir«, erwiderte Ho-Tenrik. Eine Anspannung ergriff Plenius, seine Hand tastete nach dem Schwert.

»Aber das wäre durchaus möglich gewesen«, sagte ich.

Der Junge blickte mich an. »Vielleicht.«

Dieses Zugeständnis war meiner Meinung nach nicht nur gerechtfertigt, sondern schien auch eine der ersten überlegten Antworten des Jungen zu sein.

»Es sind sicher noch andere in der Nähe«, vermutete Plenius.

»Wir sollten den da ausziehen und gefesselt und geknebelt als Lockmittel für die anderen benutzen«, schlug der Mann mit dem Messer vor.

»Dann können wir sie alle töten.«

»Dazu haben wir keine Zeit«, warf ein anderer Soldat ein. »Laßt uns ihn in Stücke hacken und seine Einzelteile als Warnung an die Äste eines Baumes hängen.«

Ho-Tenrik wurde erklärlicherweise ziemlich blaß, als er diese bedrohlichen Vorschläge hörte. Ich war froh, nicht in seiner Haut zu stecken.

»Hauptmann?« fragte Plenius.

»Ich denke nach«, sagte Labienus. »Ich muß nachdenken.«

»Überprüfe die Vorposten«, bat ich einen Mann. »Seht nach, ob noch andere in der Nähe sind.«

Er verließ die Gruppe.

»Sieh dir den Himmel an, Junge«, riet einer der älteren Soldaten dem Jungen. Jetzt am Spätnachmittag war er in der Tat sehr schön. Der junge Bauer schluckte schwer.

Der Mann, den ich ausgesandt hatte, kehrte wenige Ehn später zurück. »Es gibt keinerlei Anzeichen, daß noch mehr von ihnen in der Nähe sind«, meldete er.

»Zu schade«, bedauerte einer der Umstehenden. »Es wäre schön, mehr von diesen Kerlen umbringen zu können.«

»Junge, schlag dir jeden Gedanken an Rettung aus dem Kopf«, sagte der Soldat, der ihm eben noch geraten hatte, sich noch einmal an der Schönheit des Himmels zu erfreuen.

»Ich habe nachgedacht«, verkündete da Labienus.

Wir wandten uns ihm zu.

Er stellte sich wieder mit dem Gesicht zu dem Baum, neben dem er stand. Er streckte die Hände aus und berührte ihn. Dabei schien er völlig entspannt zu sein. Seine Reglosigkeit verblüffte uns. Plötzlich, wie aus heiterem Himmel, verzerrte sich sein Gesicht vor Wut, er stieß einen tierhaften Schrei aus und hieb auf den Baum ein, grub tiefe Furchen in das Holz, riß die Rinde ab und schleuderte sie in alle Himmelsrichtungen. Einen Augenblick lang wirkte er wie ein tollwütiger Sleen.

»Aii!« rief der Junge.

Und wir, denen Labienus’ Kraft und seine seltsamen Übungen nicht unbekannt waren, reagierten in ähnlicher Weise. Ich war entsetzt, und ich glaube, ich kann auch für die anderen sprechen, wenn ich behaupte, daß sie ebenfalls entsetzt waren. Denn selbst wir, die sich die ganze letzte Zeit in Labienus’ Nähe aufgehalten hatten, hatten nicht begriffen, wozu er nun fähig war. Die Wirkung auf den unschuldigen jungen Burschen, der ja nichts anderes als ein gefangengenommener Fremder war, war deutlich sichtbar. Er war erschüttert und totenbleich. So wie wir auch.

Dann drehte sich Labienus wieder seltsam ruhig um, wobei er uns jene zerstörten, hakenähnlichen grauen Hände, an denen hier und da noch Holz klebte, wie eiserne Klauen entgegenstreckte, und wandte uns die erblindeten weißen Augen zu.

»Hauptmann?« fragte Plenius.

»Ich halte ein Messer in der Hand, Hauptmann«, sagte der eine Soldat. »Soll ich den Gefangenen entkleiden?« Gefangene werden auf Gor oft nackt ausgezogen. Dafür gibt es mehrere Gründe. So unterscheiden sie sich von der Masse und werden mühelos als Sklaven oder Gefangene erkannt; man hilft ihnen zu verstehen, daß sie sich nun in der Gewalt von anderen befinden, davon abgesehen erschwert man ihnen das Verbergen von Waffen. Wie so oft im Leben muß man alles im Zusammenhang sehen. So arbeiten einige goreanische Handwerker ebenfalls nackt oder so gut wie unbekleidet. Auch in der Sporthalle, auf dem Sportplatz und in den Bädern ist Nacktheit nichts Besonders.

»Nein«, sagte Labienus. »Laßt ihn angezogen.«

»Ich danke dir, Hauptmann«, sagte Ho-Tenrik respektvoll und dankbar. Ich nehme an, daß er das nicht nur wegen seiner Person zu schätzen wußte, sondern auch wegen gewisser heikler Ehrvorstellungen, die mit seiner Familie und deren Bedeutung im Sumpf zu tun hatten.

Labienus sah den Jungen mit seinen furchteinflößenden, schrecklichen blinden Augen an.

»Hauptmann?«, fragte Ho-Tenrik.

Labienus sagte kein Wort.

»Ich bin dein Gefangener, Hauptmann«, sagte der Junge unsicher.

»Wir machen keine Gefangenen«, erklärte Labienus.

»Ah!« rief der Soldat und hob das Messer.

Ina stieß einen leisen Ruf des Entsetzens aus.

Ho-Tenrik erbleichte.

»Nehmt ihm die Fesseln ab«, befahl Labienus.

»Hauptmann?« fragte der Soldat unsicher.

»Ihr sollt ihn losmachen.«

Der Soldat durchschnitt die Fesseln.

»Wir machen keine Gefangenen«, wiederholte Labienus an den Jungen gewandt. »Du kannst gehen.«

»Ich verstehe nicht«, sagte Ho-Tenrik. Er rieb sich die Handgelenke. Ich hatte ihm den Riemen fast so eng wie einer Sklavin gezurrt.

»Im Namen von Gnieus Lelius, dem Regenten von Ar, und dem Hohen Rat von Ar«, sagte Labienus, »drücke ich als ihr De-facto-Bevollmächtigter im Delta ihr Bedauern über die Mißverständnisse zwischen unseren Völkern aus, insbesondere darüber, daß diese in einem heimtückischen und brutalen Angriff auf ein unschuldiges Dorf ihren Ausdruck fanden. Man kann einen solchen Zwischenfall kaum mit Worten entschuldigen, aber wenn Blut mit Blut vergolten werden kann, dann halte ich, was diese Angelegenheit betrifft, die Schuldlast für ausgeglichen.«

Ho-Tenrik war sprachlos. Auch ich war über diese staatsmännische Handlung völlig überrascht. Zwar hatte ich gehofft, daß etwas in dieser Richtung geschähe, aber ich hätte nie zu glauben gewagt, daß es etwas für Ar so Demütigendes wäre und das gleichzeitig soviel Großmut zeigte.

»Die Männer aus Cos mögen eure Freunde sein oder auch nicht«, fuhr der Hauptmann fort. »Das kann ich nicht beurteilen. Was das angeht, müßt ihr euer eigenes Urteil fällen. Eines jedoch weiß ich genau: Die Bürger Ars sind nicht eure Feinde.«

Labienus streckte die Hand aus, und Plenius ergriff sie und führte ihn fort.

»Du kannst gehen«, sagte ich zu Ho-Tenrik.

»Er wird uns nur die anderen auf den Hals hetzen«, knurrte der Soldat mit dem Messer.

»Bis dahin sind wir verschwunden«, beschwichtigte ich ihn.

»Du hörst dich nicht an wie jemand, der aus Ar kommt«, sagte der Junge.

»Ich stamme aus Port Kar.«

»Das Rence hat keinen Streit mit Port Kar«, wandte Ho-Tenrik ein.

»Genausowenig wie Port Kar mit dem Rence«, erwiderte ich.

»Wieso bist du bei ihnen?«

»Ich wollte ihnen helfen«, erklärte ich. »Schließlich befinden sie sich mit Cos im Kriegszustand, genau wie Port Kar – wenn nicht sogar wie das Rence.«

Er nickte. »Nehmt euch vor den Cosianern in acht«, riet er. »Sie und ihre bezahlten Schläger haben sich an den Rändern des Deltas eingenistet.«

Das hörte ich gar nicht gern, andererseits hatte ich es aber bereits vermutet.

»Verlaß sie«, sagte er. »Sie werden den Durchbruch niemals schaffen.«

»Vielleicht hast du ja Lust, ein paar Ehn zu bleiben«, schlug ich vor.

»Ich sollte aufbrechen.«

»Mein Freund Plenius hat meines Wissens ein paar Stücke hartes Brot in seinem Bündel verwahrt. Es ist mittlerweile alt und trocken, aber es könnte dir schmecken. Hast du schon einmal so etwas gegessen?«

»Nein, ich glaube nicht.«

»Möchtest du es nicht einmal kosten?«

»Ich glaube nicht.«

»Ich kann es holen lassen«, sagte ich.

»Holen lassen?«

»Von der Frau natürlich«, sagte ich.

»Natürlich«, erwiderte er.

»Ina«, sagte ich.

Sie sprang auf, kam zu uns herüber und kniete mit gesenktem Kopf nieder.

»Ist das eine Sklavin?«

»Nein, bloß eine Gefangene.«

Ho-Tenrik musterte Ina und die Schönheit der ihr angemessenen unterwürfigen Haltung.

»Ina, wenn Plenius gerade nichts zu tun hat, bitte ihn, daß er dir ein Stück hartes Brot gibt, für mich und meinen jungen Freund.«

»Ja, Herr«, antwortete sie, stand auf und eilte zu Plenius.

»Sie gehorcht aufs Wort«, bemerkte Ho-Tenrik.

»Wenn nicht, bekäme sie Schläge.«

»Ich verstehe.«

Ein paar Augenblicke später war Ina wieder da. Sie hielt ein Stückchen Brot in der Hand. Es war das letzte der beiden Stücke, die Plenius noch hatte, und ich war ihm dankbar für seine Großzügigkeit. Es gehörte zu den wenigen eßbaren Dingen in unserem Lager, die wir dem jungen Rencebauern anbieten konnten. Zumindest war es nicht roh.

»Ina, brich es in zwei Stücke«, sagte ich, »und gib unserem Gast das größere Stück.«

»Ja, Herr.«

Natürlich war es keinesfalls das Brot, das unseren jungen Freund im Lager festhalten sollte.

»Bedien zuerst unseren Gast«, verlangte ich und korrigierte mit diesen Worten ihr Benehmen, da sie anscheinend mich zuerst bedienen wollte.

»Ja, Herr.«

Auf den Knien bot sie Ho-Tenrik das größte Stück hartes Brot an, das er auch annahm; danach bediente sie mich.

Wir betrachteten Ina, die zu unseren Füßen kniete.

»Sie ist ja fast nackt«, sagte der junge Rencebauer.

»Weil ich das so will«, erklärte ich.

»Ich verstehe.«

»Männern gefällt es, sich an der Schönheit von Gefangenen und Sklavinnen zu erfreuen. Tust du das nicht?«

»Ja, doch«, antwortete er zögernd. Dann: »Ja!«

»Gut.«

Ina errötete unter unseren Blicken, langsam und verstohlen tasteten ihre Hände nach oben, um die Brüste zu bedecken.

»Du hast keine Erlaubnis erhalten, deine Brüste zu bedecken, Ina«, rügte ich sie.

Blitzschnell nahm sie die Hände herunter und legte sie auf die Oberschenkel. »Verzeihung, Herr.«

»Deine Brüste sind sehr schön«, sagte ich, »und du mußt sie zeigen, wenn es der Wunsch deines Herrn ist.«

»Ja, Herr, danke, Herr«, sagte sie.

»Wie bestimmend du mit ihr umgehst«, staunte He-Tenrik.

»Sie ist eine Frau«, sagte ich etwas verblüfft. Anscheinend hatte er noch nicht viel Erfahrung mit Frauen.

»Wie schön Frauen doch sind!« sagte er.

»Ja«, stimmte ich ihm zu. »Willst du dich nicht setzen und dein Brot essen?«

»Ich muß weiter.«

Ich warf Ina einen strengen Blick zu. Sofort spreizte sie die Beine noch weiter auseinander.

»Vielleicht kann ich auch noch, einen Augenblick bleiben«, meinte der Junge.

Wir setzten uns und kauten das Brot. Er konnte den Blick nicht von der Gefangenen losreißen. Sie kniete kerzengerade, wagte es aber nicht, seinem Blick zu begegnen.

»Und?«

»Sie ist wunderschön«, sagte er.

»Das Brot.«

»Es… es schmeckt nicht schlecht.«

Ho-Tenrik war höflich. Im Bündel eines jeden Soldaten findet man derartiges hartes Brot. Einige behaupten sogar, es schmecke ihnen. Plenius zum Beispiel hatte es seit Wochen aufbewahrt.

Anderseits war es durchaus möglich, daß er sich bloß nicht überwinden konnte, es zu essen, daß er es bloß als die allerletzte Möglichkeit gegen das Verhungern aufsparte. Er hatte es uns verdächtig schnell überlassen. Ich konnte mich aber auch irren, vielleicht schmeckte es ihm ja tatsächlich. Gelegentlich aß ich solche Rationen durchaus gern. Ich würde sie nur nicht als die Krönung der Genüsse bei einem wichtigen diplomatischen Bankett auftischen, bei dem es darum ginge den möglichen Ausbruch eines Krieges zu verhindern.

»Ina, hol Wasser!« befahl ich.

Wir sahen zu, wie sie aufsprang und loseilte.

»Gibt es in eurem Dorf solche Frauen?« fragte ich.

»Nein. Nicht einmal entfernt ähnliche Frauen.«

Wir sahen zu, wie Ina zur Wasserstelle ging, die zuvor in Wassernähe gegraben worden war, damit das Wasser dort hineinsickern konnte, und ein kleines Metallgefäß füllte.

Sie kam zurück, kniete nieder und bot uns das Gefäß an. Ho-Tenrik spülte das Brot hinunter.

»Wie hast du eigentlich bemerkt, daß ich euch ausspionierte?« fragte er.

»Der Torstrauch. Er wächst nicht höher als bis zur Hüfte.«

»Ich war dumm.«

»Nein«, sagte ich, »du warst unvorsichtig.«

»Es war ein Fehler.«

»Ja, es war ein Fehler.«

»Solch ein Fehler kann einem Mann das Leben kosten.«

»Das ist möglich«, sagte ich.

»Ich werde ihn nicht wiederholen.«

»Gut.«

Ho-Tenrik trank noch einen Schluck Wasser. »Du bist nicht mein Feind, nicht wahr?« fragte er dann.

»Nein«, sagte ich. »Genausowenig wie die anderen hier.«

»Danke für das Essen.«

»Es war nur wenig.«

»Ich wünsche dir alles Gute.«

»Ich wünsche dir alles Gute«, erwiderte ich.

Er stand auf, drehte sich um und verließ das Lager. Plenius kam zu mir herüber. »Wir müssen bald aufbrechen.«

»Ja, das müssen wir.« Ich konnte mir nicht vorstellen, daß der Junge mit seinen Leuten zurückkehren würde, um uns anzugreifen, aber sie kannten sich möglicherweise im Sumpfläufertum aus und kamen darum viel schneller vorwärts als wir. Aus diesem Grund würde ich die Gruppe nach Südwesten führen, denn sie nähmen gewiß an, daß wir nach Süden gingen oder, falls wir ihre Verfolgung fürchteten, nach Osten, fort von der Stelle, an der wir den Jungen beim Spionieren erwischt hatten. Aber es würde nicht einfach sein, die Männer zu verfolgen, mit denen ich unterwegs war. Sie hatten begriffen, wie man sich im Sumpf bewegen mußte. Es würde höchst gefährlich sein, sie nun zu verfolgen.

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