»Aber nicht für diesen Zweck.« Der Wein hatte Flecke auf dem Tischtuch hinterlassen. Guillam streute Salz darüber, während Lacon das Tuch anhob und seinen Serviettenring darunterschob, um die Politur zu schützen.

Die nun folgende, lange Stille wurde vom Ticken des auf den Boden tropfenden Weins ausgefüllt. Schließlich sagte Lacon: »Es liegt ausschließlich bei Ihnen zu bestimmen, was im Rahmen Ihres Mandats gerechtfertigt ist.«

»Kann ich das schriftlich haben?«

»Nein.«

»Würden Sie mich ermächtigen, alle nötigen Schritte zur Erhärtung der Information zu unternehmen?«

»Nein.«

»Aber Sie werden mich nicht daran hindern?«

»Da ich nichts von Verfahrensweisen verstehe und dies auch nicht von mir verlangt wird, fällt es kaum mir zu, Ihnen Vorschriften zu machen.«

»Aber wenn ich in aller Form an Sie herantrete ...» begann Smiley.

»Val, bitte einen Lappen. Sobald Sie in aller Form an mich herantreten, werde ich jede Verantwortung ablehnen. Ihr Handlungsspielraum wird vom Lenkungsausschuß für den Geheimen Nachrichtendienst abgesteckt, nicht von mir. Dort lassen Sie Ihren Schmonzes los. Der Ausschuß wird Sie bis zum Schluß anhören. Danach ist die Sache zwischen Ihnen und dem Ausschuß auszufechten. Ich bin nur die Hebamme. Val, bring einen Lappen, es schwimmt schon alles!«

»Oh, mein Kopf liegt auf dem Block, nicht der Ihre«, sagte Smiley wie zu sich selbst. »Sie sind neutral. Das weiß ich alles.«

»Oliver ist nicht neutral«, sagte Mrs. Lacon fröhlich, als sie mit dem Mädchen auf dem Arm, das frisch gebürstet war und ein Nachthemd anhatte, wieder hereinkam. »Er hat unheimlich viel für Sie übrig, nicht wahr, Olly?« Sie reichte Lacon einen Lappen, und er fing an, aufzuwischen. »Er ist in letzter Zeit ein richtiger Falke geworden. Mehr noch als die Amerikaner. Jetzt sag allen gute Nacht, Penny, los.« Sie reichte das Kind herum. »Mister Smiley zuerst . . . Mister Guillam . . . jetzt Daddy . . . Wie geht's Ann, George, doch nicht schon wieder auf dem Lande will ich hoffen?«

»Oh, bestens, vielen Dank.«

»Sie müssen Oliver herumkriegen. Er wird schrecklich bombastisch. Nicht wahr, Olly?«

Sie tanzte hinaus und sang dem Kind selbstverfaßte Ritualweisen vor:

»Hitti-Pitti an der Wand Hitti-Pitti im ganzen Land Und bums, da macht es Plumps!« Lacon sah ihr voll Stolz nach.

»Wollen Sie die Amerikaner nicht mit ins Spiel bringen, George?« fragte er munter. »Wären ein phantastischer Köder, wissen Sie? Rücken Sie mit den Vettern an, und Sie haben den Ausschuß in der Tasche, ohne einen Schuß abzufeuern. Das Foreign Office würde Ihnen aus der Hand fressen.«

»Ich würde diese Sache lieber in der Hand behalten.«

Als hätte es, dachte Guillam, nie ein grünes Telefon gegeben. Lacon spielte mit seinem Glas und überlegte. »Schade«, verkündete er schließlich. »Schade. Keine Vettern, keinen Panik-Faktor . . . «. Er blickte auf die pummelige, wenig eindrucksvolle Gestalt vor ihm. Smiley saß mit gefalteten Händen und geschlossenen Augen da und schien nah am Einschlafen. »Und auch keine Glaubwürdigkeit«, fuhr Lacon fort, offenbar als direkten Kommentar zu Smileys Erscheinung. »Das Verteidigungsministerium wird keinen Finger für Sie rühren, das will ich Ihnen gleich sagen. Und das Innenministerium ebensowenig. Das Schatzamt ist ein Glücksspiel, und das Außenministerium? - Kommt darauf an, wen sie zu der Besprechung entsenden und was es zum Frühstück gegeben hat.« Wieder dachte er nach. »George.«

»Ja?«

»Lassen Sie mich Ihnen einen Vertreter schicken. Jemanden, der Ihre Sache verfechten, der für Sie auf die Barrikaden gehen kann.«

»Oh, ich glaube, ich werde es schaffen, vielen Dank!«

»Sorgen Sie dafür, daß er mehr ausruht«, riet Lacon Guillam in ohrenbetäubendem Flüstern, als sie zum Wagen gingen. »Und versuchen Sie ihn zu bewegen, daß er diese schwarzen Jacketts und so weiter ablegt. Sind zusammen mit Reifröcken aus der Mode gekommen. Wiedersehen, George! Läuten Sie mich morgen an, wenn Sie sich's anders überlegen sollten und Hilfe möchten. Fahren Sie vorsichtig, Guillam. Sie haben Alkohol getrunken, denken Sie daran!«

Als sie durchs Tor fuhren, tat Guillam einen wirklich sehr starken Ausspruch, aber Smiley steckte zu tief in der Decke, um ihn zu hören.

»Es geht also nach Hongkong?« sagte Guillam. Keine Antwort: aber auch kein Dementi.

»Und wer ist der glückliche Außenmann?« fragte Guillam ein wenig später, ohne eigentliche Hoffnung auf eine Antwort. »Oder hat das Ganze nur den Zweck, die Vettern auszutricksen?«

»Wir tricksen die Vettern keineswegs aus«, brauste Smiley auf, gereizt wie selten. »Wenn wir sie mittun lassen, buttern sie uns unter. Wenn nicht, dann haben wir keine Mittel. Will einfach genau austariert werden.« Smiley tauchte wieder unter die Decke.

Doch schon am folgenden Tag, siehe da, war es soweit. Um zehn berief Smiley ein Einsatzdirektorium ein. Smiley redete, Connie redete, di Salis zappelte herum und kratzte sich wie ein verlauster Dorfschullehrer in einer Bauernkomödie, bis die Reihe zum Sprechen an ihm war und er sich mit seiner rauhen, klugen Stimme äußerte. Noch am gleichen Abend schickte Smiley sein Telegramm nach Italien: ein richtiges Telegramm, nicht nur einen Funkspruch, Codewort guardian, Kopie in die rasch anwachsende Akte. Smiley schrieb es aus, Guillam übergab es Fawn, und der raste triumphierend damit zum Nachtpostamt Charing Cross. Er zog so feierlich damit ab, daß man hätte meinen können, das bräunliche kleine Formular bilde den bisherigen Höhepunkt seines behüteten Daseins. Dem war nicht so. Vor dem Sündenfall hatte Fawn unter Guillam bei den in Brixton stationierten Skalpjägern gearbeitet. Sein erlernter Beruf indessen war der eines lautlosen Killers.

Spaziergang im Park

Diese ganze sonnige Woche hindurch trugen Jerry Westerbys Reisevorbereitungen das Gepräge festlicher Betriebsamkeit, die nicht einen Augenblick nachließ. Wie London einen späten Sommer feierte, so auch, mochte man denken, Jerry Westerby. Stiefmütter, Impfungen, Reisetips, literarische Agenturen und Fleet-Street-Redakteure; Jerry, der London sonst haßte wie die Pest, stiefelte frisch und fröhlich vom einen zum andern. Er hatte für London sogar ein eigenes Kostüm zu seinen Wildlederstiefeln: einen Anzug, nicht direkt aus der Savile Row, aber unleugbar einen Anzug. Seine Gefängnismontur, wie die Waise gesagt hatte, war ein waschbares, verschossen-blaues Etwas, die Kreation eines Rund-um-die-Uhr-Schneiders namens Pontschak Happy House in Bangkok, der es in glänzenden Seidenlettern auf dem Etikett als knitterfrei garantierte. In den milden Mittagsbrisen blähte es sich am Brighton Pier so schwerelos wie eine Soutane. Sein aus gleicher Quelle stammendes Seidenhemd war vergilbt, als hätte es lange in einer Mannschaftsgarderobe von Wimbledon oder Henley gehangen. Seine Sonnenbräune war, obgleich toskanischen Ursprungs, genauso englisch wie die berühmte Kricket-Krawatte, die gleich einer Landesfahne an ihm flatterte. Nur sein Gesichtsausdruck hatte für die sehr Scharfäugigen eine gewisse Wachsamkeit, die auch Mamma Stefano, die Postmeisterin, festgestellt hatte und die man instinktiv als »berufsbedingt« empfindet und damit abtut. Manchmal, wenn er sich auf Wartezeiten gefaßt machte, schleppte er den Büchersack mit sich, so daß er wie ein Hinterwäldler aussah.

Er logierte, wenn überhaupt irgendwo fest, am Thurloe Square bei seiner Stiefmutter, der dritten Lady Westerby, in einer winzigen Wohnung voller Schnickschnack und riesiger Antiquitäten, geborgenem Gut aus aufgegebenen Häusern. Sie war eine bemalte, hennenartige Frau, zänkisch, wie das gealterte Schönheiten zuweilen sind, und beschimpfte ihn häufig wegen wirklicher oder eingebildeter Delikte wie zum Beispiel wegen Rauchens ihrer letzten Zigarette oder Einschleppens von Schmutz nach seinen bemessenen Streifzügen im Park. Jerry nahm alles geduldig hin. Manchmal, wenn er erst um drei oder vier Uhr morgens heimkam, aber noch immer nicht schläfrig war, hämmerte er an ihre Tür, um sie zu wecken, obwohl sie meist ohnehin schon wach war; und wenn sie ihr Make-up aufgelegt hatte, setzte er sie in ihrem rüschenraschelnden Morgenrock auf sein Bett, drückte ihr eine Riesenportion creme de menthe frappee in die winzigen Klauen, streckte sich in ganzer Länge auf der freien Fläche des Fußbodens inmitten eines Zauberbergs von Gerumpel und fuhr mit dem, was er als Einpacken bezeichnete, fort. Der Berg bestand aus allem möglichen unnützen Zeug: alten Zeitungsausschnitten, Haufen vergilbter Zeitungen, Dokumenten, mit grünem Band umwunden, und sogar ein Paar maßgearbeitete Reitstiefel war darunter, auf Leisten gespannt und grün vor Schimmel. Theoretisch traf Jerry eine Auswahl alles dessen, was er für seine Reise benötigen würde, aber er kam selten über die Bergung von Souvenirs hinaus, die in beiden von ihnen eine Kette von Erinnerungen auslösten. Eines Nachts zum Beispiel grub er einen Band seiner frühesten Erzählungen aus.

»Heh, Pet! Hier ist eine gute! Hier reißt Westerby einem die Maske ab! Läßt dein Herz schneller schlagen, wie, altes Haus? Treibt das träge Blut durch die Adern?«

»Du hättest ins Geschäft deines Onkels eintreten sollen«, erwiderte sie, während sie mit großer Genugtuung die Seiten umblätterte. Besagter Onkel war ein Kieskönig, den Pet gern ins Treffen führte, um Old Sambos mangelnde Geschäftstüchtigkeit herauszustreichen.

Ein andermal fanden sie das jahrealte Testament des alten Herrn - »Ich, Samuel, auch bekannt als Sambo Westerby« - zusammen mit einem Packen Rechnungen und Anwaltskorrespondenz an die Adresse Jerrys in seiner Eigenschaft als Testamentsvollstrecker irgendwo hineingestopft, alles voller Whisky- oder Chininflecken und stets beginnend mit: »Zu unserem Bedauern.«

»Hartes Schlägchen, das«, murmelte Jerry verlegen, als es zu spät war, den Umschlag wieder unter dem Gerumpel verschwinden zu lassen. »Könnten wir eigentlich ins Na-du-weißt-schon schmeißen, was, altes Haus?«

Ihre Knopfaugen funkelten ihn wütend an. »Laut«, befahl sie mit rauher Bühnenstimme, und schon durchstreiften sie gemeinsam die unentwirrbaren Knäuel von Treuhänderscharten, die Enkelkinder versorgten, Neffen und Nichten auf Schulen schickten, Apanagen für eine Ehefrau auf Lebenszeit sicherten, Kapital an Soundso bei Tod oder Verheiratung; quälten sich durch Nachsätze, die Wohlverhalten belohnten, andere, die Verstöße rächten.

»Heh, weißt du, wer das war? Vetter Aldred, das schwarze Schaf, der im Kittchen war! Herrjeh, warum wollte er ausgerechnet dem Geld hinterlassen? Hätt's in einer einzigen Nacht verputzt!« Und Nachsätze zwecks Versorgung der Rennpferde, die andernfalls womöglich unters Beil kämen: »Mein Pferd Rosalie in Maison Lafitte, zusammen mit zweitausend Pfund pro Jahr für Stallgeld . . . Mein Pferd Intruder, zur Zeit zum Training in Dublin, gehen an meinen Sohn Gerald, mit der Auflage, daß er bis zu ihrem natürlichen Tod für sie sorgen wird . . . « Old Sambo konnte, genau wie Jerry, ein Pferd über alles lieben. Auch für Jerry: Aktien. Ausschließlich für Jerry: das Aktienkapital der Gesellschaft in Millionenhöhe. Mantel, Macht, Verantwortung; eine ganze großartige Welt zum Erben und Sich-Tummeln - eine Welt, die dargeboten, sogar versprochen und dann wieder entzogen wurde: » . . . meinen Sohn, sämtliche Zeitungen der Gruppe entsprechend den zu meinen Lebzeiten üblichen Gepflogenheiten und Regeln zu übernehmen.« Sogar ein Bastard wurde bedacht; ein Betrag von zwanzigtausend, »frei von allen Steuern und anderen Zahlungsverpflichtungen, zahlbar an Miß Mary Soundso in Chobham, nachweislich Mutter meines Sohnes Adam«. Der einzige Haken: die Kasse war leer. Als das Imperium des großen Mannes dem Konkurs entgegentaumelte, schrumpften die Konten unaufhaltsam. Dann wuchsen die roten Zahlen zu langen blutsaugenden Insekten heran, schwollen jedes Jahr um eine Null.

»Ach ja, Pet«, sagte Jerry in der unirdischen Stille der ersten Morgendämmerung, als er den Umschlag wieder auf den Zauberberg warf. »Fix und fertig mit ihm, wie, altes Haus?« Er rollte sich auf die Seite, zog sich den Stapel vergilbter Zeitungen heran - letzte Nummern der väterlichen Geisteskinder - und wühlte sich, wie es nur alte Zeitungsleute können, durch den ganzen Haufen zugleich. »Kann nicht hinter den munteren Vöglein herjagen, dort, wo er jetzt ist, wie?« - gewaltiges Blätterrascheln-, »zwar, zuzutrauen wär's ihm, wie? Versuchen wird er's immer noch, wenn du mich fragst.« Und mit ruhigerer Stimme, während er sich umdrehte und die stumme kleine Puppe ansah, die auf seiner Bettkante saß und mit ihren Füßen kaum bis zum Boden reichte; »Du warst immer seine thai-thai, altes Haus, seine Nummer eins. Immer dein Lob gesungen. Hat's mir gesagt. >Pet ist das schönste Mädel auf der Welt<. Hat's mir gesagt. Seine eignen Worte. Hat's mir einmal über die ganze Fleet Street zugebrüllt. >Beste Ehefrau meines Lebens<.«

»Verdammter Satan«, sagte seine Stiefmutter mit leisem, jähem Ausbruch reinsten Nordengland-Dialekts, und die Fältchen reihten sich wie Operationsnadeln rings um den roten Saum ihrer Lippen. »Niederträchtiger Satan, ich hasse jeden Zoll an ihm.« Und eine ganze Weile verblieben sie so, keiner von ihnen sprach, Jerry lag auf dem Boden, kramte in seinem Gerumpel herum und riß an einer Haarsträhne, die ihm in die Stirn fiel, Pet saß auf dem Bett, und beide waren in einer Art Liebe zu Jerrys Vater vereint. »Du hättest für deinen Onkel Paul Schotter verkaufen sollen«, seufzte sie mit der Klugheit einer vielenttäuschten Frau. An ihrem letzten Abend führte Jerry sie zum Essen aus, und danach, als sie wieder in Thurloe Square waren, servierte sie ihm Kaffee in dem erhalten gebliebenen Sevres-Service. Die noble Geste hatte eine Katastrophe zur Folge. Als Jerry gedankenlos den dicken Zeigefinger in den Henkel seiner Tasse zwängte, brach der Henkel mit einem leisen ptt, das gnädigerweise ihrer Aufmerksamkeit entging. Er hielt die Tasse geschickt in der hohlen Hand, um das Malheur vor ihr zu verbergen, bis er in die Küche entwischen und sie gegen eine andere austauschen konnte. Doch vor Gottes Zorn gibt es kein Entrinnen. Als Jerrys Flugzeug in Taschkent zwischenlandete - er hatte sich unterderhand eine Flugerlaubnis auf der transsibirischen Route verschafft -, stellte er zu seiner Überraschung fest, daß die russischen Behörden an einem Ende der Wartehalle eine Bar eröffnet hatten: nach Jerrys Ansicht ein schlagender Beweis für die liberale Tendenz des Landes. Als er in seiner Jackentasche nach Hartgeld suchte, um sich einen großen Wodka zu genehmigen, zog er statt dessen das niedliche Porzellanfragezeichen mit den angebrochenen Enden heraus. Er verzichtete auf den Wodka.

In geschäftlichen Dingen zeigte er sich gleichbleibend verträglich, gleichbleibend nachgiebig. Sein literarischer Agent war eine alte Kricket-Bekanntschaft, ein Snob ungewisser Herkunft namens Mencken, bekannt als Ming, einer jener echten Narren, für die sich in der englischen Gesellschaft und besonders im Verlagswesen allemal ein bequemes Plätzchen findet. Mencken war dreist und ungestüm und schmückte sich mit einem Pfeffer-und-Salz-Vollbart, vielleicht um den Eindruck zu erwecken, er schriebe die Bücher, die er verhökerte. Sie lunchten in Jerrys Club, einem würdigen, heruntergekommenen Haus, das sein Überleben nur der Fusion mit bescheideneren Clubs und wiederholter Postwerbung verdankte. In einer Ecke des Speisesaals, unter den Marmoraugen einstiger Bildner des Empire, beklagten sie den Mangel schneller Ballmänner bei Lancashire. Jerry wünschte, Kent würde »den verdammten Ball schlagen, nicht daran rumstochern.« Middlesex, darin waren sich beide einig, hatte ein paar gute junge Nachwuchsspieler, aber: »Herr im Himmel, sehen Sie doch bloß, wie man sie aussucht«, sagte Ming kopfschüttelnd und schnitt sich das Essen auf dem Teller zurecht. »Schade, daß Ihnen die Puste ausging«, verkündete er Jerry und allen, die es hören wollten. »Niemand hat in jüngster Zeit einen Fernost-Roman geschrieben, soviel ich sehe. Greene hat es fertiggebracht, wenn Sie Greene ausstehen können, was ich persönlich nicht kann - zu viel Papisterei. Malraux, wenn Sie Philosophie mögen, ich persönlich mag sie nicht. Maugham geht noch, und davor ist es erst wieder Conrad. Wohlsein. Darf ich mal was sagen?« Jerry füllte Mings Glas. »Vorsicht mit der Hemingway-Masche. Diese gute Miene zum bösen Spiel, Liebe mit kaputten Eiern. Mag kein Mensch mehr, soviel ich sehe. War alles schon da.«

Jerry begleitete Ming ans Taxi.

»Darf ich mal was sagen?«fragte Mencken. »Längere Sätze. Wenn ihr alten Journalisten auf Romane umsteigt, schreibt ihr immer zu kurz. Kurze Absätze, kurze Sätze, kurze Kapitel. Ihr seht das Ganze in schmalen Kolumnen, anstatt quer über die Seite. Hemingway war genauso. Immer versucht, Romane auf die Rückseite einer Streichholzschachtel zu schreiben. In die Breite gehen, sage ich.«

»Cheero, Ming. Vielen Dank.«

»Cheero, Westerby. Empfehlung an Ihren alten Herrn, ja? Muß jetzt wohl auch nicht mehr der Jüngste sein. Jaja, das bleibt keinem erspart.«

Sogar Stubbs gegenüber bewahrte Jerry fast genau die gleiche sonnige Laune; obwohl Stubbs, wie Connie Sachs gesagt haben würde, eine widerliche Kröte war.

Zeitungsleute richten, wie alle, die viel reisen, überall das gleiche Durcheinander an, und Stubbs, der Chefredakteur der Gruppe, bildete keine Ausnahme. Sein. Schreibtisch war übersät mit teefleckigen Druckfahnen, tintenfleckigen Tassen und den Resten eines Schinkenbrötchens, das an Altersschwäche eingegangen war. Stubbs selbst thronte mittendrin und blickte Jerry so finster entgegen, als sei Jerry gekommen, um ihm seine Schätze zu rauben.

»Stubbsi. Stolz der Gilde«, murmelte Jerry, stieß die Tür auf und lehnte sich an die Wand, die Hände hinter den Rücken geklemmt, wie um sie in Schach zu halten.

Stubbs biß auf etwas Hartes und Ekliges an seiner Zungenspitze, ehe er sich wieder dem Studium der Akte zuwandte, die zuoberst auf seinem Müllhaufen von Schreibtisch lag. Stubbs war die Bestätigung aller müden Witze über Zeitungsredakteure. Ein grämlicher Mensch mit schweren grauen Backen und schweren Lidern, die aussahen, als wären sie mit Ruß eingerieben. Er würde beim Daily bleiben, bis er Magengeschwüre hätte, dann würde er zum Sunday versetzt. Noch ein Jahr, und sie würden ihn zu den Frauenzeitschriften abschieben, wo er sich bis zu seiner Pensionierung von Kindern herumkommandieren lassen müßte. Derzeit war er ein falscher Hund, der die hereinkommenden Telefonate der Korrespondenten mithörte, ohne ihnen zu sagen, daß er in der Leitung hing.

»Saigon«, grollte Stubbs und machte mit einem zerkauten Kugelschreiber eine Randnotiz. Sein Londoner Akzent wurde durch einen leisen Stich ins Kanadische verfremdet, wie es früher eine Zeitlang in der Fleet Street Mode gewesen war. »Weihnachten vor drei Jahren. Klingelt's bei Ihnen?«

»Was soll da klingeln, alter Junge?« fragte Jerry, noch immer an die Wand gedrückt.

»Eine festliche Glocke«, sagte Stubbs mit einem Henkerlächeln. »Jubel und Trubel im Büro, als die Gruppe noch blöd genug war, da drüben eines zu unterhalten. Eine Weihnachtsparty. Haben Sie gegeben.« Er las aus einer Akte vor. »>Weihnachtsessen im Hotel Continental. Saigon.< Dann die Gästeliste, die wir von Ihnen angefordert hatten. Taglöhner, Fotografen, Fahrer, Sekretärinnen, Botenjungen, weiß ich's oder weiß ich's nicht? Blanke siebzig Pfund ausgegeben im Dienste von Public-Relations und Jubelstimmung. Erinnern Sie sich?« Er fuhr unbeirrt fort. »Unter den Gästen haben Sie Smoothie Stallwood aufgeführt. Er war mit von der Partie, was? Stallwood? Seine übliche Nummer? Wanzt sich an die häßlichsten Mädchen ran und flötet ihnen, was sie hören wollen!«

Stubbs wartete und knabberte wieder an dem Etwas auf seiner Zungenspitze herum. Aber Jerry blieb hart an die Wand gepreßt und hätte notfalls auch den ganzen Tag so gewartet. »Wir sind eine linksorientierte Gruppe«, betete Stubbs seinen Leib- und-Lieblingsspruch her. »Das bedeutet, wir sind Antikapitalisten, und unsere ganze Existenz hängt von der Großmut eines analphabetischen Millionärs ab. Aus den Akten geht hervor, daß Stallwood seinen Weihnachtslunch in Phnom Penh verzehrte, wo er seine Gastfreundschaft einigen Würdenträgern der kambodschanischen Regierung aufdrängte, Gott sei ihm gnädig. Ich habe mit Stallwood gesprochen, er scheint der Meinung zu sein, daß er dort war. In Phnom Penh.«

Jerry schlurfte zum Fenster hinüber und lehnte sich an einen alten schwarzen Heizkörper. Draußen, keine sechs Fuß von ihm entfernt, hing über dem vielgetretenen Pflaster eine verdreckte Uhr, ein Geschenk des Gründers an die Fleet Street. Es war Vormittag, aber die Zeiger standen auf fünf vor sechs. In einer Einfahrt jenseits der Straße standen zwei Männer und lasen Zeitung. Sie trugen Hüte, und die Zeitung verbarg ihre Gesichter, und Jerry dachte bei sich, wie angenehm das Leben sein würde, wenn Observanten in Wirklichkeit auch so aussähen. »Jeder schröpft dieses Comic, Stubbsi«, sagte er nach weiterem längerem Schweigen nachdenklich. »Sie inklusive. Sie sprechen von einer drei Jahre alten Sache. Lassen Sie's gut sein, altes Haus. Mein Rat. Stopfen Sie sich's sonstwo rein. Da gehört's hin.«

»Das ist kein Comic, das ist ein Schmierblatt. Comic ist eine Farbbeilage.«

»Für mich ist es ein Comic, altes Haus. War's immer, wird's immer sein.«

»Willkommen«, stimmte Stubbs seufzend an. »Willkommen im Spitzenmanagement.« Er nahm ein Vertragsformular zur Hand.

»Name: Westerby, Clive Gerald«, deklamierte er, als läse er ab, »Beruf: Aristokrat. Willkommen, Sohn von Old Sambo!« Er warf das Formular auf den Schreibtisch. »Sie übernehmen beide. Den Sunday und den Daily. Berichterstattung sieben Tage pro Woche, von Krieg bis Tittenschau. Kein Kündigungsschutz, keine Pension. Spesen auf der Schäbigstmöglichen Ebene, nur die Arbeitswindeln dürfen abgerechnet werden, nicht die ganze Wäsche. Sie bekommen eine Telegrammkarte, aber vor Benützung wird gewarnt. Story per Luftfracht schicken und Nummer des Frachtbriefs über Telex durchgeben, wir legen sie sofort bei Ankunft unter »nicht veröffentlicht« ab. Weitere Bezahlung nach Leistung. Auch BBC ist gnädigst geneigt, Tonbandinterviews von Ihnen zum üblichen Schandhonorar anzunehmen. Direktor sagt, es ist gut fürs Prestige, was immer das bedeutet. Und was die Zusammenarbeit mit einer Presseagentur angeht . . . «

»Halleluja«, sagte Jerry und atmete lange aus. Er schlenderte zum Schreibtisch, nahm den zerkauten Kugelschreiber, der noch feucht war von Stubbs' Zunge, und kritzelte ohne einen Blick auf den Besitzer des Stifts oder den Wortlaut des Vertrages zu werfen, seine Unterschrift in langsamem Zickzack und mit breitem Grinsen an den unteren Rand der letzten Seite. Im gleichen Augenblick trat, wie gerufen, um diesen heiligen Akt zu unterbrechen, ein Mädchen in Jeans höchst unzeremoniös die Tür mit dem Fuß auf und knallte einen frischen Packen Fahnenabzüge auf den Schreibtisch. Die Telefone klingelten - vielleicht hatten sie schon eine ganze Weile geklingelt -, das Mädchen entfernte sich lächerlich schwankend auf ihren riesigen Plateausohlen, ein unbekannter Kopf schob sich durch die Tür und schrie: »Der Alte sammelt zum Gebet, Stubbsi«, ein Sklave erschien, und wenig später wurde Jerry auf die Ochsentour geschickt: Verwaltung, Ausland, Chefredaktion, Kasse, Vermischtes, Sport, Reisen, die schauderhaften Frauenzeitschriften. Sein Führer war ein zwanzigjähriger vollbärtiger Abiturient, und Jerry nannte ihn während des ganzen Rituals »Cedric«. Auf der Straße blieb er eine Weile stehen, wippte leicht von der Ferse auf die Spitze und zurück, als wäre er angesäuselt oder angeschlagen. »Super«, brummte er, laut genug, daß ein paar Mädchen sich im Vorbeigehen umdrehten und ihn anglotzten. »Ausgezeichnet. Wunderbar. Einmalig. Perfekt.« Damit tauchte er in die nächste Kneipe, wo eine Rotte alter Hasen die Bar umlagerten, zumeist aus den Sparten Industrie und Politik, und Sprüche klopften, wie sie um ein Haar einen Aufmacher auf Seite fünf gekriegt hätten. »Westerby! Da kommt der Herr Graf persönlich! Da kommt der Anzug! Der gleiche Anzug! Und hol's der Kuckuck, Graf Westerby steckt drin!«

Jerry blieb, bis der Wirt »Sperrstunde« rief. Aber er trank sparsam, denn er wollte einen klaren Kopf behalten für seine Spaziergänge im Park mit George Smiley.

Jede geschlossene Gesellschaft hat ihre Innen- und ihre Außenseite, und Jerry war an der Außenseite. Um in jenen Tagen mit George Smiley einen Spaziergang im Park zu machen oder - nicht in der Fachsprache ausgedrückt - ein heimliches Treffen mit ihm abzuhalten; oder, wie Jerry selber wohl gesagt hätte, wenn er, Gott behüte!, jemals den bedeutenderen Umständen seines Daseins einen Namen gegeben hätte, »um einen Sprung in sein anderes, besseres Leben zu tun«, mußte er im Zickzackkurs von einem bestimmten Ausgangspunkt starten, gewöhnlich einer ziemlich unterbevölkerten Gegend wie dem unlängst stillgelegten Covent Garden, und, immer noch zu Fuß, an einem festgesetzten Ziel anlangen, kurz vor sechs, so daß inzwischen, wie er vermutete, das schüttere Team der Circus-Pflasterkünstler seinen Rücken begutachten und für sauber befinden konnte. Am ersten Abend war sein Ziel die Embankment-Seite der U-Bahn-Station Charing Cross, wie sie in jenem Jahr noch hieß, eine belebte, chaotische Stelle, wo der Verkehr ständig durch irgendeine Panne behindert zu sein scheint. Am letzten Abend war der Treff eine Doppelhaltestelle für Autobusse am südlichen Gehsteig von Piccadilly am Rand des Green Park. Im Ganzen waren es vier Termine, zwei in London und zwei in der Nursery. Die beiden in Sarratt waren operativer Natur - das obligatorische Nachschleifen in Verfahrenstechnik, dem sich jeder Außenagent von Zeit zu Zeit unterziehen muß -, und er hatte viel Gedächtnisarbeit leisten müssen, zum Beispiel sich Telefonnummern merken, Wort-Code und Kontaktverfahren; Klartext-Wendungen, die in normale Telex-Mitteilungen an das Comic eingebaut werden konnten, Ausweichtreffs und Notfallverhalten für gewisse hoffentlich entfernte Möglichkeiten. Wie viele Sportler hatte Jerry ein klares, müheloses Erinnerungsvermögen für Fakten, und als die Inquisitoren ihn testeten, waren sie zufrieden. Er wurde auch im Nahkampf aufgefrischt, mit dem Ergebnis, daß sein Rücken vom allzu häufigen Aufprall auf die abgewetzte Matte blutete. Die Sitzungen in London bestanden aus einer sehr kurzen Instruktion und einem sehr kurzen Lebewohl. Die Transporte kamen auf verschiedene Art zustande. Am Green Park trug er als Erkennungszeichen eine Tragetasche von Fortnum & Mason und brachte es trotz der immer länger werdenden Warteschlange an der Bushaltestelle durch beharrliches Grinsen und Wegrücken fertig, immer hübsch am Schwanzende zu bleiben. Als er sich am Embankment herumdrückte, hatte er eine ältere Nummer von Time in der Hand, zufällig mit den wohlgenährten Zügen des Vorsitzenden Mao auf der Titelseite, deren rote Beschriftung und Umrahmung auf weißem Feld im schrägen Sonnenlicht seltsam auffielen. Big Ben schlug sechs, und Jerry zählte die Glockenschläge, aber das Gesetz solcher Zusammenkünfte will, daß sie nicht zur vollen Stunde, auch nicht zur Viertelstunde stattfinden, sondern in den vageren Zeiträumen dazwischen, die als weniger verdächtig gelten. Sechs Uhr war die herbstliche Geisterstunde, wenn die Gerüche aller feuchten laubbestreuten Kricketplätze in ganz England mit den Dunstschwaden der Dämmerung flußauf treiben, und Jerry verbrachte die Zeit in einer angenehmen Halbtrance, atmete gedankenlos den Duft ein und hielt das linke Auge aus irgendeinem Grund fest geschlossen. Der Lieferwagen, der endlich herangerumpelt kam, war ein verbeulter grüner Bedford mit einer Leiter auf dem Dach und der Aufschrift »Harris Builder«, die zwar übermalt, aber an den Seiten noch immer lesbar war: ein altes abgehalftertes Observierungspferd mit Stahlklappen über den Fenstern. Als er den Wagen an die Bordkante fahren sah, lief Jerry hin, im gleichen Augenblick, als der Fahrer, ein mürrischer Junge mit Hasenscharte, den Stoppelkopf durch das offene Fenster schob. »Wo ist denn Wilf?« fragte der Junge unfreundlich. »Hat geheißen, Sie bringen Wilf mit.«

»Müssen mit mir vorlieb nehmen«, erwiderte Jerry launig. »Wilf ist auf Montage.« Und er öffnete die Hecktür, kletterte hinein und schlug sie wieder zu: denn der Beifahrersitz war absichtlich mit Sperrholzbrettern verstellt, so daß dort kein Platz für ihn war. Das war die einzige Unterhaltung, die sie jemals führten. In den alten Zeiten, als der Circus noch einen ungezwungenen Stil pflegte, hätte Jerry sich auf einen kleinen Schwatz gefreut. Aus damit. Wenn er nach Sarratt mußte, ging es in etwa genauso zu, nur daß sie fünfzehn Meilen weit dahinrumpelten und der Junge, falls Jerry Glück hatte, ein Kissen hineingeworfen hatte, damit Jerry nicht mit völlig gebrochenem Rückgrat ankomme. Die Fahrerkabine war vom Inneren des Lieferwagens, wo Jerry kauerte, hermetisch abgetrennt, und er konnte, während er auf der Holzbank hin- und herrutschte und sich an die Handgriffe klammerte, allenfalls durch die Ritzen an den Kanten der stählernen Fensterblenden schauen, was bestenfalls ein durchlöchertes Bild der Außenwelt vermittelte, aber Jerry war flink genug, um die Landmarken zu lesen.

Die Strecke nach Sarratt führte an deprimierenden Resten ehemaliger Fabriken vorüber, die schäbig getünchten Kinos aus den zwanziger Jahren glichen, und an einer Raststätte aus Ziegeln, auf der in roten Leuchtbuchstaben stand »Lieferant von Hochzeits-Büffets«. Aber am ersten und am letzten Abend, auf der Fahrt zum Circus fühlte er sich besonders erregt. Als am ersten Abend die sagenumwobenen Türmchen in Sicht kamen, empfand er wie immer - darauf konnte er sich verlassen - eine Art verworrener Frömmigkeit: »Ja, ja, so ist der Dienst am Vaterland.« Etwas Ziegelrotes, dann die schwärzlichen Stämme von Platanen, dann ein Gewirr bunter Lichter, dann flog eine Toreinfahrt an ihm vorbei, und der Lieferwagen hielt mit einem Ruck an. Die Türen wurden von außen aufgerissen, gleichzeitig hörte er die Torflügel zuschlagen und eine Feldwebelstimme brüllen: »Na los, Mann, Beeilung, Herrgottnochmal«, und das war Guillam, der sich einen Spaß leistete. »Hallo, Peter, mein Junge, was macht's Geschäft. Herrjeh, ist das kalt!«

Statt einer Antwort versetzte Guillam Jerry einen tüchtigen Klaps auf die Schulter, als schickte er ihn auf die Rennbahn, schloß die Tür fest, versperrte sie oben und unten, steckte die Schlüssel in die Tasche und führte ihn im Trab einen Korridor entlang, den die Frettchen im Zorn aufgerissen haben mußten. Verputz war in Klumpen weggehackt worden, die Armierung lag frei, Türen waren aus den Angeln gerissen, Schwellen und Pfosten hingen lose, Abdecktücher, Leitern und Abfall lagen überall. »Die Iren dagehabt, wie?« schrie Jerry. »Oder nur einen Ringelpietz?«

Seine Fragen gingen in dem Krach unter. Die beiden Männer stiegen rasch wie um die Wette hinauf, Guillam voran und Jerry ihm auf den Fersen, sie lachten atemlos, ihre Füße donnerten und scharrten auf den bloßen hölzernen Stufen. Eine Tür gebot ihnen Einhalt, und Jerry wartete, während Guillam sich mit den Schlössern abmühte. Dann wartete er auf der anderen Seite wiederum, während Guillam aufs neue abschloß. »Willkommen an Bord«, sagte Guillam jetzt ruhiger. Sie waren in der fünften Etage angelangt. Jetzt bewegten sie sich gemessener, nicht mehr ausgelassen, sondern wie Subalterne, die zur Ordnung gerufen wurden. Der Korridor machte eine Biegung nach links, dann wieder nach rechts, dann ging es ein paar enge Stufen hinauf. Ein halbblinder Spiegel, wieder Stufen, zwei hinauf, drei hinunter, bis sie zu einem Portierspult kamen, das unbesetzt war. Zu ihrer Linken lag die Rumpelkammer, leer, die Clubsessel waren in einem unvollkommenen Kreis aufgestellt, und im Kamin brannte ein ordentliches Feuer. Von dort führte der Weg durch einen langgestreckten teppichbelegten Raum, beschriftet »Sekretariat«, in Wahrheit jedoch das Vorzimmer, wo drei Mütter in Twinsets und Perlen beim Schein von Leselampen ruhig tippten. Am Ende dieses Raums eine weitere Tür, geschlossen, unlackiert und rings um die Klinke sehr schmierig. Kein Türschoner, keine Schloßblende. Nur die Schraubenlöcher, stellte er fest, und der Ring, in dem früher eine gewesen war. Guillam stieß die Tür auf ohne anzuklopfen, steckte den Kopf durch den Spalt und sagte etwas leise hinein. Dann trat er beiseite und ließ Jerry rasch ein: Jerry Westerby meldet sich zur Stelle. »Super, George, hallo.«

»Und fragen Sie ihn nicht nach seiner Frau«, warnte Guillam ihn mit hastigem leisen Raunen, das noch eine gute Weile in Jerrys Ohr nachsummte.

Vater und Sohn? Diese Art von Beziehung? Kraft zu Klugheit?

Genauer würde vielleicht sein: Sohn zu Adoptivvater, was im Metier als das stärkste aller Bande gilt.

»Altes Haus«, brabbelte Jerry und lachte heiser.

Englische Freunde haben keine eigentliche Begrüßungsformel, und schon gar nicht in einer trübseligen Amtsstube mit nichts Gemütlicherem darin als einem Schreibtisch aus grobem Holz.

Den Bruchteil einer Sekunde lang legte Jerry seine Pranke in Smileys weiche, zögernde Handfläche, dann tappte er in einigem Abstand hinter ihm zum offenen Kamin, wo zwei Armsessel ihrer harrten: altes, rissiges Leder und durchgesessen. Wieder einmal brannte in dieser unberechenbaren Jahreszeit ein Feuer auf dem viktorianischen Rost, aber es war sehr klein im Vergleich zu dem Feuer in der Rumpelkammer.

»Und wie war's in Lucca?« erkundigte sich Smiley und füllte zwei Gläser aus einer Karaffe.

»Lucca war prima«, erwiderte Jerry.

»O je. Dann dürfte der Abschied schwergefallen sein.«

»Ach Gott, nein. Super. Cheers.«

»Cheers.«

Sie setzten sich.

»Warum dann super, Jerry?« fragte Smiley, als sei super für ihn ein Fremdwort. Auf dem Schreibtisch lagen keine Papiere, und das ganze Zimmer war kahl, glich eher einem unbenutzten Raum als seinem Büro.

»Ich dachte, mit mir wär's aus!« erklärte Jerry. »Endgültig beim alten Eisen. Telegramm hat mir glatt die Puste verschlagen. Dachte, na ja, Bill hat mich himmelhochgehenlassen. Hat er schließlich jeden, also warum nicht auch mich?«

»Ja«, pflichtete Smiley ihm bei, als teilte er Jerrys Zweifel, und linste ihn eine Weile unverhüllt prüfend an. »Ja, ja, stimmt. Aber per saldo scheint es, daß er die Gelegentlichen nie völlig hochgehen lassen konnte. Wir haben seine Spuren so ziemlich in jedem anderen Winkel des Archivs entdeckt, aber die Gelegentlichen waren unter den Reservisten in der Sparte >Freundschaftliche Kontakte< abgelegt, in einem völlig getrennten Archiv, einem, zu dem er nicht ohne weiteres Zugriff hatte. Nicht etwa, daß er Sie für nicht wichtig genug gehalten hätte« - fügte er hastig hinzu -, »nur hatten andere Erfordernisse eben Vorrang für ihn.«

»Werd's verwinden«, sagte Jerry und grinste. »Freut mich«, sagte Smiley, dem die Ironie entgangen war. Er stand auf, füllte die Gläser von neuem, trat dann zum Kamin, nahm einen Schürhaken aus Messing und begann, nachdenklich in den Kohlen zu stochern. »Lucca. Ja. Ann und ich waren einmal dort. Oh, es muß schon elf oder zwölf Jahre her sein. Es hatte geregnet.« Er lachte leise. In einem engen Alkoven am Ende des Raums konnte Jerry ein schmales knochenhart wirkendes Feldbett sehen und am Kopfende eine Reihe von Telefonen. »Ich weiß noch, daß wir das bagno besichtigten. Es war damals die Modekur. Gott allein weiß, was wir kurierten.« Wieder attackierte er das Feuer, und diesmal schossen die Flammen hoch auf, überzogen die rundlichen Konturen seines Gesichts mit orangeroten Streifen und machten goldene Pfützen aus den dicken Brillengläsern. »Wußten Sie, daß der Dichter Heine dort ein großes Abenteuer erlebte? Eine Romanze? Ich glaube fast, das war überhaupt der Grund, warum wir hinreisten, ja, so war's wohl. Wir glaubten, es würde vielleicht abfärben.«

Jerry grunzte irgend etwas, er wußte im Moment nicht so ganz genau, wer Heine war.

»Er besuchte das bagno, gebrauchte die Kur und begegnete bei dieser Gelegenheit einer Dame, deren Name allein ihn so beeindruckte, daß er später auch seine Frau so nannte.« Smiley beschäftigte sich immer noch mit dem Feuer. »Und Sie hatten dort auch ein Abenteuer, nicht wahr?«

»Zufallsbekanntschaft. Nichts Weltbewegendes.« Beth Sanders, dachte Jerry automatisch, als seine Welt einen Stoß erhielt und dann wieder ins Lot kam. Beth war dafür wie geschaffen. Vater pensionierter General, High Sheriff der Grafschaft. Die liebe Beth mußte in jeder geheimen Dienststelle in Whitehall eine Tante sitzen haben.

Smiley bückte sich abermals, stellte den Schürhaken in eine Ecke, so behutsam, als legte er einen Kranz nieder. »Wir sind nicht grundsätzlich gegen Gefühle. Wir wissen nur gern, wo sie liegen.« Jerry sagte nichts. Smiley warf über die Schulter hinweg Jerry einen Blick zu, und Jerry rang sich ihm zuliebe ein Grinsen ab. »Der Name von Heines Herzensdame war, wie ich hier vielleicht einflechten darf, Mathilde«, fuhr Smiley fort, und aus Jerrys Grinsen wurde linkisches Lachen. »Nun ja, ich gestehe, auf deutsch klingt es besser. Und der Roman, wie wird's ihm ergehen? Es wäre mir unangenehm, wenn wir Ihre Muse verscheucht hätten. Ja, das könnte ich mir wohl nie verzeihen.«

»Kein Problem«, sagte Jerry.

»Beendet?«

»Nun ja, Sie wissen ja.«

Eine Weile war kein anderes Geräusch zu hören als das Tippen der Mütter und das Brausen des Verkehrs drunten auf der Straße. »Wir werden Sie entschädigen, wenn diese Sache vorbei ist«, sagte Smiley. »Doch, doch. Wie ist es bei Stubbs gelaufen?«

»Kein Problem«, sagte Jerry wieder.

»Nichts mehr, was wir für Sie tun können, um Ihnen die Wege zu ebnen?«

»Glaube nicht.«

Von draußen, vom Vorzimmer, hörte man ein Gewirr von Schritten, die alle in eine Richtung strebten. Es ist ein Kriegsrat, dachte Jerry, die Clans sammeln sich.

»Und Sie sind entschlossen und so weiter?« fragte Smiley. »Sie sind, ähem, bereit? Willens?«

»Kein Problem.« Warum kann ich nicht etwas anderes sagen? fragte er sich. Verdammte Grammophonnadel ist steckengeblieben.

»Eine Menge Leute sind das heutzutage nicht, ich meine willens. Besonders in England. Eine Menge Leute betrachten den Zweifel als legitime philosophische Haltung. Sie glauben sich in der Mitte, während sie natürlich nirgendwo sind. Keine Schlacht ist je von den Zuschauern gewonnen worden, nicht wahr? Wir in dieser Dienststelle wissen das. Wir haben Glück. Unser gegenwärtiger Krieg begann neunzehnhundertsiebzehn mit der bolschewistischen Revolution. Er hat sich bis heute nicht geändert.« Smiley hatte einen neuen Standort bezogen, auf der anderen Seite des Raums, nicht weit vom Bett entfernt. Hinter ihm glänzte eine unscharfe Fotografie im Licht des auflodernden Feuers. Jerry hatte sie beim Hereinkommen gesehen. Jetzt, in der augenblicklichen Hochspannung, fühlte er sich doppelt gemustert: von Smiley und von den verschwommenen Augen des Porträts, die hinter dem Glas im Flammenschein tanzten. Die vorbereitenden Geräusche vervielfachten sich. Sie hörten Stimmen und kurzes Auflachen und das Knarzen von Stühlen.

»Ich las einmal«, sagte Smiley, »bei einem Historiker, wenn ich mich recht erinnere - auf jeden Fall einem Amerikaner -, eine Stelle über Generationen, die in Schuldgefängnissen zur Welt kommen und sich ihr ganzes Leben lang mühen, sich den Weg in die Freiheit zu erkaufen. Ich glaube, unsere Generation gehört dazu. Glauben Sie nicht? Ich habe noch immer das entschiedene Gefühl, in Schuld zu sein. Sie nicht? Ich war diesem Amt immer dankbar, daß es mir Gelegenheit gibt, abzuzahlen. Haben Sie dieses Gefühl auch? Ich glaube nicht, daß wir uns davor fürchten sollten, uns aufzuopfern. Ist das altmodisch von mir?« Jerrys Miene erstarrte. Er vergaß diese Seite Smileys immer wieder, wenn er weit weg war, und entsann sich ihrer zu spät, wenn sie zusammen kamen. Es war etwas von einem Priester an Old George verlorengegangen, und je älter er wurde, desto deutlicher kam es zum Vorschein. Er schien anzunehmen, daß die ganze verflixte westliche Welt seine Besorgnisse teilte und zur rechten Denkungsart überredet werden müßte. »In diesem Sinne glaube ich, daß wir uns zu Recht beglückwünschen dürfen, ein bißchen altmodisch zu sein.« Jerry reichte es. »Altes Haus«, wies er ihn mit unbeholfenem Lachen zurecht, und die Röte stieg ihm ins Gesicht. »Um Himmels willen. Sie deuten in die Richtung, und ich zieh los. Okay? Sie sind die Eule, nicht ich. Sie geben mir die Schläge an, ich führe sie aus. Die Welt ist randvoll mit zimperlichen Intellektuellen, die fünfzehn verschiedene Gründe dafür anführen, ob sie sich die Nase putzen sollen oder nicht. Die haben mich nicht nötig. Okay? Ich meine, Herrjeh.«

Ein scharfes Klopfen an der Tür verkündete das Wiedererscheinen Peter Guillams.

»Friedenspfeifen alle angezündet, Chef.« Zu seiner Überraschung glaubte Jerry über alle Geräusche dieser Unterbrechung hinweg den Ausdruck »Damenfreund« gehört zu haben, aber ob er sich auf ihn oder auf den Dichter Heine bezog, konnte er nicht sagen, und es war ihm auch ziemlich egal. Smiley zögerte, runzelte die Stirn und schien erst dann seine Umgebung wieder wahrzunehmen. Er blickte Guillam an, dann nochmals Jerry, dann richteten sich seine Augen auf jene mittlere Distanz, die das Privatgehege englischer Akademiker zu sein scheint. »Also, ja, dann wollen wir anfangen, die Uhr aufzuziehen«, sagte er, und es klang wie von weither.

Als sie hinausmarschierten, blieb Jerry vor dem Foto an der Wand stehen, die Hände in den Taschen, grinste es bewundernd an und hoffte, Guillam möge ebenfalls zurückbleiben, was er auch tat.

»Sieht aus, als hätte er seinen letzten Nickel verschluckt«, sagte Jerry. »Wer ist das?«

»Karla«, sagte Guillam. »Hat Bill Haydon angeworben. Russischer Spion.«

»Klingt mehr wie ein Mädchenname. Wie geht's immer?«

»Ist der Codename seines ersten Netzes. Eine andere Lesart will wissen, daß es auch der Name seiner einzigen Liebe ist.«

»Hoch soll er leben«, sagte Jerry gleichgültig und schlenderte neben Guillam noch immer grinsend in Richtung Rumpelkammer. Smiley war, vielleicht absichtlich, vorausgegangen, außer Hörweite ihrer Unterhaltung. »Immer noch mit der Verrückten zusammen, dieser Flötenspielerin, wie?« fragte Jerry. »Sie ist inzwischen weniger verrückt«, sagte Guillam. Sie machten noch ein paar Schritte.

»Ausgerückt?« erkundigte Jerry sich mitfühlend. »So ähnlich.«

»Und bei ihm ist alles in Ordnung, oder?« fragte Jerry ungemein beiläufig und wies mit dem Kopf nach der einsamen Gestalt vor ihnen. »Ißt ordentlich, zieht sich warm an und so weiter?«

»Besser denn je. Warum?«

»Nur so gefragt«, sagte Jerry sehr erleichtert.

Vom Flugplatz aus rief Jerry seine Tochter Cat an, was er selten tat, aber diesmal mußte es sein. Noch ehe er das Geld einwarf, wußte er, daß es ein Fehler war, aber er machte weiter und nicht einmal die schrecklich vertraute Stimme der verflossenen Ehefrau konnte ihn abbringen.

»Hallo! Ja, ich bin's. Super. Hör zu: wie geht's Phillie?« Phillie war ihr jetziger Mann, Beamter, schon fast pensionsreif und doch um etwa dreißig bewegte Leben jünger als Jerry. »Ausgezeichnet, danke«, erwiderte sie in dem frostigen Tonfall, in dem einstige Ehefrauen neue Ehemänner verteidigen. »Ist das der Grund deines Anrufs?«

»Ach, ich hab' nur gedacht, ich könnte vielleicht ein bißchen mit Cat schwatzen. Geh 'ne Weile nach Fernost, wieder ins Geschirr«, sagte er. Er glaubte sich rechtfertigen zu müssen. »Das Comic braucht, da drüben einen Lohnschreiber«, sagte er und hörte wie der Hörer klappernd auf die Kommode in der Diele fiel. Eiche, erinnerte er sich. Barleytwist-Beine. Auch eine von Old Sambos Hinterlassenschaften.

»Daddy?«

»Hei!« schrie er, als wäre die Verbindung schlecht, als hätte sie ihn furchtbar überrascht. »Cat? Hallo, hey, hör zu, altes Haus, hast du meine Briefe und so gekriegt?« Er wußte es, sie hatte sich regelmäßig in ihren wöchentlichen Briefen an ihn bedankt. Als er nur wiederum »Daddy«, diesmal mit fragendem Tonfall hörte, fragte Jerry jovial: »Du sammelst doch noch immer Briefmarken, wie? Nur weil ich wieder rüberfahre, weißt du. Wo ich schon öfter war Fernost.«

Flüge wurden aufgerufen, Landungen gemeldet, ganze Welten tauschten die Plätze, aber Jerry Westerby, der mit seiner Tochter sprach, blieb regungslos inmitten der Bewegung.

»Du warst doch immer so scharf auf Briefmarken«, erinnerte er sie.

»Ich bin siebzehn.«

»Klar, klar, und was sammelst du jetzt? Sag nichts. Jungens!« In strahlendster Laune führte er das Gespräch fort, während er von einem Wildlederstiefel auf den anderen tanzte, seine Scherze ganz allein machte und ganz allein darüber lachte. »Paß auf, ich schicke dir Geld, Blatt and Rodney erledigen das, für Geburtstag und Weihnachten zusammen, frag lieber Mammy, ehe du's ausgibst. Oder vielleicht Phillie, wie? Ist ein vernünftiger Bursche, was? Schick Phillie los, für sowas ist er zu haben.« Er öffnete die Tür der Telefonzelle, um künstlichen Trubel zu erzeugen. »Glaube, sie rufen schon meinen Flug aus, Cat«, bellte er über das Stimmengewirr hinweg. »Also, benimm dich, hörst du? Paß auf dich auf. Mach's ihnen nicht zu leicht. Verstehst du, was ich meine?« Eine Weile stand er Schlange an der Bar, aber im letzten Moment erwachte der alte Fernostmann in ihm, und er ging hinüber zur Cafeteria. Es konnte eine Weile dauern, ehe er das nächste Glas frischer Kuhmilch bekommen würde. Während des Anstehens hatte Jerry das Gefühl, beobachtet zu werden. War nichts Besonderes: in einer Flughalle beobachtet jeder jeden, also was soll's? Er dachte an die Waise und wünschte, er hätte Zeit gehabt, sich ein Mädchen zu suchen, ehe er weg mußte, und wäre es nur, um die unerfreuliche Erinnerung an die notwendige Trennung loszuwerden.

Smiley ging dahin, ein rundlicher kleiner Mann im Regenmantel. Gesellschaftsjournalisten, qualifizierter als Jerry, die seinen Wandel durch die Umgebung von Charing Cross kennerisch verfolgt hätten, würden den Typus sofort erkannt haben: Provinzonkel, wie er im Buch steht, leichte Beute der gemischten Massagesalons und der Sex-Shops. Diese langen Märsche waren ihm zur Gewohnheit geworden. Mit seiner wiedergefundenen Energie konnte er halb London durchqueren, ohne es zu bemerken. Vom Cambridge Circus konnte er, jetzt, da er alle Schleichwege kannte, zwanzig verschiedene Routen wählen, ohne zweimal die gleiche Straße zu überqueren. Nachdem er einen Start gewählt hatte, ließ er sich von Glück und Instinkt leiten, während die andere Hälfte seines Geistes entlegenere Gegenden seiner Seele plünderte. Aber an diesem Abend zog es ihn in eine bestimmte Richtung, nach Süden und Westen, und Smiley gab dem Drängen nach. Die Luft war feucht und kalt, voll rauhen Nebels, der nie die Sonne gesehen hatte. Im Dahinwandern trug er seine eigene Insel mit sich, und sie war dicht bevölkert von Bildern, nicht von Menschen. Wie ein zweiter Mantel hüllten die weißen Mauern ihn in seine Gedanken ein. In einer Türnische flüsterten zwei Mörder in Lederkluft; unter einer Straßenlaterne hielt ein dunkelhaariger Junge zornig einen Geigenkasten umklammert. Vor einem Theater brannte eine wartende Menge in den Flammen der bunten Lichter über dem Vordach, und der Nebel wirbelte um sie wie Feuerrauch. Nie war Smiley mit so geringem Wissen und so vielen Erwartungen in den Kampf gezogen. Er fühlte sich verlockt und verfolgt. Doch wenn er müde wurde und den Schritt verhielt und über die Logik seines Vorhabens nachdachte, fand er sich kaum zurecht. Er blickte zurück und sah den Rachen des Scheiterns auf sich warten. Er spähte nach vorn, und sah durch die beschlagene Brille die Schemen großer Hoffnungen im Nebel tanzen. Er blinzelte um sich und wußte, daß es hier, wo er stand, nichts für ihn zu sehen gab. Noch schritt er ohne letzte Überzeugung vorwärts. Es führte zu nichts, die Schritte zu wiederholen, die ihn bis hierher geführt hatten - die russische Goldader, die Fußstapfen von Karlas Privatarmee, die Gründlichkeit von Haydons Bemühungen, jede Kenntnis von deren Vorhandensein zu tilgen. Jenseits der Grenzen solcher äußerlichen Gründe entdeckte Smiley in sich selbst das Vorhandensein eines dunkleren, unendlich geheimnisvolleren Motivs, eines Motivs, das seine ratio beharrlich verwarf. Er nannte es Karla. Und es stimmte, daß irgendwo in ihm wie eine uralte Sage die Glut eines Hasses auf jenen Mann brannte, der ausgezogen war, die Tempel seines innersten Glaubens zu zerstören, was immer von ihnen übriggeblieben sein mochte: den Circus, den er liebte, seine Freunde, sein Land, seine Auffassung von einem vernünftigen Gleichgewicht menschlicher Beziehungen. Es stimmte auch, daß die beiden Männer einander vor einem Lebensalter oder vor zweien in einem glutheißen indischen Gefängnis Auge in Auge gegenübersaßen, Smiley und Karla, jeder auf einer Seite eines eisernen Tisches: obgleich Smiley damals keinen Grund zu der Annahme hatte, daß er seinem Schicksal gegenübersaß. Karlas Kopf lag in Moskau schon auf dem Block, Smiley hatte versucht, ihn in den Westen zu locken, und Karla hatte geschwiegen und den Tod oder Schlimmeres dem bequemen Überlaufen vorgezogen. Und es stimmte, daß dann und wann die Erinnerung an diese Begegnung, an Karlas unrasiertes Gesicht und den wachsamen, nach innen gerichteten Blick aus dem Dämmerlicht seines kleinen Zimmers wie ein anklagendes Gespenst auf ihn zukam, während er unruhig auf seinem Feldbett schlief.

Doch Haß war kein Gefühl, das er beliebig lange nähren konnte, es sei denn, er wäre die andere Seite der Liebe. Er näherte sich der King's Road in Chelsea. Der Nebel war hier in der Nähe des Flusses noch dichter. Über ihm hingen die Kugeln der Straßenlaternen wie chinesische Lampions in den kahlen Ästen der Bäume. Der Verkehr war spärlich und zögernd. Smiley überquerte die Fahrbahn und folgte dem Gehsteig, bis er zur Bywater Street kam, in die er einbog: eine Sackgasse mit sauberen, flachbrüstigen Reihenhäusern. Jetzt trat er behutsamer auf, hielt sich auf der Westseite und im Schatten der geparkten Autos. Es war die Cocktailstunde, und hinter Fenstern erkannte er sprechende Köpfe und auf und zu klappende Münder. Einige kannte er, für einige hatte sie sogar Namen: Felix die Katze, Lady Macbeth, Der Ausrufer. Er war auf der Höhe seines eigenen Hauses angekommen. Zur Feier ihrer Rückkehr hatte sie die Läden des Hauses blau lackieren lassen, und blau waren sie noch immer. Die Vorhänge waren offen, denn sie haßten es, eingeschlossen zu sein. Sie saß allein an ihrem Sekretär, und sie hätte das Bild eigens für ihn gestellt haben können: die schöne und gewissenhafte Ehefrau beschließt ihren Tag, widmet sich verwalterischen Aufgaben. Sie hörte Musik, und er fing das Echo auf, das der Nebel herübertrug. Sibelius. Er verstand nicht viel von Musik, aber er kannte alle ihre Schallplatten und hatte sich mehrmals aus Höflichkeit lobend über Sibelius geäußert. Er konnte den Plattenspieler nicht sehen, aber er wußte, daß er auf dem Boden stand, wo er auch für Bill Haydon gestanden hatte, als ihre Affäre mit Bill Haydon im Gang war. Er überlegte, ob wohl das deutsche Wörterbuch danebenlag und ihre Anthologie deutscher Dichtung. Sie hatte mehrmals in den letzten zehn oder zwanzig Jahren, meist in den Perioden ihrer Versöhnung, demonstrativ Deutsch gelernt, damit Smiley ihr vorlesen könne.

Während er sie beobachtete, stand sie auf, durchquerte das Zimmer, blieb vor dem hübschen vergoldeten Spiegel stehen und richtete ihr Haar. Die Merkzettel, die sie sich zum eigenen Gebrauch schrieb, steckten im Rahmen. Was mochte es diesmal sein? dachte er. Garage sprengen. Lunch Madeleine absagen. Fleischer kleinhacken. Manchmal, wenn es Spitz auf Knopf stand, hatte sie ihm auf diesem Wege Botschaften zukommen lassen: George zum Lächeln bringen, unaufrichtiges Bedauern wegen faux pas aussprechen. In schlimmen Zeiten schrieb sie ihm ganze Briefe und deponierte sie hier für ihn.

Zu seiner Überraschung löschte sie das Licht. Dann hörte er die Riegel an der Haustür vorgleiten. Kette einhaken, dachte er automatisch. Banharn-Schloß, zwei Umdrehungen. Wie oft muß ich dir noch sagen, jeder Riegel ist so schwach wie die Schrauben, die ihn halten? Trotzdem sonderbar: irgendwie hatte er angenommen, sie würde die Riegel offenlassen, falls er zurückkäme. Dann ging das Licht im Schlafzimmer an, und er sah ihre Gestalt wie einen Scherenschnitt im Fensterrahmen, als sie engelsgleich die Arme nach den Vorhängen ausstreckte. Sie zog sie fast zu, hielt inne, und einen Augenblick fürchtete er, sie habe ihn gesehen, bis ihm ihre Kurzsichtigkeit und ihre Abneigung gegen eine Brille einfielen. Sie geht aus, dachte er. Sie macht sich schön. Er sah, wie sie halb den Kopf wandte, als hätte jemand sie angesprochen. Er sah, wie ihre Lippen sich bewegten und zu einem koboldhaften Lächeln schürzten, als ihre Arme sich wiederum hoben, diesmal zu ihrem Nacken, und sie den obersten Knopf ihres Hauskleids zu öffnen begann. Im gleichen Moment wurde der Spalt zwischen den beiden Vorhängen mit einem Ruck von anderen, ungeduldigen Händen geschlossen.

O nein, dachte Smiley verzweifelt. Bitte! Wartet, bis ich weg bin. Eine Minute lang, vielleicht länger stand er auf dem Gehsteig und starrte ungläubig auf das dunkel gewordene Fenster, bis ihn Zorn, Scham und schließlich Ekel vor sich selbst wie körperliche Qualen überfielen und er blindlings zurück zur King's Road hastete. Wer war es diesmal? Wieder ein bartloser Ballettänzer, der ein narzißtisches Ritual vollzog? Ihr gräßlicher Cousin Miles, der Karrierepolitiker? Oder ein Adonis für eine Nacht, den sie in der nächstbesten Kneipe aufgegabelt hatte?

Als das Außentelefon klingelte, saß Peter Guillam allein in der Rumpelkammer, leicht angesäuselt und sehnte sich nach Molly Meakins Körper und nach George Smileys Rückkehr. Er nahm den Hörer sofort ab und hörte Fawn außer Atem und voll Zorn: »Ich hab' ihn verloren!« schrie er. »Er hat mich abgehängt!«

»Dann sind Sie ein verdammter Idiot!« erwiderte Guillam voll Genugtuung.

»Von wegen Idiot! Er steuert Richtung Heimat, ja? Unser übliches Ritual. Ich warte auf ihn, ich halt mich im Hintergrund, er kommt zurück auf die Hauptstraße, schaut mich an. Als wär ich Dreck. Bloß Dreck. Im nächsten Moment bin ich allein auf weiter Flur. Wie macht er das? Wohin geht er? Ich bin sein Freund, oder? Für wen zum Teufel hält er sich? Fette kleine Mißgeburt. Ich bring ihn um!«

Guillam lachte noch immer, als er auflegte.

Frost muß brennen


In Hongkong war wiederum Sonnabend, aber die Taifune waren vergessen, und der Tag brannte heiß und klar und atemlos. Im Hongkong Club verkündete eine unbeirrbar christliche Uhr die elfte Morgenstunde, und die Schläge klirrten in der getäfelten Stille wie Löffel, die auf einen weit entfernten Küchenboden fallen. Die besseren Sessel waren bereits mit Lesern des Telegraph vom vergangenen Donnerstag besetzt, der ein recht deprimierendes Bild der moralischen und wirtschaftlichen Misere ihres Heimatlands malte.

»Pfund ist wieder im Keller«, grollte eine grämliche Stimme hinter der Pfeife hervor. »Metallarbeiter im Ausstand. Eisenbahner im Ausstand. Piloten im Ausstand.«

»Wer ist noch im Einstand? Wäre die bessere Frage«, sagte eine andere Stimme ebenso grämlich.

»Wenn ich der Kreml wäre, würde ich sagen, wir leisteten einen erstklassigen Job«, sagte der erste Sprecher und bellte das letzte Wort, um ihm einen Ton militärischer Entrüstung zu verleihen, dann bestellte er seufzend ein paar trockene Martinis. Keiner der Männer war über fünfundzwanzig, aber Exilpatrioten auf der Suche nach schnellem Profit können sehr rasch altern. Der Auslandskorrespondenten-Club hatte einen seiner frommen Tage: die Zahl der braven Bürger überwog die der Journalisten bei weitem. Seit der alte Craw sie nicht mehr zusammenhielt, hatten die Shanghai Bowlers sich verlaufen, und einige waren überhaupt aus der Kolonie verschwunden. Die Fotografen hatte es nach Phnom Penh gezogen, wo man sich nun, da die Regenzeit vorüber war, neuerliche heftige Kämpfe versprach. Der Cowboy war in Bangkok, in Erwartung neuer Studentenunruhen, Luke saß im Büro, und sein Boß, der Zwerg, hing verdrossen an der Bar, umgeben von volltönenden britischen Vorstädtern in dunklen Hosen und weißen Hemden, die sich über die Vorzüge und Nachteile der Kupplung des Elfhunderters unterhielten. »Aber kalt diesmal. Verstanden? Sehl kalt, und luck zuck!« Sogar der Rocker war zahm. Er war in Begleitung seiner Ehefrau, einer ehemaligen Bibelschullehrerin aus Borneo, einer vertrockneten Xanthippe mit Bubikopf und Söckchen, die eine Sünde schon riechen konnte, noch ehe sie begangen war. Und ein paar Meilen weiter östlich, in der Cloudview Road, eine Dreißig-Cent-Fahrt mit dem Einheitspreis-Stadtbus entfernt, in der angeblich volkreichsten Ecke unseres Planeten, am North Point, dort, wo die Stadt zum Peak ansteigt, im sechzehnten Stock eines Hochhausblocks genannt 7A, lag Jerry Westerby nach einem kurzen, aber traumlosen Schlaf auf einer Matratze, sang seinen eigenen Text zur Melodie von »Miami Sunrise« und sah einem schönen Mädchen beim Auskleiden zu. Die Matratze war über zwei Meter lang und dafür gedacht, in der Querrichtung einer ganzen chinesischen Familie als Lager zu dienen, und so ungefähr zum erstenmal in Jerrys Leben hingen seine Füße nicht über den unteren Rand. Die Matratze war um eine Meile länger als Pets Gästebett, länger sogar als das Bett in der Toskana, obwohl es in der Toskana keine Rolle spielte, denn dort hatte er ein wirkliches Mädchen zum Entlangkringeln, und mit einem Mädchen liegt man ohnehin nicht so gerade. Wohingegen das Mädchen, dem er zusah, hinter einem Fenster stand, dem seinigen gegenüber, zehn Meter oder Meilen außerhalb seiner Reichweite; und an jedem der neun Tage, an denen er hier erwacht war, hatte sie sich dort entkleidet und gewaschen, was ihn zu beträchtlicher Begeisterung hinriß, sogar zu Applaus. Wenn er Glück hatte, konnte er die ganze Zeremonie verfolgen, von dem Augenblick an, da sie den Kopf zur Seite legte, um das schwarze Haar lose bis zur Taille fallen zu lassen, bis zum Finale, wenn sie sich keusch in ein Laken wickelte und zurück zu ihrer zehnköpfigen Familie in den angrenzenden Raum ging, wo sie alle lebten. Er kannte die Familie aufs Innigste; ihre Waschgewohnheiten, ihren Geschmack in puncto Musik, Küche und Liebe, ihre Feiern und ihre jäh aufflammenden gefährlichen Zwistigkeiten. Nur über eines war er sich nicht klar: ob sie ein Mädchen war oder zwei. Sie verschwand, aber er sang weiter. Er verspürte Ungeduld, so fing es bei ihm jedesmal an, ob er eine finstere Hintergasse in Prag entlangschlich, um mit einem angstbibbernden Burschen kleine Päckchen zu tauschen oder - Höhepunkt seines Daseins und für einen »Gelegentlichen« etwas nie Dagewesenes - drei Meilen in einem kleinen schwarzbemalten Boot ruderte, um an einer Uferstelle des Kaspischen Meers einen Funker abzuholen. Als der kritische Moment nahte, entdeckte Jerry die gleiche überraschende Selbstbeherrschung, die gleiche Fröhlichkeit und die gleiche Wachheit. Und den gleichen Bammel, was nicht unbedingt ein Widerspruch ist. Heute ist es soweit, dachte er. Heute wird's ernst. Es waren drei winzige Räume, und in allen dreien lag Parkett. Das stellte er allmorgendlich als erstes fest, denn es gab keinerlei Mobiliar, ausgenommen die Matratze und den Küchenstuhl und den Tisch mit seiner Schreibmaschine, dem einzigen Teller, der als Aschenbecher diente, und dem Häschen-Kalender Jahrgang 1960 mit einem Rotschopf darauf, dessen Reize inzwischen längst ihre Blüte hinter sich hatten. Er kannte den Typus genau: grüne Augen, heißes Blut und eine Haut, die so empfindlich war, daß sie wie ein Schlachtfeld aussah, wenn man nur einen Finger darauflegte. Ferner ein Telefon, einen uralten Plattenspieler nur für Achtundsiebziger und zwei richtiggehende Opiumpfeifen, die an höchst nüchternen Nägeln von der Wand baumelten: dies war das komplette Inventar der Besitztümer und Interessen von Deathwish dem Hunnen, zur Zeit in Kambodscha, von dem Jerry die Wohnung gemietet hatte. Und dann war der Büchersack, sein eigener, neben der Matratze.

Der Plattenspieler war abgelaufen. Jerry rappelte sich vergnügt auf die Füße und schlang den improvisierten Sarong um den Magen. In diesem Augenblick klingelte das Telefon, also setzte er sich wieder, grabschte nach der Telefonschnur und zog den Apparat über den Fußboden zu sich heran. Es war wieder Luke, der wie gewöhnlich ein Spielchen machen wollte. »Tut mir leid, altes Haus. Bin an einer Story. Versuch's mit Solo-Whist.«

Jerry wählte die Zeitansage, hörte ein chinesisches Quäken, dann ein englisches Quäken und richtete seine Armbanduhr auf die Sekunde genau. Dann ging er zum Plattenspieler und ließ wiederum »Miami Sunrise« laufen, so laut es ging. Es war seine einzige Platte, aber sie übertönte das Gegurgel der nutzlosen Klimaanlage. Vor sich hinsummend, öffnete er den einzigen Schrank und nahm aus einer alten ledernen Reisetasche das vergilbte Tennisrackett seines Vaters, Jahrgang neunzehnhundertdreißig, die Initialen S. W. mit Wäschetinte am Griff aufgemalt. Er schraubte den Schaft ab und fischte aus dem Hohlraum vier Kapseln Mikrofilm, einen grauen Wattewurm und eine verbeulte Mikrokamera mit Meßkette; sein konservatives Ich zog dieses Modell den Spitzenprodukten vor, die ihm die Sarratt-Kanonen hatten aufdrängen wollen. Er legte eine Kassette in die Kamera ein, regulierte die Laufgeschwindigkeit und machte drei Belichtungsproben vom Busen der Rothaarigen, ehe er in seinen Sandalen in die Küche schlappte, wo er sich wie ein Beter vor dem Kühlschrank auf die Knie niederließ und die Free Foresters' Krawatte lockerte, mit der die Tür festgebunden war. Er fuhr mit dem rechten Daumennagel an den brüchigen Gummistreifen entlang, was ein scheußlich reißendes Geräusch verursachte, nahm drei Eier heraus und band die Krawatte wieder fest. Während er wartete, bis die Eier kochten, lehnte er sich ins Fenster, stützte die Ellbogen auf und linste wohlgefällig durch das Schutzgitter auf seine geliebten Hausdächer, die wie Riesenstufen zum Meer abfielen.

Die Dachaltane waren eine Zivilisation für sich, ein atemraubendes Schauspiel des Überlebens vor dem wütenden Anbranden der Stadt. In ihrem Stacheldrahtgehege wurden unter unmenschlichen Bedingungen Anoraks angefertigt, Gottesdienste abgehalten, Mahjong gespielt, und Wahrsager verbrannten Räucherkerzen und konsultierten riesige braune Bücher. Gerade vor ihm lag ein regelrechter Garten, aus geschmuggelter Erde angelegt. Darunter mästeten drei alte Frauen Chowchow-Hündchen für den Kochtopf. Es gab Tanzschulen, Leseschulen, Ballettschulen, Kampf- und Sportschulen, Schulen, in denen Bildung und die Wunder Maos gelehrt wurden, und an diesem Morgen, während Jerrys Frühstückseier kochten, beendete ein alter Mann sein Pensum absurder gymnastischer Übungen, ehe er den winzigen Faltstuhl aufstellte, um sich an die tägliche Lektüre der Gedanken des Großen Mannes zu machen. Die reicheren Armen bauten sich, wenn sie kein Dach hatten, schwindelerregende Mastkörbe, zwei zu acht Fuß, auf selbstgebastelten Stützen, die sie in den Boden ihres Wohnraums rammten. Deathwish behauptete, es ereigneten sich ständig Selbstmorde. Das lasse ihn an dieser Gegend nicht los, sagte er. Wenn er nicht gerade vögelte, hing er zumeist mit seiner Nikon aus dem Fenster, in der Hoffnung, einen Selbstmörder vor die Linse zu kriegen, was ihm nie gelang. Rechts unten lag der Friedhof, was Deathwish als unglückbringend bezeichnete und daher ein paar Dollar von der Miete abgeknapst hatte. Während Jerry aß, klingelte das Telefon aufs neue. »Was für eine Story?« sagte Luke.

»Wanchai-Huren haben Big Moo gekidnappt«, sagte Jerry, »nach Stonecutters' Island verschleppt und verlangen jetzt Lösegeld.« Wenn es nicht Luke war, dann riefen meist Deathwishs Weiber an, aber sie wollten Jerry nicht als Ersatzmann. Vor der Dusche war kein Vorhang, so daß Jerry sich wie ein Boxer in die gekachelte Ecke ducken mußte, um das Badezimmer nicht zu überschwemmen. Er ging zurück ins Schlafzimmer, zog den Anzug an, packte ein Brotmesser und zählte von der Zimmerecke an zwölf Holzgevierte ab. Das dreizehnte hob er mit der Messerklinge heraus. In einem Versteck, das in den teerartigen Unterbelag geschnitten war, lag ein Plastikbeutel, der eine Rolle amerikanischer Banknoten größeren und kleineren Nennwerts enthielt; einen Fluchtpaß, Führerschein und Flugnetzkarte auf den Namen Worrell, Bauunternehmer; und eine Handfeuerwaffe, die Jerry sich wider die eisernen Regeln des Circus von Deathwish verschafft hatte, der keinen Wert darauf legte, sie auf Reisen mitzunehmen. Diesem Schatzkästchen entnahm er fünf Einhundertdollar-Noten, alles andere ließ er unberührt und setzte das Holzgeviert wieder ein. Er steckte die Kamera und zwei Reservekassetten in die Taschen und trat pfeifend auf den winzigen Vorplatz hinaus. Seine Wohnungstür wurde durch ein weißlackiertes Gitter gesichert, das einen gewandten Einbrecher neunzig Sekunden lang aufgehalten hätte. Jerry hatte das Schloß erbrochen, als er einmal nichts Besseres zu tun hatte, und genauso lange hatte es gedauert. Er drückte auf den Liftknopf, und die Kabine kam vollbesetzt mit Chinesen an, die alle ausstiegen. So ging es jedesmal: Jerry war einfach zu groß für sie, zu häßlich und zu fremdartig.

Nach Szenen wie dieser, dachte Jerry mit erzwungener Heiterkeit, als er ins Pechdunkel des stadteinwärts fahrenden Busses stieg, ziehen Sankt Georgs Kinder aus, das Empire zu retten. »Sorgfältige Vorbereitung ist niemals verlorene Zeit«, lautet die mühselige Maxime der Nursery betreffs Gegen-Observierung. Manchmal wurde Jerry der Sarratt-Mann und sonst nichts. Nach der gewöhnlichen Logik der Dinge hätte er geradenwegs zu seinem Ziel gehen können: es war sein gutes Recht. Nach der gewöhnlichen Logik der Dinge gab es keinen Grund der Welt, schon gar nicht nach dem gestrigen Gelage, warum Jerry nicht mit dem Taxi am Haupteingang vorfahren, vergnügt hineinschwanken, vor seinen neugewonnenen Busenfreund hintreten und es hinter sich bringen sollte. Aber das hier war nicht die gewöhnliche Logik der Dinge, und nach der Sarratt-Sage näherte Jerry sich jetzt dem operativen Augenblick der Wahrheit: dem Augenblick, in dem die Hintertür sich mit einem Knall hinter ihm schließen und es nur noch einen Ausweg geben würde, den nach vorn. Dem Augenblick, in dem jedes einzelne seiner zwanzig Jahre Berufserfahrung sich in ihm zu Wort meldete und »Vorsicht« rief. Wenn er in eine Falle tappen sollte, dann war sie hier aufgestellt. Auch wenn sie seine Marschroute bereits genau kannten, würden doch die statischen Posten vor ihm ausgestellt sein, in Autos, hinter Fenstern, und die Observanten-Teams ihm auf den Fersen folgen, für den Fall eines Schnitzers oder eines Abstechers. Wenn es je eine letzte Möglichkeit gab, das Wasser auszuloten, ehe er sprang, dann jetzt. Letzte Nacht beim Puff-Bummel hätten ihn hundert gelbe Engel beobachten können, ohne daß er gewußt hätte, ob er ihr Wild sei. Hier dagegen konnte er Haken schlagen und die Schatten zählen: hier hatte er, zumindest theoretisch, eine Chance zu erfahren, woran er war.

Er schaute auf die Uhr. Noch genau zwanzig Minuten Zeit, und selbst in chinesischer, geschweige in europäischer Gangart, brauchte er nur sieben. Also ging er gemächlich, aber er verhielt den Schritt nie. In anderen Ländern, in fast jedem anderen Ort der Welt, ausgenommen Hongkong, hätte er viel mehr Zeit angesetzt. Hinter dem Eisernen Vorhang, sagten sie in Sarratt, einen halben Tag, lieber noch mehr. Er hätte einen Brief an sich selber geschrieben, so daß er ein Stück die Straße entlanggehen, am Briefkasten haltmachen und wieder umkehren könnte, feststellen, ob Füße stockten, Köpfe wegduckten; nach den klassischen Formationen Ausschau halten, einem Zweigespann auf dieser Straßenseite, drei auf der anderen, einer Vorausabteilung ein Stück weiter vorn.

Doch während er an diesem Vormittag das alles eifrig durchexerzierte, wußte paradoxerweise sein anderes Ich, daß er nur seine Zeit verplemperte; wußte, daß in Fernost ein Europäer sein ganzes Leben lang im gleichen Häuserblock wohnen und nie die blasseste Ahnung von dem geheimnisvollen Tick-tack an seiner Schwelle zu haben braucht. An jeder Ecke einer jeden von Menschen wimmelnden Zweigstraße, in die er einbog, warteten Männer, lungerten herum und beobachteten, waren mit angestrengtem Nichtstun beschäftigt. Der Bettler, der plötzlich die Arme reckte und gähnte, der verkrüppelte Schuhputzer, der nach seinen fliehenden Füßen grabschte, und als er sie nicht mehr erwischen konnte, die Rückseiten seiner Schuhbürsten mit einem Peitschenknall zusammenschlug; die alte Hexe, die beidrassige Pornographie feilbot, die Hand vor den Mund hielt und in den Bambusverschlag über ihr ein einziges Wort gellte: obwohl Jerry sie alle im Geist registrierte, waren sie für ihn noch heute so unverständlich wie bei seinem ersten Aufenthalt in Fernost vor - zwanzig? -, du lieber Gott, vor fünfundzwanzig Jahren. Zuhälter? Strichjungen? Drogenhändler, die ihm farbige Röllchen Schokoladenpapier unter die Nase hielten - »gelb zwei Dollar, blau fünf Dollar? Sie wollen Drachen, möchten Spritze«? Oder bestellten sie eine Schale Reis aus den Garküchen über der Straße? Im Fernen Osten, altes Haus, heißt überleben: wissen, daß man nichts weiß. Er benutzte die Spiegelung in den Marmorfassaden der Läden: Regale voll Bernstein, Regale voll Jade, Kreditkartenschilder, elektrische Artikel und Pyramiden schwarzer Gepäckstücke, die kein Mensch jemals zu tragen schien. Bei Cartier dekorierte ein schönes Mädchen Perlen auf ein Samtkissen, legte sie für den Tag zu Bett. Als sie seine Gegenwart fühlte, hob sie den Blick zu ihm; und in Jerry regte sich trotz aller Sorgen der alte Adam. Aber ein Blick auf sein unsicheres Grinsen und seinen zerknitterten Anzug und die Wildlederstiefel sagte ihr alles, was sie wissen mußte: Jerry Westerby war kein potentieller Kunde. Die Schlagzeilen kündeten von neuen Kämpfen, stellte Jerry fest, als er an einem Zeitungsstand vorbeikam. Die chinesischsprachigen Blätter brachten auf der Titelseite Fotos von getöteten Kindern, schreienden Müttern und Soldaten mit Helmen, wie die Amerikaner sie trugen. Ob Vietnam oder Kambodscha oder Korea oder die Philippinen, konnte Jerry nicht sagen. Die roten Schriftzeichen der Schlagzeile sahen aus wie vergossenes Blut. Vielleicht hatte Deathwish Glück.

Jerry war durstig nach der Besäufnis der vergangenen Nacht, durchquerte das Mandarin und tauchte in das Dämmerlicht der Captain's Bar, aber er trank nur Wasser drüben bei »Herren«. Dann kehrte er wieder zurück in die Halle und kaufte ein Exemplar von Time, aber es gefiel ihm nicht, wie die feinen Pinkels ihn anstarrten, und er ging. Er mischte sich wieder unter die Menge, bummelte bis zum Postamt, erbaut anno 1911, inzwischen abgerissen, damals jedoch ein selten scheußliches Relikt, das neben den klobigen Betonkästen ringsum schön wirkte, dann ging er durch die Arkaden zurück zur Peddlar Street und unter einer grünen gerippten Brücke hindurch, von der Postsäcke wie Truthähne am Galgen hingen. Er machte wiederum kehrt, benutzte den Fußgängersteg zum Connaught Centre, um das Feld zu lichten.

In der stählern funkelnden Eingangshalle schrubbte eine Bauersfrau die Zähne einer stillstehenden Rolltreppe mit einer Drahtbürste, und im Wandelgang bewunderte eine Gruppe chinesischer Studenten in respektvollem Schweigen Henry Moores Oval with Points. Im Zurückblicken sah Jerry die braune Kuppel der alten Justizgebäude, die durch den Bienenstock des Hilton-Baus zu Zwergen schrumpften: Regina versus Westerby, dachte er, »und die Anklage gegen den Gefangenen lautet auf Erpressung, Korruption, vorgetäuschte Zuneigung und ein paar weitere Delikte, die wir uns noch ausdenken werden, ehe der Tag zu Ende geht«. Der Hafen wimmelte von Schiffen, zumeist kleinen. Dahinter versuchten die New Territories, pockennarbig von Baugruben, schiefergraue Smogwolken wegzuschieben. Zu ihren Füßen erstreckten sich neue Lagerhäuser, und Fabrikschlote spien braunen Qualm aus.

Er machte aufs neue kehrt und kam an den großen schottischen Geschäftshäusern vorbei: Jardines, Swire, und bemerkte, daß ihre Türen versperrt waren. Mußte ein Feiertag sein, dachte er. Von uns oder von ihnen? Am Statue Square fand ein gesitteter Karneval statt, mit Springbrunnen, Strandschirmen', Coca-Cola-Verkäufern und ungefähr einer halben Million Chinesen, die in Gruppen herumstanden oder wie eine barfüßige Armee hinter ihm herschlurften und verstohlene Blicke auf seine Größe warfen. Lautsprecher, Preßluftbohrer, wimmernde Musik. Er überquerte die Jackson Road, und der Lärmpegel fiel ein wenig. Vor ihm waren auf einem vollendeten englischen Rasen fünfzehn weißgekleidete Gestalten hingelagert. Das tägliche Kricket-Match hatte soeben begonnen. Am Torende fummelte eine schlacksige arrogante Gestalt, die eine Kappe von anno dazumal auf hatte, mit den Schlaghandschuhen herum. Jerry legte eine Pause ein, sah eine Weile zu und grinste in wohlwollender Kennerschaft. Der Werfer warf. Der Schläger führte einen eleganten Schlag aus, fehlte und lief in Zeitlupe los. Jerry sah ein langes, langweiliges und glanzloses Spiel voraus. Er fragte sich, wer wohl gegen wen spiele, und kam zu dem Schluß, daß die übliche Peak-Mafia gegen sich selbst spiele. Jenseits des Spielfelds auf der anderen Straßenseite erhob sich die Bank of China, ein weitläufiges goldgekehltes Ehrenmal mit scharlachroten Slogans gesäumt, die von der Liebe zu Mao kündeten. An seinem Sockel starrten Granitlöwen blicklos vor sich hin, während Herden weißhemdiger Chinesen einander, an deren Flanken lehnend, fotografierten. Die Bank, die Jerry im Auge hatte, stand direkt hinter dem Arm des Werfers. Ein Union Jack hoch auf schwankem Mast, unten auf dem sicheren Pflaster ein gepanzerter Geldtransportwagen. Die Türen standen offen und die polierten Innenflächen glänzten wie falsches Gold. Während Jerry im Weiten Bogen darauf zuschlenderte, tauchte ein Trupp behelmter Wachleute, eskortiert von hochgewachsenen Indern mit Elefantenflinten, plötzlich aus dem dunklen Inneren auf und zelebrierten drei schwarze Geldkästen die breiten Stufen hinunter, als enthielten sie geweihte Hostien. Der gepanzerte Wagen fuhr weg, und einen beklemmenden Augenblick lang sah Jerry im Geist die Tore der Bank sich nach seiner Abfahrt schließen.

Es waren keine logischen Visionen. Auch keine nervösen Visionen. Nur daß Jerry einen Moment lang Verdruß gewärtigte, mit dem gleichen Berufspessimismus, mit dem ein Gärtner eine Dürreperiode vorhersieht oder ein Sportler irgendeine alberne Knöchel-Verstauchung am Vorabend eines großen Kampfs; oder ein Außenmann mit zwanzig Jahren auf dem Buckel einen weiteren unvorhersehbaren Fehlschlag argwöhnt. Aber die Tore blieben geöffnet, und Jerry machte linksum. Den Wachen Zeit lassen zum Abreagieren, dachte er. Dieses Geldverladen muß sie nervös gemacht haben. Sie werden zu genau hinsehen, sie werden sich zu genau erinnern.

Er schwenkte langsam, gedankenversunken in Richtung auf den Hong Kong Club ein: Wedgwood-Portale, gestreifte Markisen und schon am Eingang der Geruch nach fadem englischem Essen. Legende ist keine Lüge, wird einem gesagt. Legende ist das, an was du glaubst. Legende ist der, der du bist. Am Vormittag des Sonnabend begibt sich Mr. Gerald Westerby, der nicht sehr bekannte Journalist, zu einer gern besuchten Tränke . . . Auf den Stufen des Clubs blieb Jerry stehen, beklopfte seine Taschen, wendete und eilte zielstrebig von dannen, ging die beiden Längsseiten des Platzes aus und achtete ein letztesmal auf die schlurfenden Schritte und die abgewandten Blicke. Mr. Gerald Westerby stellt fest, daß seine Barschaft für das Wochenende nicht ausreicht, und beschließt einen kurzen Besuch in der Bank. Die indischen Wachen hatten die Elefantentöter lässig über die Schultern geschlungen und musterten ihn uninteressiert. Nur, daß Mr. Westerby das nicht tut!

Jerry schalt sich selbst einen verdammten Narren, als ihm einfiel, daß es schon zwölf Uhr vorbei war und daß die Schalterhalle Punkt zwölf schloß. Nach zwölf war nur noch droben geöffnet, und genau dorthin hatte er gewollt.

Ruhig, dachte er. Du denkst zu viel. Nicht denken: handeln. Im Anfang war die Tat. Wer hatte das einmal zu ihm gesagt? Old George, du meine Güte, er hatte Goethe zitiert. Ausgerechnet der! Als er zum Sturm ansetzte, überfiel ihn eine Woge des Widerwillens, und er wußte, daß es Furcht war. Er war hungrig. Er war müde. Warum hatte George ihn so alleingelassen? Warum mußte er alles ganz auf sich gestellt erledigen? Vor dem Sündenfall hätten sie Babysitter vor ihm postiert - ein paar sogar innerhalb der Bank -, nur für alle Fälle. Ein Empfangskomitee wäre dagewesen, um die Beute abzufangen, fast schon, ehe er das Gebäude verlassen hätte, und ein Fluchtauto, wenn er Hals über Kopf hätte untertauchen müssen. Und in London - dachte er ironisch, nur um sich selbst zu beschwichtigen - hätten sie den lieben alten Bill Haydon gehabt, nicht wahr? -, der die ganze Chose postwendend an die Russen weitergegeben hätte, hol ihn der Teufel. Bei diesem Gedanken zwang Jerry sich selbst eine phantastische Halluzination auf, jäh wie ein Blitzlicht und genauso langsam erlöschend. Gott hatte sein Gebet erhört, dachte er. Die alten Tage waren doch wieder zurückgekommen, und die Straße wurde von einer erstklassigen Hilfsmannschaft belebt. Hinter ihm war ein blauer Peugeot an die Bordkante gefahren, und zwei bullige Europäer saßen darin und studierten eine Rennkarte von Happy Valley. Funkantennen, alle Schikanen. Zu seiner Linken schlenderten amerikanische Matronen daher, beladen mit Fotoapparaten und Reiseführern und der ausdrücklichen Verpflichtung, alles zu beobachten. Und aus der Bank selbst, auf deren Portal er zügig zuschritt, tauchte ein Paar feierlicher Geldleute auf, und sie zeigten das gleiche grimmige Glotzen, dessen Observanten sich manchmal bedienen, um forschende Blicke zu entmutigen.

Vergreisung, schalt Jerry sich. Du hast deine besten Jahre hinter dir, altes Haus, keine Frage. Das Alter und der Schiß haben dich knieweich gemacht. Er sprang die Stufen hinauf, munter wie ein Rotkehlchen an einem heißen Frühlingstag.

Die Halle war so groß wie ein Bahnhof, die Kassettenmusik ebenso martialisch. Der Zugang zu den Schaltern war vergittert, und er sah niemanden im Hintergrund lauern, nicht einmal die Illusion eines Flankenschutzes. Der Lift war ein goldener Käfig mit einem sandgefüllten Spucknapf für Zigaretten, aber im neunten Stock war es vorbei mit der Großzügigkeit der unteren Geschosse. Platz war Geld. Ein schmaler cremefarbener Korridor führte zu einem leeren Empfangspult. Jerry wanderte gemächlich dahin, merkte sich den Notausgang und den Personalaufzug, den ihm die Bärentreiber bereits aufgezeichnet hatten, falls er schleunigst verschwinden müßte. Komisch, daß sie soviel wissen, dachte er, bei so wenigen Quellen; müssen irgendwo einen Bauplan ausgegraben haben. Auf dem Tresen ein Teakholzschild mit der Aufschrift »Trustee Department Enquiries«. Daneben eine schmuddelige Broschüre über Astrologie, aufgeschlagen und mit zahlreichen Anmerkungen versehen. Aber keine Empfangsdame, denn am Sonnabend war alles anders. Am Sonnabend geht's am besten, hatten sie gesagt, Er blickte vergnügt, reinen Gewissens um sich. Ein zweiter Korridor lief die Breitseite des Gebäudes entlang, links Bürotüren, rechts trübselige kunststoffbeschichtete Wände. Dahinter waren das langsame Tappen einer elektrischen Schreibmaschine - jemand tippte einen Schriftsatz - und der langsame Singsang chinesischer Stenotypistinnen zu hören, die am Sonnabend wenig anderes zu tun hatten, als auf den Lunch und den freien Nachmittag zu warten. Vier der Türen waren lasiert und hatten pfenniggroße Gucklöcher, durch die man hinaus- und hineinsehen konnte. Jerry spazierte den Korridor entlang und spähte durch ein jedes, als wäre Spähen sein Lieblingssport, Hände in den Taschen, ein albernes Grinsen im Gesicht. Das vierte links, hatten sie gesagt, eine Tür, ein Fenster. Ein Angestellter ging an ihm vorbei, dann eine Sekretärin auf modischen, klappernden Absätzen, aber Jerry war bei aller Schlampigkeit immerhin Europäer und trug einen Anzug, und keiner von beiden hielt ihn an.

»Morgen, zusammen«, brabbelte er, und sie wünschten ihm dafür »Guten Tag, Sir«.

Am Ende des Korridors war ein Eisengitter, und Eisengitter waren auch vor den Fenstern. An der Decke war ein blaues Nachtlicht angebracht, aus Sicherheitsgründen, nahm er an, aber genau wußte er es nicht: Feuerschutz, Raumschutz, er wußte es nicht, die Bärentreiber hatten es nicht erwähnt, und Brand und Einbruch waren nicht sein Fach. Der erste Raum war ein Büro, leer bis auf ein paar verstaubte Sporttrophäen auf dem Fensterbrett und ein gesticktes Wappen des Sportclubs der Bank an der Wand bei der Kleiderablage. Er ging an einem Stapel Apfelkisten mit der Aufschrift »Trustee« vorbei. Sie schienen mit Überschreibungen und Testamenten vollgestopft zu sein. Die traditionelle Knauserigkeit der alten chinesischen Handelsfirmen starb offenbar schwer. Auf einem Schild an der Wand stand »Privat«, und auf einem zweiten »Nur nach vorheriger Anmeldung«. Die zweite Tür führte in einen Korridor und ein kleines Archiv, das gleichfalls leer war, die dritte in die Toilette, »Nur für Direktoren«, neben der vierten hing ein schwarzes Brett, an den Türpfosten war eine rote Glühlampe montiert, und auf einem imposanten Namensschild in Letraset die Aufschrift: »J. FROST, DEPUTY CHIEF TRUSTEE, Nur nach Anmeldung, bitte NICHT eintreten, wenn rotes Licht BRENNT.« Aber das Licht brannte nicht, und das pfenniggroße Guckloch gab den Blick auf einen Mann allein an seinem Schreibtisch frei. Seine einzige Gesellschaft bestand aus einem Haufen Akten und Rollen teurer, nach dem Muster englischer Dokumente in grüner Seide gebundener Papiere, aus den beiden abgeschalteten Kabel-Fernsehgeräten für die Börsenkurse und dem Blick auf den Hafen: obligatorisch für das Image einer höheren Verwaltungsebene, und von den ebenso obligatorischen Lattenjalousien in bleistiftgraue Streifen geschnitten. Ein properer, rundlicher, blühender kleiner Mann im Robin-Hood-grünen Leinenanzug, allein und viel zu gewissenhaft arbeitend für einen Sonnabend. Schweiß auf der Stirn; schwarze Halbmonde unter den Armen und - für Jerrys wissendes Auge - die bleierne Bewegungslosigkeit eines Mannes, der nach ausgedehntem Zechgelage sehr langsam wieder auf den Damm kommt.

Ein Eckzimmer, dachte Jerry. Nur eine Tür, diese da. Bloß ein Schubs, und du bist draußen. Er warf einen letzten Blick nach beiden Seiten des leeren Korridors. Jerry Westerbys Auftritt, dachte er. Wenn du den Text nicht kannst, dann tanze. Die Tür gab sofort nach. Er trat vergnügt hindurch und setzte sein bewährtes schüchternes Lächeln auf.

»Hallo Frosti, super. Komm ich zu spät oder zu früh? Altes Haus - sagen Sie mal -, das ist ja ganz ungewöhnlich da draußen. Im Korridor - wäre beinah darüber gestolpert - ein Haufen Apfelkisten voller Aktenkram. >Wer mag Frostis Kunde sein?< frag ich mich. >Cox Orange, Pippinäpfel? Oder Beauty of Bath?< Wie ich Sie kenne, ist es Beauty of Bath. Fand's richtig komisch, nach den gastlichen Stätten, die wir letzte Nacht abgegrast haben.« Dieses Gefasel, so schwach es für den erstaunten Frost auch klingen mochte, gab Jerry Zeit, das Büro zu betreten, flugs die Tür zu schließen und sich mit dem breiten Rücken vor das einzige Guckloch zu stellen, während er Dankgebete für seine weiche Landung nach Sarratt schickte und Stoßgebete zu seinem Schöpfer.

Jerrys Auftritt folgte ein Augenblick voll dramatischer Spannung. Frost hob langsam den Kopf, hielt dabei die Augen halb geschlossen, als schmerzte ihn das Licht, was vermutlich auch der Fall war. Bei Jerrys Anblick blinzelte er und blickte weg, dann sah er ihn wieder an, um sich zu vergewissern, daß er keinen Geist vor sich hatte. Dann wischte er sich mit dem Taschentuch die Stirn. »Herrje«, sagte er. »Der hohe Herr persönlich! Was zum Teufel haben Sie hier zu suchen, Sie widerlicher Aristokrat?« Worauf Jerry, der noch immer an der Tür stand, mit einem weiteren breiten Grinsen antwortete und die Hand zum Indianergruß hob, während er sich die Schwachstellen genau einprägte: die beiden Telefone, die graue Box der Wechselsprechanlage und den Stahlschrank, der ein Schlüsselloch hatte, aber keine Zahlenkombination.

»Wie sind Sie überhaupt reingekommen? Haben ihnen wohl Ihren Honourable an den Kopf geworfen. Was soll das, hier so einfach reinzuplatzen?« Frost, der nicht halb so ungehalten war, wie seine Worte das nahegelegt hätten, war vom Schreibtisch aufgestanden und watschelte durch das Büro. »Das hier ist kein Puff, verstanden. Das hier ist eine achtbare Bank. Eine mehr oder weniger achtbare Bank, sagen wir.«

Als er vor Jerrys beachtlicher Masse angelangt war, stemmte er die Hände in die Seiten, glotzte ihn an und schüttelte verdutzt den Kopf. Worauf er Jerry auf den Arm schlug, ihn in den Magen boxte und wieder mit dem Kopf wackelte. »Sie versoffener, liederlicher, geiler, ausschweifender . . . «

»Zeitungsschmierer«, ergänzte Jerry.

Frost war noch nicht über vierzig, aber das Leben hatte ihm bereits die grausamen Male der Durchschnittlichkeit aufgeprägt, als da waren ein wichtigtuerisches Herumfummeln mit Manschetten und Fingern, ein Benetzen und zugleich Schürzen der Lippen. Zu seinen Gunsten hingegen sprach ein offenkundiger Sinn für Humor, der auf den feuchten Backen strahlte wie Sonnenlicht. »Da«, sagte Jerry. »Vergiften Sie sich«, und bot ihm eine Zigarette an.

»Herrje«, sagte Frost nochmals, und mit einem Schlüssel vom Bund öffnete er ein altmodisches Walnußbüffet, voll von Spiegeln und Reihen von Cocktailsticks mit künstlichen Kirschen, von Juxbechern mit Pin-ups und rosa Elefanten. »Bloody Mary gefällig?«

»Bloody Mary tut der Kehle immer gut, altes Haus«, versicherte ihm Jerry.

An der Schlüsselkette hing ein einzelner Messingschlüssel zu einem Chubb-Schloß. Der Safe war also ein Chubb-Safe, erste Ware, mit einem abgenutzten goldenen Medaillon, das sich kaum noch von der grünen Farbe abhob.

»Eines muß man euch blaublütigen Wüstlingen ja lassen«, rief Frost, während er den Cocktail mixte und schüttelte wie ein Chemiker. »In Bumslokalen kennt ihr euch aus. Wenn ihr mitten in Salisbury Plain vom Himmel fallt, dauert's keine dreißig Sekunden, und schon habt ihr 'n Puff aufgerissen. Mein jungfräuliches Gemüt hat gestern nacht wieder mal Schaden genommen. Erschüttert bis auf seine zarten kleinen Grundfesten - sagen Sie halt! Gelegentlich müssen Sie mir ein paar Adressen geben, wenn's mir wieder besser geht. Falls es je soweit kommt, woran ich zweifle.«

Jerry war zu Frosts Schreibtisch hinübergeschlendert und blätterte müßig die Korrespondenz durch, dann fing er an, auf den Tasten der Sprechanlage herumzuspielen, ließ eine nach der anderen mit dem dicken Zeigefinger auf und ab schnippen; aber es tat sich nichts. Ein einzelner Knopf trug die Aufschrift »beschäftigt«.

Jerry drückte ihn und sah einen rosigen Schimmer im Guckloch, als das Warnlicht im Korridor aufflammte.

»Und diese Puppen«, sagte Frost, der Jerry noch immer den Rücken kehrte, während er die Saucenflasche schüttelte. »Waren ganz Schlimme. Skandalös.« Mit entzücktem Lachen durchschritt Frost das Büro und hielt die Gläser in den ausgestreckten Händen.

»Wie hießen die doch gleich? Ach du liebe Güte!«

»Sieben und Vierundzwanzig«, sagte Jerry zerstreut.

Im Sprechen bückte er sich und suchte den Alarmknopf, der, wie er wußte, irgendwo am Schreibtisch montiert sein mußte.

»Sieben und Vierundzwanzig!« wiederholte Frost hingerissen.

»Wie poetisch! Was für ein Gedächtnis!«

In Kniehöhe hatte Jerry ein graues Kästchen entdeckt, das an die Schubladenstütze geschraubt war. Der Schlüssel steckte in der Waagerechten, in Aus-Position. Er zog ihn heraus und ließ ihn in die Tasche gleiten.

»Ich habe gesagt, was für ein fabelhaftes Gedächtnis«, wiederholte Frost ziemlich ratlos.

»Sie kennen doch Zeitungsschmierer, altes Haus«, sagte Jerry und richtete sich auf. »Schlimmer als Ehefrauen, was das Gedächtnis betrifft.«

»Hier rüber. Gehen Sie weg dort. Geheiligter Boden.« Jerry hatte Frosts riesigen Terminkalender vom Schreibtisch genommen und studierte die Verabredungen des Tages. »Mein Gott«, sagte er. »Bienenfleißig, wie? Wer ist N., altes Haus? N., acht bis zwölf? Doch nicht Ihre Schwiegermama?« Frost neigte den Mund zum Glas, trank gierig, schluckte und tat dann, als hätte er's in die falsche Kehle bekommen, krümmte sich, fing sich wieder. »Hören Sie gefälligst mit meiner Schwiegermutter auf, ja? Hätte um ein Haar einen Herzanfall gekriegt. Prosit.«

»N. für närrisch? N. für Napoleon? Wer ist N.?«

»Natalie. Meine Sekretärin. Sehr nett. Beine kerzengerade bis obenhin, heißt es allgemein. War nie selber dort, also weiß ich's nicht. Meine einzige Regel. Erinnern Sie mich, daß ich sie gelegentlich breche. Prosit«, sagte er nochmals. »Ist sie da?«

»Ich glaube, ihren leichtfüßigen Schritt vernommen zu haben, ja. Soll ich sie kommen lassen? Angeblich hat sie ein besonderes Faible für die gehobenen Klassen.«

»Nein, danke«, sagte Jerry, legte den Terminkalender hin und blickte Frost stracks an, von Mann zu Mann, obwohl der Kampf ungleich war, denn Jerry war einen ganzen Kopf größer als Frost und bedeutend breiter.

»Unglaublich«, erklärte Frost ehrfürchtig und strahlte Jerry noch immer an. »Unglaublich war das gestern.« Sein Gehabe war hingebungsvoll bis besitzergreifend. »Unglaubliche Puppen, unglaubliche Gesellschaft. Ich meine, warum sollte ein Kerl wie ich sich überhaupt mit einem Kerl wie Ihnen abgeben? Einem kleinen Honourable! Für mich sind Herzöge gerade gut genug. Herzöge und Huren. Machen wir's doch heute nacht gleich noch mal. Los.« Jerry lachte.

»Im Ernst. Zeigen wir mal, was wir können. Besser dran eingehen, bevor wir zu alt dazu sind. Heute geht's auf meine Rechnung, der ganze Rummel.« Vom Korridor erklangen schwere Schritte, kamen näher. »Wissen Sie, was ich tun werde? Mich testen. Ich geh wieder ins Meteor mit Ihnen, und ich laß Madame Dingsbums kommen, und dann verlange ich, daß - was ist denn mit Ihnen los?« fragte er, als er Jerrys Miene gewahrte.

Die Schritte verlangsamten sich, blieben stehen. Ein schwarzer Schatten erfüllte das Guckloch und verweilte.

»Wer ist das?« fragte Jerry ruhig.

»Milkie.«

»Wer ist Milkie?«

»Milkie Way, mein Boß«, sagte Frost, als die Schritte sich entfernten, schloß die Augen und bekreuzte sich fromm. »Geht nach Hause zu seiner reizenden Eheliebsten, der vortrefflichen Mrs. Way alias Moby Dick. Sechs Fuß acht Zoll und Dragonerschnurrbart. Nicht er. Sie«. Frost kicherte. »Warum ist er nicht reingekommen?«

»Dachte wohl, ich hätte einen Klienten hier«, sagte Frost achtlos und wunderte sich aufs neue über Jerrys Wachsamkeit und über seine Ruhe. »Abgesehen davon, daß Moby Dick ihm den Schädel einschlagen würde; wenn er sich um diese Tageszeit mit einer Alkoholfahne um die gottlosen Lippen erwischen ließe. Keine Bange, Sie haben ja mich. Trinken Sie aus. Sie gucken heute so gottesfürchtig drein. Kriege direkt 'ne Gänsehaut.« Wenn Sie drin sind, dann los, hatten die Bärentreiber gesagt. Nicht zu lange maßnehmen, ihn gar nicht erst warm werden lassen.

»Heh, Frosti«, rief Jerry, als die Schritte völlig verklungen waren.

»Wie geht's der Missus?« Frost hatte die Hand nach Jerrys Glas ausgestreckt. »Ihrer Missus. Wie geht's ihr?«

»Immer noch erfreulich leidend, danke«, sagte Frost unbehaglich.

»Schon im Krankenhaus angerufen, wie?«

»Heute morgen? Sind Sie verrückt? Konnte bis elf Uhr keinen vernünftigen Satz zustande bringen. Und selbst wenn. Sie hätte den Schnaps gerochen.«

»Wann besuchen Sie sie wieder?«

»Also bitte. Hören Sie auf, hören Sie auf mit ihr, ja?«

Unter Frosts starrem Blick schlenderte Jerry zum Safe hinüber. Er probierte die große Klinke, aber die Safetüre war verschlossen.

Auf dem Safe lag staubbedeckt ein schwerer Gummiknüppel.

Jerry packte ihn mit beiden Händen, führte zerstreut ein paar Kricketschläge aus und legte ihn wieder zurück, während Frosts ratloser Blick ihm beunruhigt folgte.

»Ich möchte ein Konto eröffnen, Frosti«, sagte Jerry noch immer vom Safe her.

»Sie?«

»Ich.«

»Nach allem, was Sie gestern nacht erzählten, haben Sie nicht mal genug, um ein Sparschwein zu eröffnen. Außer Ihr feiner Herr Papa hat noch einiges in der Matratze versteckt, was ich leicht bezweifle.« Frosts Welt stürzte ein wie ein Kartenhaus, trotzdem versuchte er verzweifelt, sich daran zu klammern. »Los, kippen Sie noch einen und hören Sie auf, Boris Karloff zu spielen, ja? Gehen wir zu den Hottehüs: Happy Valley, wir kommen. Ich lade Sie zum Lunch ein.«

»Ich meinte nicht eigentlich, daß wir mein Konto eröffnen sollten, altes Haus. Ich meinte, eins von jemand anderem«, erklärte Jerry. Wie bei einem langsamen, traurigen Possenspiel erlosch der Humor in Frosts kleinem Gesicht, und er flüsterte atemlos »O nein, o Jerry«, ganz leise; als wäre er Zeuge eines Unfalls, bei dem Jerry das Opfer war, nicht Frost. Zum zweitenmal näherten sich Schritte auf dem Korridor. Mädchenschritte, kurz und rasch. Dann ein scharfes Klopfen. Dann Stille.

»Natalie?« sagte Jerry ruhig. Frost nickte. »Wenn ich ein Kunde wäre, würden Sie mich dann vorstellen?« Frost schüttelte den Kopf. »Lassen Sie sie rein.«

Frosts Zunge schob sich wie eine erschreckte rosige Schlange zwischen den Lippen hervor, sicherte nach allen Seiten und verschwand wieder.

»Herein!« rief er heiser, und ein großes Chinesenmädchen mit dicken Brillengläsern holte ein paar Briefe aus seinem Auslaufkorb ab.

»Schönes Wochenende, Mister Frost«, sagte sie. »Bis Montag dann«, sagte Frost. Die Tür schloß sich wieder.

Jerry durchquerte das Büro, legte den Arm um Frosts Schultern und führte ihn, der keinen Widerstand leistete, rasch zum Fenster. »Ein Treuhand-Konto, Frosti. Ihren unbestechlichen Händen anheimgegeben. Große Sache.«

Drunten auf dem Platz ging der Karneval weiter. Auf dem Kricketplatz war jemand im Aus. Der schlacksige Schläger mit der Kappe von anno dazumal reparierte geduldig den Raum zwischen den Dreistäben. Die Spieler lagen herum und plauderten.

»Sie regen mich auf«, sagte Frost schlicht und versuchte, sich an die Lage zu gewöhnen. »Ich glaubte, ich hätte endlich einen Freund gefunden, und jetzt wollen Sie mir die Daumenschrauben ansetzen. Und sowas will ein Lord sein.«

»Man soll sich nie mit Zeitungsleuten abgeben, Frosti. Rauhes Volk. Keinen Sportsgeist. Hätten nicht aus der Schule plaudern sollen. Wo bewahren Sie die Unterlagen auf?«

»Freunde plaudern aus der Schule!« protestierte Frost, »dazu sind Freunde da! Daß sie einander alles sagen!«

»Dann sagen Sie mir alles.«

Frost schüttelte den Kopf. »Ich bin ein Christ«, sagte er dümmlich. »Ich gehe jeden Sonntag in die Messe. Tut mir leid, aber das kommt gar nicht in Frage. Lieber würde ich meinen Platz in der Gesellschaft verlieren, als einen Vertrauensbruch begehen. Dafür bin ich bekannt, wie? Nichts zu machen. Bedaure.« Jerry schob sich am Fenstersims näher heran, bis sich ihre Ellbogen fast berührten. Die große Scheibe zitterte vom Verkehrslärm. Die Jalousien waren rot von Ziegelstaub, Frost grimassierte erbärmlich, während er versuchte, die Nachricht von seiner Vernichtung zu fassen.

»Der Handel ist folgender, altes Haus«, sagte Jerry sehr ruhig. »Hören Sie gut zu. Ja? Es heißt: entweder Zuckerbrot oder Peitsche. Wenn Sie nicht spuren, hängt mein Blatt alles an die große Glocke. Porträt auf der Titelseite, Schlagzeilen über die volle Breite, Fortsetzung letzte Seite, Spalte 6, mit allen Schikanen. >Würden Sie von diesem Mann einen Gebrauchtwagen kaufen?< Hongkong, die Brutstätte der Korruption, und Frosti, das geifernde Ungeheuer. So in dieser Art. Wir sagen allen, wie Sie im >Young Banker's Club< Bettpolonaise spielen, genau wie Sie's mir erzählt haben, und wie Sie bis vor kurzem ein sündhaftes Liebesnest drüben in Kaulun unterhielten, nur daß sie sauer wurde, weil sie mehr Futter wollte. Ehe wir das alles bringen, prüfen wir natürlich die Geschichte mit Ihrem Direktor nach und vielleicht auch mit Ihrer Missus, wenn es ihr gut genug geht.« Auf Frosts Gesicht war ohne jede Warnung eine Sturmflut von Schweiß ausgebrochen. Die fahlen Züge hatten nur ganz kurz öligen Glanz angenommen, dann waren sie auch schon klitschnaß, und der Schweiß rann ungehindert über das feiste Kinn und fiel auf den Robin-Hood-Anzug.

»Kommt vom Saufen«, sagte er töricht und versuchte, die Flut mit seinem Taschentuch einzudämmen. »Ich kriege das immer, wenn ich trinke. Verfluchtes Klima. Ich sollte ihm nicht ausgesetzt sein. Sollte niemand. Hier geht man vor die Hunde. Ich hasse dieses Land.«

»Das ist die schlechte Nachricht«, fuhr Jerry fort. Sie standen noch immer am Fenster, Seite an Seite, wie zwei Männer, die den Ausblick genießen. »Die gute Nachricht lautet fünfhundert US in ihr heißes Händchen, beste Empfehlungen von Grub Street, keiner erfährt was, und Frosti soll Direktor werden. Warum also entspannen Sie sich nicht und genießen es! Gewissermaßen.«

»Und darf ich erfahren«, japste Frost schließlich mit einem verzweifelten Versuch zur Ironie, »zu welchem Zweck Sie diese Unterlagen überhaupt einzusehen wünschen?«

»Verbrechen und Korruption, altes Haus. Die Hongkong Connection. Grub Street benennt die Schuldigen. Konto-Nummer vier vier zwei. Haben Sie es hier?« fragte Jerry und deutete auf den Safe.

Frosts Lippen formten ein »Nein«, aber aus seinem Mund kam kein Ton.

»Zweimal vier, dann die Zwei. Wo ist es?«

»Hören Sie«, murmelte Frost. Sein Gesicht war ein hoffnungsloses Durcheinander von Angst und Enttäuschung. »Tun Sie mir einen Gefallen, ja! Lassen Sie mich aus dem Spiel. Bestechen Sie einen meiner chinesischen Angestellten, okay? Das ist die richtige Methode. Ich meine, ich habe hier eine Position.«

»Sie kennen die Redensart, Frosti. In Hongkong plaudern sogar die Gänseblümchen. Ich will Sie. Sie sind hier, und Sie sind besser qualifiziert. Ist es im Tresorraum?«

Sie müssen die Sache in Gang halten, sagten sie, die Schraube ständig noch fester anziehen. Verlieren Sie die Initiative ein einziges Mal, und Sie haben sie für immer verloren. Da Frost noch immer verdattert dastand, tat Jerry, als verlöre er die Geduld. Mit einer sehr großen Hand packte er Frost an der Schulter, wirbelte ihn herum und schob ihn rückwärts, bis seine kleinen Schultern flach an den Safe gepreßt waren. »Ist es im Tresorraum?«

»Wieso soll ich das wissen?«

»Ich sag Ihnen gleich, wieso«, versprach Jerry und nickte so nachdrücklich, daß seine Haarsträhne auf- und abflog. »Ich sag Ihnen wieso, altes Haus«, wiederholte er und versetzte Frost mit der freien Hand einen leichten Schlag auf die Schulter. »Weil Sie nämlich sonst vierzig sind und auf der Straße liegen, mit einer kranken Frau am Hals und hungrigen Bambinos; und das Schulgeld und die ganze Katastrophe! Es gibt nur ein Entweder-oder, und die Entscheidung fällt jetzt. Nicht in fünf Minuten, sondern jetzt. Es ist mir egal, wie Sie's machen, aber sorgen Sie dafür, daß es unverdächtig klingt, und lassen Sie Natalie aus dem Spiel.«

Jerry führte ihn wieder in die Mitte des Büros zurück, zum Schreibtisch mit dem Telefon. Es gibt Rollen im Leben, die man unmöglich mit Würde spielen kann. Eine solche war Frost an diesem Tag zugeteilt. Er hob den Hörer ab und wählte eine einzige Zahl.

»Natalie? Oh, Sie sind noch nicht weg. Hören Sie zu, ich muß noch ungefähr eine Stunde hierbleiben, hatte gerade einen Kunden am Telefon. Sagen Sie Syd, er soll den Tresorraum offen lassen, ich verschließe ihn, sobald ich gehe, ja?« Er ließ sich in seinen Sessel fallen.

»Bringen Sie Ihr Haar in Ordnung«, sagte Jerry und trat wieder ans Fenster, während sie warteten.

»Von wegen Verbrechen und Korruption!« murrte Frost. »Na schön, und wenn er wirklich eine krumme Tour dreht: nennen Sie mir einen Chinesen, der das nicht tut. Nennen Sie mir einen Briten, der's nicht tut, Glauben Sie, das bringt die Insel wieder auf die Füße?«

»Er ist also Chinese?« sagte Jerry sehr scharf. Jerry trat wieder an den Schreibtisch und wählte selbst Natalies Nummer. Keine Antwort. Er hievte Frost behutsam aus dem Sessel und führte ihn zur Tür.

»Und schließen Sie ja nicht ab«, warnte er. »Wir müssen alles wieder reinlegen, ehe Sie gehen.«


Frost war zurückgekommen. Er saß düster am Schreibtisch, vor ihm auf der Schreibunterlage lagen drei Aktenhefter. Jerry goß ihm einen Wodka ein. Er blieb neben seiner Schulter stehen, während Frost trank, und erklärte, wie eine Zusammenarbeit dieser Art funktionierte. Frosti werde nicht das geringste spüren, sagte er. Er müsse nur alles dort liegenlassen, wo es lag, dann in den Korridor hinausgehen und die Tür sorgfältig hinter sich schließen. Neben der Tür hing ein Schwarzes Brett: Frosti habe es bestimmt schon oft angesehen, er solle sich vor dieses Schwarze Brett stellen und die Anschläge gewissenhaft studieren, einen nach dem anderen, bis er Jerry innen zweimal klopfen höre, dann könne er wieder hereinkommen. Während er lese, solle er sich so vor dem Guckloch aufstellen, daß Jerry sich seiner Gegenwart vergewissern könne und Vorüberkommenden die Einsicht versperrt bleibe. Frost könne sich überdies mit dem Gedanken trösten, daß er niemandens Vertrauen mißbraucht habe. Schlimmstenfalls könne ihm höheren Orts - oder auch von Kundenseite - vorgeworfen werden, daß er Jerry im Büro alleingelassen und damit einen technischen Verstoß gegen die Sicherheitsbestimmungen der Bank begangen habe. »Wie viele Auszüge sind in diesen Akten?«

»Woher soll ich das wissen?« fragte Frost. Die ihm bescheinigte Unschuld hatte ihn wieder ein wenig kühner gemacht. »Dann zähl' sie, altes Haus, ja? Braver Junge.« Es waren genau fünfzig, eine ganze Menge mehr, als Jerry erwartet hatte. Blieben noch Vorkehrungen zu treffen für den Fall, daß Jerry wider alle Wahrscheinlichkeit gestört werden sollte.

»Ich brauche Antragsformulare«, sagte er.

»Was denn für verdammte Antragsformulare? Ich habe hier keine Formulare«, erwiderte Frost. »Ich habe Mädchen, die mir die Dinger bringen. Nein, die hab' ich auch nicht. Die sind heute schon nach Hause gegangen.«

»Um mein Treuhandkonto in Ihrem würdigen Haus zu eröffnen, Frosti. Hier auf dem Tisch ausgebreitet, zusammen mit Ihrer vergoldeten Füllfeder für Vorzugskunden. Sie schnappen ein bißchen Luft, während ich die Formulare ausfülle. Und das ist die erste Einlage«, sagte er, zog ein kleines Bündel amerikanischer Banknoten aus der Hüfttasche und ließ sie mit einem satten Klatsch auf den Tisch fallen. Frost schielte auf das Geld, nahm es aber nicht.

Sobald Jerry allein war, ging er rasch zu Werke. Er löste die Blätter aus den Klammern und legte sie paarweise nebeneinander, so daß er zwei auf einmal fotografieren konnte. Er hielt die großen Ellbogen dicht am Körper, um eine ruhige Hand, die großen Füße leicht gegrätscht, um einen besseren Stand zu haben, wie ein Eckmannfänger beim Krickett, und die Meßkette berührte gerade noch die Papiere, um die Tiefenschärfe zu bestimmen. Wenn er nicht zufrieden war, machte er die Aufnahme nochmals. Manchmal regulierte er die Belichtungszeit. Häufig wandte er den Kopf und warf einen Blick auf den Robin-Hood-grünen Kreis im Guckloch, um sich zu vergewissern, daß Frost auf seinem Posten verharrte und nicht etwa die bewaffnete Garde herbeirief. Einmal wurde Frost ungeduldig und klopfte an das Glas, und Jerry knurrte ihn an, er solle sich still verhalten. Dann und wann hörte er Schritte näherkommen, dann ließ er alles auf dem Tisch stehen und liegen, einschließlich Geld und Antragsformulare, steckte die Kamera in die Tasche und spazierte zum Fenster, blickte auf den Hafen und fuhr sich durchs Haar, wie jemand, der vor der großen Entscheidung seines Lebens steht. Und einmal wechselte er die Kassette, eine knifflige Sache, wenn man dicke Finger hat und unter Hochspannung steht. Er wünschte sich, die alte Kamera würde dabei ein bißchen weniger Geräusch verursachen. Als er Frost hereinrief, lagen die Aktenhefter wieder auf dem Schreibtisch, die Geldscheine neben den Heftern, und Jerry fror und empfand leise Mordgelüste.

»Sie sind ein gottverdammter Narr«, verkündete Frost und stopfte die fünfhundert Dollar in die zuknöpfbare Tasche seines Jacketts. »Klar«, sagte er. Er sah sich im ganzen Büro um, verwischte seine letzten Spuren.

»Sie müssen Ihr dreckiges bißchen Verstand verloren haben«, eröffnete ihm Frost. Seine Miene war sonderbar entschlossen.

»Glauben Sie denn, Sie können einen Mann wie ihn aufs Kreuz legen? Genausogut könnten Sie versuchen, Fort Knox mit einem Brecheisen und einer Schachtel Knallfrösche beizukommen, als dieser Bande das Handwerk zu legen.«

»Mister Big persönlich. Das hab' ich gern.«

»Nein, das werden Sie bald ganz und gar nicht gern haben.«

»Sie kennen ihn, wie?«

»Wir sind wie Schinken und Ei«, sagte Frost säuerlich. »Ich gehe alle Tage bei ihm aus und ein. Sie kennen ja meine Vorliebe für die Großen und Mächtigen.«

»Wer hat dieses Konto für ihn eröffnet?«

»Mein Vorgänger.«

»Er war selbst hier, oder?«

»Nicht zu meiner Zeit.«

»Haben Sie ihn jemals gesehen?«

»Canidrome in Macao.«

»Wo?«

»Hunderennen in Macao. Hat sein letztes Hemd verwettet. Sich unters niedrige Volk gemischt. Ich war mit meinem Chinesenpüppchen dort, der vorletzten. Sie hat ihn mir gezeigt. >Der?< sagte ich. >Der? Ach ja, ein Kunde von mir.< Sie war zutiefst beeindruckt.« Ein Abglanz seines früheren Ichs erschien auf Frosts bedrücktem Gesicht. »Und eins kann ich Ihnen sagen: er hat sich auch nicht schlecht gebettet. Hatte eine sehr hübsche Blonde bei sich. Europäerin. Filmstar, dem Aussehen nach. Schwedisch. Sehr gewissenhafte Künstlerin auf der Leinwand. Hier - « Frost brachte ein gespenstisches Grinsen zustande. »Beeilung, altes Haus. Was ist?«

»Vertragen wir uns wieder. Los. Gehen wir in die Stadt. Hauen meine fünfhundert Eier in die Pfanne. In Wirklichkeit sind Sie ja gar nicht so, stimmt's? Sie tun es bloß, um sich Ihren Lebensunterhalt zu verdienen.«

Jerry kramte in seiner Tasche, fischte den Alarmschlüssel heraus und ließ ihn in Frosts leblose Hand fallen. »Den werden Sie brauchen.«

Als er das Gebäude verließ, stand ein schlanker, gutgekleideter junger Mann in tiefangesetzten amerikanischen Slacks auf den breiten Stufen. Er las ein seriös aussehendes Buch, eine gebundene Ausgabe. Den Titel konnte Jerry nicht erkennen. Der junge Mann war noch nicht sehr weit gekommen, las jedoch mit größter Konzentration, wie nur jemand, der fest entschlossen ist, sich zu bilden.

Er war wieder der Sarratt-Mann, alles übrige wich in den Hintergrund.

Immer kreuz und quer, sagten die Bärentreiber. Nie den direkten Weg nehmen. Wenn man den Fang nicht gleich verstecken kann, wenigstens die Hundenasen täuschen. Er nahm verschiedene Taxis, aber immer zu bestimmten Zielen. Zur Queen's Pier, wo er das Beladen der Fähren beobachtete und die braunen Dschunken, die zwischen den großen Schiffen dahinglitten. Nach Aberdeen, wo er mit den Touristen bummelte und mit ihnen Bauklötze staunte über diese komischen Menschen, die auf Booten hausten, und über die schwimmenden Restaurants. Nach Stanley Village und am öffentlichen Strand entlang, wo chinesische Badegäste, die bleichen Körper leicht gebeugt, als laste die Stadt noch immer auf ihren Schultern, keusch mit ihren Kindern dahinwateten. Chinesen schwimmen nicht mehr, wenn das Mondfest vorüber ist, erinnerte er sich automatisch, aber es fiel ihm im Moment einfach nicht ein, wann dieses Mondfest war. Er hatte auch daran gedacht, die Kamera an der Garderobe des Hilton-Hotels abzugeben. Er hatte daran gedacht, einen Nachttresor zu benutzen oder ein Päckchen an seine eigene Adresse aufzugeben; sich als Journalist einen speziellen Boten zu nehmen. Aber das alles war ihm nicht sicher genug - genauer gesagt, es war den Bärentreibern nicht sicher genug. Es ist ein Solo, hatten sie gesagt; im Do-it-yourself-Verfahren oder gar nicht. Also kaufte er einen Behälter: eine Tragetasche aus Plastik und ein paar Baumwollhemden zum Ausstopfen. Wenn sie deine Spur haben, dann sorge für eine Ablenkung. Sogar die ältesten Beschatter fallen drauf rein. Und wenn sie dich stellen, dann laß es fallen. Wer weiß? Vielleicht kannst du dir die Hunde lang genug vom Halse halten, um dich in die Büsche zu schlagen. Trotzdem hielt er sich von der Menge fern. Er hatte eine Heidenangst vor einem zufälligen Taschendiebstahl. In der Mietgarage drüben in Kaulun stand ein Wagen für ihn bereit. Er war ruhig - die Spannung legte sich -, aber seine Wachsamkeit ließ keine Sekunde nach. Er fühlte sich siegesgewiß, und wie er sich sonst noch fühlte, zählte nicht. Manche Arbeiten sind eben einfach dreckig.

Während der Fahrt hielt er besonders nach Hondas Ausschau, die in Hongkong das niedere Fußvolk des Beschattungsgewerbes bilden. Ehe er Kaulun verließ, unternahm er ein paar Abstecher durch Seitenstraßen. Nichts. An der Junction Road reihte er sich in den Picknick-Konvoi ein und fuhr eine weitere Stunde lang in Richtung Clear Water Bay, dankbar über den wirklich katastrophalen Verkehr, denn nichts ist schwieriger, als eine gut funktionierende Ablösung innerhalb eines Honda-Trios in einem fünfzehn Meilen langen Stau zu bewerkstelligen. Jetzt galt es, die Spiegel im Auge zu behalten, zu fahren, anzukommen und alles im Alleingang. Die Nachmittagshitze blieb mörderisch. Jerry hatte die Klimaanlage auf vollen Touren laufen, spürte aber nichts davon. Er passierte Felder voll eingetopfter Pflanzen, Seiko-Schilder, dann Karos von Reispflanzungen und Parzellen mit jungen Pfirsichbäumchen, die für den Neujahrsmarkt herangezogen wurden. Dann folgte zu seiner Linken ein schmaler Sandweg, er schwenkte scharf ein und ließ dabei den Rückspiegel nicht aus den Augen, stoppte, blieb eine Weile stehen und öffnete dann die Heckhaube, als wolle er den Motor abkühlen lassen. Ein erbsengrüner Mercedes glitt an ihm vorbei, getönte Fenster, ein Chauffeur, ein Fahrgast auf dem Vordersitz. Er war schon eine ganze Weile hinter ihm gewesen. Aber er blieb auf der Hauptstraße. Jerry überquerte die Straße, betrat ein Cafe, ging ans Telefon, wählte eine Nummer, ließ es viermal klingeln und legte auf. Er wählte die gleiche Nummer nochmals, ließ es sechsmal klingeln, und als der Hörer abgenommen wurde, legte er wieder auf. Er fuhr weiter, rumpelte durch die Überreste von Fischerdörfern bis zu einem See, wo das Schilf sich bis weit ins Wasser vorgearbeitet hatte und durch sein kerzengerades Spiegelbild verdoppelt wurde. Ochsenfrösche lärmten, und leichte Vergnügungsjachten tauchten aus dem Hitzedunst und verschwanden wieder. Der Himmel war totenblaß und senkte sich ins Wasser. Er stieg aus. In diesem Augenblick hoppelte ein alter Citroen-Lieferwagen daher, an Bord eine chinesische Familie: Coca-Cola-Hüte, Angelzeug, Kinder; aber zwei Männer, keine Frauen, und die Männer beachteten ihn nicht. Er hielt auf eine Zeile Schindelhäuser mit Balkonen zu, sehr verwahrlost und mit durchbrochenen Betoneinfriedungen davor, wie Häuser an der englischen Küste, nur daß die Bemalung von der Sonne verblichener war. Die Namen waren auf Stücken von Schiffsholz in plumpen Lettern eingebrannt: Driftwood, Susy May, Dunromin. Am Ende des Wegs war eine Bootswerft, aber sie war geschlossen, und die Jachten ankerten jetzt anderswo. Während er sich den Häusern näherte, blickte Jerry beiläufig zu den oberen Fenstern auf. Im zweiten von links stand eine grellbunte Vase voll getrockneter Blumen, deren Stengel in Silberpapier gewickelt waren. Alles klar, sagte sie. Komm rein. Er stieß das kleine Tor auf und drückte auf den Klingelknopf. Der Citroen hatte am Seeufer angehalten. Er hörte die Wagentüren zuschlagen und gleichzeitig die mißhandelte Elektronik aus der Torsprechanlage.

»Was ist denn das für ein blöder Hund?« fragte eine rollende Stimme, deren voller australischer Tonfall durch die Störgeräusche donnerte, aber der Türsummer wurde bereits betätigt, und als Jerry gegen die Tür drückte, sah er Old Craws gewaltige Gestalt im Kimono oben an der Treppe aufgepflanzt. Der Alte freute sich riesig, nannte Jerry »Monsignore« und einen »diebischen Straßenköter« und lud ihn ein, er möge seinen häßlichen Grafenarsch raufbewegen und sich einen verdammten Drink unter die Weste jubeln.

Das ganze Haus stank nach brennendem Räucherwerk. Aus den Schatten einer Tür im Erdgeschoß grinste ihn eine zahnlose Amah an, das gleiche seltsame kleine Wesen, das Luke ausgefragt hatte, als Craw in London war. Der Wohnraum befand sich im ersten Stock. Über die schmierige Täfelung verstreut waren wellige Fotos von Craws alten Kameraden, Journalisten, mit denen er sich durch fünfzig Jahre chaotischer orientalischer Geschichte gearbeitet hatte. In der Mitte stand ein Tisch mit einer altersschwachen Remington, auf der Craw angeblich jetzt seine Memoiren hackte. Im übrigen war der Raum kaum möbliert. Wie Jerry hatte Craw Nachkommen und Ehefrauen aus einem halben Dutzend Leben, und nach Bestreitung des unmittelbar Notwendigen blieb nicht mehr viel Geld für Ausstattung übrig. Das Badezimmer hatte kein Fenster.

Neben dem Waschbecken ein Entwicklertank und braune Flaschen mit Fixativ und Entwickler. Auch eine kleine Leuchtplatte mit Mattglasscheibe zum Prüfen der Negative. Craw knipste das Licht aus und werkelte zahllose Jahre hindurch in der völligen Finsternis, grunzte, fluchte und rief den Papst an. Jerry hockte schwitzend neben ihm und versuchte, die Arbeitsphasen des Alten nach dessen Flüchen zu ermitteln. Jetzt, riet er, spulte Craw den schmalen Streifen aus der Kassette um. Jerry stellte sich vor, daß er ihn allzu behutsam hielt, um die Beschichtung nicht zu beschädigen. Im nächsten Moment wird er überhaupt nicht mehr wissen, ob er ihn hält oder nicht, dachte Jerry. Er wird seine Fingerspitzen zwingen müssen, nicht loszulassen. Übelkeit befiel ihn. Im Dunkeln wurde Old Craws Fluchen viel lauter, aber nicht laut genug, um das Kreischen der Wasservögel auf dem See zu übertönen. Er ist geschickt, dachte Jerry beruhigt. Er kann es im Schlaf. Er hörte das Knirschen von Bakelit, als Craw den Deckel zuschraubte und ein »Schön ins Bettchen, du kleiner Heidenbastard« brummelte. Dann das seltsam trockene Rasseln, als er behutsam die Luftblasen aus dem Entwickler schüttelte. Dann ging die Kontrollampe mit einem Knacks an, der so laut war wie ein Pistolenschuß, und Old Craw war wieder sichtbar, rot wie ein Papagei vom Dunkelkammerlicht, über den hermetisch verschlossenen Tank gebeugt. Zuerst goß er rasch das Fixiermittel ein, dann stellte er den Tank seelenruhig auf den Kopf und richtete ihn wieder gerade, während er auf den alten Küchenwecker lauschte, der die Sekunden herunterstotterte.

Halb gelähmt von Nervosität und Hitze ging Jerry allein zurück in den Wohnraum, goß sich ein Bier ein und plumpste in einen Rohrsessel. Sein Blick war ziellos, während er auf das stetige Tropfen des Wasserhahns horchte. Durchs Fenster drang das Plappern chinesischer Stimmen. Die beiden Angler hatten ihr Gerät am Seeufer aufgestellt. Die Kinder saßen im Staub und sahen ihnen zu. Aus dem Badezimmer kam wiederum das Kratzen des Deckels, und Jerry sprang auf, aber Craw mußte ihn gehört haben, denn er knurrte »Warten« und schloß die Tür. Linienpiloten, Journalisten, Spione, warnte die Sarratt-Doktrin. Der gleiche Schlauch. Verdammte Warterei, und dann zwischendurch ein irrer Rummel.

Er will's erst sehen, dachte Jerry: falls sie verpatzt sind. Nach der Hackordnung mußte Craw seinen Frieden mit London machen, nicht Jerry. Craw, der ihn im äußersten Notfall zu einer zweiten Runde mit Frost ausschicken würde.

»Was machen Sie denn da drinnen, um Himmels willen?« brüllte Jerry. »Was ist los?«

Vielleicht pinkelt er nur, dachte er töricht.

Langsam öffnete sich die Tür. Craws Feierlichkeit war erschreckend.

»Sie sind nichts geworden«, keuchte Jerry.

Er hatte das Gefühl, sich Craw nicht verständlich machen zu können. Er wollte es nochmals sagen, laut. Er wollte schon herumtanzen und eine blödsinnige Szene machen. So daß Craws Antwort, als sie endlich erfolgte, gerade noch zur rechten Zeit kam.

»Im Gegenteil, mein Sohn.« Der alte Knabe trat einen Schritt vor, und Jerry konnte jetzt die Filme sehen, die wie schwarze nasse Würmer an Craws kleiner Wäscheleine baumelten, von rosa Klammern festgehalten. »Im Gegenteil, Sir«, sagte er. »Jedes einzelne ist ein kühnes und erregendes Meisterstück.«


Noch mehr über Pferde


Die ersten Meldungen über Jerrys Erfolge tröpfelten frühmorgens im Circus ein, wo bisher tödliche Stille geherrscht hatte, und sie machten das Wochenende zu einem einzigen Wirbel. Guillam, der wußte, was ihn erwartete, hatte sich um zehn zu Bett begeben und einen unruhigen Schlaf getan, unterbrochen von Besorgnisanfällen um Jerry und unverhüllt sündigen Visionen von Molly Meakin mit und ohne ihren braven Badeanzug. Jerry sollte sich kurz nach vier Uhr morgens Londoner Zeit bei Frost einfinden, und um drei Uhr dreißig knatterte Guillam in seinem alten Porsche durch neblige Straßen zum Circus. Es hätte Morgengrauen oder Abenddämmerung sein können. Als er die Rumpelkammer betrat, sah er Connie die letzten leeren Felder des Kreuzworträtsels der Times ausfüllen und Doc di Salis über den Meditationen Thomas Trahernes sitzen, sich am Ohr zupfen und gleichzeitig mit dem Fuß wippen, wie ein Ein-Mann-Schlagorchester. Ruhelos wie immer flitzte Fawn zwischen ihnen hin und her, wischte Staub und räumte auf wie ein Kellner, der ungeduldig auf die nächste Gästeschicht wartet. Dann und wann saugte er an den Zähnen und ließ in kaum noch beherrschter Frustration ein fauchendes »Pff« hören. Eine Schwade von Tabaksqualm hing wie eine Regenwolke im Raum, vereint mit dem üblichen Gestank nach abgestandenem Tee aus dem Samowar. Smileys Tür war geschlossen, und Guillam sah keinen Grund, ihn zu stören. Er schlug eine Nummer von Country Life auf. Wie wenn man bei einem Scheiß-Zahnarzt wartet, dachte er, saß da und glotzte gedankenlos auf die Fotos großartiger Häuser, bis Connie leise ihr Kreuzworträtsel weglegte, sich kerzengerade aufsetzte und sagte: »Horcht«. Dann hörte er das grüne Telefon der Vettern kurz schnarren, bis Smiley abhob. Durch die offene Tür zu seinem eigenen Büro blickte Guillam auf die Reihe elektronischer Boxen. An einer von ihnen brannte ein grünes Warnlicht während der ganzen Dauer des Gesprächs. Dann klingelte der Anschluß in der Rumpelkammer, und diesmal war Guillam schneller als Fawn.

»Er hat die Bank betreten«, verkündete Smiley kryptisch über die Nebenstellenanlage.

Guillam gab die Nachricht an die Versammlung weiter: »Er ist in die Bank reingegangen«, sagte er, aber er hätte ebensogut zu den Toten sprechen können. Niemand gab das kleinste Zeichen, daß er ihn gehört hatte.

Um fünf hatte Jerry die Bank wieder verlassen. Nervös erwog Guillam die weiteren Möglichkeiten. Er fühlte sich physisch übel. Verbrennen war ein gefährliches Spiel, und wie die meisten Profis war Guillam dagegen, wenn auch nicht aus Gewissensgründen. Da war zuerst einmal die verfolgte Beute, oder, noch schlimmer, die Schar der Engel von der Ortspolizei. Zweitens das Verbrennen selbst: nicht jeder reagiert logisch auf Erpressung. Es gibt Helden, es gibt Lügner, es gibt hysterische Jungfrauen, die den Kopf in den Nacken werfen und Zeter und Mordio schreien, auch wenn es ihnen Spaß macht. Aber die größte Gefahr kam jetzt, nachdem der Brand gelegt war und Jerry der rauchenden Bombe den Rücken kehren und losrennen mußte. Nach welcher Seite würde Frost sich stürzen? Würde er die Polizei anrufen? Seine Mutter? Seinen Boß? Seine Frau? »Darling, ich gestehe alles, rette mich, und wir wollen ein neues Leben beginnen.« Guillam schloß nicht einmal die grauenhafte Möglichkeit aus, daß Frost direkt zu seinem Kunden gehen könnte: »Sir, ich habe mich für einen gröblichen Bruch des Bankgeheimnisses zu verantworten.« Guillam schauderte in der Unheimlichkeit der frühen Morgenstunde und konzentrierte seine Gedanken energisch auf Molly. Als das grüne Telefon wiederum ertönte, hörte Guillam es nicht. George mußte praktisch auf dem Ding gesessen haben. Plötzlich glomm das Lämpchen in Guillams Büro auf, und es glomm fünfzehn Minuten lang weiter. Es erlosch, und sie warteten, aller Augen auf Smileys Tür geheftet, als wollten sie ihn aus seiner Klause hypnotisieren. Fawn war mitten in der Bewegung erstarrt, einen Teller mit braunen Marmeladebroten in der Hand, die niemand je essen würde. Dann bewegte sich die Klinke und Smiley erschien mit einem Wald-und-Wiesen-Suchantrag in der Hand, den er bereits in seiner sauberen Schrift ausgefüllt und mit »Stripe« gekennzeichnet hatte, was »Eilige Chefsache« bedeutete und die höchste Dringlichkeitsstufe darstellte. Er gab es Guillam und bat ihn, es sofort der Bienenkönigin in der Registratur zu bringen und bei ihr stehenzubleiben, während sie den Namen heraussuchte. Als Guillam es entgegennahm, fiel ihm eine frühere Gelegenheit ein, bei der er mit einem ähnlichen Formular zu tun gehabt hatte, das mit Worthington Elizabeth alias Lizzie begonnen und mit »Edelnutte« geendet hatte. Und im Hinausgehen hörte er, wie Smiley ruhig an Connie und di Salis die Aufforderung richtete, mit ihm in den Thronsaal zu kommen, während Fawn zur allgemeinen Bibliothek abzischte, um von dort die letzte Ausgabe von »Who's Who in Hong Kong« zu holen. Die Bienenkönigin war eigens für die Frühschicht eingeteilt worden, und als Guillam zu ihr hereinkam, glich ihre Höhle einem Gemälde aus der Reihe »Die Nacht, in der London brannte«, komplett mit eisernem Feldbett und Spirituskocher, obwohl im Korridor eine Kaffeemaschine stand. Alles, was sie braucht, ist eine Garnitur Kochtöpfe und ein Porträt Winston Churchills, dachte er. Die einzelnen Angaben auf dem Formular lauteten; »Ko, Vorname Drake, andere Namen unbekannt, geboren 1925 in Schanghai, wohnhaft zur Zeit Seven Gates, Headland Road, Hongkong, Beruf Vorsitzender und geschäftsführender Direktor von >China Airsea Ltd., Hong Kong<.« Die Bienenkönigin stürzte sich in eine eindrucksvolle Schnitzeljagd, aber alles, was sie schließlich zutage förderte, war die Information, daß Ko im Jahr 1966 (Hongkong-Liste) »wegen besonderer Verdienste um das Wohlfahrts- und Sozialwesen der Kolonie« für den O. B. E., den Order of the British Empire, vorgeschlagen wurde und daß der Circus damals auf das Ansuchen des Gouverneurs um kritische Nachprüfung die Auskunft erteilt habe, »laut Akten keine Hinderungsgründe«, ehe die Auszeichnung nach oben zur Bestätigung weitergeleitet wurde. Während er mit dieser frohen Botschaft treppauf eilte, war Guillam wach genug, um sich zu erinnern, daß »China Airsea Ltd., Hong Kong« von Sam Collins als letztendlicher Eigner jener Schmalspur-Fluggesellschaft in Vientiane genannt worden war, die als Empfängerin von Handels-Boris' milden Gaben fungierte; was Guillam als höchst logische Verbindung ansah. Zufrieden mit sich selber kehrte er in den Thronsaal zurück, um dort von Grabesschweigen empfangen zu werden. Über den Fußboden verstreut lag nicht nur die letzte Ausgabe von »Who's Who«, sondern auch eine ganze Anzahl älterer Bände: Fawn war wieder einmal übers Ziel hinausgeschossen. Smiley saß an seinem Schreibtisch und starrte auf ein Blatt mit Notizen in seiner eigenen Handschrift, Connie und di Salis starrten auf Smiley, Fawn hingegen war wieder abwesend, vermutlich auf einem weiteren Botengang. Guillam reichte Smiley das Formular, in dessen Mitte die Bienenkönigin ihre Entdeckungen in gestochener Schrift niedergelegt hatte. Im gleichen Augenblick surrte das grüne Telefon wieder. Smiley nahm den Hörer auf und begann, auf das Blatt Papier, das vor ihm lag, zu kritzeln.

»Ja. Danke, habe ich. Bitte weiter. Ja, habe ich auch.« Und so weiter, zehn Minuten lang, bis er sagte: »Gut. Dann bis heute Abend«, und auflegte.

Draußen auf der Straße proklamierte ein irischer Milchmann enthusiastisch, daß er nie wieder der wilde Vagabund sein werde. »Westerby hat die komplette Akte an Land gezogen«, sagte Smiley endlich - wobei er, wie alle anderen, ihn nur mit seinem Arbeitsnamen bezeichnete. »Sämtliche Zahlen.« Er nickte, als stimmte er sich selber zu und studierte weiterhin das Blatt Papier. »Der Film wird nicht vor heute abend hier sein, aber das Muster ist bereits klar. Alles, was ursprünglich über Vientiane bezahlt wurde, ist auf dem Konto in Hongkong gelandet. Von allem Anfang an war Hongkong die Endstation der Goldader. Für alles. Bis zum letzten Cent. Keine Abzüge, nicht einmal für Bankspesen. Es war anfangs eine bescheidene Zahl, dann stieg sie steil an, warum, das können wir nur ahnen. Alles, wie Collins gesagt hat. Bis die Summe bei 25 000 pro Monat angelangt war und dort blieb. Als die Verbindung über Vientiane endete, ließ die Zentrale nicht einen einzigen Monat aus. Die Umstellung auf die andere Route erfolgte augenblicklich. Sie haben recht, Con. Karla unternimmt nie etwas ohne eine Ausweichmöglichkeit.«

»Er ist ein Profi, darling«, murmelte Connie Sachs. »Wie Sie.«

»Nicht wie ich.« Er las in seinen Notizen weiter. »Es ist ein Anderkonto«, erklärte er im gleichen natürlichen Ton. »Nur ein Name ist angegeben, und zwar der des Trustgründers. Ko. Verfügungsberechtigter unbekannt, heißt es. Vielleicht erfahren wir heute abend, warum. Nicht ein Penny wurde bis jetzt abgehoben«, sagte er, ausschließlich an Connie Sachs gewandt. Er wiederholte es: »Seit die Einzahlungen vor drei Jahren begannen, wurde kein einziger Penny von dem Konto abgehoben. Der Saldo beläuft sich auf etwa eine halbe Million amerikanischer Dollar.

Mit Zins und Zinseszins wächst es natürlich rasch.« Für Guillam war diese letztere Information glatter Wahnsinn. Was zum Teufel sollte eine Goldader von einer halben Million, wenn das Geld am anderen Ende nicht benutzt wurde? Für Connie Sachs und di Salis hingegen war dieser Punkt offensichtlich von enormer Bedeutung. Ein Krokodilslächeln breitete sich langsam über Connies Züge, und ihre Babyaugen hefteten sich in lautloser Ekstase auf Smiley.

»Oh, George«, hauchte sie schließlich, als die Enthüllung in sie eingesickert war. »Darling. Anderkonto! Ja, das ist ein anderes Paar Stiefel. Natürlich, mußte es ja sein, nicht wahr. Alle Anzeichen waren vorhanden. Vom allerersten Tag an. Und wenn die fette, blöde Connie nicht so alt und tatterich und unnütz wäre und nicht ein Brett vor dem Hirn hätte, denn wäre ihr längst alles klar. Fassen Sie mich nicht an, Peter Guillam, Sie junger Sittenstrolch.« Sie umklammerte mit den verkrüppelten Händen die Armlehnen und stemmte sich mühsam hoch. »Aber wer kann soviel wert sein? Vielleicht ein Agentennetz? Nein, nein, für ein Netz würden sie das nie und nimmer tun. Kein Präzedenzfall. Keine ungezielte Sache, war noch nie da. Also wer kann es sein? Was mag er zu liefern haben, was so viel wert wäre?« Sie humpelte zur Tür, zerrte den Schal über ihre Schultern und glitt bereits hinüber in ihre eigene Welt: »Karla wirft nicht so mit dem Geld herum.« Sie hörten sie noch eine ganze Weile murmeln. Im Büro der Mütter durchschritt Connie das Spalier der zugedeckten Schreibmaschinen, vermummte Schildwachen im Schummerlicht. »Karla ist ein solcher Geizkragen, daß er findet, seine Agenten sollten gratis für ihn arbeiten! Genau. Bezahlt sie pfennigweise. Taschengeld. Inflation hin oder her, aber eine halbe Million Dollar für einen einzigen kleinen Maulwurf! Nie von sowas gehört!«

di Salis war auf seine schrullige Art nicht weniger beeindruckt als Connie. Er saß da, hatte den oberen Teil seines verdrehten, unproportionierten Körpers nach vorn gekippt und stocherte so ungestüm mit einem silbernen Messer im Pfeifenkopf, als wäre es ein angebrannter Kochtopf. Das silberne Haar am Hinterkopf starrte wie ein Hahnenkamm über dem schuppenbedeckten Kragen seines zerknitterten schwarzen Jacketts. »Nun, well, kein Wunder, daß Karla die Leichen verschwinden lassen wollte«, platzte er plötzlich heraus, als hätte so viel Aktivität die Worte aus ihm herauskatapultiert. »Kein Wunder. Karla ist auch ein alter Chinahase, müssen Sie wissen. Beglaubigte Tatsache. Ich weiß es von Connie.« Er rappelte sich hoch und raffte viel zu viele Gegenstände mit den kleinen Händen an sich: Pfeife, Tabaksdose, sein Federmesser und seinen Thomas Traherne. »Natürlich keine Intelligenzbestie. Erwartet man auch nicht. Karla ist kein Gelehrter, er ist Soldat. Aber auch nicht blind, kein Gedanke, sagte sie mir. Ko.« Er wiederholte den Namen in verschiedenen Lautqualitäten. »Kö. Ko. Ich muß die Ideogramme sehen. Alles hängt von den Ideogrammen ab. Höhe . . . Baum-. . . sogar, ja, Baum wäre möglich . . . oder nicht? ... oh, und noch mehrere weitere Bedeutungen. >Drake< ist natürlich Missionsschule. Missionsschüler in Schanghai. Mhm, well, allererste Parteizelle war in Schanghai. Warum habe ich das gesagt? Drake Ko. Frage mich, wie er wirklich heißen mag. Aber das werden wir bestimmt alles bald herausbekommen. Ja. Gut. Also, dann begebe ich mich auch wieder an meine Lektüre. Smiley, glauben Sie, daß ich einen Kohlenschütter in mein Zimmer kriegen kann? Ohne Heizung erfriert man einfach. Ich habe die Housekeepers schon ein Dutzendmal gebeten und nur impertinente Bemerkungen einstecken müssen. Anno domini wahrscheinlich, aber der Winter steht wohl schon vor der Tür. Sie zeigen uns doch das Rohmaterial, sobald es eintrifft? Man arbeitet nicht gern allzu lang an konstruierten Versionen. Ich werde einen Lebenslauf zusammenstellen. Soll meine erste Arbeit sein. Ko. Ah, vielen Dank, Guillam.«

Er hatte seinen Thomas Traherne fallenlassen. Als er ihn entgegennahm, entglitt ihm die Tabaksdose, also hob Guillam auch sie auf: »Drake Ko. Schanghainese bedeutet natürlich überhaupt nichts. Schanghai war der wahre Schmelztiegel. Die Lösung lautet Chiu Chow, nach allem, was wir wissen. Trotzdem, keine voreiligen Schlüsse. Baptist. Nun ja, das sind die Christen in Chiu Chow größtenteils, nicht wahr! Swatonese: wo kam das vor? Ja, die zwischengeschaltete Gesellschaft in Bangkok. Ja, das paßt ganz gut. Oder Hakka. Was sich gegenseitig nicht ausschließt, ganz und gar nicht.« Er stelzte hinter Connie her in den Korridor hinaus und ließ Guillam allein mit Smiley, der aufstand, zu einem Lehnstuhl hinüberging, sich hineinfallen ließ und blicklos ins Feuer starrte.

»Komisch«, bemerkte er endlich. »Man fühlt keinen Schock. Warum nicht, Peter. Sie kennen mich. Warum denn nicht?« Guillam war klug genug, zu schweigen.

»Ein großer Fisch. In Karlas Sold. Anderkonten, die Gefahr, daß russische Spione mitten im Herzen der Kolonie am Werk sind. Also, warum fühlt man keinen Schock?« Wieder bellte das grüne Telefon, diesmal nahm Guillam den Anruf entgegen. Während er am Apparat stand, sah er zu seinem Erstaunen einen neuen Band von Sam Collins' Fernost-Berichten offen auf dem Schreibtisch liegen.

Das war das Wochenende. Connie und di Salis verschwanden spurlos; Smiley machte sich daran, seine Eingabe an Whitehall auszuarbeiten. Guillam glättete sein Gefieder, trommelte die Mütter zusammen und teilte sie zur Schichtarbeit ein. Am Montag rief er nach eingehender Vergatterung durch Smiley Lacons Privatsekretär an. Er machte es sehr gut. »Kein Tamtam«, hatte Smiley ihn gewarnt. »Ganz lässig.« Und genauso tat Guillam. Neulich abends beim Dinner sei die Rede gewesen - so sagte er - von einem prima facie Fall, der möglicherweise vor den Lenkungsausschuß gehöre.

»Die Sache hat ein bißchen Gestalt angenommen, es wäre daher vielleicht am Platz, einen Termin zu bestimmen. Geben Sie uns die Schlagfolge, und wir lassen die Unterlagen vorher herumgehen.«

»Eine Schlagfolge?«

Lacons Privatsekretär war eine fette Stimme namens Pym.

Guillam war ihm nie begegnet, haßte ihn jedoch ganz unsinnig.

»Ich kann es ihm nur sagen«, gab Pym zu bedenken, »ich kann es ihm sagen und dann zusehen, was er antwortet, und rufe dann zurück. Seine Tanzkarte für diesen Monat ist fast voll.«

»Es wäre nur ein ganz kleiner Walzer, wenn er's möglich machen könnte«, sagte Guillam und legte zornbebend auf. Warte nur, du Blödmann, dann wirst du schon sehen, was dir blüht, dachte er.


Wenn in London ein freudiges Ereignis fällig ist, sagt der Volksmund, dann kann der Außenagent nur im Wartezimmer auf und ab traben. Linienpiloten, Journalisten, Spione: die verfluchte Warterei hatte Jerry wieder am Wickel.

»Wir sind eingemottet«, verkündete Craw. »Jetzt heißt's abwarten, und achten Sie auf alles, was Sie tun.« Sie sprachen mindestens jeden zweiten Tag miteinander, Kassiber-Anrufe zwischen zwei neutralen Telefonen, meist von einer Hotelhalle zur anderen. Sie maskierten ihre Unterhaltung durch eine Mischung aus Sarratt-Wortcode und Journalisten-Kauderwelsch.

»Ihr Artikel muß noch höheren Orts abgesegnet werden«, sagte Craw. »Wenn unsere Redakteure auf Zack sind, bringen sie ihn beizeiten. Inzwischen Finger in die Nase und drinlassen. Das ist ein Befehl.«

Jerry hatte keine Ahnung, wie Craw mit London sprach, und er wollte es auch nicht wissen, solange es nur sicher war. Er vermutete über einen Vertrauensmann aus der riesigen unberührbaren regulären Nachrichtendienst-Bruderschaft, aber er wußte es nicht.

»Ihr Job ist es, Futter für das Comic zu sammeln, und stecken Sie sich eine Kopie unters Hemd, damit Sie sie Bruder Stubbs vor den Latz knallen können, wenn die nächste Krise kommt«, hatte Craw zu ihm gesagt. »Und sonst nichts, verstanden?« Jerry griff auf seine Spritztouren mit Frost zurück und verzapfte einen Artikel über die Auswirkung des amerikanischen Truppenabzugs auf das Nachtleben von Wanchai: »Was ist aus Susi Wong geworden, seit keine kriegsmüden GIs mit dicken Brieftaschen mehr zu Spiel und Spaß anrücken?« Er tippte ein »Interview im Morgengrauen« mit einer ebenso unglücklichen wie frei erfundenen Barfrau, die bereits so runter war, daß sie japanische Kunden annahm, schickte es per Luftfracht ab und überredete Lukes Büro, die Nummer des Frachtbriefs per Telex durchzugeben, alles genau wie Stubbs angeordnet hatte. Jerry war durchaus kein unfähiger Reporter, aber so wie er unter Druck sein Bestes leisten konnte, war Müßiggang das Schlechteste für ihn. Doch zu seinem Erstaunen bestätigte Stubbs die Annahme umgehend und sogar gnädigst - ein »Herogramm« nannte Luke es, als er den Text von seinem Büro aus durchtelefonierte -, und Jerry sah sich nach weiteren würdigen Objekten um. Ein paar sensationelle Korruptionsprozesse, bei denen die übliche Clique mißverstandener Polizisten im Mittelpunkt stand, interessierten gute Blätter, aber nach genauerem Hinsehen fand Jerry, daß sie keine Exportchancen hätten. England war mit diesem Artikel zur Zeit selber bedient. Eine »Kontaktpostille« beauftragte ihn, einem Gerücht über die angebliche Schwangerschaft der Miss Hong Kong nachzugehen, das ein Konkurrenzblatt in Umlauf gebracht hatte, aber eine Verleumdungsklage kam ihm zuvor. Er besuchte eine unergiebige Pressekonferenz der Regierung, die Shallow Throat abhielt, selbst ein humorloser Ausgestoßener einer nordirischen Tageszeitung, vertrödelte einen Vormittag mit dem Aufstöbern einstmals erfolgreicher Stories, die man wieder aufwärmen könnte; und da eine Beschneidung des Armee-Etats im Gespräch war, ließ er sich einen Nachmittag lang von einem Public-Relations-Major, der aussah wie achtzehn, in der Gurkha-Garnison herumführen. Und, nein, der Herr Major wußte nicht, vielen Dank, so die Antwort auf Jerrys unbekümmerte Frage, wie seine Männer ihr Sexualleben gestalten würden, wenn ihre Familien nach Nepal zurückmüßten. Sie würden ungefähr alle drei Jahre ihre Heimatdörfer besuchen dürfen, meinte er und schien dies in jedem Fall für ausreichend zu halten. Jerry trieb die Fakten aus, bis sie den Eindruck vermittelten, die Gurkhas wären bereits eine Brigade von Strohwitwern, »Kalte Duschen in Heißem Klima für Britanniens Söldner«, und sicherte sich damit triumphierend einen Vorsprung in der Berichterstattung. Er hortete noch ein paar Stories für Notzeiten, lungerte an den Abenden im Club herum und zerquälte sich das Hirn, während er darauf wartete, daß das Circuskind das Licht der Welt erblickte.. »Herrgottnochmal«, beklagte er sich bei Craw, »der verdammte Kerl liegt doch praktisch auf dem Präsentierteller.«

»Trotzdem«, sagte Craw unerbittlich.

Also sagte Jerry »Yes, Sir«, und fing ein paar Tage danach aus schierer Langeweile an, seine gänzlich inoffiziellen Nachforschungen über Leben und Lieben von Mr. Drake Ko, O. B. E., »Steward« des »Royal Hong Kong Jockey Club«, Millionär und über jeden Verdacht erhabener Bürger, zu betreiben. Nichts Aufsehenerregendes; nichts was nach Jerrys Auffassung verbotswidrig gewesen wäre; denn der Außenagent müßte erst geboren werden, der sich nicht irgendwann einmal über die Grenzen seines Auftrags hinausverirrte. Er begann mit versuchsweisen Vorstößen: wie Angriffe auf eine verbotene Keksdose. Zufällig hatte er bereits erwogen, Stubbs eine dreiteilige Serie über die »Reichen und die Superreichen von Hongkong« vorzuschlagen. Als er eines Tages vor dem Lunch unter den Nachschlagewerken im Auslandskorrespondenten-Club herumsuchte, tat er es unwissentlich Smiley gleich und schlug in der letzten Ausgabe von »Who's Who in Hong Kong« den Passus Ko, Drake auf: verheiratet, ein Sohn, der 1968 starb, seinerzeit Jurastudent am Grey's Inn, London, aber offenbar nicht erfolgreich; da sich kein Vermerk über eine Aufnahme in die Anwaltskammer fand. Dann eine Aufzählung seiner über zwanzig Direktorenposten. Hobbies: Pferderennen, Segeln und Jade. Für wen galt das nicht? Dann die wohltätigen Einrichtungen, die er unterstützte, einschließlich einer Baptistenkirche, eines Chiu Chow Spirit Tempel und des Drake-Ko-Kinderspitals. Nach allen Seiten abgesichert, dachte Jerry erheitert. Das Foto zeigte die übliche sanftäugige, zwanzigjährige schöne Seele, reich an Verdiensten und irdischen Gütern, und war im übrigen unerkennbar. Der Name des toten Sohnes war Nelson, stellte Jerry fest: Drake und Nelson, britische Admirale. Es wollte ihm nicht aus dem Kopf, daß der Vater nach dem ersten britischen Seemann getauft sein sollte, der in die chinesischen Meere vorstieß, und der Sohn nach dem Helden von Trafalgar. Jerry hatte viel weniger Schwierigkeiten als Peter Guillam, die Verbindung zwischen »China Airsea« in Hongkong und »Indocharter, Vientiane S. A.« herzustellen, und es belustigte ihn, als er im Firmenprospekt von »China Airsea« las, die Gesellschaft betreibe »weitgestreute Handels- und Transportgeschäfte in ganz Südostasien« - zum Beispiel Reis, Fisch, Elektroartikel, Teak, Immobilien und Spedition.

Als er wieder einmal Lukes Büro heimsuchte, ging er einen kühnen Schritt weiter: ein bloßer Zufall schob ihm den Namen Drake Ko unter die Nase. Zugegeben, er hatte unter Ko in der Ablagekartei nachgeschlagen. Genau so, wie er ein Dutzend oder zwanzig andere reiche Chinesen der Kolonie nachgeschlagen hatte; genau so, wie er die chinesische Bürodame in aller Unschuld gefragt hatte, wer ihrer Meinung nach die für seine Zwecke am besten geeigneten und exotischsten Millionäre seien. Und wenn Drake vielleicht auch nicht zu ihren absoluten Favoriten zählen mochte, so bedurfte es wenig Mühe, ihr den Namen und folglich auch die dazugehörigen Unterlagen zu entlocken. Wie er Craw bereits geklagt hatte, war es tatsächlich deprimierend, um nicht zu sagen traumatisierend, einem derart im Licht der Öffentlichkeit stehenden Mann auf Schleichpfaden nachzuspüren. Sowjetische Geheimdienstagenten traten, nach Jerrys beschränkter Erfahrung mit dieser Spezies, normalerweise in bescheidener Gestalt auf. Ko wirkte vergleichsweise überdimensional. Erinnert mich an Old Sambo, dachte Jerry. Zum erstenmal drängte sich ihm ein solcher Vergleich auf. Die detaillierteste Ausbeute bot eine auf Glanzpapier gedruckte Illustrierte namens Goldener Orient, die inzwischen ihr Erscheinen eingestellt hatte. In einer der letzten Nummern befaßte sich eine achtseitige Bildreportage, betitelt »Die Roten Ritter von Nangyang«, mit der wachsenden Zahl von Übersee-Chinesen, die einträgliche Handelsbeziehungen zu Rotchina unterhielten, gemeinhin als die fetten Fische bekannt. Nangyang bedeutete, wie Jerry wußte, die Meere südlich von China; und erweckte in den Chinesen die Vorstellung eines Eldorado des Friedens und Wohlstands. Jedem der auserwählten Honoratioren widmete der Artikel eine Seite Text und ein Foto, das den Betreffenden meist vor dem Hintergrund seines Besitztums zeigte. Der Held des Hongkong-Interviews - andere spielten in Bangkok, Manila, Singapur - war der >allgemein beliebte< Sportsmann und Steward des >Jockey Club<, Mr. Drake Ko, Präsident, Vorsitzender, geschäftsführender Direktor und Hauptaktionär von >China Airsea<«, und das Foto zeigte ihn mit seinem Pferd Lucky Nelson am Ende einer erfolgreichen Rennsaison in Happy Valley. Der Name des Pferdes machte den Europäer Jerry stutzig. Er fand es makaber, daß ein Vater einem Pferd den Namen seines toten Sohnes geben sollte.

Das dazugehörige Bild enthüllte weit mehr als die nichtssagenden Schnappschüsse in »Who's Who«. Ko wirkte fröhlich, ja sogar übermütig, und obwohl er eine Kopfbedeckung trug, hatte man den Eindruck, er sei kahl. Die Kopfbedeckung war im Moment das Interessanteste an Ko, denn es handelte sich um eine, die man, soweit Jerry das beurteilen konnte, noch nie an einem Chinesen gesehen hatte. Es war eine Baskenmütze, schräg aufgesetzt, und sie reihte Ko irgendwo zwischen einem britischen Soldaten und einem französischen Zwiebelhändler ein: aber vor allem verriet sie die für einen Chinesen allerseltenste Eigenschaft: Selbstironie. Er war offensichtlich hochgewachsen, er trug einen Burberry-Mantel, und seine langen Hände ragten wie Äste aus den Ärmeln hervor. Er schien das Pferd wirklich sehr gern zu haben, ein Arm ruhte leicht auf dem Rücken des Tieres. Auf die Frage, warum er noch immer eine Dschunkenflotte unterhielte, was doch allgemein als unrentabel galt, erwiderte er: »Meine Leute sind Hakkas aus Chiu Chow. Wir atmeten das Wasser ein, bebauten das Wasser, schliefen auf dem Wasser. Boote sind mein Element.« Gern schilderte er auch seine Reise von Schanghai nach Hongkong im Jahre 1951. Damals war die Grenze noch offen, und es bestanden keine wirksamen Einwanderungsbeschränkungen. Dennoch hatte Ko es vorgezogen, die Reise auf einem Fischerboot zu machen, Piraten, Blockaden und Unbilden der Witterung zum Trotz: was man, gelinde ausgedrückt, als exzentrisch bezeichnen konnte.

»Ich bin ein großer Faulpelz«, soll er gesagt haben. »Wenn der Wind mich umsonst treibt, warum dann zu Fuß gehen? Jetzt besitze ich eine Jacht von sechzig Fuß Länge, aber ich liebe das Meer noch immer.«

Berühmt für seinen Humor, sagte der Artikel.

Ein guter Agent muß Unterhaltungswert haben, sagen die Bärentreiber von Sarratt: das hatte auch die Moskauer Zentrale begriffen.

Da er unbeobachtet war, schlenderte Jerry hinüber zur Ablage und hatte sich ein paar Minuten später einen dicken Band mit Presseausschnitten angeeignet, vorwiegend über einen Aktienskandal von 1965, bei dem Ko und eine Gruppe Swatonesen eine undurchsichtige Rolle gespielt hatten. Die Ermittlungen der Börsenaufsicht erwiesen sich, wie kaum überraschte, als nicht schlüssig und wurden ad acta gelegt. Im folgenden Jahr bekam Ko seinen O. B. E.: »Wenn du jemanden kaufst«, pflegte Old Sambo zu sagen, »dann kauf ihn gründlich.«

In Lukes Büro arbeitete ein Stab von chinesischen Rechercheuren, unter ihnen ein geselliger Kantonese namens Jimmy, der häufig im Club auftauchte und gegen chinesische Entlohnung das Orakel für Chinafragen spielte. Jimmy sagte, die Swatonesen seien ein Volk für sich, »wie die Schotten oder die Juden«, unternehmend, stammesverbunden und notorisch geizig und siedelten am Meer, so daß sie dort Zuflucht finden konnten, wenn sie verfolgt wurden, am Verhungern oder tief verschuldet waren. Er sagte, ihre Frauen seien sehr begehrt, denn sie seien schön, fleißig, genügsam und wollüstig.

»Sind Sie wieder einen Roman am Schreiben, Westerby?« fragte der Zwerg honigsüß, als er aus seinem Büro kam, um nachzusehen, was Jerry trieb. Jerry hatte fragen wollen, warum ein Swatonese in Schanghai erzogen sein sollte, aber er fand es klüger, auf ein weniger delikates Thema umzuschwenken. Am nächsten Tag lieh Jerry sich Lukes klappriges Auto aus. Mit einer gewöhnlichen Fünfunddreißigmillimeter-Kamera ausgerüstet fuhr er zur Headland Road, einem Millionärs-Getto zwischen Repulse Bay und Stanley, wo er demonstrativ vor den Villen hielt und sich den Hals verrenkte, wie es viele müßige Touristen tun. Seine Tarngeschichte war noch immer diese Reportage für Stubbs über die »Reichen und die Superreichen von Hongkong«: auch jetzt noch hätte er nicht einmal sich selber eingestanden, daß er wegen Drake Ko hierherkam.

»Er macht Krach in Taipeh«, hatte Craw ihm bei einem ihrer Telefongespräche beiläufig erzählt. »Wird nicht vor Donnerstag zurück sein.« Wieder einmal akzeptierte Jerry fraglos Craws Nachrichtenverbindungen.

Er fotografierte das Haus namens Seven Gates nicht, aber er musterte es wiederholt mit langen, dämlichen Blicken. Er sah eine niedrige ziegelgedeckte Villa, ein gutes Stück von der Straße zurückgesetzt, mit einer großen Veranda auf der Meerseite und einer Pergola aus weißgetünchten Säulen, die sich vor dem blauen Horizont abhoben. Craw hatte ihm erzählt, daß Drake den Namen gewählt haben mußte, weil in Schanghai die alte Stadtmauer von sieben Toren durchbrochen wurde. »Gefühle, mein Sohn. Unterschätzen Sie niemals die Macht der Gefühle über ein Schlitzauge, und zählen Sie niemals darauf. Arrien.« Er sah Rasenflächen, darunter zu seiner Belustigung auch einen Krocketrasen. Er sah eine schöne Sammlung von Azaleen und Hibiskus. Er sah das Modell einer Dschunke, etwa zehn Fuß lang, auf einem Zementmeer, und er sah eine Gartenbar, rund wie ein Musikpavillon, mit einer blau-weiß gestreiften Markise darüber, und einen Kreis leerer weißer Stühle, beaufsichtigt von einem Boy in weißer Tunika, weißen Hosen und weißen Schuhen. Die Kos erwarteten offenbar Gäste. Er sah weitere Hausboys eine tabakfarbene Rolls-Royce-Phantom-Limousine waschen. Die lange Garage war offen, und er zählte einen kombiartigen Chrysler und einen schwarzen Mercedes, dessen Nummernschild entfernt war, vermutlich im Zuge irgendeiner Reparaturarbeit. Aber er achtete sorgfältig darauf, den anderen Häusern an der Headland Road die gleiche Aufmerksamkeit zu schenken, und er fotografierte drei davon. Dann fuhr er weiter nach Deep Water Bay, stand am Strand und blickte auf die kleine Armada der Dschunken und Motorboote im Besitz der Börsianer, konnte aber die »Admiral Nelson«, Kos berühmte Hochseejacht, nicht entdecken - die Allgegenwart des Namens Nelson wurde nachgerade drückend. Als er schon aufgeben wollte, hörte er einen Ruf von drunten, ging einen wackeligen Fußsteig hinab und sah eine alte Frau in einem Sampan, die zu ihm hinaufgrinste und mit einem gelben Hühnerbein, an dem sie mit ihrem zahnlosen Gaumen genuckelt hatte, auf sich selbst wies. Er kletterte an Bord und wies auf die Boote, und sie fuhr ihn einmal rundum, lachte und sang, während sie skullte, und behielt das Hühnerbein im Mund. Die »Admiral Nelson« war elegant und schnittig. Drei Boys in weißen Segeltuchanzügen schrubbten emsig die Verdecke. Jerry versuchte zu berechnen, wie hoch sich Kos monatliche Haushaltsausgaben, allein für Personalkosten, belaufen mochten. Auf der Rückfahrt legte er einen Halt ein, um sich das Drake-Ko-Kinderspital anzusehen, und stellte fest, was immer diese Information wert sein mochte, daß auch hier alles in erstklassigem baulichen Zustand war. Am folgenden frühen Vormittag nahm Jerry in der Halle eines vielstöckigen Büropalasts in der Central Street Aufstellung und studierte die Messingschilder der hier residierenden Firmen. »China Airsea« nebst Tochtergesellschaften hatten die drei obersten Stockwerke inne, aber, wie beinah vorauszusehen, fand sich keine Erwähnung von »Indocharter, Vientiane S. A.«, jenem Unternehmen, das einst jeden letzten Freitag des Monats fünfundzwanzigtausend US-Dollar in Empfang nahm.

In der Mappe mit den Zeitungsausschnitten in Lukes Büro war auch ein Verweis auf die Archive des US-Konsulats aufgetaucht. Jerry sprach anderntags dort vor, angeblich um seine Reportage über die amerikanischen Truppen in Wanchai noch genau nachzuprüfen. Unter der Aufsicht eines extrem hübschen Mädchens suchte Jerry eine Weile herum, fischte einiges heraus und entschloß sich dann zu einigen der ältesten Stücke, Material aus den frühen fünfziger Jahren, als Truman ein Handelsembargo über China und Nordkorea verhängt hatte. Das Konsulat in Hongkong hatte Anweisung erhalten, Übertretungen zu melden, und dies war der Bericht über die Resultate. Die bevorzugte Handelsware war, neben Medikamenten und Elektroartikeln, Öl gewesen, und die »United States Agencies«, wie sie hier genannt wurden, waren im großen Stil dahinter hergewesen, hatten Fallen gestellt, Kanonenboote ausgeschickt, Überläufer und Gefangene verhört und schließlich den Unterausschüssen von Kongreß und Senat gewaltige Dossiers vorgelegt.

Das bewußte Jahr war 1951, zwei Jahre nach der kommunistischen Machtergreifung in China und ein Jahr nachdem Ko, ohne einen Cent sein eigen zu nennen, von Schanghai nach Hongkong gesegelt war. Die Operation, auf die der Vermerk des Archivs ihn hinwies, war von Schanghai ausgegangen, und dies war zunächst das einzige, was sie mit Ko gemeinsam hatte. Damals lebten viele schanghainesische Einwanderer in einem überfüllten unhygienischen Hotel an der Des Voeux Road. Die Einleitung besagte, daß sie wie eine einzige riesige Familie gewesen seien, durch geteilte Leiden und geteiltes Elend zusammengeschweißt. Einige waren schon gemeinsam vor den Japanern geflüchtet, ehe sie vor den Kommunisten flüchteten.

»Nachdem wir von den Kommunisten so viel zu erdulden hatten«, eröffnete ein Angeklagter seinen Befragern, »wollten wir doch wenigstens ein bißchen Geld an ihnen verdienen.« Ein anderer war aggressiver. »Die fetten Fische von Hongkong verdienen Millionen an diesem Krieg. Wer verkauft den Roten ihr elektronisches Gerät, ihr Penicillin, ihren Reis?« Anno 51 hatten sie zwei Methoden zur Verfügung, sagte der Bericht. Sie konnten die Grenzposten bestechen und das Öl in Lastwagen durch die New Territories und über die Grenze befördern; oder sie konnten es auf dem Seeweg transportieren, was bedeutete, daß sie die Hafenbehörden bestechen müßten. Wiederum ein Informant: »Uns Hakka kennen Meer. Wir finden Schiff, dreihundert Tonnen, wir mieten. Wir füllen mit Fässer voll Öl, machen falsche Erklärung und falsches Ziel. Wir kommen in internationale Gewässer, rasen wie Teufel nach Amoy. Rote nennen uns Bruder, Profit hundert Prozent. Nach ein paar Fahrten wir kaufen Schiff.«

»Woher stammte das erste Geld?« wollten die Befrager wissen. »Ritz Ballroom«, lautete die verwirrende Antwort. Das Ritz war ein hochnobler Nuttenbunker Ecke Kings Road und Hafen, erklärte eine Fußnote. Die meisten Mädchen waren Schanghainesirinen. Die gleiche Fußnote zählte Mitglieder der Bande auf. Drake gehörte dazu.

»Drake Ko war sehr harter Junge«, lautete eine kleingedruckte Zeugenaussage im Anhang. »Drake Ko erzählt man kein Märchengeschichte nicht. Er mag keine Politischen überhaupt nicht. Tschiang Kaischek. Mao. Er sagt, sind alles eine Person. Er sagt, er ist für Tschiang Maoschek. Einmal führt Mr. Ko unsere Bande.«

Über das organisierte Verbrechen erzielten die Recherchen keine Informationen. Es ist eine geschichtliche Tatsache, daß Schanghai, als es 1949 an Mao fiel, bereits drei Viertel seiner Unterwelt nach Hongkong verlagert hatte; daß die Rote Bande und die Grüne Bande sich wegen der Schutz-Racketts für Hongkong so viele Schlachten geliefert hatten, daß daneben das Chicago der zwanziger Jahre wie ein Kinderspielplatz wirkte. Aber es konnte kein einziger Zeuge gefunden werden, der zugegeben hätte, irgend etwas über Banden, Triaden oder andere kriminelle Organisationen zu wissen.

Es kann nun nicht überraschen, daß Jerry, als er sich am folgenden Samstag zu den Pferderennen nach Happy Valley begab, ein recht detailliertes Porträt seiner Jagdbeute im Besitz hatte.

Das Taxi kostete den doppelten Preis, weil Renntag war, und Jerry bezahlte, weil er wußte, daß es so üblich war. Er hatte Craw gesagt, daß er hingehe, und Craw hatte keinen Einwand erhoben. Er hatte Luke auf die Fahrt mitgenommen, denn er wußte, daß zwei manchmal weniger verdächtig sind als einer. Er war ein bißchen ängstlich, daß er Frost begegnen könnte, denn das Hongkong der Europäer ist eine sehr kleine Stadt. Am Haupteingang rief er die Veranstaltungsleitung an, um ein bißchen Eindruck zu schinden, und nach angemessener Zeit erschien ein Captain Grant, ein junger Angestellter, dem Jerry den Grund seiner Anwesenheit erklärte: er schreibe für das Comic eine Reportage über Happy Valley. Grant war ein witziger, eleganter Mann, der türkische Zigaretten in einer Spitze rauchte, und alles, was Jerry sagte, schien ihn auf eine freundschaftliche, wenn auch sehr zurückhaltende Art zu amüsieren. »Sie sind also der Sohn«, sagte er schließlich. »Kannten Sie ihn?« sagte Jerry grinsend. »Nur von ihm gehört«, erwiderte Captain Grant, aber was er gehört hatte, schien ihm zu gefallen.

Er gab beiden Männern Abzeichen und bot ihnen später Drinks an. Das zweite Rennen war soeben gelaufen. Während sie sich unterhielten, hörten sie das Gebrüll der erregten Menge wie eine Lawine andonnern, dann ersterben. Als sie auf den Lift warteten, sah Jerry auf dem Schwarzen Brett nach, wer die Privatlogen gemietet hatte. Die eiserne Garde stellte die Peak-Mafia: die Bank - wie die Hong Kong and Shanghai Bank sich zu nennen beliebte -, Jardine Matheson,- der Gouverneur, der Kommandeur der britischen Streitkräfte. Mr. Drake Ko, O. B. E. war, obgleich Steward des Clubs, nicht unter ihnen.

»Westerby! Lieber Gott, Mann, wer zum Teufel hat denn Sie hier reingelassen? Hören Sie, stimmt es, daß Ihr alter Herr noch Pleite machte, ehe er starb?«

Jerry zögerte, grinste, dann zog er mit einiger Verspätung die Karte aus seinem Gedächtnis: Clive Soundso, Society-Anwalt, Haus in Repulse Bay, penetrant schottisch, ganz gespielte Leutseligkeit und für seine krummen Touren bekannt. Jerry hatte von ihm einmal Hintergrund-Material über einen maconesischen Goldschwindel bekommen und schloß daraus, daß Clive damals eine Scheibe vom Kuchen abbekommen hatte. »Clive, super, wunderbar.«

Sie tauschten Banalitäten aus, der Lift war immer noch nicht da. »Los. Geben Sie uns Ihre Karte. Ich verschaffe Ihnen ein Vermögen.« Porton, dachte Jerry: Clive Porton. Porton entriß Jerry die Rennkarte, leckte sich den großen Daumen, blätterte etwa bis zur Mitte und zog mit dem Kugelschreiber einen Kreis um einen Pferdenamen. »Nummer sieben im dritten, kann gar nichts schiefgehen«, flüsterte er. »Setzen Sie Ihr Hemd darauf, okay? Wissen Sie, ich schenke nicht alle Tage Geld her.«

»Was hat Ihnen dieser Dreckskerl verkauft?« erkundigte sich Luke, als Porton außer Hörweite war. »Nennt sich Open Space.«

Ihre Wege trennten sich. Luke ging, um Wetten zu plazieren und sich in den American Club im oberen Stockwerk einzumogeln. Jerry setzte spontan hundert Dollar auf Lucky Nelson und steuerte dann eilends den Speisesaal des Hong Kong Club an. »Wenn ich verliere«, dachte er kaltlächelnd, »setz' ich's George auf die Rechnung.« Die Doppeltüren waren offen, und er marschierte stracks hinein. Alles atmete ordinären Reichtum: ein Golfclub in Surrey an einem regnerischen Wochenende, nur daß diejenigen, die den Taschendieben trotzten, echte Juwelen trugen. Eine Gruppe von Ehefrauen saß abseits, wie unbenutztes Gerät, starrte finster in die Mattscheibe und jammerte über Dienstboten und unverschämte Fotoreporter. Der Geruch von Zigarrenrauch und Schweiß und abserviertem Essen lag in der Luft. Als sie ihn hereinschlendern sahen - den gräßlichen Anzug, die Wildlederstiefel, »Presse« vom Scheitel bis zur Zehe - wurde ihr Starren noch finsterer. Das Unangenehme für uns Prominente in Hongkong, sagten ihre Mienen, ist, daß nicht genügend Leute hinausgeworfen werden. An der Bar hatte sich ein Schwarm ernsthafter Trinker versammelt, zumeist Glücksritter von den Londoner Handelsbanken mit penetrantem Akzent, verfrühten Bierbäuchen und Specknacken. Neben ihnen die Nachwuchsstars von Jardine Matheson, die für die Firmenloge noch nicht groß genug waren: geschniegelte Jünglinge, für die der Himmel in Geld und Beförderung bestand. Jerry blickte sich besorgt nach Frosti um, aber entweder hatten die Hottehühs ihn heute nicht locken können oder er steckte bei irgendeinem anderen Haufen. Mit einem Grinsen und einem vagen Winken in die Runde lotste er den zweiten Geschäftsführer aus seiner Ecke, begrüßte ihn wie einen verlorengeglaubten Freund, erwähnte nebenhin Captain Grant, steckte ihm zwanzig Dollar zu, erhielt in Umgehung sämtlicher Vorschriften eine Tageskarte und trat, noch achtzehn Minuten vor dem nächsten Start, dankbar hinaus auf den Balkon: Sonne, Düngerduft, das wilde Geschiebe einer chinesischen Menschenmenge, und sein eigener immer schneller werdender Herzschlag, der flüsterte: »Pferde«.

Eine Weile lehnte Jerry grinsend da und betrachtete das Bild, denn so oft er es sah, war es für ihn das erstemal. Der Rasen der Rennstrecke von Happy Valley mußte die kostbarste Anpflanzung der Welt sein. Es gab nur sehr wenig. Ein schmaler Ring umzog eine Art Londoner Vorstadtstadion, das Sonne und viele Füße zu Dreck zerwühlt hatten. Acht zertrampelte Fußball-Torräume, ein Rugby-Torraum und ein Hockey-Torraum, alles sah städtisch-vernachlässigt aus. Das dünne grüne Band jedoch, das diese schmutzige Masse umzog, hatte allein in diesem Jahr vermutlich eine schlanke Million Pfund Sterling in legalen Wetten eingebracht und die gleiche Summe nochmals unter der Hand. Die Anlage ist weniger ein Tal als eine Feuerpfanne: das gleißend weiße Stadion auf der einen Seite, braune Hügel auf der anderen, während vor Jerry und zu seiner Linken das andere Hongkong lauerte: ein Kartenhaus-Manhattan aus grauen Wolkenkratzer-Slums, die so dicht gepfercht sind, daß sie sich in der Hitze aneinanderzulehnen scheinen. Von jedem der winzigen Balkone ragte ein Bambusstab, als hätte man den Bau mit Stecknadeln abgestützt; von jedem Stab hingen unzählige Wimpel schwarzer Kleidungsstücke, als hätte etwas Riesiges gegen das Gebäude gewischt und in seinem Sog diese Fetzen zurückgelassen. Sofortige Errettung aus Behausungen wie diesen - das war der Traum, mit dem Happy Valley den Wettlustigen, mit Ausnahme der verschwindendsten Minderheit, heute winkte. Rechter Hand, von Jerry aus gesehen, glänzten neuere, stolzere Bauten. Dort, so erinnerte er sich, schlugen illegale Buchmacher ihre Büros auf und hielten durch ein Dutzend geheimnisvoller Methoden: Ticker, Walkie-Talkie, Lichtsignale - Sarratt wäre hingerissen gewesen - den Dialog mit ihren Zuträgern aufrecht. Noch weiter oben verliefen die Grate kahlgeschorener Hügel, zerfleischt von Steinbrüchen und entstellt vom Eisenschrott elektronischer Horchanlagen. Jerry hatte irgendwo gehört, die Radargeräte seien hier für die Vettern installiert worden, damit sie die Überflüge taiwanischer U-2-Maschinen verfolgen könnten. Über den Hügeln Ballen weißer Wolken, die keine Witterung jemals zu zerstreuen schien. Und über den Wolken schmachtete heute der gebleichte chinesische Himmel in der Sonne, und ein Falke zog langsam seine Kreise. Das alles nahm Jerry in einem einzigen dankbaren Zug in sich auf.

Für die Menge war ziellose Wartezeit. Brennpunkt der Aufmerksamkeit, wenn es überhaupt einen gab, waren die vier fetten Chinesenfrauen mit fransigen Hakka-Hüten und schwarzen Pyjamas, die mit Rechen die Rennbahn entlanggingen und das kostbare Gras neu frisierten, wo die galoppierenden Hufe es verwuschelt hatten. Sie bewegten sich mit der Würde totaler Gleichgültigkeit: Es war, als drückte der ganze chinesische Bauernstand sich in ihren Bewegungen aus. Eine Sekunde lang galt ihnen, wie es die Art der Menschenmengen ist, eine Woge kollektiver Solidarität, dann waren sie vergessen. Nach dem Wettstand war Clive Portons Open Space dritter Favorit. Drake Kos Lucky Nelson war unter ferner liefen mit vierzig zu eins, also gleich Null. Jerry drückte sich an einer Gruppe festlich gestimmter Australier bis zur Ecke des Balkons, reckte den Hals und äugte scharf nach unten, über die Kopf reihen hinweg zur Box der Pferdebesitzer, die vom gewöhnlichen Volk durch ein grünes Eisentor und einen Wachposten getrennt war. Er hielt die Hand über die Augen, wünschte sich, daß er ein Glas mitgebracht hätte, und sichtete einen fetten, hart aussehenden Mann mit Anzug und dunkler Brille, begleitet von einem jungen und sehr hübschen Mädchen. Der Mann sah halb chinesisch, halb südamerikanisch aus, und Jerry ordnete ihn als Philippino ein. Das Mädchen war das Beste, was man für Geld bekommen konnte. Muß bei seinem Pferd sein, dachte Jerry und erinnerte sich an Old Sambo. Höchstwahrscheinlich am Sattelplatz, letzte Besprechung mit Trainer und Jockey.

Er wanderte zurück durch den Speisesaal zur Haupthalle, gelangte zu einer breiten Hintertreppe, stieg zwei Etagen hinunter und durchquerte einen Vorplatz zur Zuschauergalerie, die mit einer beträchtlichen und nachdenklichen Chinesenschar gefüllt war, alles Männer. Sie starrten in ehrfürchtigem Schweigen hinunter auf eine überdachte Sandgrube, in der sich lärmende Spatzen und drei Pferde befanden, jedes von seinem ständigen Reitknecht, dem Mafu, geführt. Die Mafus hielten ihre Schützlinge miserabel, als wären sie krank vor Angst. Der elegante Captain Grant sah zu, desgleichen ein alter weißrussischer Trainer namens Sacha, den Jerry gern mochte. Sacha saß auf einem winzigen Klappstuhl, leicht vorgebeugt, wie beim Angeln. Sacha hatte während der Vertragszeit in Schanghai mongolische Ponies trainiert, und Jerry konnte ihm nächtelang zuhören: wie Schanghai damals drei Rennplätze hatte, einen britischen, einen internationalen, einen chinesischen; wie die britischen Handelsfürsten jeder seine sechzig, ja hundert Pferde hielten und sie an der Küste auf und ab transportierten, von einem Hafen zum anderen wie die Irren miteinander in Konkurrenz lagen. Sacha war ein sanfter philosophischer Bursche mit träumerischen blauen Augen und einem eingedrückten Kiefer wie ein Ringer. Er war auch der Trainer von Lucky Nelson. Er saß allein und beobachtete, wie Jerry vermutete, eine Tür, die er selbst von seinem Standort aus nicht sehen konnte. Ein jähes Getümmel von den Tribünen her veranlaßte Jerry, mit einem Ruck gegen die Sonne zu blicken. Gebrüll erscholl, dann ein schriller, erstickter Aufschrei, als die Menge auf einem Rang ins Schwanken geriet und ein Stoßtrupp grauer und schwarzer Uniformen sich rücksichtslos Bahn brach. Eine Sekunde später, und ein Schwarm von Polizisten zerrte irgendeinen armseligen Taschendieb, blutend und hustend, in den Tunneldurchgang zwecks Ablegung eines freiwilligen Geständnisses. Geblendet wandte Jerry den Blick wieder dem dunklen Inneren des Sattelplatzes zu, und es dauerte ein wenig, ehe er die verschwommene Gestalt von Mr. Drake Ko unterscheiden konnte. Die Identifizierung war keineswegs direkt. Der erste Mensch, den Jerry sehen konnte, war nicht etwa Ko, sondern der junge chinesische Jockey, der neben dem alten Sacha stand, ein hochgewachsener Junge, spindeldürr, wo die seidene Jacke in die Breeches gestopft war. Er schlug mit der Reitgerte gegen seine Stiefel, als hätte er das einem englischen Reiterbild abgeguckt, und er trug Kos Farben (»himmelblau und meergrau geviertelt« besagte der Artikel im Goldenen Orient), und der kleine Sacha starrte auf etwas, das Jerry nicht sehen konnte. Als nächstes kam, unterhalb der Galerie, auf der Jerry stand, ein brauner Junghengst, den ein kichernder fetter Mafu im dreckigen grauen Overall führte. Die Startnummer war unter einer Decke verborgen, aber Jerry kannte das Pferd bereits vom Foto, und jetzt kannte er es noch weit besser: er kannte es sogar sehr gut. Es gibt Pferde, die einfach besser sind als ihre Klasse, und in Jerrys Augen war Lucky Nelson ein solches Pferd. Nicht ohne, dachte er, gute Kopfhaltung, ein feuriges Auge. Keiner von diesen halbgaren Braunen mit heller Mähne und hellem Schweif, denen bei jedem Rennen die Stimmen der Damen gehören: wenn man die hier übliche Form bedenkt, die durch das Klima schwer reduziert ist, war Lucky Nelson ebenso in Ordnung wie jedes andere Pferd am Platz. Davon war Jerry überzeugt. Einen mißlichen Augenblick lang hatte er für die Kondition des Pferdes gefürchtet: es schwitzte, zu glänzend an Flanken und Kruppe. Dann sah er sich nochmals das feurige Auge an und die ein wenig unnatürlich verlaufenden Schweißstreifen, und seine gute Laune kehrte zurück: dieser schlaue Teufel hat es mit dem Schlauch abspritzen lassen, damit es mies aussieht, dachte er in heiterem Angedenken an Old Sambo.

So kam es, daß Jerry erst zu diesem späten Zeitpunkt den Blick von dem Pferd zu seinem Besitzer wandte.

Mr. Drake Ko, O. B. E., Empfänger bis dato einer schlanken halben Million russischer US-Dollar, eingestandenermaßen Anhänger von Tschiang Maoschek, stand von allen anderen abseits, im Schatten einer weißen Betonsäule von zehn Fuß Durchmesser: eine häßliche, aber harmlose Erscheinung auf den ersten Blick, groß, leicht gebeugt, was berufsbedingt sein konnte: Zahnarzt oder Flickschuster. Er war nach englischer Art gekleidet, formlose graue Flanellhose und schwarzer doppelreihiger Blazer, der in der Taille zu lang war, wodurch die unproportionierten Beine noch betont wurden und der magere Körper verschrumpfelt wirkte. Gesicht und Nacken waren glänzend wie altes Leder und ebenso haarlos, und die vielen Falten sahen aus wie scharf plissiert. Sein Teint war dunkler, als Jerry erwartet hatte: sah fast nach einem Schuß Araber- oder Inderblut aus. Er trug die gleiche unpassende Kopfbedeckung wie auf dem Foto, eine dunkelblaue Baskenmütze, und die Ohren standen darunter hervor wie Marzipanrosen. Seine sehr schmalen Augen wurden durch den Druck der Mütze noch mehr in die Länge gezogen. Braune italienische Schuhe, weißes Hemd, am Kragen offen. Keine Requisiten, nicht einmal einen Feldstecher: aber ein wundervolles Halb-Millionen-Dollar-Lächeln, von einem Ohr zum anderen, zum Teil in Gold, offensichtlich erfreut über jedermanns Glück und Wohlstand, einschließlich seines eigenen.

Nur: da war ein gewisses Etwas - manche Menschen haben es, es ist wie eine elektrische Spannung: Oberkellner, Portiers, Journalisten erkennen es auf den ersten Blick; Old Sambo hatte es beinah gehabt -, ein Etwas, das sofort verfügbare Mittel verriet. Sollte irgend etwas benötigt werden, so würden unsichtbare Geister es im Handumdrehen herbeischaffen.

Das Gemälde erwachte zum Leben. Über den Lautsprecher erhielten die Jockeys den Befehl zum Aufsitzen. Der kichernde Mafu zog die Decke weg, und Jerry stellte mit Vergnügen fest, daß Ko das Fell des Braunen gegen den Strich hatte striegeln lassen, um seine vorgeblich schlechte Verfassung zu unterstreichen. Der dürre Jockey machte die lange und linkische Reise in den Sattel und rief mit nervöser Freundlichkeit etwas zu Ko, der auf der anderen Seite stand, hinunter. Ko, der schon am Weggehen war, fuhr herum und bellte etwas zurück, nur eine einzige hörbare Silbe, ohne sich darum zu kümmern, wohin er sprach und wer das Wort auffing. Ein Tadel? Eine Ermutigung? Ein Befehl an einen Bediensteten? Das Lächeln hatte nichts von seinem Strahlen eingebüßt, aber die Stimme war hart wie ein Peitschenschlag. Pferd und Reiter entfernten sich, Ko desgleichen, und Jerry raste wieder treppauf durch den Speisesaal zum Balkon, arbeitete sich bis zur Ecke vor und sah hinab.

Inzwischen war Ko nicht mehr allein, er war jetzt verheiratet. Ob beide gemeinsam zur Tribüne gekommen waren, ob sie ihm in Sekundenabstand gefolgt war, das erfuhr Jerry nie. Sie war so klein. Er sah einen glänzenden Fleck schwarzer Seide und eine Bewegung ringsherum, als Männer ihr Platz machten - die Tribüne füllte sich -, aber zuerst setzte er den Blick zu hoch an und verfehlte sie. Ihr Kopf war in Brusthöhe der Männer. Dann sah er sie wieder an Kos Seite, eine winzige, untadelige chinesische Ehefrau, souverän, ältlich, blaß, so gepflegt, daß man sich nicht vorstellen konnte, sie hätte je ein anderes Alter gehabt oder andere Kleidung getragen als dieses schwarzseidene Pariser Modell, verschnürt und brokatbetreßt wie eine Husarenuniform. Frau ist bloß eine Handvoll, hatte Craw gesagt, und, während sie verwirrt vor dem winzigen Projektor gesessen hatten, weiter extemporiert: Klaut in den großen Geschäften. Kos Leute müssen vor ihr hineingehen und versprechen, daß alles bezahlt wird, was sie mitgehen läßt.

Der Artikel im Goldenen Orient hatte sie als »anfängliche Geschäftspartnerin« bezeichnet. Jerry glaubte, zwischen den Zeilen lesen zu dürfen, daß sie eines der Mädchen im Ritz Ballroom gewesen war. Das Gebrüll der Menge schwoll an.

»Haben Sie auf ihn gesetzt, Westerby? Haben Sie, Mann?« Schotte Clive Porton segelte auf ihn zu, schweißbedeckt vom Trinken. »Open Space, Herrgott! Sogar bei den jetzigen Odds verdienen Sie immer noch ein paar Dollar! Los Mann, das ist todsicher!«

Das »Ab« ersparte ihm eine Antwort. Das Gebrüll stockte, erhob sich wieder und schwoll weiter an. Rings um ihn plätscherte ein Durcheinander von Namen und Zahlen auf den Tribünen, die Pferde schossen aus den Startboxen, von ohrenbetäubendem Lärm angefeuert. Die erste geruhsame Achtelmeile hatte begonnen. Warten: Raserei folgt dem Müßiggang. Wenn sie im ersten Morgengrauen trainierten, erinnerte Jerry sich, sind ihre Hufe umwickelt, damit die Anwohner nicht im Schlaf gestört wurden. Manchmal, in den alten Tagen, wenn Jerry zwischen Kriegsberichten der Stoff ausging, stand er früh auf und kam hier herunter, nur um ihnen zuzusehen, und wenn er Glück hatte und einen einflußreichen Freund fand, ging er mit den Tieren zu den klimatisierten vielgeschossigen Stallungen, in denen sie lebten, um zuzusehen, wie sie versorgt und verwöhnt wurden. Tagsüber indessen übertönte das Brausen des Straßenlärms ihr Donnern vollständig, und die glänzende Traube, die so langsam näherkam, machte überhaupt kein Geräusch, sondern schwamm auf dem dünnen smaragdenen Fluß.

»Open Space allerwege«, verkündete Clive Porton unsicher, als er durch das Glas blickte. »Der Favorit hat's geschafft. O ja. Open Space, gut gemacht, Junge.« Sie bogen in die lange Kurve vor der Zielgeraden ein. »Komm schon, Open Space, reiß dich zusammen, Mann, reite! Nimm doch die Peitsche, du Trottel!« schrie Porton, denn jetzt war auch dem bloßen Auge klar, daß die himmelblauen und meergrauen Farben von Lucky Nelson sich nach vorn schoben und daß seine Konkurrenten ihm höflich Platz machten. Ein zweites Pferd setzte zu einer kurzen Herausforderung an, fiel dann zurück, aber Open Space lag bereits drei Längen hinten, während sein Jockey wütend mit der Peitsche auf die Luft rings um die Kruppe seines Pferdes einschlug.

»Schiebung!« brüllte Porton. »Wo ist die Rennleitung, verdammt nochmal? Dieses Pferd wurde gepullt! Ich habe im ganzen Leben noch nie gesehen, daß ein Pferd so offenkundig gepullt wurde!« Als Lucky Nelson elegant am Zielpfosten vorbeizog, wandte Jerry den Blick rasch wieder nach rechts und nach unten. Ko schien ungerührt. Es war nicht orientalische Unergründlichkeit: von diesem Mythos hatte Jerry nie etwas gehalten. Bestimmt war es nicht Gleichgültigkeit. Er wohnte einfach der zufriedenstellenden Abwicklung einer Zeremonie bei: Mr. Drake Ko nimmt einen Vorbeimarsch seiner Truppen ab. Seine kleine verrückte Frau stand mit steifem Rücken neben ihm, als würde endlich, nach all den Kämpfen ihres Lebens, ihre Siegerhymne gespielt. Einen Augenblick mußte Jerry an Old Pet in ihren besten Jahren denken. Genau wie Pet, dachte Jerry, wenn Sambos Stolz auf einen guten achtzehnten Platz kam. Genauso hatte sie dagestanden und die Niederlage mit Fassung getragen.

Die Siegerehrung war wie aus dem Bilderbuch. Man vermißte vielleicht ein Kuchenbuffet, aber der Sonnenschein übertraf gewiß alle Erwartungen auch des optimistischsten Organisators einer englischen Dorffete; und die Silberpokale waren weit großzügiger als der verkrätzte kleine Becher, den der Squire dem Sieger im Dreibeinwettlauf überreichte. Die sechzig uniformierten Polizisten waren ebenfalls vielleicht eine Spur angeberisch. Aber die huldvolle Dame mit dem Turban á la dreißiger Jahre, die der langen weißen Tafel vorsaß, war so gräßlich und arrogant, daß sie den Anforderungen auch des anspruchsvollsten Patrioten Genüge getan hätte. Sie kannte das Protokoll genau. Der Vorsitzende der Rennleitung reichte ihr den Pokal, und sie hielt ihn sofort weit von sich ab, als wäre er zu heiß für ihre Hände. Drake Ko und seine Frau, beide gewaltig grinsend, Ko noch immer mit der Baskenmütze, tauchten aus einer Traube entzückter Supporters auf und schnappten sich den Pokal, aber sie trippelten so rasch und fröhlich über den abgesperrten Grasfleck hin und zurück, daß der Fotograf nicht vorbereitet war und die Akteure bitten mußte, den Augenblick der Krönung noch einmal zu spielen. Der huldvollen Dame war dies ungemein lästig, und Jerry fing über das Geplapper der Zuschauer hinweg ein affektiertes »verdammter Schwachkopf« auf. Dann war der Pokal Ko endgültig zu eigen, die huldvolle Dame trennte sich mißmutig von Gardenien im Wert von sechshundert Dollar, Ost und West kehrten erleichtert in ihre getrennten Quartiere zurück. »Auf ihn gesetzt?« erkundigte sich Captain Gram liebenswürdig. Sie schlenderten zu den Tribünen zurück. »Hm, ja, hab' ich«, gestand Jerry feixend. »Freudige Überraschung sozusagen, wie?«

»Oh, es war Kos Rennen, all right«, sagte Grant nur. Sie spazierten eine Weile dahin. »Eine gute Nase haben Sie. Besser als wir. Möchten Sie mit ihm sprechen?«

»Mit wem sprechen?«

»Ko. Solange er noch siegestrunken ist. Vielleicht kriegen Sie ausnahmsweise etwas aus ihm raus«, sagte Grant mit seinem wohlwollenden Lächeln. »Kommen Sie, ich stelle Sie ihm vor.« Jerry zögerte nicht. Als Reporter hatte er allen Grund, »ja« zu sagen. Als Spion - nun ja, in Sarratt sagen sie manchmal, nichts sei an sich gefährlich, erst das Denken mache es dazu. Sie schlenderten zu der Gruppe zurück. Die Ko-Lobby hatten einen unvollkommenen Kreis um den Pokal gebildet, und das Gelächter war sehr laut. Im Mittelpunkt, direkt neben Ko, stand der fette Philippino mit seinem schönen Mädchen, und Ko alberte mit dem Mädchen herum, küßte es auf beide Wangen, küßte es dann nochmals, während alle lachten, ausgenommen Kos Frau, die sich demonstrativ an den Rand zurückgezogen hatte, um mit einer Chinesin ihres eigenen Alters zu plaudern.

»Das ist Arpego«, sagte Grant Jerry ins Ohr und wies auf den fetten Philippino. »Ihm gehören Manila und das Großteil der umliegenden Inseln.«

Arpegos Wanst thronte stramm über seinem Gürtel, wie ein kleiner Felsen, den er sich unters Hemd gestopft hatte.

Grant hielt nicht direkt auf Ko zu, sondern wandte sich an einen vierzigjährigen, stämmigen Chinesen mit sanften Zügen, der einen stratoblauen Anzug trug und eine Art Adjutant zu sein schien. Jerry hielt sich wartend abseits. Der rundliche Chinese kam zu ihm herüber, Grant an seiner Seite.

»Das ist Mr. Tiu«, sagte Grant ruhig. »Mr. Tiu, das ist Mr. Westerby, Sohn des Großen.«

»Sie möchten mit Mr. Ko sprechen, Mr. Wessby?«

»Wenn es möglich ist.«

»Natürlich ist es möglich«, sagte Tiu begeistert. Die pummeligen Hände wedelten ruhelos vor seinem Magen herum. Am rechten Handgelenk trug er eine goldene Uhr, die Finger waren gekrümmt, als wollten sie Wasser schöpfen. Er war glatt und glänzend und hätte ebensogut dreißig wie sechzig sein können. »Mr. Ko gewinnt Rennen. Ich bringe ihn herüber. Bleiben Sie hier. Wie heißt Ihr Vater?«

»Samuel«, sagte Jerry.

»Lord Samuel«, sagte Grant ebenso energisch wie unrichtig. »Wer ist er?« wandte sich Jerry an Grant, nachdem der rundliche Tiu zu der lärmenden Chinesengruppe zurückgekehrt war. »Kos Majordomo, Manager, Obergepäckträger, Flaschenwäscher, Makler. War von Anfang an bei ihm. Im Krieg sind sie gemeinsam vor den Japanern getürmt.«

»Und sein Obergorilla ist er auch«, dachte Jerry, als er Tiu mit seinem Herrn wieder heranwatscheln sah. Grant fing erneut mit den Vorstellungen an. »Sir«, sagte er, »das ist Westerby, dessen berühmter Vater, der Lord, eine ganze Menge sehr langsamer Pferde, besaß. Er hat außerdem verschiedene Rennplätze für die Buchmacher aufgekauft.«

»Welche Zeitung?« fragte Ko. Seine Stimme war rauh und kräftig und tief, doch Jerry hätte geschworen, zu seiner Überraschung die Spur eines nordenglischen Akzents aufgeschnappt zu haben, der ihn an Old Pets Akzent erinnerte.

Jerry sagte ihm, welche Zeitung.

»Das ist das Blatt mit den Mädels«, krähte Ko vergnügt. »Ich hab das Blatt immer gelesen, wenn ich in London war, während meines Aufenthaltes zwecks Rechtswissenschaften am berühmten Gray's Inn of Court. Wissen Sie, warum ich Ihr Blatt las, Mr. Westerby? Weil nämlich, wenn mehr Zeitungen hübsche Mädels lieber drucken als Politik, haben wir jede Menge begründete Aussicht und erleben noch eine bessere Welt, Mr. Westerby«, erklärte Ko in einer kräftigen Mischung aus falscher Idiomatik und Behörden-Englisch. »Bitte sagen Sie das Ihrer Zeitung von mir, Mr. Westerby. Diesen Rat geb ich Ihnen gratis.« Lachend schlug Jerry sein Notizbuch auf. »Ich habe auf Ihr Pferd gesetzt, Mr. Ko. Wie fühlt man sich als Gewinner?«

»Besser, als wenn man verliert.«

»Nutzt sich das Gefühl nie ab?«

»Mir gefällt es von Mal zu Mal besser.«

»Gilt das auch für Geschäfte?«

»Natürlich.«

»Kann ich mit Mrs. Ko sprechen?«

»Sie ist beschäftigt.«

Während er kritzelte, stieg Jerry ein vertrauter Geruch in die Nase. Moschushaltige, sehr intensiv duftende französische Seife, eine Mischung aus Mandeln und Rosenwasser, Lieblingsseife einer früheren Ehefrau: aber offenbar auch des gelackten Mr. Tiu, um seinen Reiz zu erhöhen.

»Wie lautet Ihre Erfolgsformel, Mr. Ko?«

»Harte Arbeit. Keine Politik. Viel Schlaf.«

»Sind Sie jetzt sehr viel reicher als noch vor zehn Minuten?«

»Ich war vor zehn Minuten auch hübsch reich. Sie können Ihrer Zeitung noch sagen, daß ich den britischen Lebensstil sehr bewundere.«

»Obwohl wir nicht hart arbeiten? Und viel Politik betreiben?«

»Sagen Sie's ihnen«, sagte Ko stracks an ihn gewandt, und das war ein Befehl.

»Wieso haben Sie soviel Glück, Mr. Ko?« Ko schien diese Frage nicht gehört zu haben, doch sein Lächeln erlosch ganz allmählich. Er starrte Jerry geradewegs ins Gesicht, maß ihn mit seinen sehr schmalen Augen, und seine Züge hatten sich beträchtlich verhärtet.

»Wieso haben Sie soviel Glück, Sir?« wiederholte Jerry. Langes Schweigen.

»Kein Kommentar«, sagte Ko, wiederum direkt Jerry ins Gesicht. Die Versuchung, auf der Frage zu beharren, war unwiderstehlich geworden: »Fair play, Mr. Ko«, drängte Jerry und feixte kräftig. »Die Welt ist voll von Menschen, die davon träumen, so reich zu sein wie Sie. Geben Sie ihnen doch einen Tip, ja? Wieso haben Sie soviel Glück?«

»Das geht Sie verdammt gar nichts an«, erklärte Ko, und ohne viel Federlesens wandte er Jerry den Rücken und ging weg. Im gleichen Augenblick tat Tiu lässig einen halben Schritt vorwärts, so daß er Jerry den Weg abschnitt, und legte ihm eine weiche Hand auf den Oberarm.

»Werden Sie das nächstemal auch wieder gewinnen, Mr. Ko?« rief Jerry dem sich entfernenden Rücken über Tius Schulter hinweg nach.

»Das sollten Sie das Pferd fragen, Mr. Wessby«, meinte Tiu mit pausbäckigem Lächeln. Seine Hand lag noch immer auf Jerrys Arm.

Er hätte den Rat ebensogut annehmen können, denn Ko stand bereits wieder bei seinem Freund Mr. Arpego, und sie lachten und schwatzten wie zuvor. Drake Ko war sehr harter Junge, erinnerte sich Jerry. Drake Ko erzählt man kein Märchengeschichte. Tiu ist aber auch nicht ohne, dachte er.

Als sie zur Haupttribüne zurückgingen, lachte Grant lautlos in sich hinein.

»Als Ko das letztemal gewann, wollte er nach dem Rennen nicht einmal das Pferd zum Sattelplatz führen«, entsann er sich. »Hat abgewinkt. Wollte nicht.«

»Warum zum Teufel denn nicht?«

»War nicht darauf gefaßt, daß es gewinnen würde, darum nicht. Hatte es seinen Chiu-Chow-Freunden nicht vorhergesagt - schlecht fürs Gesicht. Vielleicht hat er das auch gefürchtet, als Sie ihn nach seinem Glück fragten.«

»Wieso wurde er zum Steward des Clubs gewählt?«

»Oh, hat durch Tiu die Stimmen kaufen lassen, nehme ich an. Das Übliche. Cheers. Vergessen Sie Ihren Gewinn nicht.«

Dann passierte es: As Westerby zieht eine Erstmeldung an Land.

Das letzte Rennen war vorüber, Jerry hatte viertausend Dollar auf der Habenseite, und Luke war verschwunden. Jerry probierte es im American Club, im Club Lusitano und einigen weiteren, aber man hatte ihn entweder nicht gesehen oder bereits hinausgeworfen. In der Umzäunung war nur ein einziges Tor, also schloß Jerry sich dem Exodus an. Der Verkehr war chaotisch. Rolls-Royces und Mercedes suchten Plätze zum Anhalten, und die Menge schob und drängte von hinten. Jerry beschloß, sich nicht in den Kampf um ein Taxi einzulassen, begann, den schmalen Gehsteig entlangzuwandern und sah zu seiner Überraschung Drake Ko ganz allein aus einem Tor auf der anderen Straßenseite treten, und zum erstenmal, seit Jerry seiner ansichtig geworden war, lächelte er nicht. Als er den Bordstein erreicht hatte, schien er unentschlossen, ob er hinübergehen solle, blieb dann, wo er war und blickte auf den heranbrausenden Verkehr. Er wartet auf den Rolls-Royce Phantom, dachte Jerry und erinnerte sich an den Wagenpark in der Headland Road. Oder auf den Mercedes oder auf den Chrysler. Plötzlich sah Jerry, wie Ko die Baskenmütze vom Kopf riß und wie zum Spaß in den Autostrom hielt, als wollte er das Gewehrfeuer auf sie ziehen. Um Augen und Mund sprangen die Fältchen auf, die Goldzähne funkelten grüßend, und anstatt eines Rolls-Royce oder eines Mercedes oder eines Chryslers hielt ein langer roter Jaguar E mit zurückgeklapptem Faltverdeck kreischend und ohne Rücksicht auf die übrigen Wagen vor ihm an. Jerry hätte ihn beim besten Willen nicht übersehen können. Allein das Geräusch der Reifen ließ alle Köpfe auf dem Gehsteig herumfahren. Seine Augen lasen die Nummer, sein Gedächtnis registrierte sie. Ko kletterte hinein, so aufgeregt wie jemand, der noch nie in seinem Leben in einem offenen Wagen' gefahren war, und er schwatzte und lachte bereits, ehe sie wieder anfuhren. Aber nicht, ehe Jerry gesehen hatte, wer am Steuer saß, ihr flatterndes blaues Kopftuch, die dunkle Brille, das lange blonde Haar und genügend von ihrer Figur, als sie sich über Ko beugte, um die Tür auf seiner Seite zu schließen, zeigten ihm, daß sie ein Prachtstück von Frau war. Drakes Hand ruhte auf ihrem nackten Rücken, die Finger waren gespreizt, die freie Hand fuchtelte herum, während er ihr zweifellos eine Zug-um-Zug-Schilderung seines Sieges gab, und als sie gemeinsam abfuhren, pflanzte er ihr einen sehr unchinesischen Kuß auf die Wange, und dann, als Zugabe, noch zwei, und zwar mit weit mehr Überzeugung, als er für das Küssen von Mr. Arpegos Begleiterin aufgebracht hatte.

Jenseits der Fahrbahn war der Eingang, aus dem Ko soeben herausgekommen war, und das Eisentor stand noch offen. In Jerrys Hirn rasten die Gedanken, er duckte sich und rannte durch den Verkehrsstrom. Er gelangte in den alten Friedhof der Kolonie, eine üppige Anlage, blumenduftend und von gewaltigen überhängenden Bäumen beschattet. Jerry war noch nie hier gewesen und betrat diese Abgeschlossenheit voll Scheu. Der Friedhof war an einem Hügelrund um eine alte Kapelle angelegt, die still und unbenutzt verfiel. Die sprüngigen Mauern schimmerten im fleckigen Abendlicht. Daneben lag ein umzäunter Zwinger, aus dem ihn ein abgemagerter Schäferhund wütend anheulte. Jerry blickte sich um, er wußte nicht recht, warum er hier war und was er hier suchte. Die Gräber gehörten verschiedenen Epochen, Rassen und Sekten an.. Es gab weißrussische Gräber, deren orthodoxe Grabsteine reich gemeißelt waren und von zaristischer Grandeur zeugten. Jerry stellte sich dicken Schnee darüber vor, der gerade noch ihre Form erkennen ließ. Ein anderer Stein beschrieb die ruhelose Pilgerschaft einer russischen Fürstin, und Jerry blieb stehen und las: von Tallin nach Peking, mit Daten, von Peking nach Schanghai, wieder die Daten, nach Hongkong neunundvierzig, um hierzu sterben. »Und Güter in Swerdlowsk«, schloß die Inschrift trotzig. War Schanghai die Verbindung? Er gesellte sich wieder zu den Lebenden: drei alte Männer in Pyjamas saßen schweigend auf einer Bank im Schatten. Sie hatten ihre Vogelkäfige über sich in die Zweige gehängt, nahe genug, daß sie einander über das Lärmen des Verkehrs und der Zikaden singen hören konnten. Zwei Totengräber mit Stahlhelmen schütteten ein frisches Grab zu. Keine Trauergäste standen dabei. Als er an den Stufen der Kapelle anlangte, wußte er noch immer nicht, was er eigentlich wollte. Er lugte durch die Tür. Drinnen war es nach der Sonnenhelle stockdunkel. Eine alte Frau starrte ihn an. Er zog sich zurück. Der Schäferhund heulte noch lauter. Er war sehr jung. Ein Hinweisschild besagte »Friedhofswärter«. Jerry folgte ihm. Das Schrillen der Zikaden war ohrenbetäubend, es übertönte sogar das Hundegebell. Der Blumenduft war feucht und ein bißchen modrig. Jerry war eine Idee gekommen., fast eine Ahnung. Er war entschlossen, ihr zu folgen. Der Friedhofswärter war ein freundlicher zurückhaltender Mann und sprach nicht englisch. Die Totenbücher waren sehr alt, die Eintragungen glichen denen in alten Kontobüchern. Jerry setzte sich an einen Holztisch und wandte langsam die schweren Seiten um, las die Namen und Geburtstage, die Daten des Todes und der Beerdigung; zuletzt die Lage der Gräber: die Sektion und die Nummer. Nachdem er gefunden hatte, was er suchte, trat er wieder hinaus ins Freie und schritt nun einen anderen Pfad entlang, durch eine Wolke von Schmetterlingen hügelan nach den Klippen zu. Von einem Steg aus beobachtete ihn eine Gruppe kichernder Schulmädchen. Er zog die Jacke aus und hängte sie über die Achsel. Er ging zwischen hohem Gestrüpp hindurch und betrat eine abschüssige Wildnis gelber Gräser, wo die Grabsteine sehr klein waren, die Hügel nur einen oder zwei Fuß lang. Während er sich zwischen ihnen durchschlängelte, las er die Nummern, bis er vor einem niedrigen Eisengitter stand, das die Nummer sieben zwei acht trug. Es umfriedete ein rechteckiges Areal, und als Jerry den Blick hob, sah er die Statue eines kleinen Jungen vor sich, in viktorianischen Kniehosen und einem Eton-Jackett, in Lebensgröße, mit zerzausten steinernen Locken und knospenden steinernen Lippen, aus einem aufgeschlagenen steinernen Buch lesend oder absingend, während lebendige Schmetterlinge wie trunken um seinen Kopf flatterten. Der Junge war ein durch und durch englisches Kind, und die Inschrift lautete Nelson Ko in liebendem Angedenken. Eine Menge Zahlen folgten, und Jerry brauchte eine Weile, ehe er ihre Bedeutung begriff: zehn aufeinanderfolgende Jahre, keines ausgelassen, und das letzte war 1968. Dann war ihm klar, daß dies die zehn Lebensjahre des Jungen waren, deren jedes einzeln gewürdigt werden sollte. Auf der untersten Stufe des Sockels lag ein großer Orchideenstrauß, noch im Papier.

Ko dankte Nelson für seinen Sieg. Jetzt verstand Jerry wenigstens, warum er nicht mit Fragen nach seinem Glück belästigt werden wollte.

Es gibt eine Art gelegentlich auftretender Ermüdung, die nur Außenagenten kennen: eine Versuchung zur Milde, die der Kuß des Todes sein kann. Jerry verharrte noch eine Weile, betrachtete die Orchideen und den steinernen Jungen und fügte sie im Geist all dem hinzu, was er bisher von Ko gesehen und über ihn erfahren hatte. Und er hatte ein überwältigendes Gefühl - nur eine Sekunde lang, aber es ist allemal gefährlich - der Erfüllung als wäre er einer Familie begegnet, nur um zu entdecken, daß es seine eigene war. Er hatte ein Gefühl, angelangt zu sein. Hier war ein Mann, der dieses Haus besaß, mit jener Frau verheiratet war, strebte und spielte auf eine Art, die Jerry mühelos verstand. Kein besonders einprägsamer Mann, und doch sah Jerry ihn in diesem Augenblick deutlicher, als er sich selber je gesehen hatte. Ein armer Chiu-Chow-Junge, der Steward eines Jockey Clubs wird und Träger des O.B.E. und vor einem Rennen sein Pferd mit dem Schlauch abspritzt. Ein Hakka-Wasserzigeuner, der seinem Kind ein baptistisches Begräbnis und ein englisches Standbild gibt. Ein Kapitalist, der Politik haßt. Ein gescheiterter Jurist; Bandenboß, Erbauer von Krankenhäusern, der Opiumflüge befehligt, Stifter von Geistertempeln, der Krocket spielt und in einem Rolls-Royce herumfährt. Eine amerikanische Bar in seinem chinesischen Garten, und russisches Gold auf seinem Treuhandkonto. Alle diese umfassenden und widersprüchlichen Einblicke alarmierten Jerry damals nicht im geringsten; sie waren nicht Vorboten schlimmer oder paradoxer Ereignisse. Er sah sie vielmehr durch Kos rücksichtsloses Bemühen zusammengeschweißt zu einem einzigen, aber vielseitigen Mann, nicht unähnlich Old Sambo. Und noch nachdrücklicher hatte er - in den wenigen Sekunden, die es andauerte - das unabweisbare Gefühl, in guter Gesellschaft zu sein, etwas, das er schon immer geschätzt hatte. In stiller Hochstimmung kehrte er zum Friedhofstor zurück, als hätte Jerry, nicht Ko, das Rennen gewonnen. Erst als er wieder auf der Straße stand, fand er in die Wirklichkeit zurück. Der Verkehr war lockerer geworden, und er fand sofort ein Taxi. Sie waren etwa hundert Yards gefahren, als er Luke auf dem Bordstein einsame Pirouetten drehen sah. Jerry lotste ihn in den Wagen und setzte ihn vor dem Auslandskorrespondenten Club wieder ab. Im Furama-Hotel rief er Craws Privatnummer an, ließ es zweimal klingeln, läutete nochmals an und hörte Craws Stimme fragen: »Wer zum Teufel ist denn dort?« Er fragte nach einem Mr. Savage, erntete ein gemeines Schimpfwort und die Auskunft, er habe die falsche Nummer gewählt, ließ Craw eine halbe Stunde Zeit, ein anderes Telefon aufzusuchen und ging dann hinüber zum Hilton, um auf den Rückruf zu warten.

Unser Freund sei in persona aufgetaucht, berichtete Jerry ihm. Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, wegen eines gewaltigen Gewinns. Als es vorbei gewesen sei, habe ihn eine sehr hübsche Blonde in ihrem Sportwagen mitgenommen. Jerry nannte die Zulassungsnummer. Die beiden waren eindeutig befreundet, sagte er. Sehr auffallend und höchst unchinesisch. Mindestens befreundet, würde er sagen. »Rundauge?«

»Natürlich war sie ein Rundauge, und ob! Wer zum Teufel hat schon je gehört, daß . . .«

»Herrje«, sagte Craw leise und legte auf, ehe Jerry Gelegenheit hatte, ihm von Klein Nelsons Grabmal zu berichten.

Die Barone tagen


Der Warteraum im hübschen Tagungshaus des Foreign Office in Carlton Gardens füllte sich langsam. Leute kamen zu zweien und dreien herein, ohne einander zur Kenntnis zu nehmen, wie Trauergäste vor einem Begräbnis. An der Wand hing ein Schild mit der Warnung: »Besprechen Sie keine vertraulichen Angelegenheiten«. Smiley und Guillam hatten sich verzagt direkt darunter auf einer mit lachsfarbenem Samt bezogenen Bank niedergelassen. Der Raum war oval und im Rokoko-Stil des Arbeitsministeriums gehalten. Am bemalten Plafond machte Bacchus Jagd auf ein paar Nymphen, die bedeutend williger waren, sich fangen zu lassen, als Molly Meakin. An den Wänden standen leere Löscheimer, und zwei Regierungs-Cerberusse bewachten den Zugang zu den inneren Räumlichkeiten. Vor den geschwungenen Schiebefenstern erfüllte Herbstsonne den Park und hob jedes einzelne Blatt scharf ab. Saul Enderby führte strammen Schritts das Kontingent des Foreign Office herein. Guillam kannte ihn nur dem Namen nach. Er war früher Gesandter in Indonesien gewesen, jetzt Ober-Pundit der Südostasien-Abteilung und galt als entschiedener Verfechter des amerikanischen harten Kurses. Im Schlepptau ein ergebener parlamentarischer Unterstaatssekretär, ein Gewerkschafts-Protege und eine blühende, schmucke Gestalt, die sich auf Zehenspitzen - Smiley näherte, die Hände waagerecht ausgestreckt, als überraschte sie ihn bei einem Nickerchen.

»Kann das wahr sein?« flüsterte er strahlend. »Wirklich? Wirklich ! George Smiley in voller Pracht. Mein Lieber, Sie haben ja Pfunde verloren. Wer ist Ihr netter Junge. Nichts sagen. Peter Guillam. Ich weiß alles von ihm. Gänzlich unverdorben vom Mißerfolg, heißt es.«

»O nein!« rief Smiley unwillkürlich. »O Himmel, Roddy.«

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