John le Carré

Eine Art Held

Ich und das Publikum, wir wissen,

Was jedes Schulkind lernt:

Wer heute Böses leidet,

Wird Böses morgen tun.

W. H. Auden

Erster Teil

Die Uhr wird aufgezogen

Wie der Circus die Stadt verließ

Noch lang danach stritten sich Londons Geheimdienstler in ihren staubigen Stammkneipen um die Frage, wann denn genau der Beginn des Unternehmens Delphin anzusetzen sei. Die eine Partei, angeführt von einem dicklichen Burschen aus der Abteilung Abhörprotokollierung, ging so weit, zu behaupten, der Stichtag sei vor sechzig Jahren gewesen, als »dieser Erzlump Bill Haydon« unter einem verräterischen Stern das Licht der Welt erblickt hatte. Allein schon der Name Haydon jagte ihnen Schauder über den Rücken und tut es noch heute! Denn eben jener Haydon war noch während seiner Zeit in Oxford von dem Russen Karla als »Maulwurf« oder »Schläfer«, das heißt als Tiefenagent angeworben worden, um gegen sie zu arbeiten. Und hatte sich unter Karlas Weisung in ihre Mannschaft eingereiht und sie dreißig Jahre oder noch länger ausspioniert. Und seine endliche Entdeckung hatte die britische Mannschaft - so lautet die Lesart - in eine fatale Abhängigkeit vom amerikanischen Schwesterunternehmen gebracht, von den »Vettern«, wie es in ihrem Privatjargon hieß. Die Vettern modelten das Spiel völlig um, sagte der Dicke: im gleichen Ton, als bedauerte er die Entwicklung des Leistungssports zum Massensport. Und haben es dabei völlig verdorben, sagten seine Sekundanten.

Für weniger umschweifige Geister begann die Geschichte mit Haydons Entlarvung durch George Smiley und mit Smileys darauffolgender Ernennung zum amtierenden Chef der verratenen Dienststelle, so geschehen Ende November 1973. Nachdem George einmal Karlas Witterung aufgenommen hatte, so sagten sie, war er nicht mehr zu halten. Alles übrige sei nur die zwangsläufige Folge gewesen, sagten sie. Armer alter George: aber was für ein Kopf auf den schwachen Schultern! Ein gelehrtes Haus, Ermittler seines Zeichens, im Jargon »Wühlmaus« genannt, wollte in seinem Suff sogar den 26. Januar 1841 ansetzen, den Tag, an dem ein gewisser Captain Elliot von der Royal Navy seine Mannschaft auf einen umnebelten Felsen Namens Hongkong an der Mündung des Perlflusses an Land setzte und den Ort wenige Tage später zur britischen Kolonie erklärte. Mit Elliots Landung, so das gelehrte Haus, wurde Hongkong zum Hauptquartier des britischen Opiumhandels mit China und in der Folge zu einer der wirtschaftlichen Säulen des Empire. Hätten die Briten nicht den Opiummarkt erfunden, sagte er - nicht unbedingt im Ernst -, dann hätte es auch keinen Fall, kein Unternehmen, kein Ergebnis und folglich auch keine Wiedergeburt des Circus nach Bill Haydons verheerendem Verrat gegeben.

Für die harten Burschen hingegen - die gelernten Außenagenten, die Instruktoren und die Einsatzleiter, die immer ihren eigenen Kommentar brummten - war das Ganze eine reine Verfahrensfrage. Sie erinnerten daran, wie zielsicher Smiley Karlas Zahlmeister in Vientiane aufgestöbert hatte, wie Smiley mit den Eltern des Mädchens umzugehen verstand und wie er mit den Whitehall-Baronen verfuhr, die den Daumen auf der Kasse hielten und in der Geheimwelt das Sagen und das Fragen hatten. Vor allem aber, wie er zu jenem grandiosen Zeitpunkt die ganze Operation um hundertachtzig Grad herumschwenkte. Für diese Profis war Unternehmen Delphin ein Triumph der Technik. Nichts weiter. Sie betrachteten die Muß-Ehe mit den Vettern lediglich als einen weiteren schlauen Trick in einem langen und heiklen Pokerspiel. Und was das Endresultat betraf: nebbich. Der König ist tot, lang lebe der nächste.

Die Debatte wird fortgeführt, wo immer alte Kameraden beieinandersitzen, der Name Jerry Westerby fällt dabei jedoch aus verständlichen Gründen nur selten. Gewiß, gelegentlich passiert es dennoch, irgendwer holt ihn aus der Versenkung hervor, aus Großsprecherei, aus Gefühlsduselei oder einfach aus Unbesonnenheit, und dann kommt Spannung auf: aber das geht vorbei. Erst unlängst hat ihn zum Beispiel ein junger Grünschnabel, frisch aus dem neueröffneten Trainingslager des Circus in Sarratt - im Jargon die »Nursery« genannt -, in der Kneipe der Unterdreißiger herausposaunt. Eine entschärfte Version von Unternehmen Delphin war vor einiger Zeit in Sarratt als Material für Roundtable-Diskussionen eingeführt worden, Teile davon hatte man sogar durchgespielt, und der arme, noch so recht grüne Junge schnappte fast über vor Aufregung, als er entdeckte, daß er im Bilde war: »Mein Gott«, entrüstete er sich im Schutze jener Narrenfreiheit, wie sie manchmal junge Marineleutnants in der Offiziersmesse genießen, »mein Gott, warum will denn niemand Westerbys Rolle in dieser Sache würdigen? Wenn hier einer das Risiko zu tragen hatte, dann war's Jerry Westerby. Er war die Speerspitze gewesen. Oder etwa nicht? Ehrlich?« Nur daß er natürlich nicht den Namen »Westerby« aussprach, auch nicht den Namen »Jerry«, allein schon deshalb nicht, weil er sie nicht kannte; er bediente sich des Decknamens, der Jerry für die Dauer seines Einsatzes zugeteilt worden war.

Peter Guillam griff rettend ein. Guillam ist groß und drahtig und elegant, und Novizen, die auf ihren ersten Einsatz warten, blicken gern zu ihm auf, wie zu einer griechischen Gottheit. »Westerby war der Stecken, der das Feuer schürte«, erklärte er brüsk und beendete damit das Schweigen. »Jeder Außenmann hätte es genausogut getan, mancher sogar verdammt viel besser.« Als der Junge noch immer nicht kapierte, stand der sehr blaß gewordene Guillam auf, ging zu ihm hinüber und schnauzte ihm ins Ohr, er solle sich noch einen Drink holen, wenn er ihn vertragen könne, und danach ein paar Tage oder besser ein paar Wochen lang die Klappe halten. Worauf das Gespräch sich wiederum dem lieben - alten George Smiley zuwandte, dem gewiß letzten der wahrhaft Großen, und was er wohl jetzt, da er wieder in den Ruhestand zurückgekehrt war, mit sich anfangen mochte? Er hatte so viele Leben gelebt; so vieles am stillen Herd zu überdenken, meinten sie einhellig.

»George hat fünfmal soviel geleistet wie wir«, erklärte jemand ritterlich - eine Frau.

Zehnmal, fanden sie alle. Zwanzigmal! Fünfzigmal! Über diesem massiven Lob geriet Westerbys Schatten in gnädige Vergessenheit. Und in gewissem Sinn auch George Smileys Schatten. Schließlich hatte George ein erfülltes Leben gehabt, sagten sie. Was konnte man in seinem Alter noch erwarten?

Vielleicht ist es realistischer, als Ausgangspunkt einen Sonnabend in der Mitte des Jahres 1974 anzunehmen, als ein Taifun über Hongkong hinwegfegte und die Stadt gegen drei Uhr nachmittags wie ausgestorben dalag und auf den nächsten Sturmangriff wartete. In der Bar des Auslandskorrespondenten-Clubs lungerten eine Handvoll Journalisten, in der Mehrzahl aus ehemaliger britischen Kolonien - Australien, Kanada, Amerika -, herum, alberten und tranken in einer Art aggressiver Untätigkeit: eine Truppe ohne Hauptdarsteller. Dreizehn Stockwerke unter ihnen schoben sich die alten Straßenbahnen und Doppeldeckerbusse durch die schmutzigbraunen Ausdünstungen der Häuser und den Ruß der Fabriken von Kaulun. Die winzigen Teiche vor den hochaufragenden Hotels wurden vom langsamen, penetranten Regen punktiert. Und in »Herren«, von wo aus man den schönsten Blick über den Hafen hatte, tauchte der junge Kalifornier Luke das Gesicht ins Becken und wusch sich das Blut vom Mund. Luke war ein eigenwilliger, hochaufgeschossener Tennisspieler, ein Greis von siebenundzwanzig Jahren, der bis zum Abzug der Amerikaner das beste Pferd im Saigoner Stall der Kriegsberichterstatter seiner Zeitschrift gewesen war. Wer ihn als Tennisspieler kannte, konnte sich kaum vorstellen, daß er auch noch etwas anderes tat, und wäre es nur trinken. Man sah ihn am Netz, wie er unbeirrbar alles, was da kommen mochte, zum Teufel schmetterte; oder zwischen Doppelfehlern Asse servierte. Während er saugte und spuckte, war sein Denken durch Alkohol und eine gelinde Gehirnerschütterung in mehrere luzide Teile gespalten. Der eine Teil beschäftigte sich mit einer Barmaid in Wanchai namens Ella, der zuliebe er dem neuseeländischen Polizisten einen Kinnhaken versetzt und die unvermeidlichen Folgen erlitten hatte: mit einem Minimum an Kraftaufwand hatte ihn Superintendent Rockhurst, alias der Rocker, der sich jetzt in einer Ecke der Bar von seinem Tun ausruhte, auf die Bretter geschickt und ihm einen herzhaften Tritt in die Rippen verpaßt. Ein weiterer Teil von Lukes Denken beschäftigte sich mit einem Ausspruch seines chinesischen Hauswirts, der sich an diesem Morgen wegen des Grammophonlärms bei ihm beschwert hatte und auf ein Bierchen geblieben war.

Irgendein Knüller, soviel stand fest, aber was für einer? Er erbrach sich nochmals, dann linste er aus dem Fenster. Die Dschunken waren hinter den Schutzmauern vertäut, und die Star Ferry hatte den Betrieb eingestellt. Eine altgediente britische Fregatte dümpelte vor Anker und im Club ging das Gerücht, Whitehall wolle sie verkaufen.

»Sollte in See stechen«, brabbelte Luke wirr, denn er entsann sich einigen Seemannsgarns, das er auf seinen Reisen aufgeschnappt hatte. »Fregatten stechen auch bei Taifun in See. Yes Sir.« Die Hügel waren schiefergrau unter den schwarzen Wolkenschichten. Vor einem halben Jahr hätte Luke bei diesem Anblick vor Wonne geschnurrt. Den Hafen, das Getöse, sogar die Hochhausschuppen, die vom Strand bis zum Peak, zur Hügelspitze, hinaufklommen: nach Saigon hatte er die ganze Szenerie jubelnd begrüßt. Aber heute sah er nur noch einen satten, reichen, britischen Felsen in den Händen einiger feister Krämer, die nicht über die eigenen Wänste hinaussahen. Die Kolonie war daher für ihn genau das geworden, was sie für die übrigen Journalisten längst war: ein Flugplatz, ein Telefon, eine Wäscherei, ein Bett. Dann und wann - aber niemals für lange - eine Frau. Sogar die Erfahrungen mußte man importieren. Und die Kriege, die so lange Zeit hindurch seine Droge gewesen waren: sie waren von Hongkong genauso weit entfernt wie von London oder New York. Nur die Börse reagierte andeutungsweise, aber am Sonnabend war sie ohnehin geschlossen.

»Meinst du, du wirst's überleben, Goldjunge?« fragte der strubbelige kanadische Cowboy, der an die Piß-Schüssel nebenan trat. Die beiden Männer hatten die Freuden der Tet-Offensive geteilt.

»Danke, mein Lieber, ich bin in ausgesprochner Hochform«, erwiderte Luke mit seinem übertriebensten englischen Akzent. Luke kam zu dem Schluß, daß er sich unbedingt an das erinnern müsse, was Jake Chiu am Vormittag beim Bier zu ihm gesagt hatte, und plötzlich fiel es ihm wie ein Geschenk des Himmels wieder ein.

»Ich hab's«, schrie er. »Herrgott, Cowboy, ich weiß es wieder! Luke, du weißt es wieder! Mein Gehirn! Es funktioniert! Leute, alle mal herhören!«

»Vergiß es!« riet ihm der Cowboy. »Da draußen herrscht heute dicke Luft, Goldjunge. Was es auch sein mag, vergiß es.« Aber Luke trat die für auf und rannte mit ausgebreiteten Armen in die Bar.

»Heh! Heh! Leute!«

Niemand wandte den Kopf. Luke formte die Hände zu einem Megaphon:

»Hört zu, ihr besoffenen Strolche, ich hab ne Neuigkeit. Zwei Flaschen Whisky am Tag undn Gehirn wien Rasiermesser. Ist das nicht fabelhaft? Wo is die Bimmel?«

Da er keine fand, griff er sich ein Bierseidel und hämmerte damit gegen die Theke, daß das Bier überschwappte. Auch dann geruhte nur der Zwerg, von ihm Notiz zu nehmen. »Na, wo brennt's denn, Luide?« näselte der Zwerg mit seinem Greenwich-Village-Akzent. »Hat Big Moo wiedermal den Schluckauf? Bricht mir das Herz.«

Big Moo nannten sie im Clubjargon den Gouverneur, und der Zwerg war Lukes Bürochef. Ein formloser, mürrischer Mensch mit wirrem Haar, das ihm in schwarzen Strähnen ins Gesicht fiel, und der Angewohnheit, wie aus dem Nichts neben einem aufzutauchen. Vor einem Jahr hatten ihn ein paar Franzosen, die man sonst hier selten sieht, wegen einer beiläufigen Bemerkung über den Ursprung des Vietnam-Fiaskos beinah umgebracht. Sie zerrten ihn zum Lift, brachen ihm den Kiefer und mehrere Rippen, dann kippten sie ihn im Erdgeschoß wie ein lebloses Bündel heraus und kehrten zu ihren Gläsern zurück. Kurz darauf wurde ihm eine ähnliche Behandlung von Seiten der Australier zuteil, als er eine absurde Äußerung betreffs ihrer militärischen Rolle in diesem Krieg zum besten gab. Er behauptete, Canberra habe mit Präsident Johnson vereinbart, daß die australischen Jungens in Vung Tau bleiben sollten, einem wahren Picknickplätzchen, während die Amerikaner anderswo den wirklichen Krieg führten. Im Gegensatz zu den Franzosen verschmähten die Australier den Lift. Sie prügelten den Zwerg einfach an Ort und Stelle windelweich, und als er zu Boden ging, bekam er noch eine Zugabe. Danach hatte er begriffen, wann er den Leuten in Hongkong aus dem Weg gehen mußte. Zum Beispiel bei lang anhaltendem Nebel. Oder wenn es nur vier Stunden am Tag Wasser gab. Oder an einem Sonnabend während des Taifuns. Im übrigen war der Club recht leer. Die Starkorrespondenten hielten sich aus Prestigegründen ohnehin fern. Ein paar Geschäftsleute, die wegen der um die Pressemänner herrschenden Atmosphäre kamen, ein paar Mädchen, die der Männer wegen kamen. Eine Handvoll Fernseh-Kriegstouristen in imitierten Kampfanzügen. Und, in seiner Stammecke, der furchterregende Rocker, Polizei-Superintendent und ehemaliger Palästina-, Kenia-, Malaya- und Fidji-Kämpfer, ein erbarmungsloses Schlachtroß mit einem Bier, einer Garnitur leicht geröteter Fingerknöchel und einer Wochenendausgabe der South China Morning Post. Der Rocker, so sagten die Leute, komme aus Standesgründen. Und an dem großen Mitteltisch, der an Wochentagen das Reservat von United Press International war, lungerte der Shanghai Junior Baptist Conservative Bowling Club unter dem Vorsitz des gescheckten alten Australiers Craw und gab sich dem üblichen Sonnabendturnier hin. Bei diesem Kampf ging es darum, eine zusammengedrehte Serviette quer durch den Raum segeln und im Weinregal landen zu lassen. Bei jedem Treffer stifteten die Mitspieler dem Torschützen die betreffende Flasche und halfen sie ihm leeren. Old Craw knurrte die Schießbefehle, und ein ältlicher Kellner aus Schanghai, der bei Craw einen Stein im Brett hatte, bestückte müde den Schießstand und servierte die Preise. An diesem Tag fehlte dem Spiel die Würze; ein paar Mitglieder beteiligten sich überhaupt nicht. Dennoch wählte Luke gerade diesen Kreis als sein Publikum.

»Die Frau von Big Moo hatn Schluckauf!« quengelte der Zwerg weiter. »Das Pferd von der Frau von Big Moo hatn Schluckauf! Der Stallknecht vom Pferd von der Frau von Big Moo hatn Schluckauf! Das . . . «

Luke marschierte zum Tisch, sprang mit einem Satz darauf, daß er krachte; ein paar Gläser zerbrachen, und Lukes Kopf rammte die Decke. Die leicht gebückte Gestalt hob sich überlebensgroß vor dem Südfenster ab: der suppige Nebel, dahinter der dunkle Schatten des Peak und dieser schwarze Riese, der den ganzen Vordergrund ausfüllte. Aber die Männer warfen und tranken weiter, als hätten sie ihn nicht gesehen. Nur der Rocker blickte ein einzigesmal in Lukes Richtung, ehe er seinen riesigen Daumen ableckte und zur Witzseite umblätterte.

»Dritte Runde!« kommandierte Craw mit seinem kräftigen australischen Akzent. »Bruder Kanada, Feuer frei. Warte, du Knallkopf. Feuer!«

Eine zusammengedrehte Serviette segelte im hohen Bogen zum Regal. Fand eine Lücke, verhakte sich eine Sekunde lang, glitt ab, flatterte zu Boden. Luke, vom Zwerg angestachelt, begann auf den Tisch zu stampfen und warf noch ein paar Gläser um. Schließlich gab sein Publikum den Widerstand auf. »Ehrwürdens«, sagte Old Craw seufzend, »darf ich um Aufmerksamkeit bitten für meinen Sohn. Ich fürchte, er hat uns etwas mitzuteilen. Bruder Luke, du hast heute mehrere Friedensbrüche begangen, jeder weitere wird unserer ernsten Mißbilligung begegnen. Sprich klar und knapp und lasse nichts aus, auch nicht die geringste Kleinigkeit, und dann halt die Luft an.« In ihrer unermüdlichen gegenseitigen Mythenstrickerei hatten sie Old Craw den »Ancient Mariner« getauft. Craw habe sich, so erzählten sie einander, schon mehr Sand von den Hosen geklopft, als die meisten von ihnen je unter die Sohlen kriegen würden; und das stimmte. In Schanghai, wo seine Laufbahn begann, war er Tee-Boy und Lokalredakteur der einzigen englischsprachigen Zeitung der Hafenstadt gewesen. Seither berichtete er über den Kampf der Kommunisten gegen Tschiang Kaischek, den Kampf Tschiangs gegen die Japaner und die Kämpfe der Amerikaner gegen nahezu alle anderen. Craw vermittelte ihnen eine Art Geschichtsbewußtsein in dieser wurzellosen Stadt. Seine Redeweise, die an Taifuntagen sogar den Abgehärtetsten verzeihlicherweise auf die Nerven fallen konnte, war ein echtes Relikt aus den dreißiger Jahren, als Australien den Großteil der Journalisten im Fernen Osten stellte und der Vatikan aus unerfindlichen Gründen den Jargon ihrer Gemeinde.

So gelang es Luke dank Old Craw schließlich, seine Neuigkeit an den Mann zu bringen.

»Gentlemen! - Zwerg, verdammter Polack, laß meinen Fuß los! - Gentlemen!« Er hielt inne und betupfte sich die Lippen mit dem Taschentuch. »Das Haus, bekannt unter dem Namen High Haven, steht zum Verkauf, und Ehrwürden Tufty Thesinger haben sich aus dem Staub gemacht.«

Nichts tat sich, aber er hatte auch nichts Besonderes erwartet. Journalisten geben ihrem Erstaunen nicht lauthals Ausdruck, nicht einmal ihrem Unglauben.

»High Haven«, wiederholte Luke schallend, »ist zu haben. Mr, Jake Chiu, der bekannte und beliebte Immobilienmakler, Ihnen besonders in seiner Eigenschaft als mein aufgebrachter Hauswirt ein Begriff, wurde von der Regierung Ihrer Majestät beauftragt, über High Haven zu disponieren. Im Klartext: die Bude zu verscheuern. Loslassen, polnischer Saukerl, ich bring dich um!« Der Zwerg hatte ihn vom Tisch gestoßen. Nur ein hurtiger Luftsprung bewahrte Luke vor Schaden. Vom Fußboden aus brüllte er weitere Beschimpfungen gegen seinen Angreifer. Inzwischen hatte Craw seinen großen Kopf Luke zugewendet, die feuchten Augen hefteten sich böse glotzend auf ihn, schienen ihn nie mehr loslassen zu wollen. Luke fragte sich, gegen welches von Craws zahlreichen Gesetzen er verstoßen haben mochte. Unter seinen verschiedenen Verkleidungen war Craw ein komplizierter und einsamer Mensch, wie die ganze Tischrunde wußte. Die absichtliche Ruppigkeit verdeckte eine Liebe zum Fernen Osten, die ihn zuweilen bis zur Unerträglichkeit zu packen schien, so daß er monatelang von der Bildfläche verschwinden konnte und wie ein gereizter Elefant auf seinen eigenen Pfaden stapfte, bis er sich diesem Leben wieder gewachsen fühlte.

»Bitte nicht zu faseln, Ehrwürden, wenn's beliebt«, sagte Craw schließlich und warf den großen Kopf gebieterisch in den Nacken. »Kein dreckiges Gewäsch in die bekömmlichen Gewässer spucken, wenn's gefällig ist, Herr Baron. High Haven ist das >Spukhaus<, schon seit Jahren, die Residentur. Bau des luchsäugigen Major Tufty Thesinger, ehedem bei Her Majesty's Rifles, jetzt der Lestrade des Yard in Hongkong. Tufty würde sich nie aus dem Staub machen. Er ist ein >Spuk<, kein Waschlappen. Gebt meinem Sohn zu trinken, Monsignore« - dies zu dem chinesischen Barmann -, »er redet irre.«

Craw gab einen weiteren Feuerbefehl, und der Club wandte sich wieder seinen intellektuellen Exerzitien zu. Lukes großartige Erstmeldung in Sachen Spionage war für die Kollegen kein Novum. Er genoß seit langem einen Ruf als verhinderter Spitzeljäger, und seine Hinweise waren unweigerlich haltlos. Seit Vietnam sah dieser Dämlack Spione unter jedem Teppich. Er war überzeugt, daß sie die Welt regierten, und einen Großteil seiner freien Zeit trieb er sich, falls er nüchtern war, in der Umgebung der zahlreichen Heere kaum getarnter China-Beobachter und noch üblerer Gestalten herum, die das riesige amerikanische Konsulat auf dem Hügel heimsuchten. An einem weniger ereignislosen Tag hätte die Sache folglich damit ihr Bewenden gehabt: So jedoch sah der Zwerg eine Gelegenheit zur Kurzweil, und ergriff sie.

»Sag mal, Luide«, begann er und drehte dabei die ausgestreckten Handflächen nach oben, »steht High Haven, mit kompletter Einrichtung zum Verkauf oder nur wie besichtigt?«

Die Frage wurde mit Applaus belohnt. War High Haven wertvoller mit seinen Geheimnissen oder ohne sie?

»Steht es mit Major Thesinger zum Verkauf?« hakte der südafrikanische Fotograf in seinem humorlosen Singsang ein, und wiederum lachten alle, wenn auch nicht mehr so herzhaft. Der Fotograf war eine gespenstische, klapperdürre Gestalt mit Bürstenhaarschnitt, und sein Gesicht war so zerpflügt wie die Schlachtfelder, auf denen er herumgeisterte. Er kam aus Kapstadt, aber sie nannten ihn Deathwish den Hunnen. Sie sagten, er würde sie noch alle begraben, denn er stelzte immer hinter ihnen her wie ein Klageweib.

Ein paar vergnügliche Minuten lang ging Lukes Eröffnung völlig unter in einer Flut von Thesinger-Stories und Thesinger-Imitationen, an denen sich alle außer Craw beteiligten. Man erinnerte sich, daß der Major ursprünglich als Importkaufmann in der Kolonie aufgetaucht war, drunten in den Docks mit irgendeiner albernen Legende; nach einem halben Jahr erschien er völlig übergangslos auf der Beamtenliste und übersiedelte komplett mit seinem Personal blasser Schreiber und teigiger, wohlerzogener Sekretärinnen in besagtes Spukhaus, um dort irgend jemandes Nachfolge anzutreten. Besonders seine Tete-á-tete-Lunches wurden geschildert, zu denen, wie sich jetzt herausstellte, fast jeder der anwesenden Journalisten irgendwann einmal eingeladen war, und die mit spitzfindigen Vorschlägen beim Cognac endeten, einschließlich so wunderschöner Formulierungen wie: »Hören Sie, alter Junge, falls Ihnen jemals ein interessanter Chinaman vom anderen Flußufer vor die Büchse kommen sollte - einer mit Zugang, Sie verstehen? -, dann denken Sie an High Haven!« Dann die magische Telefonnummer, die »direkt auf meinem Schreibtisch anklingelt, keine Zwischenstation, keine Tonbänder, nichts, ja?« - die ein gutes halbes Dutzend von ihnen in ihren Notizbüchern stehen hatte: »Da, schreiben Sie's auf Ihre Manschette, sagen Sie einfach, es ist ein Rendezvous oder eine Freundin oder so. Fertig? Hongkong fünf-null-zwei-vier . . . « Sie leierten die Zahlen im Chor herunter, dann wurde es still. Irgendwo schlug eine Uhr Viertel nach drei. Luke erhob siel langsam und klopfte sich den Staub von den Jeans. Der alt« schanghainesische Kellner gab seinen Posten bei den Regalen au und holte die Speisenkarte hervor, in der Hoffnung, jemand wolle essen. Eine Weile zögerten sie. Der Tag war vertan. War es schon beim ersten Gin gewesen. Im Hintergrund ertönte tiefes Knurren als der Rocker sich einen üppigen Lunch bestellte: »Und dazu ein kaltes Bier, kalt, verstanden? Sehl kalt. Und luck zuck.« Der Superintendent wußte mit Eingeborenen umzugehen und versäumte nie, darauf hinzuweisen. Dann war es wieder still »Na, geschafft, Lukie«, rief der Zwerg und brachte sich außer Reichweite. »Damit dürften Sie den Pulitzerpreis gewinnen. Gratuliere, darling. Knüller des Jahres.«

»Ach, leckt mich doch, alle mitnander«, sagte Luke und begab sich durch das Lokal zur Bar, wo zwei blaßgelbe Mädchen saßen. Armymädchen auf der Pirsch. »Jake Chiu hat mir die Scheiß-Anweisung gezeigt, oder? Anweisung von Her Majesty's Scheiß-Service, oder? Scheiß-Wappen aufm Briefkopf, Löwe vögelt Geiß. Hei, sweethearts, kennt ihr mich noch? Ich bin der nette Onkel, der euch aufm Jahrmarkt die Lutscher gekauft hat.«

»Thesinger antwortet nicht«, sang Deathwish der Hunne moros vom Telefon her. »Niemand antwortet. Nicht Thesinger, nicht sein Diensthabender. Apparat ist außer Betrieb.« War es die Aufregung oder die Langeweile gewesen, niemand hatte bemerkt, wie Deathwish ans Telefon gegangen war.

Bis jetzt war Old Craw so leblos gewesen wie ein Dodo. Nun blickte er jäh auf.

»Wähl nochmal, du Narr«, befahl er scharf wie ein Feldwebel beim Exerzieren.

Achselzuckend wählte Deathwish wiederum Thesingers Nummer, und ein paar von ihnen gingen hinüber und sahen ihm dabei zu. Craw blieb, wo er war, und beobachtete. Es gab zwei Apparate. Deathwish probierte es mit dem zweiten, aber das Ergebnis blieb das gleiche.

»Ruf die Vermittlung an«, befahl Craw quer durch das Lokal. »Steh nicht da wie die schwangere Jungfrau. Ruf die Vermittlung an, du afrikanischer Baumaffe.«

»Kein Anschluß unter dieser Nummer«, sagte die Vermittlung. »Seit wann, Menschenskind?« fragte Deathwish. »Keine weiteren Angaben«, sagte die Vermittlung. »Haben die vielleicht ne neue Nummer gekriegt? Hallo! Vermittlung!« heulte Deathwish in die Muschel. Niemand hatte ihn je so aufgebracht gesehen. Das Leben war für Deathwish etwas, was sich vor dem Sucher abspielte: an dieser Leidenschaftlichkeit konnte nur der Taifun schuld sein. »Keine weiteren Angaben«, sagte die Vermittlung. »Ruf Shallow Throat an«, befahl Craw, der jetzt richtig wütend war. »Ruf jeden verdammten Protokollhengst in der Kolonie an.« Deathwish. schüttelte zweifelnd den langen Kopf. Shallow Throat war der offizielle Regierungssprecher, ihnen allen ein Dorn im Auge. Ihn um irgend etwas angehen hieß das Gesicht verlieren. »Los, gib ihn mir«, sagte Craw, stand auf, schob die anderen beiseite, griff nach dem Telefon und hob ein makabres Werben um Shallow Throat an. »Ihr ergebener Craw hier, Sir, Ihnen stets zu Diensten. Wie geht's Euer Eminenz an Leib und Seele? Sehr erfreut, Sir, sehr erfreut. Und die Frau Gemahlin und die Kleinen, Sir? Essen schön ihren Teller leer, will ich hoffen? Kein Kopfgrind, kein Typhus? Wundervoll. Also dann, vielleicht würden Sie die Güte haben, mir mitzuteilen, warum zum Teufel Tufty Thesinger sich aus dem Staub gemacht hat?«

Sie beobachteten ihn, aber seine Züge waren wie versteinert, und es gab nichts aus ihnen zu lesen.

»Danke sehr, gleichfalls, Sir!« schnaubte er schließlich und hieb den Hörer so hart auf die Gabel, daß der ganze Tisch einen Satz machte. Dann wandte er sich an den alten schanghainesischen Kellner. »Monsignore Goh, Sir, besorgen Sie mir eine Benzinkutsche, seien Sie so freundlich! Ehrwürdens, lüftet eure Ärsche, die ganze Bande!«

»Warum zum Teufel?« fragte der Zwerg, in der Hoffnung, der Befehl gelte auch für ihn.

»Weil's 'ne Story gibt, du rotziger kleiner Kardinal, 'ne Story, ihr versoffenen Eminenzen. Und Reichtum, Ruhm, Weiber und ein langes Leben!«

Seine grimmige Laune war ihnen allen ein Rätsel.

»Was hat Shallow Throat denn so Schlimmes gesagt?« fragte der zottige kanadische Cowboy ratlos.

Der Zwerg echote: »Ja, was hat er denn gesagt, Bruder Craw?«

»Er hat gesagt: Kein Kommentar«, erwiderte Craw mit schöner Würde, als wären diese Worte der gemeinste Schandfleck auf seiner Berufsehre.

Also fuhren sie alle zum Peak hinauf, nur die schweigende Mehrheit der Säufer blieb friedlich sitzen. Der zerfahrene Deathwish, der lange Luke, der zottige kanadische Cowboy, ein malerischer Anblick mit seinem mexikanischen Revoluzzer Schnurrbart, der Zwerg, wie immer nicht abzuschütteln, und schließlich Old Craw und die beiden Armyweibchen: eine Plenarsitzung des Shanghai Junior Baptist Conservative Bowling Club also, nebst Damen - obwohl der Club auf Ehelosigkeit eingeschworen war. Wunderbarerweise brachte der lustige kantonesische Chauffeur sie alle unter, ein Triumph der Masse über physikalische Gesetze. Er war sogar einverstanden, drei Quittungen über den jeweils vollen Fahrpreis auszustellen, eine für jeden beteiligten Journalisten: was kein Taxichauffeur von Hongkong jemals getan hatte oder in Zukunft tat. Ein Tag, der alles bisher Dagewesene über den Haufen warf. Old Craw saß vorn, auf dem Kopf den berühmten weichen Strohhut mit den Eton-Farben am Band, den ihm ein alter Kamerad testamentarisch vermacht hatte. Der Zwerg kauerte über dem Schalthebel, die drei anderen Männer saßen hinten und die beiden Mädchen hatten sich Luke auf den Schoß gesetzt, so daß er Mühe hatte, sich die Lippen abzutupfen. Der Rocker war offenbar nicht am Mitkommen interessiert gewesen. Er hatte die Serviette in den Kragen gestopft und harrte der Spezialität des Clubs in Form von gegrilltem Lamm mit Pfefferminzsoße und reichlich Kartoffeln. »Und noch ein Bier! Aber diesmal kalt, verstanden? Sehl kalt, und zwar luck zuck!«

Aber sobald die Luft rein war, benutzte auch der Rocker das Telefon und sprach mit einer zuständigen Stelle, nur um ganz sicher zu gehen, obwohl beide Teilnehmer der Meinung waren, daß sich gar nichts machen lasse.

Das Taxi war ein roter Mercedes, ziemlich neu, aber nirgends geht ein Wagen so schnell vor die Hunde wie am Peak, wo es im Schneckentempo mit voll aufgedrehter Klimaanlage endlos bergauf geht. Das Wetter war und blieb mörderisch. Als sie langsam die Zementklippen hinaufwimmerten, umfing sie ein Nebel, an dem man fast erstickte. Und als sie ausstiegen, war es sogar noch schlimmer. Ein heißer, unbeweglicher Vorhang, geschwängert von Benzingestank und getränkt mit dem Lärm aus dem Tal hatte sich über den Gipfel gebreitet. Die Feuchtigkeit wallte in dünnen heißen Schwaden. An einem klaren Tag hätten sie nach beiden Seiten Aussicht gehabt, eine der schönsten der Welt: im Norden auf Kaulun und die blauen Berge der New Territories, hinter denen sich die achthundert Millionen Chinesen, denen nicht das Glück britischer Herrschaft lächelte, den Blicken entzogen; im Süden auf Repulse und Deep Water Bays und hinaus aufs offene Chinesische Meer. Die Royal Navy hatte schließlich in der ihr eigenen Naivität in den zwanziger Jahren High Haven erbaut, damit es das Gefühl von Macht repräsentiere und ausstrahle. Doch befände sich das Haus nicht in einer Mulde, von Bäumen umstanden, die danach strebten, den Himmel zu erreichen, und hätten sie nicht den Nebel abgehalten, dann wäre an jenem Nachmittag nichts weiter zu sehen gewesen als die beiden weißen Betonsäulen mit den Klingelknöpfen für »Tag« und »Nacht« und die abgesperrten Gittertor dazwischen. Doch dank der Bäume sahen sie das Haus ganz deutlich, obwohl es fünfzig Yards zurückgesetzt war. Sie konnten die Regenrinnen unterscheiden, die Feuertreppen und die Wäscheleinen, und sie konnten die grüne Kuppel bewundern, die die japanische Armee während ihres vierjährigen Aufenthalts draufgesetzt hatte. Der Zwerg, der sich nützlich machen wollte, lief hin und drückte die Klingel mit dem Schildchen »Tag«. Eine Sprechanlage war in die Säule eingebaut, und sie starrten alle darauf und warteten, daß sie tönen würde, oder, wie Luke sich ausdrückte, Opiumrauch ausstoße. Am Straßenrand hatte der kantonesische Fahrer das Autoradio auf volle Lautstärke gedreht, es spielte unermüdlich ein winselndes chinesisches Liebeslied. Die zweite Säule war kahl bis auf ein Messingschild mit der Aufschrift Inter Services Liaison Staff, Thesingers fadenscheinige Legende. Deathwish der Hunne hatte eine Kamera gezückt und fotografierte so methodisch, als wäre er auf einem seiner vertrauten Schlachtfelder. »Vielleicht arbeiten sie sonnabends nicht«, gab Luke zu bedenken, während sie weiter warteten, worauf Craw ihn einen blutigen Esel nannte: Spione arbeiteten sieben Tage in der Woche rund um die Uhr, sagte er. Auch äßen sie niemals, ausgenommen Tufty. »Wünsche einen schönen guten Tag,« sagte der Zwerg. Er hatte die Nachtklingel gedrückt und die gespitzten roten Lippen den Schlitzen der Sprechanlage genähert. In, wie man ihm zubilligen mußte, überraschend gekonntem Oberklassen-Englisch flötete er hinein:

»Mein Name ist Michael Hanbury-Steadly-Heamoor, ich bin Erster Bumsboy bei Big Moo. Ich würde, biete, gern Major Thesinger in einer wichtigen Angelegenheit sprechen, biete, da ist eine pilzförmige Wolke, die der Herr Major vielleicht noch nicht gesehen haben, schoint über dem Perrifluß aufzusteigen und beeinträchtigt Big Moos Golfplatz. Tanke schön. Würden Sie freundlicherweise das Tor öffnen?« Eines der blonden Mädchen kicherte.

»Ich hab' nicht gewußt, daß er ein Sreaiiiy-Heamoor ist«, sagte sie.

Sie hatten Luke stehenlassen und sich an den zottigen Cowboy geklammert, dem sie dauernd ins Ohr flüsterten. »Er ist Rasputin«, sagte eines der Mädchen bewundernd und streichelte die Rückseite seines Schenkels. »Ich hab' den Film gesehen. Gleicht ihm wie ein Ei dem anderen, stimmt's, Kanada?« Nun nahmen sie alle einen Schluck aus Lukes Flachmann, während sie sich wieder sammelten und überlegten, was zu tun sei. Vom geparkten Wagen her tönte unbeirrbar das chinesische Liebeslied, aber die Sprechanlagen an den Säulen gaben keinen Ton von sich. Der Zwerg drückte gleichzeitig auf beide Klingeln und probierte es mit der Al-Capone-Masche. »Hören Sie, Thesinger, wir wissen, daß Sie drinnen sind. Kommen Sie jetzt raus, Hände überm Kopf, ohne Visier, und ihre Dolche werfen Sie weg - Heh, paß doch auf, du Rindvieh!« Das Kosewort galt weder dem Kanadier noch Old Craw - der sich gerade seitwärts in die Büsche schlug, offenbar einem Ruf der Natur folgend -, sondern Luke, der sich entschlossen hatte, mit Gewalt ins Haus einzudringen. Das Tor stand in einer verschlammten Zufahrt unter triefenden Bäumen. Auf der anderen Seite lag ein Haufen Abfall, einiger davon neueren Datums. Luke war hinübergesprungen und hatte auf der Suche nach erhellenden Anhaltspunkten ein S-förmiges Stück Roheisen ausgegraben. Obwohl es seine dreißig Pfund haben mußte, schleppte er es zum Tor, wuchtete es mit beiden Händen über den Kopf und ließ es auf den Stahl hinuntersausen, worauf das Tor den Ton einer gesprungenen Kirchenglocke von sich gab. Deathwish war niedergekniet, sein ausgemergeltes Gesicht zu einem Märtyrerlächeln verzerrt, während er Fotos schoß. »Zähle bis fünf, Tufty«, brüllte Luke und holte wiederum mit aller Kraft aus. »Eins ... «, er schlug erneut zu, »Zwei . . . « Über ihren Köpfen erhob sich ein Schwarm von allerhand Vögeln, einigen sehr großen, aus den Bäumen und floh in langsamen Spiralen, das Donnern aus dem Tal und das Dröhnen des Eisentors übertönten ihr Geschrei. Der Taxichauffeur tanzte herum, klatschte in die Hände und lachte, das Liebeslied war vergessen. Und was noch seltsamer war angesichts der bedrohlichen Witterung: eine komplette Chinesenfamilie tauchte auf, schob nicht nur einen Kinderwagen, sondern deren zwei vor sich her und fing ebenfalls an zu lachen, auch das Kleinste lachte, und sie hielten die Hände vor den Mund, um ihre Zähne zu verbergen. Bis der kanadische Cowboy jählings einen Schrei ausstieß, die Mädchen abschüttelte und durch die Gitterstäbe wies. »Um Himmels willen, was treibt denn bloß Old Craw? Der alte Bussard ist über den Stacheldraht gesprungen.« Jetzt war es um den letzten Rest von Vernunft geschehen, der bislang noch gewaltet haben mochte. Die ganze Horde schien von Wahnsinn erfaßt. Der Alkohol, der elende Tag, die Klaustrophobie hatten ihnen endgültig die Köpfe verwirrt. Die Mädchen hätschelten hingebungsvoll den Cowboy; Luke hämmerte unaufhörlich auf das Tor ein; die Chinesen trompeteten vor Lachen - bis sich plötzlich mit göttlicher Präzision der Nebel hob, blau-schwarze Wolkenburgen sich genau über ihnen türmten und ein Platzregen in die Bäume prasselte. Eine Sekunde später hatte er sie erreicht und durchnäßte sie im Handumdrehen. Die Mädchen, die plötzlich halb nackt dastanden, flohen lachend und kreischend in den Mercedes, die Reihen der Männer jedoch hielten eisern stand - der Zwerg eingeschlossen - und starrten durch den Wasserschleier auf die unverwechselbare Gestalt Old Craws des Australiers mit seinem alten Etonhut. Craw stand dicht am Haus unter einem primitiven Vordach, das aussah wie ein Fahrradschuppen, obwohl nur ein Irrer den Peak hinaufradeln würde. »Craw!« schrien sie. »Monsignore! Der alte Bastard hat uns abgehängt!«

Der Regen prasselte ohrenbetäubend, die Äste schienen unter seiner Gewalt zu krachen. Luke hatte seinen blöden Hammer weggeworfen. Der zottige Cowboy ging als erster, Luke und der Zwerg folgten, Deathwish bildete mit seinem Lächeln und seiner Kamera die Nachhut, hoppelte geduckt dahin, während er blindlings fotografierte. Der Regen strömte wie aus Eimern, spritzte in roten Bächlein um ihre Knöchel, während sie Craws Fährte hügelan folgten, wo das Krächzen von Ochsenfröschen den Höllenkrach noch steigerte. Sie nahmen im Sturm einen Farnkrauthügel, kamen vor einem Stacheldrahtzaun schlitternd zum Stehen, schlüpften durch die auseinandergebogenen Stränge und setzten über einen niedrigen Graben. Als sie bei Craw ankamen, starrte der Alte zur grünen Kuppel hinauf, während der Regen ungeachtet des Strohhuts ihm flott übers Gesicht und weiterlief und seinen adretten rostbraunen Anzug in einen schwärzlichen, formlosen Kittel verwandelte. Er stand wie hypnotisiert da und starrte nach oben. Luke, der ihn besonders gern mochte, versuchte als erster, Craw in die Gegenwart zurückzuholen. »Ehrwürden? Heh, aufwachen! Ich bin's: Romeo. Herrjeh, was zum Teufel ficht ihn an?«

Plötzlich bekam Luke Angst und berührte sanft seinen Arm. Aber Craw sprach noch immer kein Wort.

»Vielleicht isser im Stehen gestorben«, ließ sich der Zwerg vernehmen, während der grinsende Deathwish ihn auf diesen Verdacht hin fotografierte.

Langsam, wie ein alter Berufsboxer, rappelte Craw sich auf. »Bruder Luke, wir müssen dir demütig Abbitte tun, Sir,« murmelte er.

»Bringt ihn zurück ins Taxi«, sagte Luke und fing an, ihm einen Weg zu bahnen, aber der alte Knabe wollte sich nicht von der Stelle rühren.

»Tufty Thesinger. Ein guter Spürhund. Keine ausgesprochene Spitzenklasse - dazu ist er nicht schlau genug -, aber ein guter Spürhund.«

»Tufty Thesinger ruhe in Frieden«, sagte Luke ungeduldig.

»Gehen wir. Zwerg, verzieh dich«.

»Stockbesoffen«, sagte der Cowboy.

»Sieh dir mal die Spuren an, Watson«, fuhr Craw nach einer weiteren Denkpause fort, während Luke ihn am Arm zog und der Regen noch heftiger fiel. »Beachte zunächst die leeren Kästen über dem Fenster, aus denen zur Unzeit die Klimaanlagen herausgerissen wurden. Sparsamkeit, mein Sohn, eine empfehlenswerte Tugend, besonders, wenn ich so sagen darf, bei einem Spion. Siehst du die Kuppel dort? Schau sie dir genau an, Sir. Kratzspuren. Doch ach! Nicht die Krallen eines riesigen Hunds, sondern die Kratzspuren von Funkantennen, von fiebrigen weißen Händen entfernt. Schon mal von einem Spukhaus ohne Antennen gehört? Wäre wie ein Puff ohne Klavier.« Der Regenguß hatte sich zum Crescendo gesteigert. Riesentropfen schlugen wie Schüsse rings um sie ein. Craws Gesicht zeigte eine Mischung aus Gefühlen, die Luke nur erraten konnte. Tief in seinem Herzen regte sich der Verdacht, Craw könne wirklich am Sterben sein. Luke hatte wenige natürliche Todesfälle gesehen und war sehr scharf darauf, einen zu erleben. »Vielleicht haben sie die Bergkrankheit gekriegt und sind weg«, sagte er und versuchte erneut, Craw zum Wagen zu locken. »Durchaus möglich, Ehrwürden, ja, durchaus möglich. Ist genau die rechte Jahreszeit für unbesonnene, kurzgeschlossene Handlungen.«

»Nach Hause«, sagte Luke und zog ihn energisch am Arm. »Platz da, ja? Sanitäter!«

Aber der alte Mann ließ es sich nicht nehmen, noch einen letzten langen Blick auf das englische Spukhaus zu werfen, das im Sturm schauderte.

Der kanadische Cowboy reichte seine Story als erster ein, und sie hätte ein besseres Los verdient. Er schrieb sie noch in der gleichen Nacht, während die Mädchen in seinem Bett schliefen. Er fand, die Story würde sich besser als Zeitschriftenartikel eignen, nicht als Sensationsmeldung, also baute er sie um den Peak im allgemeinen und benutzte Thesinger nur als Aufhänger. Er erklärte, wie der Peak von jeher der Olymp Hongkongs gewesen sei - »je weiter oben man wohnt, desto höher rangiert man in der Gesellschaft« - und wie die reichen britischen Opiumhändler, Hongkongs Gründerväter, dort hinauf vor der Cholera und dem Fieber in der Stadt flüchteten; wie noch vor ein paar Jahrzehnten jeder Chinese sogar einen Paß brauchte, wenn er einen Fuß dorthin setzen wollte. Er schilderte die Geschichte von High Haven und zuletzt dessen, von der chinesischsprachigen Presse begründeten, Ruf als Hexenküche für britisch-imperialistische Anschläge auf das Reich Maos. Über Nacht war die Küche geschlossen worden, die Köche waren verschwunden.

»Eine weitere Versöhnungsgeste?« fragte er. »Ein Entgegenkommen? Im Zuge der britischen Beschwichtigungspolitik gegenüber dem Festland? Oder einfach nur ein weiteres Indiz dafür, daß die Briten in Südostasien wie überall auf der Welt von ihrer hohen Warte heruntersteigen müssen?«

Er beging den Fehler, eine weitverbreitete englische Sonntagszeitung zu wählen, die gelegentlich seine Arbeiten brachte. Die Sperr-Anweisung, die alle Hinweise auf diese Vorkommnisse untersagte, kam ihm zuvor. »Bedauern Ihre hübsche Havenstory nicht unterzubringen«, telegrafierte der Redakteur und ließ sie prompt in der Schublade verschwinden. Ein paar Tage später fand der Cowboy beim Nachhausekommen sein Zimmer gründlich durchsucht. Auch litt sein Telefon ein paar Wochen lang an einer Art Kehlkopfentzündung, so daß er es nie benutzte, ohne eine obszöne Anspielung auf Big Moo und sein Gefolge zu äußern.

Luke kam voll guter Ideen nach Hause, badete, trank große Mengen schwarzen Kaffee und machte sich ah die Arbeit. Er rief bei Fluggesellschaften an, bei Regierungsleuten und bei zahlreichen bleichen, geschniegelten Bekannten im amerikanischen Konsulat, die ihn durch Ausflüchte und delphische Antworten erbitterten. Er belästigte Umzugsfirmen, die vorwiegend für die Regierung arbeiteten. Noch in der gleichen Nacht um zehn Uhr hatte er, wie er wörtlich zum Zwerg sagte, »hieb- und stichfeste Beweise« dafür, daß Thesinger mit Frau und sämtlichem Personal von High in den frühen Morgenstunden des Dienstag Hongkong mit einer Chartermaschine in Richtung London verlassen hatte. Thesingers Boxerhund, so erfuhr er durch einen glücklichen Zufall, sollte im Lauf der Woche per Luftfracht nachkommen. Mit seinen Notizen setzte Luke sich an die Schreibmaschine und blieb, wie er genau vorhersah, alsbald stecken. Er fing hastig und fließend an zu schreiben: »Heute hängt eine neue Skandalwolke über der kampfgewohnten und nichtgewählten Regierung von Britanniens einzig verbliebener Kolonie in Asien. Der Aufdeckung von Korruption im Polizei- und Zivildienst folgt die Nachricht auf dem Fuße, daß das geheimnisvollste Etablissement der Insel, das Haus High Haven, die Basis für Englands Mantel- und Degenkomplotte gegen Rotchina, über Nacht geschlossen wurde.« Hier hielt er mit einem gotteslästerlichen Fluch über sein Unvermögen inne und preßte das Gesicht in die Handflächen. Alpträume: die konnte er ertragen. Erwachen nach soviel Krieg, schweißbedeckt ob unaussprechlicher Visionen, in den Nüstern den Gestank von Napalm auf Menschenfleisch: in gewisser Weise war es ihm ein Trost, daß die Dämme seines Gefühls nach so langem Verdrängen gebrochen waren. Es hatte Zeiten gegeben, damals, als er das alles erlebte, in denen er sich nach einer Atempause sehnte, die ihm erlauben würde, Ekel zu empfinden. Wenn Alpträume notwendig waren, damit er wieder in die Reihen normaler Menschen zurückfände, dann konnte er sie dankbar willkommen heißen. Doch nicht im schlimmsten Alptraum war die Möglichkeit aufgetaucht, daß er nach jahrelangem Kriegsberichten nicht mehr imstande sein könnte, über den Frieden zu berichten. Sechs Nachtstunden lang kämpfte Luke mit dieser schrecklichen Starre. Manchmal dachte er an Old Craw, wie er dort stand, regentriefend, und seine Grabrede gehalten hatte: vielleicht war das die Story? Aber wer hängt schon eine Story an der ausgefallenen Gemütsverfassung eines Zunftkollegen auf?

Der Version, die der Zwerg zusammenbraute, war auch nicht viel mehr Erfolg beschieden, was den Verfasser sehr reizbar machte. Auf den ersten Blick hatte die Story alles, was man sich wünschen konnte. Sie mokierte sich über die Briten, enthielt das Wort SPION in Großbuchstaben und verzichtete ausnahmsweise auf das Bild von Onkel Sam als Henker Südostasiens. Doch alles, was er nach fünftägigem Warten zur Antwort erhielt, war die bündige Anweisung, er möge bei seinem Leisten bleiben und nicht in anderer Leute Stiefeln, auftreten.

Blieb nur noch Old Craw. Verglichen mit der Rasanz der Haupthandlung war die Art, wie Craw den Zeitpunkt für sein Tun und Nichttun wählte, zwar nur ein Nebeneffekt, aber sie blieb denkwürdig bis auf den heutigen Tag. Drei Wochen lang schickte er gar nichts ein. Es gab ein paar Kleinigkeiten, um die er sich hätte kümmern sollen, aber er tat es nicht. Luke, der sich ernstlich um ihn Sorgen machte, hielt es zunächst für ein Zeichen fortschreitenden rätselhaften Verfalls. Craw verlor jeden Schwung und jedes Bedürfnis nach Geselligkeit. Er wurde schwierig und zuweilen ausgesprochen unfreundlich und bellte die Kellner in schlechtem Kantonesisch an; sogar Goh, seinen Liebling. Er behandelte die Shanghai Bowlers wie seine schlimmsten Feinde, und grub angebliche Missetaten aus, die sie längst vergessen hatten. Er saß allein auf seinem Fensterplatz wie ein alter Boulevardier in mageren Zeiten, verbiestert, abweisend, untätig. Dann verschwand er eines Tages, und als Luke voll banger Ahnungen seine Wohnung aufsuchte, teilte ihm die alte Amah mit, »Whisky Papa lauflauf London, laschlasch«. Sie war ein sonderbares kleines Wesen, und Luke glaubte ihr nicht recht. Ein stumpfsinniger Schreiber des Spiegel berichtete, er habe Craw in Vientiane in der Constellation Bar bechern sehen, aber auch das schien Luke fragwürdig. Die Insider hatten sich schon immer einen Sport daraus gemacht, Old Craw zu beobachten, und jede zusätzliche Information erhöhte das eigene Prestige. Bis eines schönen Montags so gegen Mittag der alte Knabe in einem neuen beigen Anzug mit eleganter Knopflochblume in den Club spaziert kam, voller Anekdoten und Lächeln, ganz wie ehedem, und sich an die High-Haven-Story machte. Er gab mehr Geld aus, als sein Blatt ihm normalerweise zugestanden hätte. Er verzehrte mehrere vergnügte Mahlzeiten mit gutgekleideten Amerikanern von recht vage bezeichneten US-Organisationen, darunter ein paar, die Luke bekannt waren. Den berühmten Strohhut auf dem Kopf, führte er jeden einzeln in ein ruhiges, ausgewähltes Restaurant. Im Club wurde er als Diplomatenknecht geschmäht, eine schwere Anschuldigung, und er lachte dazu. Danach mußte er zu einer Konferenz der China-Beobachter nach Tokio, und rückblickend darf wohl angenommen werden, daß er diesen Besuch nutzte, um nach weiteren Bestandteilen der Story zu recherchieren, die langsam für ihn Gestalt annahm. Bestimmt bat er alte Bekannte bei dieser Konferenz, das eine oder andere für ihn auszugraben, sobald sie wieder zu Hause sein würden, in Bangkok oder Singapur oder Taipeh oder woher immer sie gekommen waren, und sie taten ihm den Gefallen, weil sie wußten, daß er das gleiche auch für sie getan hätte. Auf geheimnisvolle Weise schien er zu wissen, wonach er suchte, noch ehe sie es gefunden hatten.

Das Ergebnis erschien in voller Ausführlichkeit in einer Sydneyer Morgenzeitung, die für den langen Arm der anglo-amerikanischen Zensur unerreichbar war. Alle fanden, daß es an die besten Jahre des Meisters erinnerte. Ein Artikel von zweitausend Wörtern. Typischerweise stand keineswegs die High-Haven-Story im Vordergrund, sondern der »geheimnisvolle leere Flügel« der britischen Botschaft in Bangkok, der bis vor einem Monat eine seltsame Körperschaft namens »The Seato Coordination Unit« beherbergt hatte und außerdem eine Visa-Abteilung mit sage und schreibe sechs Zweiten Sekretären. Waren es die Freuden der Massage-Salons von Soho, so fragte der alte Australier zuckersüß, die die Thailänder in solcher Anzahl nach England lockten, daß man zur Bearbeitung ihrer Visa-Anträge sechs Zweite Sekretäre benötigte? Sonderbar desgleichen, so seine weiteren Überlegungen, daß sich nach ihrer Abreise und der Schließung des betreffenden Gebäudeflügels keine Warteschlangen von Reisewilligen vor der Botschaft bildeten. Ganz allmählich - er schrieb mit leichter Hand, aber immer wohlüberlegt - tat sich ein überraschendes Bild vor seinen Lesern auf. Er bezeichnete den britischen Geheimdienst als den »Circus«. Er sagte, der Name komme von der Adresse dieser Organisation, deren Hauptquartier an einem berühmten Platz in London stehe. Der Circus hatte sich nicht nur aus High Haven abgesetzt, sagte er, sondern auch aus Bangkok, Singapur, Saigon, Tokio, Manila und Djakarta. Und aus Seoul. Sogar das entlegene Taiwan sei nicht immun, dort sei festgestellt worden, daß ein zweitrangiger britischer Resident drei Schreiber-Chauffeure und zwei Sekretariatsgehilfen abgestoßen habe, nur eine Woche ehe dieser Artikel in Druck gegangen sei. »Das Dünkirchen der Spione«, hatte Craw es genannt, »wobei Chartermaschinen vom Typ DC 8 die Fischerboote aus Kent ersetzten.«

Was hatte einen solchen Exodus ausgelöst? Craw bot mehrere geistreiche Theorien an. Waren wir Zeugen einer weiteren Beschneidung der Staatsausgaben? Der Autor hatte da seine Zweifel. In ihren schweren Stunden neigte Britannia eher dazu, mehr, nicht weniger Wert, auf ihre Spione zu legen. Die ganze Geschichte des Empire bewies das. Je schmaler die Handelswege, desto raffinierter die geheimen Bemühungen, sie zu schützen. Je mehr sich der Zugriff auf die Kolonien lockerte, desto verzweifelter der Kampf gegen jene, die ihn vollends lösen wollten. Nein: Großbritannien mochte bei Wasser und Brot schmachten, seine Spione würden der letzte Luxus sein, den es aufgäbe. Craw zeigte noch weitere Möglichkeiten auf und tat sie sogleich wieder ab. Eine Geste der Entspannung gegenüber China? fragte er, wie vor ihm schon der Cowboy. Gewiß würde England alles Menschenmögliche tun, um Hongkong vor Maos antikolonialistischem Eifer zu bewahren - alles, nur nicht seine Spione opfern. Und so kam Old Craw schließlich zu seiner Lieblingstheorie: »Quer über das ganze Fernöstliche Schachbrett«, schrieb er, »ging der Circus, wie man im Fachjargon sagt, auf Tauchstation.« Aber warum?

Der Schreiber zitierte nun seine »verehrten amerikanischen Amtsbrüder von der streitenden Geheimkirche in Asien«. Amerikanische Geheimdienstler seien allerorts, so sagte er, nicht nur in Asien, »fuchsteufelswild über die laxe Sicherheitshandhabung bei den britischen Dienststellen«. Am verbittertsten seien sie über die kürzliche Entdeckung eines hohen russischen Spions - er warf hier das Fachwort »Maulwurf« ein - innerhalb des Londoner Hauptquartiers, eben des Circus: eines britischen Verräters, dessen Namen sie nicht nennen wollten, der jedoch mit den Worten der verehrten Amtsbrüder »jede auch nur einigermaßen nennenswerte anglo-amerikanische Geheimoperation während der letzten zwanzig Jahre zunichte gemacht« habe. Wo war der Maulwurf jetzt?, habe der Schreiber seine Quellen gefragt. Worauf sie mit unverhohlener Erbitterung geantwortet hätten: »Tot. In Rußland. Und hoffentlich beides.«

Craw war nie um einen effektvollen Schluß verlegen gewesen, aber dieser hatte für Lukes liebendes Auge etwas geradezu Erhabenes. Er war beinah eine Aussage über das Leben selbst, und sei es nur über das geheime Leben.

»Ist Kim, der junge Spion, für immer aus den Legenden des Fernen Ostens verschwunden?« fragte er. »Soll der englische Pundit nie wieder seine Haut färben und seinen Platz am Dorffeuer einnehmen? Fürchtet euch nicht«, donnerte er. »Die Briten werden zurückkommen! Der altehrwürdige Sport der Spionenjagd wird Urständ feiern! Der Spion ist nicht tot: er tut nur einen tiefen Schlaf.«

Der Artikel erschien. Im Club wurde er flüchtig bewundert, beneidet, vergessen. Eine örtliche englischsprachige Zeitung mit starken amerikanischen Verbindungen druckte ihn ungekürzt nach, mit dem Erfolg, daß die Eintagsfliege noch weitere vierundzwanzig Stunden leben durfte. Die Benefiz-Vorstellung des alten Knaben, sagten sie: eine letzte Reverenz, ehe er von der Bühne abtrat. Dann brachten ihn die überseeischen Sender von BBC, und schließlich strahlte der müde Sender der Kolonie eine Version der Version von BBC aus, und einen vollen Tag lang wurde die Frage erörtert, ob Big Moo beschlossen habe, den örtlichen Medien den Maulkorb abzunehmen. Doch obwohl inzwischen Wochen vergangen waren, sah weder Luke noch der Zwerg sich zu der Frage veranlaßt, wieso zum Teufel der Alte den Hintereingang zu High Haven gekannt hatte. Was nur bewies, wenn ein Beweis jemals nötig war, daß Journalisten genauso lange brauchen wie gewöhnliche Sterbliche, bis sie spitzkriegen, was sich vor ihrer eigenen Nase tut. Schließlich tobte an jenem Sonnabend der Taifun.

Im Circus selbst, wie Old Craw den Sitz des britischen Geheimdienstes zutreffend benannt hatte, löste der Artikel unterschiedliche Reaktionen aus, je nachdem, wieviel die Betroffenen wußten. Bei den Housekeepers zum Beispiel, die für das bißchen Tarnung verantwortlich waren, mit dem sich der Circus zur Zeit umgeben konnte, löste der alte Knabe eine Woge aufgestauten Zorns aus, wie sie nur ein Mensch verstehen kann, der die Atmosphäre in einer Geheimdienststelle im Belagerungszustand kennt. Sogar sonst duldsame Geister wurden von wilder Rachsucht erfaßt. Verrat! Vertragsbruch! Sperrt seine Pension! Setzt ihn auf die Observierungsliste! Strafverfolgung, sobald er nach England zurückkehrt! Ein Stückchen weiter unten sahen die weniger fanatisch um ihre Sicherheit Besorgten die Sache mit milderem Auge, obgleich auch sie von falschen Voraussetzungen ausgingen. Na ja, so sagten sie ein bißchen kleinlaut, so geht es eben: zeigt uns einen, der nicht schon dann und wann mal durchgedreht hätte, und ganz besonders einen, der so lange in Unkenntnis gelassen wurde wie Old Craw. Und schließlich hatte er nichts veröffentlicht, was nicht allgemein zugänglich gewesen wäre, nicht wahr? Wirklich, diese Housekeepers da sollten sich ein bißchen mäßigen. Wie sie zum Beispiel neulich abends die arme Molly Meakin, die schließlich Mikes Schwester ist, fertiggemacht haben, nur weil sie ein Blatt leeres Briefpapier in ihrem Papierkorb ließ! Nur die Leute vom innersten Kreis sahen die Sache anders. Für sie war Old Craws Artikel ein Meisterstück an Desinformation: George Smiley in seinen besten Tagen, sagten sie. Klar, daß die Sache herauskommen mußte, und alle stimmten darin überein, daß Zensur zu jeder Zeit ein fragwürdiges Mittel sei. Viel besser also, wenn sie nach unserer eigenen Fasson herauskam. Der rechte Zeitpunkt, das rechte Maß, der rechte Ton: in jedem Federstrich die Erfahrung eines ganzen Lebens, so sagten sie einmütig. Aber diese Ansicht drang nicht über ihren Kreis hinaus.

Drüben in Hongkong erwies sich Craws High-Haven-Story - völlig klar, sagten die Shanghai Bowlers, wie die Sterbenden hatte der alte Knabe hier einen prophetischen Instinkt entwickelt - als sein Schwanengesang. Einen Monat nach dem Erscheinen hatte Craw sich zurückgezogen, nicht aus der Kolonie, aber aus seinem Schreiberjob und von der Insel. Er mietete ein Cottage in den New Territories und verkündete, daß er unter einem gelben Himmel aus der Welt zu scheiden gedenke. Für die Bowlers hätte er ebensogut Alaska wählen können. Es war einfach zu verdammt weit, sagten sie, um zurückzufahren, wenn man blau war. Es ging das Gerücht - barer Unsinn, denn Craws Neigungen zielten nicht in diese Richtung -, er habe sich einen hübschen Chinesenjungen als Gefährten zugelegt. Es war das Werk des Zwergs: er konnte es nicht verwinden, daß ein alter Mann ihm die Story weggeschnappt hatte. Nur Luke wollte ihn nicht vergessen. Luke fuhr eines Morgens von der Nachtschicht direkt zu ihm hinaus. Nur so, und weil er den alten Bussard schrecklich gern hatte. Craw sei glücklich wie der Mops im Paletot berichtete er: ganz der alte Widerling, nur ein bißchen verwirrt, Lukes unangemeldetes Erscheinen habe ihn aus dem Tritt gebracht. Er hatte einen Freund bei sich, keinen Chinesenjungen, sondern einen Überraschungsbesuch, den er als George vorstellte: ein gedrungenes, kurzsichtiges Kerlchen mit runden Brillengläsern, der ihm offenbar ins Haus geschneit war. Craw hatte Luke beiseite genommen und ihm erklärt, dieser George schreibe gelehrte Fachartikel für englische Zeitungen, für die er selber in finsterer Vorzeit gearbeitet habe. »Zuständig für die Sparte Lebensabend, Ehrwürden. Rutscht mal schnell quer durch Asien.«

Wer immer er auch sein mochte, eins wurde deutlich, nämlich daß Craw einen Heidenrespekt vor dem kleinen Dicken hatte, denn er betitelte ihn sogar »Seine Heiligkeit«. - Luke war sich als Eindringling vorgekommen und hatte den Rückweg angetreten, ohne sich zu betrinken.

So standen also die Dinge. Thesingers heimliche Flucht, Old Craws naher Tod und Wiederauferstehung sein Schwanengesang trotz aller heimlicher Zensur; Lukes rastloses Interesse für die Geheimwelt; die schlaue Nutzbarmachung eines unvermeidlichen Übels durch den Circus. Nichts Geplantes, doch, wie das Leben so spielt, ein Eröffnungsstück zu vielem, das später geschah. Ein Taifun-Sonnabend; ein Kräuseln auf dem tückischen, stinkenden, öden, sterilen, wimmelnden Tümpel Hongkong, ein gelangweilter Chor, noch immer ohne einen Hauptdarsteller. Und seltsamerweise fiel es ein paar Monate später wiederum Luke in seiner Rolle als Shakespearescher Bote zu, die Ankunft des Helden zu verkünden. Die Nachricht kam über den Fernschreiber, als Luke gerade Bereitschaftsdienst hatte, und er machte sie mit seinem üblichen Eifer einem gelangweilten Publikum zugänglich: »Leute! Herhören! Eine Neuigkeit! Jerry Westerby ist wieder auf dem Kriegspfad, Männer! Nimmt Kurs gen Osten, hört ihr, arbeitet immer noch für das gleiche Revolverblatt!«

»Seine Lordschaft!« schrie der Zwerg mit gespielter Begeisterung.

»Endlich ein Schuß blaues Blut, damit hier ein anderer Ton einkehrt! Es lebe der Adel! Mit einem gemeinen Fluch schleuderte er eine Serviette nach dem Flaschenregal. »Herrgott«, sagte er und trank Lukes Glas aus.

Der große Ruf

Am Nachmittag traf das Telegramm ein. Jerry Westerby saß auf der Schattenseite des Balkons vor seinem heruntergekommenen Bauernhaus und hackte auf der Schreibmaschine, der Sack mit alten Büchern lag zu seinen Füßen. Den Umschlag brachte die schwarzgewandete Gestalt der Postmeisterin höchstpersönlich, eine finstere und ungehobelte Bäuerin, die durch den Rückzug der einstigen Führungsschicht zur ersten Macht in diesem toskanischen Drecknest geworden war. Sie war schon eine alte Hexe, aber eine so dramatische Gelegenheit wie heute konnte sie sich einfach nicht entgehen lassen, und so stapfte sie trotz der Hitze zügig den staubigen Pfad hinan. In ihrem Postbuch wurde der historische Augenblick später um fünf Uhr sechs festgehalten, was glatter Schwindel war, der Sache jedoch Nachdruck verlieh. Die wahre Zeit war punkt fünf Uhr. Im Haus hämmerte Westerbys zaundürres Mädchen, im Dorf die Waise genannt, auf ein zähes Stück Ziegenfleisch ein, voll Erbitterung, wie sie alles betrieb. Das gierige Auge der Postmeisterin machte sie schon aus beträchtlicher Entfernung hinter dem offenen Fenster aus: Ellbogen nach allen Seiten gespreizt und die oberen Zähne in die Unterlippe gepreßt: und bestimmt, wie üblich, mürrischen Blicks. »Hure«, dachte die Postmeisterin aufgebracht, »jetzt hast du's doch noch erwarten können.«

Das Radio schmetterte Verdi: die Waise mochte nur klassische Musik, wie das ganze Dorf seit jenem Abend in der Taverne wußte, als sie eine Szene gemacht hatte, nur weil der Dorfschmied Rockmusik aus der Jukebox spielen ließ. Sie hatte einen Krug nach ihm geworfen. Und der Verdi und die Schreibmaschine und die Ziege?, sagte sich die Postmeisterin. Der Krach war so ohrenbetäubend, daß ihn sogar ein Italiener gehört hätte. Jerry saß, so erinnerte sie sich, wie eine Heuschrecke auf dem Holzboden - vielleicht auch auf einem Kissen - und benutzte den Büchersack als Fußschemel. Er hockte mit auswärts gerichteten Füßen da und tippte zwischen den Knien. Manuskriptblätter voller Fliegendreck waren rings um ihn ausgebreitet, mit Steinen beschwert wegen der glühenden Winde, die den ausgebrannten Hügel heimsuchten, und neben seinem Ellbogen stand eine Korbflasche mit dem roten Landwein, gewiß für die selbst dem größten Meister bekannten Augenblicke, in denen die Inspiration ihn im Stich ließe. Er tippte nach Adlerart, berichtete sie später den bewundernden Lachern: kreiste immer lang herum, ehe er zustieß. Und er trug, was er immer trug, ob er sich nun sinnlos auf seinem Stück Land zu schaffen machte und das Dutzend unnützer Olivenbäume bestellte, die dieser Spitzbube Franco ihm angedreht hatte, oder mit der Waise ins Dorf hinunter zum Einkaufen zockelte oder in der Taverne bei einem Schnaps saß, ehe er sich wieder an den langen Aufstieg machte: Wildlederstiefel, denen die Waise noch nie einen Bürstenstrich hatte zukommen lassen und die folglich an den Zehen glänzten, Knöchelsocken, die sie niemals wusch, ein schmuddeliges Hemd, das vor langer Zeit weiß gewesen war, und graue Shorts, die aussahen wie von feindseligen Hunden zerkrallt und die eine anständige Frau längst geflickt hätte. Und er begrüßte sie mit dem gewohnten schnarrenden Wortschwall, der zugleich schüchtern und überschwenglich klang und den sie nicht im einzelnen verstand, aber doch im allgemeinen, wie eine Rundfunkmeldung, und den sie durch die schwarzen Lücken ihrer schadhaften Zähne erstaunlich getreu wiederzugeben vermochte.

»Mamma Stefano, sowas, super, müssen kochen. Hier, altes Haus, was zum Gurgeln«, rief er, während er die Ziegelstufen heruntergeschlurft kam und ihr ein Glas Wein anbot. Dabei grinste er wie ein Schuljunge, wie sein Spitzname im Dorf lautete: der Schuljunge, ein Telegramm für den Schuljungen, dringend, aus London! In neun Monaten nichts weiter als ein Packen broschürter Bücher und jede Woche ein gekritzelter Brief seiner Tochter, und jetzt aus heiterem Himmel dieses Denkmal von einem Telegramm, kurz wie ein Befehl, aber für die Antwort fünfzig Wörter im voraus bezahlt! Man stelle sich vor, fünfzig, was das bloß kostet! Nur natürlich, daß das halbe Dorf den Versuch gemacht hatte, es zu enträtseln.

Schon bei der Adresse waren sie steckengeblieben: »The honourable Gerald Westerby«. Warum? Der Bäcker, der als Kriegsgefangener in Birmingham gewesen war, förderte ein zerfleddertes Wörterbuch zutage: Höflichkeitstitel für den Sohn eines Adeligen. Natürlich. Signora Sanders, die auf der anderen Seite des Tals wohnte, hatte ja gleich gesagt, der Schuljunge habe blaues Blut. Zweiter Sohn eines Zeitungsbarons, hat sie gesagt, Lord Westerby, Zeitungsbesitzer, verstorben. Zuerst war die Zeitung gestorben, dann ihr Besitzer - laut Signora Sanders, ein Witz, er hatte die Runde gemacht. Dann folgte regret, kein Problem, das hieß Bedauern. Auch advise war nicht schwierig. Die Postmeisterin stellte erfreut und wider alles Erwarten fest, wieviel gutes Latein die Engländer trotz ihrer Dekadenz übernommen hatten. Das Wort guardian war heikel, denn es führte zu Protektor und von da zu plumpen Männerspäßen, die von der Postmeisterin erzürnt vom Tisch gefegt wurden. Bis schließlich Schritt für Schritt der Text entschlüsselt und die Geschichte klar war. Der Schuljunge hatte einen guardian, also eine Art Vormund. Dieser guardian lag lebensgefährlich krank im Spital und wollte den Schuljungen vor seinem Tod noch einmal sehen. Niemanden sonst wollte er sehen: Es mußte der Honourable Westerby sein. Rasch ergänzten sie das Bild: die schluchzende Familie umstand das Lager, die Ehefrau dem Sterbenden zunächst und untröstlich, elegante Priester zelebrierten die Letzte Ölung, Wertsachen wurden weggeschlossen und durch das ganze Haus, in Korridoren und Küchen, zog ein geflüstertes Wort: Westerby - wo ist der Honourable Westerby? Zuletzt waren noch die Unterzeichner des Telegramms zu identifizieren. Es waren drei, und sie bezeichneten sich als solicitors, ein Wort, das eine weitere Flut schmutziger Vermutungen auslöste, bis sie auf Notar kamen und die Gesichter schlagartig hart wurden. Heilige Jungfrau Maria. Wenn sie drei Notare brauchten, dann war eine Menge Geld vorhanden. Und wenn sie alle drei unterzeichnen wollten und noch dazu diese fünfzig Wörter Rückantwort zahlten, dann nicht nur eine Menge, sondern eine Unmenge! Haufen! Wagenladungen! Kein Wunder, daß sich die Waise so an ihn gekrallt hatte, diese Hure! Plötzlich riß sich jeder darum, zum Hügel hinaufzusteigen. Guido konnte mit seiner Lambretta bis zum Wassertank fahren, Mario konnte rennen wie ein Fuchs, Manuela, die Tochter des Krämers, hatte so sanfte Augen, die Trauerbotschaft würde ihr gut anstehen. Doch die Postmeisterin wies alle Freiwilligen ab - Mario mit einem tüchtigen Knuff ob seiner Anmaßung -, verschloß die Geldschublade und ließ ihren schwachsinnigen Sohn als Hüter der Poststelle zurück. Auch wenn es zwanzig Minuten Wüstenmarsch bedeutete und - falls dort droben dieser Glutwind blasen sollte - einen Mundvoll roten Staub für ihre Mühe.

Sie hatte Jerry anfangs nicht richtig eingeschätzt. Das bedauerte sie jetzt, während sie sich durch die Olivenhaine hügelan mühte, aber der Irrtum hatte seine Gründe. Erstens war er im Winter angekommen, wenn die billigen Kunden eintreffen. Er kam allein, aber er hatte den gejagten Blick eines Mannes, der vor kurzem eine Menge menschlichen Ballast abgeworfen hat, Kinder, Ehefrauen, Mütter: die Postmeisterin hatte zu ihrer Zeit manchen Mann gekannt und dieses weidwunde Lächeln allzuoft gesehen, um es bei Jerry zu mißdeuten: »Ich bin verheiratet, aber zu haben«, besagte es, und keine von beiden Behauptungen war wahr. Zweitens hatte ihn der parfümierte englische Major angeschleppt, ein allbekanntes Schwein, das ein Immobilienbüro betrieb und die Bauern übers Ohr haute: ein weiterer Grund, den Schuljungen links liegen zu lassen. Der parfümierte Major zeigte ihm mehrere schmucke Anwesen, darunter eines, an dem die Postmeisterin finanziell beteiligt war - übrigens zufällig das schönste von allen -, doch der Schuljunge entschied sich statt dessen für die Bruchbude dieser Tunte Franco droben auf dem gottverlassenen Hügel, den sie nunmehr erklomm: den Teufelshügel nannten sie ihn; der Teufel kam dorthin, wenn es ihm in der Hölle zu kalt wurde. Ausgerechnet Franco, der seine Milch und seinen Wein panschte und sonntags mit einer Bande von Zierbengeln auf der Piazza in der Stadt herumstolzierte. Der Wucherpreis betrug eine halbe Million Lire, wovon der parfümierte Major sich ein Drittel unter den Nagel reißen wollte, bloß weil ein Vertrag bestand. »Und jeder weiß, warum der Major den Franco begünstigt hat«, zischte sie sabbernd durch die Zahnlücken und die Meute ihrer Anhänger sahen einander wissend an und machten »Ts, ts«, bis sie ihnen unwirsch befahl, damit aufzuhören. Außerdem mißtraute sie als erfahrene Frau irgend etwas an Jerrys Äußerem: Härte unter der Liederlichkeit. Sie hatte das schon früher an Engländern beobachtet, aber der Schuljunge bildete eine Klasse für sich, und sie mißtraute ihm: sie hielt ihn für gefährlich, trotz seines beharrlichen Charms. Heute ließen sich diese früheren Mängel auf die Spleenigkeit eines adeligen englischen Schriftstellers zurückführen, aber seinerzeit hatte die Postmeisterin ihm keine mildernden Umstände zugebilligt. »Wartet bis zum Sommer«, hatte sie ihre Kunden brummig gewarnt, schon bald nachdem er zum erstenmal in ihren Laden gelatscht war - pasta, Brot, Fliegentöter. »Im Sommer wird ihm aufgehen, was er da gekauft hat, der Schwachkopf.« Im Sommer würden Francos Mäuse das Schlafzimmer stürmen, Francos Flöhe würden ihn bei lebendigem Leib auffressen und Francos schwule Hornissen würden ihn im Garten herumjagen, und der Höllenwind würde ihm den Schwanz zu Klumpen schmoren. Es würde kein Wasser mehr geben, er würde seine Notdurft auf den Feldern verrichten müssen wie ein Tier. Und wenn es dann wieder Winter würde, könnte der parfümierte Schweinekerl von einem Major das Haus dem nächsten Narren andrehen, ein Verlustgeschäft für jeden, außer ihm selbst.

Von hoher Abkunft verriet der Schuljunge in den ersten Wochen nicht die Bohne. Er feilschte nie, hatte nie etwas von Preisnachlässen gehört, es machte nicht einmal Spaß, ihn auszunehmen. Und wenn sie im Laden dafür sorgte, daß ihm sein armseliges bißchen Küchenitalienisch ausging, dann fing er nicht an, auf sie einzubrüllen, wie es bei richtigen Engländern Usus ist, sondern zuckte nur vergnügt die Achseln und bediente sich selbst. Er schreibe, hieß es. Na und?, wer tat das heutzutage nicht? Schön, er kaufte ihr Stöße von Kanzleipapier ab. Sie bestellte mehr, er kaufte es. Bravo. Er besaß Bücher: stockfleckige Schmöker allem Anschein nach, die er in einem grauen Jutesack - wie ein Wilderer - herumschleppte, und ehe die Waise ankam, konnte man ihn häufig querfeldein marschieren sehen, den Büchersack über der Schulter, um sich irgendwo zum Lesen niederzulassen. Guido war im Wald der Contessa auf ihn gestoßen, wo er wie eine Kröte auf einem Holzstoß hockte und die Bücher eines nach dem anderen durchblätterte, als wären sie ein einziger Band und als wüßte er nicht mehr, wo er stehengeblieben war. Außerdem besaß er eine Schreibmaschine, deren schäbige Hülle ein Flickwerk aus abgeschabten Kofferetiketten war: Bravo auch hierfür. So wie jeder Langmähnige, der einen Topf Farbe gekauft hat, sich Künstler schilt: das war seine Schreiberei. Im Frühling kam die Waise an, und die Postmeisterin haßte sie gleichfalls. Eine Rothaarige, was sie schon von Anfang an als halbe Hure kennzeichnete. Nicht genug Busen, um ein Kaninchen zu stillen, und, schlimmer noch, eine flinke Kopfrechnerin. Es hieß, er habe sie in der Stadt aufgegabelt: klar, eine Hure. Vom ersten Tag an hatte sie ihn nicht mehr aus den Augen gelassen. Klebte an ihm wie ein Kind. Aß mit ihm und schmollte; trank mit ihm und schmollte; ging mit ihm einkaufen, stahl sich die Sprache zusammen wie ein Dieb, bis die beiden zu den Sehenswürdigkeiten der Gegend gehörten: der englische Riese und seine schmollende sauertöpfische Hure, wie sie mit ihrem Binsenkorb den Hügel hinabzogen, der alles und jedes angrinsende Schuljunge in seinen zerrissenen Shorts, die verbiesterte Waise in ihrer Hurenkutte mit nichts darunter, so daß die Männer ihr, obwohl sie spindeldürr war, nachstarrten, um ihre harten Hüften unter dem Stoff schaukeln zu sehen. Im Gehen hatte sie alle Finger um seinen Arm gekrallt und die Wange an seiner Schulter, und sie ließ nur locker, während er knickerig aus der Börse bezahlte, für die jetzt sie zuständig war. Wenn sie einem bekannten Gesicht begegneten, grüßte er es für beide, indem er wie ein Faschist den langen freien Arm hochwarf. Und Gott sei dem Manne gnädig, der, wenn sie ausnahmsweise allein ging, ein anzügliches Wort oder einen bewundernden Pfiff riskierte: sie fuhr, herum und fauchte wie eine Wildkatze, und in ihren Augen brannte ein höllisches Feuer.

»Und jetzt wissen wir, warum!« rief die Postmeisterin laut, als sie bei ihrem Aufstieg einen Kamm erklettert hatte. »Die Waise ist hinter seiner Erbschaft her. Warum sollte eine Hure sonst treu sein?«

Der Besuch Signora Sanders' veranlaßte Mamma Stefano zu einer dramatischen Kehrtwendung in der Einschätzung des Schuljungen und zur Aufdeckung der Motive der Waise. Die Sanders war reich und züchtete Pferde weiter draußen im Tal, wo sie mit einer Freundin hauste, genannt die Knäbin, weil sie kurzgeschorenes Haar und Kettengürtel trug. Ihre Pferde gewannen überall Preise. Die Sanders war gerieben und gescheit und genügsam auf eine Art, die den Italienern zusagte, und sie kannte jeden der wenigen über die Hügel verstreuten bemoosten Engländer, die des Kennens wert waren. Sie war vor etwa einem Monat in den Laden gekommen, vorgeblich um Schinken zu kaufen, aber ihr wirkliches Anliegen war der Schuljunge. Stimme es, fragte sie, »Signor Gerald Westerby, und er wohnt im Dorf? Ein großer, sportlich gebauter Mann, graumeliert, voll Energie, Aristokrat, schüchtern?« Ihr Vater, der General, habe die Familie in England gekannt, sagte sie; eine Zeitlang waren sie auf dem Land Nachbarn gewesen, der Vater des Schuljungen und der ihre. Die Sanders überlegte, ob sie ihm einen Besuch machen solle: sie erkundigte sich nach den genaueren Umständen. Die Postmeisterin murmelte etwas über die Waise, aber die Sanders war nicht zu erschüttern: »Ach, die Westerbys haben schon immer ihre Frauen gewechselt«, sagte sie lachend und wandte sich zur Tür. Verblüfft hielt die Postmeisterin sie zurück und überschüttete sie mit Fragen.

Wer er denn sei? Was er in seiner Jugend gemacht habe? Er sei Journalist, sagte die Sanders, und berichtete, was sie über die Familie wußte; der Vater, ein Prachtmensch, hellhaarig wie der Sohn, hielt Rennpferde, sie hatte ihn noch kurz vor seinem Tod gesehen, und er war noch immer ein Mann. Wie der Sohn kannte er keine Ruhe: Frauen und Häuser, und beide wechselte er ständig; brüllte immerzu jemanden an, wenn nicht seinen Sohn, dann irgendwen auf der anderen Straßenseite. Die Postmeisterin bohrte weiter. Aber, was ihn selbst betraf: hatte der Schuljunge sich auch schon ausgezeichnet? Nun, er hatte für ein paar ausgezeichnete Zeitungen gearbeitet, sagen wir mal so, sagte die Sanders, und ihr Lächeln strahlte geheimnisvoll auf: »In England ist es im allgemeinen nicht üblich, Journalisten besonders auszuzeichnen«, erklärte sie in ihrer klassischen römischen Sprechweise.

Aber die Postmeisterin wollte mehr, viel mehr. Sein Schreiben, sein Buch, was hatte es damit auf sich? So lange Zeit! So vieles weggeworfen! Körbevoll, hatte der Müllmann ihr berichtet - denn kein vernünftiger Mensch würde dort droben im Sommer ein Feuer anzünden. Beth Sanders verstand die Hartnäckigkeit isoliert lebender Menschen und wußte, daß ihre Intelligenz sich an uninteressanten Orten auf Kleinigkeiten konzentrieren mußte. Also versuchte sie, versuchte sie wirklich, gefällig zu sein. Nun, er sei die ganze Zeit gereist, sagte sie, kam an die Theke zurück und legte ihr Paket wieder ab. Heutzutage seien natürlich alle Journalisten viel auf Reisen, Frühstück in London, Mittagessen in Rom, Abendbrot in Delhi, aber Signor Westerby sei selbst nach diesen Maßstäben eine Ausnahme gewesen. Also schrieb er vielleicht ein Reisebuch.

Aber warum war er gereist? bohrte die Postmeisterin weiter, denn für sie gab es keine Reise ohne Ziel: warum? Wegen der Kriege, erwiderte die Sanders geduldig: der Kriege, der Seuchen und Hungersnöte: »Was hat ein Journalist heutzutage schließlich anderes zu tun als über die Drangsale des Lebens zu berichten?« fragte sie.

Die Postmeisterin schüttelte weise den Kopf, alle ihre Sinne waren auf die Enthüllung gerichtet: Der Sohn eines blonden Pferdelords, der herumbellte; reist wie ein Irrer, schreibt für ausgezeichnete Zeitungen! Und gab es einen besonderen Schauplatz-, irgendeinen Winkel der Erde -, auf den er sich spezialisiert hatte? Er sei die meiste Zeit im Fernen Osten, meinte die Sanders nach kurzem Nachdenken. Er sei schon überall gewesen, aber es gebe eine Sorte von Engländern, die sich nur im Fernen Osten wirklich zu Hause fühlten. Bestimmt war das auch der Grund, warum er nach Italien kam: Manche Männer werden trübsinnig ohne Sonne. Und manche Frauen auch, kreischte die Postmeisterin, und sie lachten beide herzhaft.

Ach der Ferne Osten, sagte die Postmeisterin mit tragischem Kopfneigen - ein Krieg nach dem anderen, warum griff der Papst nicht ein? Während Mamma Stefano in dieser Tonart fortfuhr, schien der Sanders etwas einzufallen. Zuerst lächelte sie nur ein wenig, dann immer mehr. Das Lächeln der Verbannten, dachte die Postmeisterin, die sie nicht aus den Augen ließ: wie ein Matrose, der ans Meer denkt.

»Er hat früher immer einen Sack voller Bücher mit sich herumgeschleppt«, sagte die Sanders. »Wir sagten damals, er hat sie aus den besten Häusern geklaut.«

»Er trägt ihn immer noch rum!« rief die Postmeisterin, und sie erzählte, wie Guido im Wald der Contessa auf den Schuljungen gestoßen war, der lesend auf einem Holzstoß saß.

»Ich glaube, er wollte eigentlich einmal Romane schreiben«, fuhr die Sanders im gleichen Ton privater Erinnerungen fort: »Ich erinnere mich, daß sein Vater es uns sagte. Er war furchtbar wütend. Brüllte durch das ganze Haus.«

»Der Schuljunge? Der Schuljunge war wütend?« rief Mamma Stefano ungläubig.

»Nein, nein. Der Vater.« Die Sanders lachte laut. In der englischen Gesellschaftsordnung, erklärte sie, rangierten die Romanschreiber sogar noch unter den Journalisten. »Malt er auch noch immer?«

»Malen? Er ist Maler?« staunte die Postmeisterin. Er hat's versucht, sagte die Sanders, aber der Vater hat auch das verboten. Maler seien die allerniedrigsten Geschöpfe, sagte sie unter erneutem Lachen: nur die erfolgreichen wurden widerstrebend geduldet.

Kurz nach diesem Mehrfachzünder berichtete der Dorfschmied - der gleiche Dorfschmied, den die Waise als Ziel für ihren Krug ausersehen hatte -, er habe Jerry und das Mädchen im Gestüt der Sanders gesehen, zuerst zweimal in einer Woche, dann dreimal, sie hätten auch dort gegessen. Und daß der Schuljunge großen Pferdeverstand gezeigt habe, die Tiere hätten sich von ihm ohne weiteres führen und longieren lassen, auch die wildesten. Die Waise beteiligte sich nicht, sagte der Dorf schmied. Sie saß mit der Knäbin im Schatten und las entweder etwas aus dem Büchersack oder beobachtete ihn mit ihren eifersüchtigen, starren Augen; sie wartete, wie jedermann wußte, auf den Tod des Vormunds. Und heute das Telegramm! Jerry hatte Mamma Stefano schon von weitem gesehen. Es war sein Instinkt, etwas in ihm schien immer zu beobachten: eine schwarze Gestalt, die unerbittlich den staubigen Pfad hinaufhumpelte wie ein lahmer Käfer; durch das exakte Streifenmuster aus Sonne und Schatten, das die Zedernreihen warfen; das ausgetrocknete Bachbett von Francos Olivenhainen hinan, querbeet durch Jerrys Klein-Italien, wie er es nannte, ganze zweihundert Quadratmeter, aber groß genug, um an kühlen Abenden, wenn er und die Waise sportliche Anwandlungen hatten, einen zerfledderten Tennisball an einer Schnur um einen Pfahl zu treiben. Er hatte sehr bald schon den blauen Umschlag gesehen, den sie schwenkte, und er hatte sogar das Miauen gehört, das sie ausstieß und das sich gegen die übrigen Geräusche aus dem Tal durchsetzte: die Lambrettas und die Kreissägen. Und, ohne im Tippen innezuhalten, warf er zunächst einen verstohlenen Blick auf das Haus, um sich zu versichern, daß das Mädchen das Küchenfenster als Schutz vor Hitze und Insekten geschlossen hatte. Dann lief er, genau wie die Postmeisterin es später beschrieb, mit einem Glas Wein in der Hand die Stufen herunter auf sie zu, um sie nicht zu nah herankommen zu lassen.

Er las das Telegramm langsam, einmal, beugte sich darüber, damit die Schrift im Schatten liege, und sein Gesicht, das von Mamma Stefano genau beobachtet wurde, nahm einen finsteren, verschlossenen Ausdruck an, und seine Stimme wurde noch rauher, als er ihr die riesige fleischige Hand auf den Arm legte. »La sera«, brachte er zustande, während er sie wieder zum Weg zurückgeleitete. Er wollte die Antwort heute Abend absenden, meinte er. »Molto grazie, Mamma. Super. Bin Ihnen sehr dankbar. Ganz schrecklich.«

Noch beim Verabschieden schnatterte sie wie wild, bot ihm jede nur denkbare Hilfe an, Taxis, Gepäckträger, Telefonanrufe beim Flugplatz, und Jerry tastete zerstreut seine Hosentaschen nach kleinen oder großen Münzen ab: er hatte offenbar vorübergehend vergessen, daß die Waise jetzt das Geld verwaltete. Der Schuljunge habe die Nachricht mit Fassung entgegengenommen, berichtete die Postmeisterin dem Dorf. Leutselig, er habe sie sogar ein Stück Wegs zurückbegleitet; tapfer, so daß nur eine welterfahrene Frau - eine Frau, die überdies die Engländer kannte - den verborgenen nagenden Kummer gewahren konnte: so verwirrt, daß er versäumt habe, ihr ein Trinkgeld zu geben. Oder fing er bereits an, sich in der hochgradigen Knickrigkeit der Superreichen zu üben? -

»Aber wie hat sich die Waise verhalten?« fragten sie. Habe sie nicht geschluchzt und die Heilige Jungfrau angerufen, um zum Schein seinen Gram zu teilen?

»Er muß es ihr erst noch sagen«, flüsterte die Postmeisterin und entsann sich des einzigen kurzen Blicks, den sie auf das Mädchen erhascht hatte, während es auf das Fleisch einschlug: »Er muß erst über ihre Position nachdenken.«

Das Dorf beruhigte sich, wartete auf den Abend, und Jerry saß in seinem Hornissenfeld, blickte aufs Meer und drehte den Büchersack so lange rundum, bis es nicht mehr ging und der Sack sich wieder zurückprallte.

Zuerst kam das Tal und darüber ragten im Halbkreis die fünf Hügel und über den Hügeln sah man das Meer, das um diese Tageszeit nur ein flacher brauner Fleck am Himmel war. Das Hornissenfeld, in dem er saß, war ein langer, von Steinen gesäumter Erdstreifen mit einer verfallenen Scheune an der einen Ecke, die ihnen zum Picknicken und Sonnenbaden Schutz gewährte, bis die Hornissen in der Wand nisteten. Sie hatte sie gesehen, als sie Wäsche aufhing, und war hineingerannt, um es Jerry zu sagen, und Jerry hatte ohne weiteres Nachdenken einen Eimer voll Mörtel bei Franco geholt und alle Schlupflöcher vermauert. Dann hatte er die Waise gerufen, damit sie sein Werk bewundern könne: der Mann an meiner Seite, er beschützt mich allerwege. In der Erinnerung sah er sie deutlich vor sich: wie sie zitternd neben ihm stand, die Arme um sich geschlagen, und auf den frischen Zement starrte, den wild rasenden Hornissen drinnen lauschte und »Jesus, Jesus« flüsterte, starr vor Entsetzen. Vielleicht wartet sie auf mich, dachte er.

Er erinnerte sich an den Tag, an dem er sie kennengelernt hatte. Er erzählte sich diese Geschichte häufig, denn Jerry hatte selten in seinem Leben Glück bei Frauen gehabt, und wenn es dann einmal der Fall war, ließ er es gern auf der Zunge zergehen, wie er sich ausdrückte. Es war an einem Donnerstag.. Er hatte seine übliche Tour in die Stadt gemacht, um einzukaufen oder vielleicht auch nur um ein paar neue Gesichter zu sehen und eine Weile von seinem Roman wegzukommen; oder vielleicht nur um der schrillen Eintönigkeit dieser leeren Landschaft zu entfliehen, in der er sich immer wie inhaftiert vorkam, und wie in Einzelhaft noch dazu; vielleicht auch mit dem Hintergedanken, daß er sich eine Frau angeln könnte, was ihm zuweilen gelang, wenn er an der Bar des Touristenhotels herumlungerte. Er saß also lesend in der Trattoria am Stadtplatz - eine Karaffe Wein, einen Teller Schinken, Oliven -, als er plötzlich dieses magere langbeinige Kind erblickte, das rote Haar, das verdrossene Gesicht, ein braunes Kleid wie eine Mönchskutte und eine Schultertasche aus Teppichgewebe.

»Sieht nackt aus ohne Gitarre«, hatte er gedacht. Sie erinnerte ihn vage an seine Tochter Cat, die Abkürzung für Catherine, aber nur vage, denn er hatte Cat seit zehn Jahren nicht mehr gesehen, seit dem Scheitern seiner ersten Ehe. Warum er sie nie mehr gesehen hatte, konnte er auch jetzt noch nicht genau sagen. Unter dem ersten Schock der Trennung sagte ihm ein wirres Gefühl der Ritterlichkeit, daß es für Cat besser sei, wenn sie ihn vergäße. »Am besten, sie schreibt mich ab. Läßt ihr Herz, wo alles übrige wohnt.« Als ihre Mutter wieder heiratete, schien solche Selbstverleugnung noch mehr angeraten. Aber manchmal hatte er große Sehnsucht nach ihr, und höchstwahrscheinlich war dies der Grund, warum das Mädchen, nachdem es ihm einmal aufgefallen war, ihn nicht wieder losließ. Ging Cat auch so herum, allein und wie gedopt vor Müdigkeit? Hatte Cat noch immer ihre Sommersprossen und das feste kleine Kinn? Später erzählte ihm das Mädchen, sie sei ausgerissen. Sie war als Gouvernante bei einer reichen Familie in Florenz gewesen. Die Mutter war zu sehr mit ihren Liebhabern beschäftigt, um sich um die Kinder zu kümmern, aber der Herr Papa hatte jede Menge Zeit für die Gouvernante. Sie hatte alles Bargeld genommen, das sie finden konnte, über die Mauer gesetzt, und da war sie nun: ohne Gepäck, die Polizei auf den Fersen und einen letzten schmierigen Geldschein, um sich noch einmal richtig sattzuessen vor der Katastrophe.

Am Stadtplatz war nicht viel los an jenem Tag - es war nie viel los -, und das Mädchen hatte sich kaum hingesetzt, als ihr auch schon so ziemlich jeder normal gebaute Mann der Stadt seine Aufmerksamkeiten zollte, angefangen beim Kellner, der »beautiful missus« säuselte, bis zu weit derberen Bemerkungen, deren genauer Sinn Jerry entging, die jedoch das allgemeine Gelächter auf sie zogen. Dann versuchte einer, sie in die Brust zu kneifen, worauf Jerry aufstand und zu ihrem Tisch hinüberging. Er war kein großer Held, er selbst hielt sich eher für das Gegenteil, aber im Moment gingen ihm eine Menge Gedanken im Kopf herum und es hätte genausogut Cat sein können, die da belästigt wurde. Sagen wir also: Ärger. Er ließ die eine Hand auf die Schulter des kleinen Kellners fallen, der ihr hatte zu nahe treten wollen, und die andere auf die Schulter des großen Burschen, der diese Mannestat mit Beifall belohnte, und er erklärte ihnen in schlechtem Italienisch, aber durchaus einleuchtend, daß sie jetzt Schluß machen müßten mit ihren Belästigungen und die beautiful missus in Ruhe essen lassen. Andernfalls würde er ihnen die dreckigen Hälse umdrehen. Die Atmosphäre war danach nicht allzu herzlich, und der Kleine schien es auf eine Keilerei anzulegen, denn seine Hand wanderte immer wieder zur hinteren Hosentasche und zerrte am Jackett, bis ihn ein letzter Blick auf Jerry eines Besseren belehrte. Jerry warf Geld auf den Tisch, nahm ihre Tasche auf, holte seinen Büchersack und führte sie, trug sie beinah, über den Platz zum Apoll. »Sind Sie Engländer?« fragte sie im Gehen. »Vom Scheitel bis zur Sohle, Ma'am!« schnaubte Jerry wütend, und in diesem Augenblick sah er sie zum erstenmal lächeln. Ein Lächeln, das entschieden einige Mühe wert war: das knochige Gesichtchen strahlte unter dem Schmutz zu einem breiten, ansteckenden Gassenbubengrinsen auf.

Nachdem Jerry nun ein wenig Dampf abgelassen hatte, fütterte er sie, und mit zunehmender Beruhigung begann er, die Geschichte weiter auszuspinnen, denn nach so vielen Wochen im luftleeren Raum war es nur natürlich, daß er etwas bieten wollte. Er erklärte, er sei abgehalfterter Zeitungsreporter und schreibe jetzt einen Roman, es sei sein erster Versuch, er erfülle sich damit einen alten Traum und er habe einen rasch dahinschmelzenden Haufen Geld von einem Blatt gekriegt, das ihn im Überfluß bezahlte, was ein Witz sei, denn er sei sein ganzes Leben lang überflüssig gewesen. »Art goldener Händedruck«, sagte er. Einen Teil habe er für das Haus angelegt, habe eine Weile gefaulenzt, und jetzt sei nur noch wenig von dem goldenen Segen übrig. Hier lächelte sie zum zweitenmal. Ermutigt kam er auf die Einsamkeit des schöpferischen Menschen zu sprechen. »Mein Gott, nicht zu glauben, wieviel Mühe es kostet, bis man's wirklich, ich meine wirklich rausgeschwitzt hat, fast wie . . . «

»Ehefrauen?«, fiel sie ihm ins Wort. Im ersten Moment hatte er angenommen, sie beziehe sich auf den Roman. Dann sah er ihre wartenden argwöhnischen Augen und antwortete vorsichtig: »Keine aktiven«, als wären Ehefrauen Vulkane, was sie in Jerrys Leben auch gewesen waren. Als sie nach dem Mittagessen leicht angesäuselt über den leeren Platz zockelten, wo die Sonne ihnen direkt auf die Köpfe knallte, gab sie ihre einzige Absichtserklärung von sich:

»Alles, was ich besitze, ist in dieser Tasche, capito?« sagte sie. Es war die Schultertasche aus Teppichstoff. »Und dabei will ich auch bleiben. Soll mir also keiner irgendwas geben, was ich nicht tragen kann. Capito?«

Als sie die Bushaltestelle erreichten, blieb sie auch stehen, und als der Bus kam, stieg sie hinter ihm ein und ließ Jerry ihre Fahrkarte bezahlen, und als sie im Dorf ausstiegen, kletterte sie mit ihm den Hügel hinauf, Jerry trug seinen Büchersack und das Mädchen die Schultertasche, und damit hatte sich's. Drei Nächte und den größten Teil der Tage verschlief sie, in der vierten Nacht kam sie zu ihm. Er war sowenig auf sie gefaßt, daß er wie immer seine Schlafzimmertür verschlossen hatte: er war ein bißchen eigen mit Türen und Fenstern, zumal bei Nacht. So daß sie an die Tür hämmern und schreien mußte: »Ich will in deine verdammte Falle, Herrgottnochmal!«, bis er endlich aufmachte.

»Lüg mich bloß nie an«, warnte sie ihn, als sie in sein Bett kletterte, als feierten sie ein Fest im Schlafsaal. »Kein Gefasel, keine Lügen. Capito?«

Als Geliebte glich sie einem Schmetterling: hätte Chinesin sein können, dachte er. Schwerelos, niemals in Ruhe, so schutzlos - es war zum Verzweifeln. Als die Leuchtkäfer flogen, knieten sie beide auf dem Fenstersims und beobachteten sie, und Jerry dachte an den Fernen Osten. Die Zikaden schrillten und die Frösche rülpsten und die Leuchtkäfer schwirrten unermüdlich rings um eine schwarze Kernzone, und die beiden knieten nackt eine Stunde und mehr, schauten und lauschten, während der heiße Mond in die Hügelkämme sank. Sie sprachen dabei niemals, trafen auch keine Entscheidungen, jedenfalls er nicht. Aber er schloß seine Tür jetzt nie mehr ab.

Die Musik und das Hämmern hatten aufgehört, dafür setzte lärmender Glockenklang ein, das Vesperläuten, wie er vermutete. Das Tal war niemals still, aber wegen des Taus hörte man die Glocken lauter. Er schlenderte hinüber zum angebundenen Ball, nestelte die Schnur von dem Eisenpfahl, dann mähte er mit seinem alten Wildlederstiefel das Gras ringsum und dachte an ihren geschmeidigen kleinen Körper, der bei jedem Schlag mitflog, und an die Mönchskutte, die sich im Wind blähte. »Guardian ist das große Wort«, hatten sie ihm gesagt. »Guardian bedeutet den Weg zurück«, hatten sie gesagt. Jerry verhielt noch eine Weile und blickte hinunter auf die blaue Ebene, wo der wirkliche Weg, kein bildlicher, glänzend und schnurgerade wie ein Kanal zur Stadt und zum Flugplatz führte. Jerry war keineswegs das, was er einen Denker genannt hätte. Das Gebrüll des Vaters hatte seine ganze Kindheit begleitet und ihn beizeiten gelehrt, was von großen Ideen und von großen Worten zu halten war. Vielleicht hatte das ihn zuerst mit dem Mädchen verbunden, dachte er. Darum ging es ihr: »Ich will nichts, was ich nicht tragen kann.«

Vielleicht. Vielleicht auch nichts Sie wird einen anderen finden. Sie finden immer einen anderen.

Es ist Zeit, dachte er. Geld verbraucht, Rorrjan Fehlanzeige, Mädchen zu jung: mach schon. Es ist Zeit. Zeit wofür?

Zeit! Zeit, daß sie sich einen jungen Bullen suchte, anstatt einen alten auszupowern. Zeit, daß die Wanderlust sich regte. Lager abbrechen. Die Kamele wecken. Weiter. Jerry hatte es weiß Gott schon ein paarmal getan. Das alte Zelt aufgeschlagen, eine Weile geblieben, weitergezogen: tut mir leid, altes Haus. Es ist ein Befehl, sagte er sich. Mein ist das Denken, spricht der Herr. Signal ertönt. Sprung auf, marsch, marsch. Keine Widerrede. Guardian.

Trotzdem, komisch, er hatte es kommen sehen, dachte er und starrte noch immer hinaus auf die dunstverhüllte Ebene. Keine großartige Ahnung oder dergleichen Humbug: einfach, ja, ein Gefühl, daß es Zeit sei. Fällig. Reif. Aber anstatt einer fröhlichen Aufwallung von Tatendrang überkam seinen ganzen Körper tiefe Lethargie. Er fühlte sich plötzlich zu müde, zu fett, zu schläfrig, um sich jemals wieder vom Fleck zu bewegen. Er hätte sich am liebsten hingelegt, wo er stand. Er hätte auf dem harten Gras schlafen können, bis sie ihn geweckt hätte oder bis die Nacht gekommen wäre.

Humbug, schalt er sich. Schierer Humbug. Er zog das Telegramm aus der Tasche, schritt energisch ins Haus und rief ihren Namen. »Heh! Altes Haus! Wo steckst du? Schlechte Nachrichten.« Er reichte ihr das Telegramm. »Aus der Traum«, sagte er und ging zum Fenster, damit er ihr nicht beim Lesen zusehen mußte. Er wartete, bis er das Papier flattern und auf dem Tisch landen hörte. Dann drehte er sich um, denn es erfolgte nichts weiter. Sie hatte nichts gesagt, aber sie hatte die Hände unter die Achselhöhlen geklemmt und ihre Körpersprache konnte manchmal ohrenbetäubend sein. Er sah die Finger blindlings herumfuchteln auf der Suche nach einem Halt.

»Geh doch auf eine Weile zu Beth rüber«, schlug er vor. »Beth nimmt dich sofort. Hat dich schrecklich gern. Bei Beth kannst du bleiben, so lang du willst.«

Sie blieb mit gekreuzten Armen stehen, bis er hinunterging, um sein Telegramm abzuschicken. Als er wiederkam, hatte sie seinen Anzug hergerichtet, den blauen, über den sie immer gelacht hatten - seine Gefängniskluft nannte sie ihn -, aber sie zitterte und ihr Gesicht sah weiß und krank aus, wie damals bei der Sache mit den Hornissen. Als er sie küssen wollte, war sie kalt wie Marmor, also gab er es auf. In der Nacht schliefen sie zusammen, und es war schlimmer als Alleinsein.

Am nächsten Mittag verkündete Mamma Stefano atemlos die Neuigkeit. Der adelige Schuljunge sei weggefahren, sagte sie. Er habe seinen Anzug angehabt. Er trug eine Reisetasche, seine Schreibmaschine und den Büchersack. Franco habe ihn mit dem Lieferwagen zum Flugplatz gebracht. Die Waise sei mitgefahren, aber nur bis an die Zufahrt zur autostrada. Als sie ausstieg, habe sie nicht einmal auf Wiedersehen gesagt: habe sich einfach an den Straßenrand gelagert wie der Abfall, der sie ja war. Nachdem sie sie abgesetzt hatten, sei der Schuljunge eine Weile ganz still und in sich gekehrt gewesen. Habe kaum auf Francos geschickte und gezielte Fragen geachtet und nur ständig an seiner graugelben Haarsträhne gezerrt, wie er es oft tat, wenn er sich langweilte oder nachdachte. Am Flugplatz hatten sie noch eine Stunde totzuschlagen, ehe sein Flug aufgerufen wurde, also tranken sie eine Flasche zusammen und spielten Domino, aber als Franco ihn mit dem Fahrpreis übers Ohr hauen wollte, habe der Schuljunge ungewöhnlichen Widerstand geleistet und endlich geschachert wie die wirklich Reichen.

Franco habe es ihr erzählt, sagte sie: ihr Busenfreund. Franco, der als Päderast verschrien war. Hatte sie ihn nicht immer verteidigt, den eleganten Franco, den Vater ihres schwachsinnigen Sohnes? Sie hatten ihre Meinungsverschiedenheiten gehabt - wer hätte die nicht? -, aber es möge doch einmal einer kommen und ihr, wenn er das könne, im ganzen Tal einen aufrechteren, fleißigeren, höflicheren, besser gekleideten Mann nennen als Franco, ihren Freund und Liebhaber! Der Schuljunge sei nach Hause gereist, um seine Erbschaft zu kassieren, sagte sie.

Mister George Smileys bestes Pferd

Nur George Smiley, sagte Roddy Martindale, ein feister Witzbold aus dem Foreign Office, konnte sich zum Kapitän eines havarierten Schiffes ernennen lassen. Nur Smiley, fügte er hinzu, konnte die Miseren einer solchen Ernennung noch verkomplizieren, indem er sich gleichzeitig von seiner schönen, wenn auch ein wenig unsteten Ehefrau trennte.

Auf den ersten und auch noch auf den zweiten Blick paßte George Smiley für keine der beiden Rollen, wie Martindale sogleich feststellte. Er war kugelrund und in Kleinigkeiten hoffnungslos nachgiebig. Aus angeborener Schüchternheit wurde er gelegentlich bombastisch, und auf Männer von Martindales Temperament wirkte seine Bescheidenheit wie ein stetiger Vorwurf. Außerdem war er kurzsichtig, und wer ihn an jenen ersten Tagen nach dem Debakel sah, mit seinen runden Brillengläsern und im Beamtenzivil, wie er, begleitet von seinem schlanken, schweigsamen Schildknappen Peter Guillam, leise auf den besonders morastigen Pfaden des Whitehall-Dschungels dahinwatschelte; oder zu den unmöglichsten Tag- und Nachtstunden in seinem schäbigen Thronsaal auf der fünften Etage des edwardianischen Mausoleums am Cambridge Circus, das er jetzt leitete, über einen Stoß Akten gebeugt saß, der mochte dafürhalten, daß Smiley, und nicht der tote Haydon, der weiland russische Spion, den Beinamen »Maulwurf« verdiente. Nach diesen langen Arbeitsstunden in dem höhlenartigen und halb verlassenen Bau wurden die Säcke unter seinen Augen zu Geschwülsten, er lächelte selten, obwohl er keineswegs humorlos war, und manchmal schien ihm von der bloßen Mühe des Aufstehens der Atem zu stocken, stand er dann glücklich aufrecht, so verhielt er eine Weile mit leicht geöffnetem Mund und stieß ein leises schnarchendes »Ah« aus, ehe er sich in Bewegung setzte. Wenn er nach alter Angewohnheit seine Brille zerstreut mit dem breiten Krawattenende polierte, wirkte sein Gesicht so bestürzend nackt, daß eine sehr altgediente Sekretärin - eine der Damen, die im Hausjargon »die Mütter« hießen - mehr als einmal von einem kaum noch zu bändigenden Drang gepackt wurde, aus dem die Psychiater alles mögliche hergemacht hätten: aufzuspringen und ihn vor der unmöglichen Aufgabe zu beschützen, die er sich vorgenommen zu haben schien. »George Smiley mistet nicht nur den Stall aus«, bemerkte der obengenannte Roddy Martindale beim Lunch im Garrick, »er trägt auch noch sein Pferd selber durchs Ziel. Hah, hah.« Andere Gerüchte, hauptsächlich von Abteilungen verbreitet, die selbst an einer Übernahme der angeschlagenen Dienststelle interessiert waren, äußerten sich weniger respektvoll über seine Arbeit.

»George zehrt von seinem Ruf«, sagten sie, nachdem ein paar Monate verstrichen waren. »Daß er Bill Haydon erwischte, war ein glücklicher Zufall.«

Und überhaupt, sagten sie, sei es ein amerikanischer Tip gewesen und keineswegs Georges großer Coup: der Ruhm gebühre den Vettern, aber die hatten aus diplomatischen Gründen auf ihn verzichtet. Nein, nein, wollten andere wissen, es waren die Holländer. Die Holländer hatten Moskaus Code geknackt und den Fang über die Verbindungsstelle weitergegeben, man frage nur Roddy Martindale - Martindale, den professionellen Verbreiter von Falschmeldungen über den Circus. Und so ging es hin und her, während Smiley, der von alledem keine Ahnung zu haben schien, seine Meinung für sich behielt und seine Frau verließ. Sie konnten es kaum glauben. Sie waren perplex.

Martindale, der nie im Leben eine Frau geliebt hatte, war besonders empört. Er machte im Garrick eine regelrechte Sache daraus:

»Unverschämtheit! Er ein kompletter Niemand, und sie eine halbe Sawley! Ich sage nur: Pawlow. Typisch pawlowsche Grausamkeit. Anders kann man's nicht nennen. Nachdem er jahrelang ihre durchaus gesunden kleinen Fehltritte akzeptiert hat - ich sage, er hat sie sogar dazu getrieben -, was tut dieser Knirps? Macht Front und versetzt ihr mit napoleonischer Brutalität einen Schlag mitten ins Gesicht! Ein Skandal! Das werde ich jedem sagen. Ein Skandal ist das! Ich bin ein ziemlich toleranter Mensch, nicht engstirnig, wie ich meine, aber Smiley ist zu weit gegangen. Jawohl.«

In diesem Fall hatte Martindale, was zuweilen auch vorkam, eine zutreffende Darstellung geliefert. Die Fakten waren allen zugänglich». Nachdem Haydon tot und die Vergangenheit begraben war, hatten die Smileys ihre Differenzen beigelegt, und das neugeeinte Paar war feierlich in das kleine Haus an der Bywater Street in Chelsea zurückgekehrt. Sie hatten es sogar mit Geselligkeit versucht. Sie waren ausgegangen, sie hatten in dem Stil, der Georges neuer Stellung entsprach, Gäste empfangen; die Vettern, dann und wann einen Minister, verschiedene Whitehall-Barone, und alle ließen sich's wohl sein und gingen fröhlich und satt nach Hause; die beiden hatten sogar ein paar Wochen lang eine kleine Sehenswürdigkeit in höheren bürokratischen Kreisen gebildet. Bis George Smiley sich über Nacht und zum unverkennbaren Mißbehagen seiner Frau aus ihrem Gesichtskreis zurückgezogen und sein Lager in den ärmlichen Mansarden hinter seinem Thronsaal im Circus aufgeschlagen hatte. Bald schien die Trübseligkeit dieser Stätte sich auf seinem Gesicht festzusetzen wie der Staub auf der Haut eines Gefangenen, während sich Ann Smiley in Chelsea härmte und sehr unter ihrer Rolle als verlassene Ehefrau zu leiden schien.

Hingabe, sagten die Wissenden. Mönchische Entsagung. George ist ein Heiliger. Und in seinem Alter.

Quatsch, konterte die Martindale-Fraktion. Hingabe an was? Was gab es denn noch in diesem verödeten Ziegelschuppen, das einen solchen Akt der Selbstopferung irgend fordern konnte? Was war denn überhaupt noch irgendwo, in diesem verfluchten Whitehall oder, Gott sei uns gnädig, in diesem verfluchten England, das heute noch eine solche Forderung stellen konnte? Die Arbeit, sagten die Wissenden.

Aber was für eine Arbeit?, fistelten die selbsternannten Circus-Spezialisten im Chor und ließen das Wenige, das sie vom Hörensagen wußten, die Runde machen. Was macht er dort oben, nachdem ihm die Planstellen von drei Vierteln seiner Mitarbeiter gestrichen wurden - bis auf die ein paar alter Hennen, die ihm Tee brauten - und seine Netze beim Teufel waren, seine ausländischen Residenturen, sein Reptilienfonds - sie meinten seine Einsatzkonten - vom Schatzamt dauerhaft eingefroren waren, und er keinen Menschen in Whitehall oder Washington seinen Freund nennen konnte? Es sei denn, man betrachte diesen affektierten Parvenü Lacon im Ministerium als seinen Freund, der immer so entschlossen war, sich bei jeder nur denkbaren Gelegenheit für ihn in die Nesseln zu setzen. Und natürlich würde Lacon um ihn kämpfen: was hatte er denn sonst? Der Circus war Lacons Hausmacht. Ohne ihn wäre er - nun ja, was er auch jetzt schon war - ein Eunuch. Natürlich würde Lacon sich ins Getümmel stürzen. »Ein Skandal«, verkündete Martindale idigniert, während er seinen geräucherten Aal wegputzte und die Steak-and-Kidney-Pastete und den Rotspon, die Hausmarke des Clubs, die schon wieder um zwanzig Pence pro Karaffe gestiegen war. »Ich werde es jedem sagen.«

Zwischen den Dörflern von Whitehall und den Dörflern der Toskana war der Unterschied manchmal erstaunlich gering.

Die Zeit machte den Gerüchten nicht den Garaus. Im Gegenteil, sie wurden immer mehr, bezogen neue Nahrung aus seinem Einsiedlerdasein und nannten es Besessenheit. Man erinnerte sich, daß Bill Haydon nicht nur George Smileys Kollege gewesen war, sondern auch Anns Cousin und noch einiges mehr daneben. Smileys Zorn auf ihn, so hieß es, sei nicht mit Haydons Tod erloschen: er tanze buchstäblich auf Bills Grab. Zum Beispiel habe George persönlich das Ausräumen von Haydons berühmtem Dienstzimmer, dem Maschinengewehrstand hoch über der Charing Cross Road, und die Vernichtung auch der geringsten seiner Spuren überwacht, von den mittelmäßigen selbstgemalten Ölbildern bis zu dem Krimskrams in seinen Schreibtischladen; sogar der Schreibtisch selbst mußte auf sein Geheiß zersägt und verbrannt werden. Und als auch das vollbracht war, hieß es, habe er die Arbeiter des Circus kommen lassen, damit sie die Trennwände einrissen. Jawohl, sagte Martindale. Oder, um ein weiteres und wirklich sehr beschämendes Beispiel zu nennen, nehmen wir das Foto, das an der Wand von Smileys armseligem Thronsaal hing, offensichtlich ein Paßfoto, aber weit über dessen Format vergrößert, so daß es körnig und irgendwie gespenstisch wirkte. Einer der Jungens aus dem Schatzamt hatte es während einer Sondersitzung über die Beschneidung der Einsatzkonten entdeckt.

»Soll das Controls Porträt sein?« hatte er Peter Guillam gefragt, einfach um etwas zu sagen. Keinerlei finstere Absichten dahinter. Man durfte doch wohl noch fragen, wie? Control, dessen sonstige Namen noch immer unbekannt waren, war der legendäre Geist des Hauses. Er war dreißig Jahre hindurch Smileys Führer und Mentor gewesen. Smiley hatte ihn sogar in aller Stille begraben, hieß es: denn die sehr Geheimen wie die sehr Reichen teilen das Schicksal, unbetrauert zu sterben.

»Nein, das ist verdammt nicht Control«, hatte Guillam, der Schildknappe, ihn in seiner hochnäsigen Art abgefertigt. »Das ist Karla.«

Und wer bitte sei Karla, wenn man fragen dürfe? Karla, mein Lieber, sei der Deckname des sowjetischen Einsatzleiters, der Bill Haydon zuerst angeworben und dann geführt hatte: »Eine gänzlich andere Lesart, um es milde auszudrücken«, sagte Martindale, vor Entrüstung bebend. »Wirklich die reinste Vendetta, die wir da auf dem Hals haben. Ich frage mich nur, wie kindisch kann ein Mensch werden?« Sogar Lacon war von diesem Bild leicht beunruhigt. »Also ehrlich, George, warum hängen Sie ihn hier aus?« fragte er mit seiner kräftigen Oberlehrerstimme, als er eines Abends auf dem Heimweg vom Ministerium einen Überraschungsbesuch bei Smiley machte. »Was bedeutet er bloß für Sie? Schon mal darüber nachgedacht? Finden Sie das nicht selber ein bißchen makaber? Der siegreiche Feind? Ich hätte eher gedacht, es würde Sie ganz fertigmachen, wenn er so den ganzen Tag auf Sie runterfeixt?«

»Nun, Bill ist tot, sagte Smiley in seiner elliptischen Art. Zuweilen lieferte er nur den Hinweis auf ein Argument, nicht das Argument selbst.

»Und Karla lebt, wollen Sie sagen?« hakte Lacon ein. »Und ein lebender Gegner ist Ihnen lieber als ein toter? Ist es so gemeint?« Aber es gab Fragen, die an George Smiley abglitten; die sogar, so sagten seine Kollegen, an ihn gerichtet, geschmacklos erschienen.

Ein Zwischenfall, der den Whitehall-Garküchen kernigere Kost lieferte, betraf die Frettchen, auch Wanzentöter genannt. An einen übleren Fall von Bevorzugung konnte man sich nirgends erinnern. Mein Gott, diese Geheimen hatten manchmal Nerven! Martindale, der ein Jahr gewartet hatte, bis sein Büro drankam, schickte eine Beschwerde an seinen Unterstaatssekretär. Handschriftlich. Nur persönlich zu öffnen. Desgleichen tat sein Bruder in Christo vom Verteidigungsministerium und beinah auch Hammer vom Schatzamt, aber entweder vergaß Hammer, seine Beschwerde in den Briefkasten zu werfen, oder er hatte es sich im letzten Augenblick anders überlegt. Es ging hier nicht nur um die Rangfolge. Nicht einmal ums Prinzip. Hier ging es um Geld. Um Geld der Steuerzahler. Das Schatzamt hatte bereits auf Georges Drangen im halben Circus neue Leitungen gelegt. Sein Verfolgungswahn in puncto Lauschangriffe kannte offenbar keine Grenzen. Hinzu kam, daß die Frettchen ohnehin knapp an Personal waren, es hatte Auseinandersetzungen mit der Industrie über unsoziale Arbeitsstunden gegeben - einfach jede Menge Ärger! Dynamit, das ganze Thema.

Was aber war in der ganzen Sache eigentlich passiert? Martindale zählte die Einzelheiten an den wohlmanikürten Fingern auf. George war an einem Donnerstag zu Lacon gegangen - während dieser irren Hitzewelle, Sie erinnern sich, als alle Welt praktisch verschmachtete, sogar im Garrick -, und bereits am Sonnabend - an einem Sonnabend, man stelle sich diese Überstunden vor! - waren diese Ungeheuer im Circus eingefallen, hatten die Anwohner mit ihrem Krach zum Wahnsinn getrieben und das ganze Haus auseinandergenommen. Ein eklatanterer Fall von blinder Bevorzugung war nicht mehr dagewesen, seit, ja, seit sie Smiley erlaubten, seine räudige alte Rußland-Tante zurückzuholen, Sachs, Connie Sachs, diese Professorin aus Oxford, wider jede Vernunft, und sie als eine der Mütter führten, obwohl sie das gar nicht war.

Diskret, jedenfalls so diskret, wie es ihm möglich war, setzte Martindale alle Hebel in Bewegung, um herauszubekommen, ob die Frettchen tatsächlich etwas entdeckt hatten, stieß jedoch auf Granit. In der Geheimwelt ist Information gleich Geld, und zumindest nach diesem Maßstab war Roddy Martindale, vielleicht ohne es zu wissen, bettelarm, denn die insides dieser inside-story kannten nur die wenigsten. Es stimmte, daß Smiley am Donnerstag Lacon in seinem getäfelten Büro mit Blick auf den St. James' Park aufsuchte und daß dieser Tag ungewöhnlich heiß für einen Herbsttag war. Breite Sonnenströme ergossen sich auf den repräsentativen Teppich, und die Staubteilchen tummelten sich darin wie winzige exotische Fische. Lacon hatte sogar das Jackett abgelegt, die Krawatte natürlich nicht.

»Connie Sachs hat ein paar Rechenkunststücke mit Karlas Handschrift in vergleichbaren Fällen angestellt«, verkündete Smiley.

»Handschrift?« echote Lacon, als wäre Handschrift etwas ausgesprachen Reglementwidriges.

»Technik. Karlas übliches Vorgehen. Es scheint, daß er, wo es irgend anging, Maulwürfe und Lauscher als Tandem führte.«

»Das Ganze nochmals im Klartext, George, wenn ich bitten darf.« Wo die Umstände es erlaubten, sagte Smiley, habe Karla seine Agenteneinsätze durch Mikrophone unterstützt. Obwohl Smiley zu seiner Genugtuung feststellte, daß innerhalb des Hauses nichts gesagt worden war, was das »gegenwärtige Vorhaben«, wie er sich ausdrückte, beeinträchtigen konnte, war allein schon die Möglichkeit beunruhigend Lacon sollte auch Smileys Handschrift kennenlernen. »Irgendeinen Anhaltspunkt für diese ziemlich akademische Theorie?« wollte er wissen und prüfte Smileys ausdruckslose Züge über die Spitze des Bleistifts hinweg, den er wie ein Lineal zwischen beiden Zeigefingern hielt.

»Wir haben in unserem eigenen Tonbandarchiv Inventur gemacht«, gestand Smiley stirnrunzelnd. »Es fehlt einiges vom hauseigenen Material. Eine Menge scheint während der Veränderungen von anno Sechsundsechzig verschwunden zu sein.« Lacon wartete, holte jedes Wort einzeln aus ihm heraus. »Haydon gehörte dem dafür zuständigen Bau-Ausschuß an«, endete Smiley als letzten Seufzer. »Er war sogar die treibende Kraft. Es ist nur - also, ich meine, wenn die Vettern jemals davon erführen, dann wäre es der letzte Nagel zu unserem Sarg.« Lacon war kein Narr, und die Vettern auf die Palme zu bringen, genau in dem Augenblick, da alles versucht wurde, um ihr Gefieder wieder zu glätten, mußte um jeden Preis vermieden werden. Wäre es nach ihm gegangen, er hätte die Frettchen noch am gleichen Tag geschickt. Der Sonnabend war ein Kompromiß, und ohne jemanden zu fragen, schickte er das ganze Team los, alle zwölf Mann, in zwei grauen Lieferwagen mit der Aufschrift »Umweltschutz-Meßwagen.« Und sie nahmen wirklich das ganze Haus auseinander, daher das alberne Gerücht über die Zerstörung von Bill Haydons Büro. Sie waren wütend wegen des verpatzten Wochenendes und vielleicht deshalb so unnötig grob: die Überstunden wurden schrecklich hoch besteuert. Aber ihre Stimmung schlug jäh um, als sie auf einen Streich acht Abhörmikrophone ausbuddelten, sämtlich Standard-Geräte des Circus aus den Audio-Lagern. Haydons Verteilung war klassisch gewesen, wie Lacon zugab, als er zur Inspektion auftauchte. Eines in einer Schublade eines nicht mehr benutzten Schreibtisches, als wäre es in aller Unschuld dort liegengeblieben und in Vergessenheit geraten. Nur daß der Schreibtisch ausgerechnet im Codierraum stand. Eines verstaubte auf einem alten Stahlschrank im Konferenzzimmer auf der fünften Etage - im Haus die Rumpelkammer genannt. Und eines war, mit typisch Haydonschem Flair, hinter den Wasserkasten in der Toilette der höheren Dienstgrade gleich nebenan geklemmt. Ein zweiter Durchgang, bei dem auch die Tragmauern drankamen, förderte weitere drei zutage, die während der Bauarbeiten eingefügt worden waren. Sonden, mit Plastik-Schnorchelhälsen zum Transportieren der Töne. Die Frettchen legten sie aus wie eine Jagdstrecke. Tot, selbstverständlich, wie sämtliche Apparate, aber dennoch von Haydon hier angebracht und auf Frequenzen eingestellt, die der Circus nicht benutzte.

»Und auf Kosten des Schatzamtes unterhalten, wohlgemerkt«, sagte Lacon mit dem allerdünnsten Lächeln und spielte mit den Leitungen, die einstmals die Abhörmikrophone mit dem Stromversorgungsnetz verbunden hatten. »Oder jedenfalls früher, denn George ließ im ganzen Haus neue Leitungen legen. Das muß ich unbedingt Bruder Hammer erzählen. Er wird begeistert sein.« Hammer, gebürtiger Waliser, war Lacons Erzfeind. Auf Lacons Anraten inszenierte Smiley nun eine kleine Komödie. Er ließ die Frettchen die Radiomikrophone im Konferenzzimmer wieder in Betrieb setzen und den Empfänger auf einen der wenigen, dem Circus verbliebenen Observierungswagen einstellen. Dann bat er drei der bockigsten Schreibtischhengste von Whitehall, unter ihnen den Waliser Hammer, in einem Radius von einer halben Meile um das Gebäude zu fahren und einer gestellten Diskussion zwischen zwei von Smileys schattenhaften Gehilfen zu lauschen, die in der Rumpelkammer saßen. Sie hörten jedes Wort. Keine Silbe ausgelassen.

Worauf Smiley persönlich sie absolutes Stillschweigen schwören und zum Überfluß eine Erklärung unterschreiben ließ, die eigens von den Housekeepers zwecks Abschreckung aufgesetzt worden war. Peter Guillam schätzte, daß sie daraufhin für etwa einen Monat lang den Mund halten würden.

»Oder auch nicht so lange, falls es regnet«, fügte er mit jäher Gehässigkeit hinzu.

Aber nicht nur Martindale und seine Kollegen im Vorfeld von Whitehall lebten im Stande paradiesischer Unschuld, was die Realität von Smileys Welt betraf, auch jene, die dem Thron näher standen, fühlten sich von Smiley auf Distanz gehalten. Die Kreise um ihn wurden je näher, desto kleiner, und nur verflixt wenige drangen bis zum Mittelpunkt vor. Auch hinter dem braunen häßlichen Portal des Circus und seinen behelfsmäßigen, mit wachsamen Pförtnern bemannten Barrieren gab Smiley keine seiner gewohnten Abschirmungsmaßnahmen auf. Bei Tag wie bei Nacht blieb die, Tür zu seiner winzigen Bürosuite verschlossen, und seine einzige Gesellschaft bestand aus Peter Guillam und einem allgegenwärtigen finsterblickenden Faktotum namens Fawn, dem Mann, der sich mit Guillam den Job als Smileys Babysitter geteilt hatte, während sie Haydon ausräucherten. Manchmal verschwand Smiley nur mit einem Nicken durch den Hinterausgang, begleitet von Fawn, einem kleinen geschmeidigen Mann, während Guillam zurückbleiben mußte, um die Telefonanrufe entgegenzunehmen und in dringenden Fällen Smiley zu benachrichtigen. Die Mütter verglichen sein Benehmen mit den letzten Tagen Controls, der dank Haydon an gebrochenem Herzen in den Sielen gestorben war. Im Zug der Gesetzmäßigkeiten in einer geschlossenen Gesellschaft wurde der Hausjargon um ein neues Wort bereichert. Haydons Entlarvung hieß jetzt nur noch der Sündenfall, und die Geschichte des Circus zerfiel in die Zeiträume vor dem Sündenfall und danach. Der materielle Verfall des Gebäudes, das zu drei Viertel leer stand und seit dem Besuch der Frettchen eher einer Ruine glich, verlieh Smileys An- und Abwesenheiten etwas von Untergangsstimmung, die für alle, die damit leben mußten, symbolisch wurde. Was die Frettchen einreißen, wird nicht wieder aufgerichtet: und das gleiche galt vielleicht für Karla, dessen verstaubte Züge von dort, wo der meist unsichtbare Chef sie plaziert hatte, aus dem Dämmer seines spartanischen Büros nun auf sie herabblickte. Das wenige, was sie wüßten, war schauderhaft. Belangloses, wie zum Beispiel die Personalfrage, nahm erschreckende Dimensionen an. Smiley mußte aufgeflogene Agenten entlassen und aufgeflogene Residenturen auflösen; die des armen Tufty Thesinger in Hongkong war, da Hongkong ziemlich weit vom antisowjetischen Schauplatz entfernt liegt, eine der letzten, die daran glauben mußten. In der Umgebung Whitehalls, ein Gelände, das sie wie Smiley mit tiefem Mißtrauen betrachteten, hörten sie, daß Thesinger in bizarre und erbitterte Auseinandersetzungen über die Bedingungen einer Abfindung oder Neubestallung verwickelt sei. Es war anscheinend vorgekommen - und wiederum lieferte der arme Tufty Thesinger in Hongkong das nächstliegende Beispiel -, daß Bill Haydon mit voller Absicht die Überbewertung lahmliegender Residenten betrieben hatte, solcher, die zuverlässig keine eigene Initiative entwickeln würden. Sollten sie nun nach ihrem wirklichen Wert entlohnt werden oder nach dem künstlich hochgetriebenen, den Haydon ihnen zum Schaden der Sache verliehen hatte? In anderen Fällen wiederum hatte Haydon zu seiner eigenen Sicherheit Entlassungsgründe gedrechselt. Sollten solche Leute die volle Pension erhalten? Hatten sie Anspruch auf Wiedereinstellung? Ratlose junge Minister, die seit den Wahlen neu ins Amt gekommen waren, trafen tapfere und widersprüchliche Entscheidungen. Die Folge war, daß ein trauriger Zug von getäuschten Circus-Außenleuten, Männern und Frauen, von Smiley abgefertigt werden mußte und die Housekeepers angewiesen wurden, aus einschlägigen Gründen - und vielleicht auch um der Ästhetik willen - auf keinen Fall einen dieser Heimkehrer aus ausländischen Stützpunkten einen Fuß ins Innere des Hauptgebäudes setzen zu lassen. Auch duldete Smiley keinerlei Kontakt zwischen den Verdammten und den noch einmal Davongekommenen. Also eröffneten die Housekeepers, mit widerwilligem Einverständnis des Walisers Hammer, in einem gemieteten Haus in Bloomsbury eine Meldestelle, die sie als Sprachenschule tarnten (Besuch nur nach vorheriger Vereinbarung) und mit einem Quartett aus Beamten der Zahl- und Personalstelle bemannten. Aus dieser Einrichtung wurde alsbald die Bloomsbury Group, und man hörte, daß Smiley es sich nicht nehmen ließ, manchmal auf ein abgezwacktes Stündchen oder so hinüberzuhuschen und, wie bei einem Trauerbesuch, verschiedenen, ihm häufig unbekannten Gesichtern sein Beileid auszusprechen. Dann wieder, je nach Stimmung, sprach er kein Wort, sondern thronte nur geheimnisvoll und buddhagleich in einer Ecke des staubigen Vernehmungsraums. Was trieb ihn dorthin? Was suchte er? Wenn der Grund Zorn war, dann war es ein Zorn, der ihnen in jenen Tagen allen gemeinsam war. Sie konnten nach einem langen Tagewerk in der Rumpelkammer unterm Dach sitzen, scherzend und schwatzend; aber wenn jemand den Namen Karla oder seines Maulwurfs Haydon verlauten ließ, senkte sich eisiges Schweigen über den Raum, und nicht einmal die gerissene alte Connie Sachs, die Moskau-Tante Bann zu brechen. Sogar noch ergreifender waren in den Augen seiner Untergebenen Smileys Bemühungen, wenigstens einen Teil der Agentennetze aus dem Schiffbruch zu retten. Innerhalb eines Tages nach Haydons Festnahme waren alle neun Netze des Circus in Rußland und Osteuropa tot gewesen. Die Funkverbindung abgerissen, der Kurierverkehr eingestellt, und man durfte mit gutem Grund annehmen, daß etwaige echte Circus-Agenten, die. sich dort befunden hatten, über Nacht aufgerollt worden waren. Aber Smiley widersetzte sich leidenschaftlich dieser billigen Ansicht, genau wie er es nicht hinnehmen wollte, daß Karla und die Moskauer Zentrale im Verbund unschlagbar tüchtig seien, oder tadellos, oder logisch. Er entnervte Lacon, er entnervte die Vettern in ihren weitläufigen Anbauten am Grosvenor Square, er bestand darauf, daß die Funkfrequenzen der Agenten weiterhin abgehört würden, und trotz erbitterter Proteste des Foreign Office - Roddy Martindale wie immer an vorderster Stelle - ließ er durch die Auslandsdienste von BBC unverschlüsselte Meldungen ausstrahlen, wonach jeder lebende Agent, der sie zufällig hörte und das Codewort kannte, sich unverzüglich auf die Socken machen solle. Und, ganz allmählich und zu ihrem großen Erstaunen, trafen winzigkleine Lebenszeichen ein, wie verstümmelte Botschaften von einem anderen Stern.

Zuerst meldeten die Vettern in der Person ihres verdächtig offenherzigen Londoner Dienststellenleiters Martello vom Grosvenor Square, daß ein amerikanischer Fluchtkanal zwei britische Agenten durchschleuse, einen Mann und eine Frau. Sie würden zu dem alten Badeort Sochi am Schwarzen Meer gebracht, wo ein kleines Boot für den, wie Martellos schweigsame Leute es hartnäckig nannten, »Exfiltrationsauftrag« bereitlag. Der Beschreibung nach handelte es sich um die Tschurajews, Knotenpunkte des Netzes Contemplate, das für Georgien und die Ukraine zuständig war. Ohne die Genehmigung des Schatzamtes abzuwarten, holte Smiley einen gewissen Roy Bland aus der Versenkung hervor, einen stämmigen ex-marxistischen Dialektiker und zeitweiligen Außenagenten, der die Einsätze dieses Netzes geleitet hatte. Diesem Bland, den es beim Sündenfall ebenfalls erwischt hatte, vertraute er das russische Gespann de Silsky und Kaspar an, die auch eingemottet, auch zwei ehemalige Haydon-Proteges waren, damit sie zu dritt den Ankömmlingen Hilfestellung geben könnten. Sie saßen noch in ihrem Transportflugzeug der Royal Air Force, als die Meldung durchkam, daß das Paar beim Verlassen des Hafens erschossen worden sei. Der Exfiltrationsauftrag sei danebengegangen, sagten die Vettern. In aufrichtigem Mitgefühl telefonierte Martello Smiley die Nachricht persönlich durch. Er war nach seiner eigenen Ansicht ein freundlicher Mensch und wie Smiley ein Mann der alten Schule. Es war Nacht, und es regnete in Strömen.

»Nehmen Sie's bloß nicht so schwer, George«, ermahnte er ihn in seinem onkelhaften Tonfall. »Hören Sie? Die einen sind draußen, und die anderen sitzen am Schreibtisch, und Sie und ich müssen dafür sorgen, daß die Unterscheidung gewahrt bleibt. Sonst werden wir alle verrückt. Man kann sich nicht für jeden einzelnen umbringen. Das ist Feldherrnlos. Also denken Sie daran.« Peter Guillam, der, als der Anruf kam, dicht neben Smiley saß, schwor später, Smiley habe keine besondere Reaktion gezeigt: und Guillam kannte ihn gut. Dennoch war Smiley zehn Minuten später von allen unbemerkt verschwunden, und sein geräumiger Regenmantel hing nicht mehr am Haken. Er kam nach Einbruch derDämmerung zurück, naß bis auf die Haut, den Regenmantel trug er noch immer über dem Arm. Er zog sich um und setzte sich wieder an den Schreibtisch, aber als Guillam auf Zehenspitzen hereinkam und ihm unaufgefordert Tee brachte, sah er zu seiner größten Verlegenheit seinen Herrn stocksteif vor einem alten Band deutscher Lyrik sitzen, die geballten Fäuste auf der Tischplatte, und lautlos weinen.

Bland, de Silsky und Kaspar bewarben sich um Wiedereinstellung. Sie beriefen sich darauf, daß der kleine Toby Esterhase, der Ungar, habe zurückkommen dürfen, und verlangten die gleiche Behandlung, aber vergebens. Sie wurden abschlägig beschieden und nie wieder erwähnt. Unrecht zu Unrecht. Wenn sie auch leicht lädiert waren, so hätten sie doch nützlich sein können, aber Smiley wollte ihre Namen nicht mehr hören; nicht damals, nicht später, nie mehr. Das war der absolute Tiefpunkt dieser Zeit unmittelbar nach dem Sündenfall. Ein paar Leute - sowohl innerhalb wie außerhalb des Circus - glaubten aufrichtig, den letzten Schlag des geheimen Herzens Englands gehört zu haben. Doch ein paar Tage nach dieser Katastrophe bescherte das Glück Smiley einen kleinen Trost. In Warschau fing ein flüchtiger Spitzenagent des Circus am hellichten Tag das BBC-Signal auf und marschierte schnurstracks in die britische Botschaft. Dank vereinten und beharrlichen Antichambrierens sowohl Lacons wie Smileys wurde er trotz Martindales Widerstand noch in der gleichen Nacht, als diplomatischer Kurier getarnt, nach London heimgeflogen. Da Smiley seiner Tarngeschichte mißtraute, reichte er den Mann an die Inquisitoren des Circus weiter, die ihn, mangels anderer Opfer, fast zu Tode brachten, ihn danach jedoch als sauber bezeichneten. Er wurde in Australien aufs neue eingesetzt.

Anschließend war Smiley, dessen Herrschaft noch immer im Anfangsstadium steckte, gezwungen, sich die verbrannten Stützpunkte des Circus innerhalb des Landes vorzunehmen. Am liebsten hätte er alles abgeschrieben: die sicheren Häuser, die jetzt total unsicher waren; die Nursery in Sarratt, wo traditionsgemäß die Instruktion und Ausbildung von Agenten und Neulingen stattfand; die Audio-Versuchslabors in Harlow, die Bombenbastler- und Knallerschule in Argyll; die Matrosenschule in der Bucht von Heiford, wo abgemusterte Seeleute die schwarzen Künste der Kleinstfahrzeug-Schiffahrt zelebrierten wie das Ritual einer untergegangenen Religion; und die Funkstelle für Fernverkehr in Canterbury. Er hätte sogar das Hauptquartier der Stöpsler in Bath aufgelöst, wo nach wie vor die Codes geknackt wurden. »Weg mit dem Ganzen«, sagte er zu Lacon, den er in seinem Büro aufgesucht hatte.

»Und was dann?« fragte Lacon, verwundert über Smileys Heftigkeit, die seit dem Sochi-Fehlschlag an ihm auffiel.

»Neu anfangen.«

»Verstehe«, sagte Lacon, was natürlich bedeutete, daß er nicht verstand. Lacon hatte Zahlenaufstellungen des Schatzamtes vor sich liegen und studierte sie, während er sprach. »Die Nursery in Sarratt wird aus irgendeinem mir nicht zugänglichen Grund im Militärhaushalt geführt«, bemerkte er nachdenklich. »Nicht etwa in Ihrem Reptilienfonds. Das Foreign Office kommt für Harlow auf - und hat das bestimmt längst vergessen -, Argyll ist unter den Fittichen des Verteidigungsministeriums, das höchstwahrscheinlich nicht von der Existenz dieser Einrichtung weiß, das Postministerium hat Canterbury, und die Navy hat Heiford. Bath wird, wie ich mich freue sagen zu können, gleichfalls aus Geldern des Foreign Office unterhalten, laut eigenhändiger Unterschrift von Martindale, es kam vor sechs Jahren dazu und ist inzwischen auch in Vergessenheit geraten. Also tut uns das alles nicht weh, oder?«

»Es sind nutzlose Anhängsel«, sagte Smiley eigensinnig. »Und solange diese Einrichtungen bestehen, können wir sie nicht durch neue ersetzen. Sarratt ist schon lange zum Teufel, Heiford liegt in den letzten Zügen, Argyll ist nur noch ein Witz. Und was die Stöpsler angeht, so haben sie die letzten fünf Jahre praktisch hauptamtlich für Karla gearbeitet.«

»Mit Karla meinen Sie die Moskauer Zentrale?«

»Ich meine die Abteilung, die zuständig war für Haydon und ein halbes Dutzend -«

»Ich weiß, was Sie meinen. Aber ich finde es sicherer, wenn wir bei den Einrichtungen bleiben, Sie nicht auch? Dadurch ersparen wir uns die Peinlichkeit, Namen zu nennen. Dazu sind Einrichtungen schließlich da, wie?« Lacon stieß das Bleistiftende rhythmisch auf den Schreibtisch. Endlich blickte er auf und sah Smiley neckisch an. »Schön, schön, Sie sind im Moment der große Neuerer, George. Ich darf gar nicht daran denken, was passierte, wenn Sie jemals die Säge an meinen Ast ansetzen würden. Diese Außenstellen sind mündelsichere Aktien. Wenn Sie sich jetzt davon trennen, sehen Sie keine einzige mehr wieder. Später, wenn alles wieder läuft, können Sie sie abstoßen und sich etwas Besseres kaufen. Man soll nie verkaufen, wenn die Börse schlecht steht. Man wartet, bis man Gewinn mitnehmen kann.« Widerstrebend fügte Smiley sich seinem Rat. Als wären's der Schwierigkeiten noch nicht genug, kam der schwarze Montag, an dem eine Rechnungsprüfung im Schatzamt auf erhebliche Diskrepanzen in der Verwaltung des Reptilienfonds des Circus während der fünf Jahre stieß, ehe der Fonds nach dem Sündenfall eingefroren wurde. Smiley war gezwungen, ein Femegericht abzuhalten, bei dem ein älterer Buchhalter der Finanzabteilung, den man aus dem Ruhestand aufgescheucht hatte, zusammenbrach und eine schändliche Leidenschaft für ein Mädchen aus der Registratur gestand, das ihn an der Nase herumgeführt hatte. In einem grausigen Anfall von Reue ging der alte Mann heim und erhängte sich. Gegen Guillams dringendes Zureden ließ Smiley es sich nicht nehmen, der Bestattung beizuwohnen.

Dennoch ist es verbürgte Tatsache, daß George Smiley bereits in der Zeit dieser betrüblichen Anfänge, in seinen allerersten Wochen im Amt zum Angriff überging.

Die Basis, von der aus dieser Angriff geführt wurde, war zuvörderst philosophischer, zum zweiten theoretischer und erst in letzter Linie und dank dem dramatischen Auftreten des unschlagbaren Glücksspielers Sam Collins menschlicher Natur. Die Philosophie war einfach. Die Aufgabe eines Geheimdienstes, verkündete Smiley energisch, bestehe nicht darin, Haschen zu spielen, sondern seinen Kunden geheime Informationen zu liefern. Versäumte er diese Aufgabe, so würden sich seine Kunden an andere, weniger korrekte Verkäufer wenden oder, was noch schlimmer sei, zu amateurhafter Selbsthilfe greifen. Und der Geheimdienst würde an Schwindsucht eingehen. Nicht auf den Whitehall-Märkten vertreten sein hieß nicht gefragt sein, fuhr er fort. Schlimmer: wenn der Circus nichts produzierte, würde er auch keine Waren für den Tauschhandel mit den Vettern oder anderen Schwesterorganisationen in der Hand haben, mit denen von alters her solche Geschäfte getätigt wurden. Wer nicht produzierte, konnte nicht handeln, und wer nicht handeln konnte, war tot.

Amen, sagten sie.

Seine Theorie - er nannte sie seine Prämisse - über die Produktion von Geheimnachrichten ohne Nachrichtenquellen war Gegenstand einer zwanglosen Zusammenkunft in der Rumpelkammer, keine zwei Monate nach seinem Amtsantritt, zwischen ihm und dem winzigen inneren Kreis, der bis zu einem gewissen Punkt sein Vertrauen genoß. Insgesamt waren sie fünf: Smiley selbst, Peter Guillam, sein Schildknappe; die dicke wallende Moskau-Tante Connie Sachs; Fawn, das finsterblickende Faktotum in schwarzen Turnschuhen, das den russischen Kupfersamowar betreute und Kekse ausgab; und schließlich Doc di Salis, genannt der Tolle Jesuit, oberster China-Onkel des Circus. Als es Gott gelungen war, Connie Sachs zu erschaffen, so sagten die Lästerzungen, habe er eine Pause nötig gehabt, also pfuschte er aus den Resten rasch Doc di Salis zusammen. Der Doc war ein struppiges schmuddeliges Männchen, eher eine Karikatur Connies als ihr Pendent, er wirkte tatsächlich von dem borstigen Silberhaar, das ihm über den unsauberen Kragen hing, bis zu den feuchten mißgestalteten Fingerspitzen, die wie Hühnerschnäbel nach allem hackten, ganz eindeutig verformt. Hätte Beardsley ihn gezeichnet, er hätte ihn zottig und in Ketten dargestellt, wie er hinter Connies gewaltigem Kaftan hervorlugte. Trotzdem war di Sallis ein Orientalist von Graden, ein Gelehrter und sogar so etwas wie ein Held, denn er hatte einen Teil des Krieges in China verbracht, wo er für Gott und den Circus warb, und einen weiteren Teil im Gefängnis von Tschangi, um den Japanern eine Freude zu machen. Das also war das Team: der Fünfer-Club. Mit der Zeit vergrößerte er sich, aber diese ersten fünf bildeten den berühmten Kern, und einer von ihnen gewesen zu sein war, wie di Salis sagte, »als hätte man einen K.P.-Parteiausweis mit einer einstelligen Mitgliedsnummer«. Zunächst inspizierte Smiley das Wrack, und das nahm einige Zeit in Anspruch, genau wie das Plündern einer Stadt oder die Liquidierung zahlreicher Personen einige Zeit in Anspruch nimmt. Er fuhr einfach durch jede obskure Hintergasse, die dem Circus gehörte, und machte schonungslos deutlich, wie, durch welche Methode und oft auch genau wann Haydon ihre Geheimnisse seinen sowjetischen Herren und Meistern offenbart hatte. Natürlich kam ihm dabei sein Verhör Haydons zustatten sowie die Recherchen, die ihn ursprünglich auf Haydons Fährte geführt hatten. Er kannte den Parcours. Dennoch war die Zusammenfassung seiner Rede ein tour de force destruktiver Analyse. »Also, keine Illusionen«, endete er bündig. »Diese Dienststelle wird nie wieder das gleiche sein wie vordem. Sie kann besser werden, auf jeden Fall aber wird sie anders.« Amen, sagten sie wiederum und nutzten die Pause, um betrübt die Beine zu strecken.

Es war seltsam, erinnerte Guillam sich später, daß alle wichtigen Szenen dieser frühen Monate sich bei Nacht abzuspielen schienen. Die Rumpelkammer war ein langgestreckter Raum mit freiliegenden Dachbalken und hohen Fenstern, die keine andere Aussicht böten als den orangefarbenen Nachthimmel und ein Gestrüpp von rostigen Funkantennen, Überbleibsel aus dem Krieg, die zu entfernen sich niemand veranlaßt sah.

Die Prämisse, sagte Smiley, als sie sich wieder zusammengesetzt hatten, sei, daß Haydon nichts gegen den Circus unternahm, wozu er nicht angewiesen wurde, und daß diese Anweisung von einem ganz bestimmten Mann ausgegangen sei: von Karla. Seine Prämisse sei, daß Karla durch seine Anweisungen an Haydon die Informationslücken der Moskauer Zentrale aufgezeigt habe: daß Karla, indem er Haydon die Unterdrückung bestimmter, dem Circus zugedachter Geheiminformationen befohlen, ihn angewiesen habe, dieses Material herunterzuspielen oder zu entstellen, zu bagatellisieren oder glatt zu leugnen, verraten habe, welche Geheimnisse er nicht entdeckt wissen wollte..

»Wir können demnach zur Rückpeilung schreiten, nicht wahr, Darling?« murmelte die umfangreiche Connie Sachs, die dank ihrer schnellen Auffassungsgabe dem übrigen Feld wie immer weit voraus war.

»Stimmt, Con. Genau das können wir tun«, sagte Smiley ernst. »Wir können rückpeilen.« Er nahm seinen Vortrag wieder auf, und Guillam tappte mehr denn je im dunkeln. Wenn man Haydons zerstörerische Schritte - seine Raubtierfährte, wie Smiley sie nannte - bis ins Kleinste zurückverfolge, indem man seine Aktenauswahl erschöpfend registriere; wenn man, und wenn nötig nach wochenlanger mühsamer Suche, das von den Außenstellen des Circus im guten Glauben zusammengetragene Material neu sichte und es in jedem Detail mit dem Material vergleiche, das Haydon an die Kunden des Circus in Whitehall verteilte, so würde es möglich sein, die Rückpeilung, wie Connie das so richtig nannte, vorzunehmen und Haydons und damit auch Karlas Ausgangspunkt festzustellen, sagte Smiley. Sobald eine korrekte Rückpeilung gemacht sei, würden sich die überraschendsten Möglichkeiten eröffnen und der Circus wider alle äußere Wahrscheinlichkeit in der Lage sein, zur Initiative überzugehen, oder, wie Smiley sich ausdrückte, »zu agieren und nicht bloß zu reagieren«.

Die Prämisse besagte, um Connie Sachs' launige Beschreibung aufzugreifen, »nach einem zweiten verdammten Tut-ench-Amun zu buddeln, während George Smiley die Laterne hält und wir armen Hunde das Graben besorgen«.

Zu jener Zeit war von Jerry Westerby natürlich nicht einmal andeutungsweise die Rede.

Anderntags zogen sie in die Schlacht, Connie in die eine Ecke, der griesgrämige di Salis in die andere. Wie di Salis in näselndem, mißbilligendem Tonfall, der grimmige Entschlossenheit ausdrückte, sagte: »Wenigstens wissen wir endlich, warum wir hier sind.« Ihr Anhang aus bläßlichen Wühlmäusen zerlegte das Archiv in zwei Teile. An Connie und »meine Bolschies«, wie sie sagte, fielen Rußland und die Satellitenstaaten. An di Salis und seine »gelben Gefahren« China und die Dritte Welt. Was dazwischenlag - zum Beispiel Quellenberichte über die theoretischen Verbündeten der Nation - wurde einem besonderen Aufbewahrungs-Fach zu späterer Auswertung anvertraut. Sie arbeiteten, wie Smiley selber, zu den unmöglichsten Stunden. Die Kantine beklagte sich, die Portiers drohten mit dem Ausstand, aber nach und nach wurden sogar die dienstbaren Geister von der Energie der Wühlmäuse angesteckt, und sie schwiegen. Spielerische Rivalität machte sich breit. Unter Connies Einfluß lernte das junge Volk aus der Recherchenabteilung, das man bislang kaum jemals hatte lächeln sehen, sich plötzlich gegenseitig in der Sprache ihrer großen Bekannten außerhalb des Circus aufzuziehen. Zaristisch imperialistische Opportunisten tranken mit aufspalterisch-abweichlerisch-stalinistischen Chauvinisten schalen Kaffee und waren stolz darauf. Die erstaunlichste Veränderung vollzog sich eindeutig mit di Salis, der sein nächtliches Mühen durch kurze, aber energische Zwischenspiele am Ping-Pong-Tisch unterbrach, wo er jeden Hinzukommenden zu einem Match aufforderte und herumsprang wie ein Schmetterlingssammler auf der Jagd nach einem seltenen Exemplar. Bald zeigten sich die ersten Früchte und gaben ihnen neuen Schwung. Innerhalb eines Monats waren drei Berichte bangen Herzens und unter äußerst beschränktem Zugang verteilt worden und hatten sogar vor den skeptischen Vettern Gnade gefunden. Einen Monat später erntete eine zusammenfassende Broschüre, umschweifig betitelt Zwischenbericht über Informationslücken im sowjetischen Geheimdienst betreffs See-Luft-Kapazität der Nato, widerwilligen Beifall seitens Martellos Stammhaus in Langley, Virginia, und einen begeisterten Anruf von Martello persönlich. »George, ich hab's den Burschen ja gesagt, schrie er so laut, daß das Telefon der reine Luxus zu sein schien. »Ich hab's ihnen gesagt: >Der Circus wird liefern.< Und haben sie mir geglaubt? Den Teufel haben sie!«

Inzwischen unternahm Smiley, manchmal in Begleitung Guillams, manchmal mit dem schweigenden Fawn als Babysitter, seine eigenen dunklen Streifzüge und marschierte, bis er halbtot war vor Müdigkeit. Der Mühe Lohn blieb aus, aber er marschierte weiter. Bei Tag und oft auch bei Nacht klapperte er die nähere und fernere Umgebung ab, befragte ehemalige Angestellte des Circus und abgehalfterte Agenten. Als er in Chiswick demütig in einer Agentur für Discount-Reisen hockte und murmelnd mit einem ehemaligen polnischen Kavallerieobersten sprach, der hier als Angestellter eingesetzt war, glaubte er, einen flüchtigen Schimmer erhascht zu haben; doch gleich einer Fata Morgana schwand das Bild, als er sich ihm näherte. In einem Gebrauchtladen für Radios in Sevenoaks weckte ein Sudetentscheche die gleiche Hoffnung in ihm, aber als er und Guillam zurückeilten, um die Geschichte anhand der Circus-Unterlagen nachzuprüfen, stellte sich heraus, daß die Akteure tot waren und ihm niemand mehr weiterhelfen konnte. In einem Privatgestüt in Newmarket mußte er sich, zu Fawns um ein Haar handgreiflichem Zorn, von einem tweedbedeckten und eigenbildeten Schotten, einem Protege von Smileys Vorgänger Alleline, beleidigen lassen, alles in dieser gleichen ungreifbaren Sache. In seinem Büro ließ er sich die Akten bringen, und stellte fest, daß der schwache Lichtschein wiederum erlosch.

Denn dies war die letzte und unausgesprochene jener Prämissen, die Smiley in der Rumpelkammer umrissen hatte: daß die Schlinge, in der Haydon sich gefangen hatte, nicht die einzige gewesen war. Daß es letzten Endes nicht Haydons schriftliches Material war, das ihn zu Fall gebracht hatte, auch nicht seine Manipulation von Berichten oder das »Verlieren« unliebsamer Aufzeichnungen. Es war Haydons Panik gewesen. Haydons spontanes Eingreifen bei einem Auslandseinsatz, als die Gefahr für ihn selber oder für einen anderen Agenten Karlas plötzlich so drohend wurde, daß ihm nichts anderes übrigblieb als ihn, trotz des Risikos, mit allen Mitteln abzuwürgen. Smiley hoffte inständig, daß diese Masche sich wieder finden würde. Und so stellten Smiley und seine Helfer in der Meldestelle in Bloomsbury nie direkt, immer auf Umwegen, die gleiche Frage: »Können Sie sich an irgendeine Gelegenheit während Ihres Außendienstes erinnern, bei der Sie ohne ersichtlichen Grund von der weiteren Verfolgung eines Operationsziels abgehalten wurden?«

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