Ricardo lachte unbändig und musterte Jerry dabei unentwegt sehr genau mit seinen flackernden Schlafzimmeraugen. »Das war wirklich sehr häßlich, was Sie mit dem kleinen Charlie gemacht haben, wissen Sie das? Es gefällt mir nicht, daß Sie meinen Freund im Dunkeln festhalten, wenn er seinen Stoff braucht. Charlie wird lang brauchen, bis er sich davon wieder erholt hat. So freundet man sich nicht mit Charlies Freunden an, Voltaire. Es heißt, Sie haben sich sogar gegen Mr. Ko schlecht benommen. Meine kleine Lizzie zum Dinner ausgeführt. Stimmt das?«

»Ich hab' sie zum Dinner ausgeführt.«

»Und sie gefickt?«

Jerry gab keine Antwort. Ricardo brach wiederum in Lachen aus, das so jäh aufhörte, wie es begonnen hatte. Er trank einen langen Schluck Whisky und seufzte.

» Well, ich hoffe nur, sie ist dankbar, sonst nichts.« Plötzlich war er der ach so mißverstandene Mann. »Ich verzeihe ihr. Okay? Wenn Sie Lizzie wiedersehen: sagen Sie ihr, ich, Ricardo, verzeihe ihr. Ich bilde sie aus. Ich bringe sie auf den rechten Weg. Ich bringe ihr eine Menge bei, Kunst, Kultur, Politik, Geschäft, Religion, ich bringe ihr bei, was sie im Bett kann, und ich schicke sie in die Welt'. Wo würde sie sein, ohne meine Verbindungen? Sie würde mit Ricardo im Dschungel leben, wie ein Affe. Sie verdankt mir alles. Pygmalion: kennen Sie den Film? Well, ich bin der Professor. Ich lehre sie ein paar Dinge - verstehen Sie, was ich meine? -, ich lehre sie, was nur Ricardo sie lehren kann. Sieben Jahre in Vietnam. Zwei Jahre in Laos. Viertausend Dollar im Monat von der CIA, und ich bin Katholik. Glauben Sie, ich kann sie nicht ein paar Dinge lehren? Dieses Mädchen von nirgendwo her, diese englische Schneegans? Sie hat einen Jungen, wissen Sie das? Einen kleinen Jungen in London. Hat ihn einfach sitzenlassen, stellen Sie sich das vor. Sowas will eine Mutter sein! Schlimmer als eine Hure.«

Jerry fiel nichts dazu ein. Er blickte auf die beiden großen Ringe, die Seite an Seite an den mittleren Fingern von Ricardos schwerer rechter Hand steckten, und verglich sie im Geist mit den Zwillingsnarben an Lizzies Kinn. Es war ein Schlag von oben nach unten, dachte er, ein regelrechter Abwärtshaken, während sie vor ihm stand. Ein Wunder, daß er ihr nicht den Kiefer gebrochen hatte. Vielleicht hatte er ihn ihr auch wirklich gebrochen, und die Reparatur war besonders geglückt.

»Sind Sie auf einmal taub, Voltaire? Ich hab' gesagt, ich möchte mir Ihren geschäftlichen Vortrag anhören. Ganz unvoreingenommen, ja? Nur daß ich kein Wort davon glaube.« Jerry goß sich noch einen Whisky ein: »Ich dachte, wenn Sie mir vielleicht erzählen würden, was Drake Ko damals wollte, als Sie für ihn flogen, und wenn Lizzie mich mit Ko zusammenbringen könnte, und wenn wir nicht versuchen, einander übers Ohr zu hauen, dann hätten wir gute Aussichten, ihn kräftig zu rupfen.« Als er es laut sagte, klang es sogar noch lahmer als bei seinen Rollenproben, aber es war ihm ziemlich egal. »Sie sind verrückt, Voltaire. Verrückt. Sie phantasieren sich was zusammen.«

»Nicht, wenn Ko Sie wirklich, in seinem Auftrag zum chinesischen Festland fliegen ließ, dann nicht. Ko kann meinetwegen ganz Hongkong besitzen, aber falls der Gouverneur jemals von diesem kleinen Ausflug erfahren sollte, dann dürfte es zwischen ihm und Ko über Nacht aus sein mit der Freundschaft. Das wäre das eine. Es gibt noch mehr.«

»Was reden Sie da, Voltaire? China-? Was soll dieser Unsinn? Das chinesische Festland?« Er zuckte die schimmernden Schultern, trank und feixte dabei in sein Glas. »Ich weiß nicht, was Sie meinen, Voltaire. Sie reden wie ein Mann ohne Kopf. Wie kommen Sie darauf, daß ich für Ko nach China geflogen bin? Grotesk. Lächerlich.«

Als Lügner, fand Jerry, war Ricardo noch ungefähr drei Plätze auf der Landesligaliste unter Lizzie, und das wollte etwas heißen. »Mein Verleger ist darauf gekommen, altes Haus. Mein Verleger ist ein alter Fuchs. Eine Menge einflußreiche Freunde, alles Leute, die sich auskennen. Sie sagen ihm so allerlei. Jetzt zum Beispiel hat mein Verleger ganz entschieden das Gefühl, daß Sie nicht lang nach Ihrem so tragischen Tod bei diesem Flugzeugabsturz eine verdammt große Ladung Rohopium an einen befreundeten amerikanischen Kunden verkauft haben, der an der Bekämpfung gefährlicher Drogen beteiligt ist. Und dem Verleger sagt sein Gefühl des weiteren, daß dieses Opium, das Sie verkauft haben, keineswegs Ihnen gehörte, sondern Ko, und daß. es für das chinesische Festland bestimmt war. Nur daß Sie es vorzogen, sich zu verkrümeln.« Er fuhr unbeirrt fort, während Ricardos Augen ihn über das Whiskyglas hinweg beobachteten. »Nun, wenn dem so wäre, und wenn Ko den Ehrgeiz hätte, sagen wir, das Opiumrauchen in China wiedereinzuführen - langsam, aber stetig neue Märkte zu schaffen, Sie verstehen -, well, dann dürfte er es sich schätzungsweise einiges kosten lassen, daß diese Meldung nicht auf den Titelseiten der Weltpresse erscheint. Aber auch das ist noch nicht alles. Es bleibt noch ein weiterer, sogar noch einträglicherer Aspekt.«

»Welcher denn, Voltaire?« fragte Ricardo und starrte ihn an, als hätte er ihn im Visier seines Gewehres. »Von welchem anderen Aspekt sprechen Sie? Würden Sie es mir bitte sagen.«

»Ich glaube, den behalte ich zunächst noch für mich«, sagte Jerry mit offenem Lächeln. »Ich glaube, ich halte ihn warm, bis Sie mir eine kleine Gegenleistung zukommen lassen.« Ein Mädchen kam lautlos mit Schüsseln voll Reis und Zitronenbartgras und Hühnerfleisch. Sie war adrett und vollendet schön. Man hörte Stimmen von unterhalb des Hauses, darunter auch Mickeys Stimme und das Lachen des Babys. »Wer hat Sie hierher gebracht, Voltaire?« fragte Ricardo zerstreut, nur halb aus seinem Nachsinnen erwacht. »Haben Sie einen verdammten Leibwächter oder so?«

»Nur den Chauffeur.«

»Hat er Waffen?«

Als er keine Antwort erhielt, schüttelte Ricardo verwundert den Kopf. »Sie sind mir ein verrückter Bursche«, bemerkte er und schickte das Mädchen mit einer Handbewegung weg. »Sie sind wirklich ein verrückter Bursche.« Er reichte Jerry eine Schüssel und Eßstäbchen. »Heilige Maria. Dieser Tiu ist ein ziemlich harter Mann. Ich bin selber auch ein ziemlich harter Mann. Aber diese Chinesen können sehr unangenehm werden, Voltaire. Wenn Sie sich mit einem Mann wie Tiu anlegen, kommen Sie in Teufels Küche.«

»Wir kriegen sie schon klein«, sagte Jerry. »Wir nehmen englische Anwälte. Wir ziehen die Sache so auf, daß nicht einmal ein Bischofskollegium uns an den Karren fahren kann. Wir sammeln Zeugen. Charlie Marshall, Sie, jeden, der etwas weiß. Geben für alles, was er gesagt und getan hat, Daten und Zeit an. Wir zeigen ihm eine Kopie, und die anderen deponieren wir auf der Bahk, und wir setzen eine Vertrag mit ihm auf. Unterschrieben, gesiegelt und ausgefertigt. Alles höllisch legal. So hat er's gern. Ko ist versessen auf Legalität. Ich habe Einblick in seine Geschäfte. Ich habe seine Bankauszüge gesehen, ich kenne sein Kapitalvermögen. Die Geschichte ist schon jetzt recht gut fundiert. Aber mit den anderen Aspekten, die ich erwähnte, dürfte sie mit fünf Millionen nicht zu hoch bezahlt sein. Zwei für Sie. Zwei für mich. Eine für Lizzie.«

»Für die? Gar nichts.«

Ricardo hatte sich über den Aktenschrank gebeugt. Er zog eine Schublade auf und fing an, in ihrem Inhalt herumzustöbern, Schriftstücke und Briefe zu studieren. »Waren Sie schon mal auf Bali, Voltaire?« Er setzte feierlich eine Lesebrille auf, nahm wieder am Tisch Platz und begann das Studium der Unterlagen. »Ich habe vor ein paar Jahren dort Grund gekauft. Ein Geschäft abgeschlossen. Ich schließe viele Geschäfte ab. Ich gehe, reite, ich habe eine Honda dort, ein Mädchen. In Laos bringen wir alle um, in Vietnam machen wir verbrannte Erde, also kaufe ich dieses Land auf Bali, ein Stück Land, das wir ausnahmsweise nicht verbrennen, und ein Mädchen, das wir nicht umbringen, verstehen Sie, was ich meine? Fünfzig Morgen Gestrüpp. Hier, kommen Sie hierher.« Jerry lugte über seine Schulter und sah die Vervielfältigung eines Lageplans, eine Landenge, in viele numerierte Bauparzellen aufgeteilt, und in der linken unteren Ecke die Worte »Ricardo & Worthington GmbH, Niederländische Antillen.«

»Werden Sie mein Geschäftspartner, Voltaire. Wir betreiben diese Sache da gemeinsam, okay? Bauen fünfzig Häuser, behalten jeder eines für sich, nette Leute, setzen Charlie Marshall als Manager hin, holen uns ein paar Mädchen zusammen, machen vielleicht eine Kolonie, Künstler, manchmal Konzerte: Mögen Sie Musik, Voltaire?«

»Ich brauche harte Fakten«, sagte Jerry energisch. »Daten, Zeitangaben, Ortsangaben, Zeugenaussagen. Wenn Sie es mir erzählt haben, will ich mit Ihnen verhandeln. Ich werde Ihnen diese anderen Aspekte erklären - die einträglichen. Ich erkläre Ihnen das ganze Geschäft.«

»Klar«, sagte Ricardo abwesend und beugte sich weiter über die Karte. »Wir legen ihn rein. Klar tun wir das.« So also haben die beiden zusammen gelebt, dachte Jerry: mit einem Fuß im Märchenland und mit dem anderen im Knast, so haben sie sich gegenseitig in ihre Phantastereien hineingesteigert, eine Dreigroschenoper mit drei Darstellern. Danach gab Ricardo sich liebevoll seinen Sünden hin, und Jerry hatte keine Möglichkeit, ihn zum Schweigen zu bringen. In Ricardos schlichter Welt mußte man über sich selber sprechen, wenn man den anderen besser kennenlernen wollte. Also sprach er von seiner großen Seele, seiner großen sexuellen Potenz und seiner Besorgnis um deren Erhaltung, aber am meisten sprach er von den Greueln des Krieges, ein Thema, das er kannte wie niemand sonst: »In Vietnam verliebe ich mich in ein Mädchen, Voltaire. Ich, Ricardo, ich verliebe mich. Das ist für mich sehr selten und sehr heilig. Schwarzes Haar, gerader Rücken, Gesicht wie eine Madonna, kleine Brüste. Jeden Morgen halte ich den Jeep an, wenn sie zur Schule geht, jeden Morgen sagt sie >nein<. >Hör zu<, sage ich zu ihr. »Ricardo ist kein Amerikaner. Er ist Mexikaner.« Sie hat von Mexiko noch nicht mal gehört. Ich werde verrückt, Voltaire. Wochenlang lebe ich, Ricardo, wie ein Mönch. Die anderen Mädchen faß ich nicht mehr an. Jeden Morgen, dann, eines Tages, hab' ich schon den ersten Gang drinnen, da wirft sie den Arm hoch - stopp! Sie steigt zu mir ein. Sie verläßt die Schule, zieht in ein kampong, später einmal sag ich Ihnen den Namen. Die B 52er kommen und machen das Dorf dem Erdboden gleich. Irgendein Held kann nicht gut Landkarten lesen. Die kleinen Dörfer sind wie Steine am Strand, eines wie das andere. Ich bin im Hubschrauber dahinter. Nichts kann mich aufhalten. Charlie Marshall sitzt neben mir und brüllt mich an, daß ich verrückt bin. Ich hör nicht auf ihn. Ich gehe runter, lande, ich finde sie. Das ganze Dorf tot. Ich finde sie. Sie ist auch tot, aber ich finde sie. Ich fliege zur Basis zurück, die Militärpolizei schlägt mich zusammen, ich kriege sieben Wochen Dicken, werde degradiert. Ich, Ricardo.«

»Sie Ärmster«, sagte Jerry, der diese Spielchen schon öfter gespielt hatte und sie haßte: Er glaubte ihnen oder glaubte ihnen nicht, aber er haßte sie immer.

»Sie haben recht«, sagte Ricardo und quittierte Jerrys Würdigung mit einer Verbeugung. »Arm ist das richtige Wort. Wir werden wie Bauern behandelt. Ich und Charlie, wir fliegen alles. Wir sind nie ordentlich entlohnt worden. Verwundete, Tote, Zerstückelte, Stoff. Gratis. Herrje, in diesem Krieg wurde was geschossen! Zweimal fliege ich in die Provinz Yünnan. Ich bin furchtlos. Völlig. Obwohl ich so gut aussehe, habe ich keine Angst um mich.«

»Wenn man den Flug für Drake mitzählt«, erinnerte Jerry ihn, »dann wären Sie dreimal drüben gewesen, stimmt's?«

»Ich bilde Piloten aus für die kambodschanische Luftwaffe. Gratis. Die kambodschanische Luftwaffe, Voltaire! Achtzehn Generale, vierundfünfzig Maschinen - und Ricardo. Am Ende der Dienstzeit kriegt man die Lebensversicherung, damit hat sich's. Hunderttausend US. Nur man selber. Wenn Ricardo stirbt, kriegen seine nächsten Angehörigen nichts, so ist das. Wenn Ricardo es schafft, kriegt er das Ganze. Ich spreche einmal mit Freunden von der französischen Fremdenlegion, sie kennen den Schwindel, sie warnen mich. >Gib acht, Ricardo. Bald schicken sie dich wohin, wo's so heiß hergeht, daß du nicht mehr rauskommst. Dann müssen sie dir nichts zahlen.« Die Kambodschaner verlangen von mir, daß ich mit der Hälfte Sprit fliege. Ich habe Tragflächentanks und sage nein. Ein anderes Mal blockieren sie mir die Hydraulik. Ich warte meine Maschine selber. Auf diese Art bringen sie mich nicht um. Hören Sie, ich schnalze mit den Fingern und Lizzie kommt zu mir zurück. Okay?« Der Lunch war beendet.

»Wie war das also mit Tiu und Drake?« sagte Jerry. Beim Beichtehören, sagen sie in Sarratt, hat man weiter nichts zu tun, als ein bißchen den Strom zu lenken.

Zum erstenmal, so schien es Jerry, starrte Ricardo ihn mit der ganzen Intensität seiner tierischen Dumpfheit an. »Sie bringen mich durcheinander, Voltaire. Wenn ich Ihnen zu viel erzähle, muß ich Sie erschießen. Ich bin ein sehr mitteilsamer Mensch, verstehen Sie? Ich bin einsam hier draußen, es liegt in meiner Art, daß ich immer einsam bin. Ich mag einen Burschen, ich sage ihm eine Menge, dann tut's mir leid. Meine geschäftlichen Verpflichtungen fallen mir wieder ein, verstehen Sie?«


Jetzt überkam Jerry große innere Ruhe - aus dem Sarratt-Mann wurde der Engel, den Sarratt ausgeschickt hatte, nicht damit er etwas tue, sondern damit er sich umhöre und Bericht erstatte. Er wußte, daß er, operativ gesehen, dem Ende der Reise nahe War: auch wenn man die Rückreise bestenfalls als nicht gesichert bezeichnen konnte. Operativ gesehen hätten nach aller Erfahrung jetzt Siegesglocken in seinem andächtig lauschenden Ohr ertönen müssen. Aber die Glocken schwiegen. Und ihr Schweigen war bereits eine erste Warnung, daß sein Trachten nicht mehr in allen Stücken mit dem der Bärentreiber von Sarratt übereinstimmte. Zuerst ging es - mit einigen Zugeständnissen an Ricardos hochfliegendes Ego - ziemlich genau so vor sich, wie Charlie Marshall gesagt hatte, daß es vor sich gehen würde. Tiu kam nach Vientiane, in Kulikleidung und nach Katzen stinkend, und fragte überall nach dem besten Piloten in der Stadt, und natürlich wurde er sogleich zu Ricardo verwiesen, der zufällig eine Pause zwischen zwei geschäftlichen Verpflichtungen eingelegt hatte und für gewisse hochspezialisierte und hochbezahlte Arbeit in der Flugbranche frei war.

Im Gegensatz zu Charlie Marshall erzählte Ricardo seine Geschichte mit beflissener Sinnfälligkeit, als hätte er einen geistig Minderbemittelten vor sich. Tiu stellte sich als Mann mit weitreichenden Verbindungen in der Luftfahrtindustrie vor, erwähnte seinen nicht näher definierten Kontakt zu Indocharter und kam dann auf die Dinge zu sprechen, die er bereits mit Charlie Marshall erörtert hatte. Schließlich kam er zu dem gegenwärtigen Projekt - was hieß, daß er, um es im Sarratt-Stil auszudrücken, Ricardo die Legende verpaßte. Eine gewisse bedeutende Handelsfirma in Bangkok, mit der Tiu die Ehre hatte, in Geschäftsbeziehung zu stehen, so sagte er, stand kurz vor dem Abschluß eines gewinnbringenden und durchaus legalen Handels mit gewissen Behörden in einem benachbarten und befreundeten Land. »Ich frage ihn, Voltaire, sehr ernst. >Mr. Tiu, vielleicht haben Sie den Mond entdeckt. Ich hab' noch nie von einem asiatischen Land mit einem befreundeten Nachbarn gehört.« Tiu lachte über meinen Witz. Er betrachtete es natürlich als witzigen Ausspruch«, sagte Ricardo sehr ernsthaft.

Ehe indes dieser gewinnbringende und legitime Handel zum Abschluß kommen könne - habe Tiu nach Ricardos Worten erklärt -, standen seine Geschäftspartner vor dem Problem, wie man sich gewissen Behörden und anderen Stellen innerhalb dieses befreundeten benachbarten Landes, die ermüdende bürokratische Hindernisse aus dem Weg geräumt hätten, erkenntlich zeigen könne.

»Warum ist das ein Problem?« hatte Ricardo gefragt, was ganz natürlich war.

Angenommen, sagte Tiu, das Land wäre Burma. Nur angenommen. Im modernen Burma war es den Beamten nicht erlaubt, sich zu bereichern, auch war es für sie nicht einfach, Geld anzulegen. In einem solchen Fall müßten andere Möglichkeiten der Entlohnung gefunden werden.

Ricardo schlug Gold vor. Leider, sagte Tiu, sei in dem Land, um das es sich handle, sogar Gold schwer zu veräußern. Daher komme in diesem Fall nur eine einzige Währung in Frage, sagte er, nämlich Opium: vierhundert Kilo. Die Entfernung sei nicht groß, innerhalb eines Tages könne Ricardo drüben und wieder zurück sein, die Vergütung betrage fünftausend US-Dollar, und die restlichen Details würden ihm kurz vor dem Abflug zugehen, um eine unnötige Belastung seine Gedächtnisses zu vermeiden, wie Ricardo sich blumenreich ausdrückte: eine Sprache, die vermutlich zu Lizzies Lehrplan gehört hatte. Bei der Rückkehr von diesem nach Tius Ansicht zweifellos unproblematischen und lehrreichen Flug würde Ricardo unverzüglich in den Besitz von fünftausend Dollar in handlichen Noten gelangen - vorausgesetzt natürlich, daß Ricardo in irgendeiner beweiskräftigen Form die Bestätigung mitbringen würde, daß die Fracht ihren Bestimmungsort erreicht hatte. Zum Beispiel eine Quittung.

Ricardo erwies sich nun nach seiner eigenen Schilderung in seinen Verhandlungen mit Tiu als ein primitiver Schlaukopf. Er sagte, er wolle über das Angebot nachdenken. Er sprach von anderen dringenden Verpflichtungen und von seinem Ehrgeiz, eine eigene Fluggesellschaft zu gründen. Dann machte er sich daran, herauszubekommen, wer dieser Tiu eigentlich sei. Er entdeckte sofort, daß Tiu nach ihrem Gespräch nicht nach Bangkok, sondern nonstop nach Hongkong zurückgekehrt war. Er ließ durch Lizzie die Chiu-Chow-Jungens bei Indocharter ausfragen, und einer von ihnen plauderte aus, Tiu sei ein großes Tier bei China Airsea, denn als er in Bangkok war, habe er in der Suite von Airsea im Hotel Erawan gewohnt. Als Tiu wieder nach Vientiane kam, um sich Ricardos Antwort zu holen, wußte Ricardo daher eine ganze Menge mehr über ihn - sogar, obwohl er nicht viel davon hermachte, daß Tiu die rechte Hand Drake Kos war. Fünftausend US-Dollar für einen eintägigen Flug, sagte er nunmehr zu Tiu bei ihrem zweiten Gespräch, sei entweder zu wenig oder zu viel. Wenn der Job so einfach sei, wie Tiu behaupte, dann sei es zu viel. War er so riskant, wie Ricardo argwöhnte, dann sei es zu wenig. Ricardo schlug ein anderes Arrangement vor: ein »Kompromiß-Geschäft«, sagte er. Er habe damals, so erklärte er mit einer zweifellos häufig gebrauchten Wendung, an einem »vorübergehenden Liquiditätsproblem« gelitten. Mit anderen Worten (Jerrys Interpretation), er war wieder einmal pleite, und die Gläubiger hatten ihn am Kragen. Er brauchte unbedingt sofort ein regelmäßiges Einkommen, und das wäre ihm sicher, wenn Tiu dafür sorgte, daß er für ein Jahr bei Indocharter als Pilot und Flugberater angestellt würde, mit einem vertraglich vereinbarten Gehalt von fünfundzwanzigtausend US-Dollar. Tiu schien über diese Idee nicht weiter schockiert, sagte Ricardo. Im Zimmer über den Pfählen wurde es sehr still.

Zweitens wollte Ricardo anstelle der fünftausend Dollar bei Ablieferung der Fracht einen sofortigen Vorschuß von zwanzigtausend US-Dollar, um damit seine Verbindlichkeiten zu decken. Zehntausend sollten abgegolten sein, sobald er das Opium abgeliefert hätte, die anderen zehntausend sollten direkt von seinem Gehalt bei Indocharter abgezogen werden, im Lauf der Monate seiner Anstellung. Wenn Tiu und seine Geschäftspartner darauf nicht eingehen könnten, erklärte Ricardo, so müsse er zu seinem großen Bedauern die Stadt verlassen, ehe er die Opiumlieferung tätigen könne.

Am folgenden Tag erklärte Tiu sich - mit Variationen - mit den Bedingungen einverstanden. Nur anstatt der zwanzigtausend Dollar Vorschuß schlugen Tiu und seine Geschäftspartner vor, Ricardos Schulden direkt von seinen Gläubigern zu kaufen. Dabei, so erklärte er, würden sie sich wohler fühlen. Noch am gleichen Tag wurde die Absprache durch einen großartigen Vertrag »abgesegnet« - Ricardos Religiosität schlug auf Schritt und Tritt durch -, der in englischer Sprache verfaßt und von beiden Parteien unterzeichnet wurde. Ricardo - so stellte Jerry im stillen festhatte seine Seele verkauft.

»Was hielt Lizzie von diesem Handel?« fragte Jerry. Ricardo zuckte die glänzenden Schultern. »Weiber«, sagte er. »Klar«, sagte Jerry, und setzte wieder sein wissendes Lächeln auf.

Nachdem Ricardos Zukunft gesichert war, legte er sich wieder einen »angemessenen professionellen Lebensstil« zu. Der Plan, einen Gesamtasiatischen Fußballfond zu gründen, fesselte seine Aufmerksamkeit, desgleichen ein vierzehnjähriges Mädchen in Bangkok namens Rosie, das er mittels seines Indocharter-Gehalts regelmäßig aufsuchte, um es für des Lebens große Bühne zu schulen. Dann und wann, aber nicht oft, machte er einen kleinen Flug für Indocharter, nichts weiter Schwieriges: »Ein paarmal Chiang Mai, Saigon. Ein paarmal in die Shan-Staaten zu Charlie Marshalls altem Herrn, vielleicht ein bißchen Schlamm mitnehmen, ihm ein paar Waffen bringen, Reis, Gold. Battambang vielleicht.«

»Wo hält Lizzie sich inzwischen auf?« fragte Jerry, von Mann zu Mann, wie vorhin.

Das gleiche verächtliche Achselzucken: »Sitzt in Vientiane. Mit ihrem Strickzeug. Betätigt sich ein bißchen im Constellation. Sie ist jetzt schon eine alte Frau, Voltaire. Ich brauche Jugend, Optimismus, Energie, Leute, die Respekt vor mir haben. Es liegt in meiner Natur, daß ich gebe. Wie kann ich einer alten Frau etwas geben?«

»Bis wann?« fragte Jerry. »Was?«

»Wann war's vorbei mit dem herzlichen Einvernehmen?« Ricardo hatte den Satz mißverstanden und blickte plötzlich sehr gefährlich, und seine Stimme würde zur leisen Drohung. »Was zum Teufel meinen Sie?«

Jerry besänftigte ihn mit seinem sonnigsten Lächeln.

»Wie lang bezogen Sie Ihr Gehalt und trieben sich herum, ehe Tiu mit dem Vertrag ernst machte?«

Sechs Wochen, sagte Ricardo und faßte sich wieder. Vielleicht acht. Zweimal war der Flug bereits angesetzt und wieder abgeblasen. Einmal war er offenbar nach Chiang Mai beordert worden und hatte dort ein paar Tage gewartet, bis Tiu anrief und sagte, die Leute am anderen Ende seien noch nicht soweit. Ricardo hatte immer mehr das Gefühl, in eine undurchsichtige Sache verwickelt zu sein, sagte er, aber die Geschichte, so ließ er durchblicken, habe ihn von jeher für die großen Rollen des Lebens ausersehen, und wenigstens hatte er die Gläubiger vom Hals. Ricardo schwieg und fixierte Jerry wiederum sehr genau, kratzte sich sinnend den Bart. Endlich seufzte er, goß für beide Whisky ein und schob ein Glas über den Tisch. Unter ihnen bereitete sich der vollendet schöne Tag auf sein langsames Sterben vor. Die grünen Bäume wurden schwer. Der Holzrauch von der Feuerstelle der Mädchen roch feucht.

»Wo gehen Sie von hier aus hin, Voltaire?«

»Heim«, sagte Jerry.

Ricardo lachte wiederum schallend.

»Bleiben Sie über Nacht, ich schicke Ihnen eins von meinen Mädchen.«

»Ich tue genau, was mir paßt, ja, altes Haus«, sagte Jerry. Die beiden Männer belauerten einander wie kämpfende Tiere, und eine Weile stand es tatsächlich Spitz auf Knopf.

»Sie sind ein verrückter Kerl, Voltaire«, murmelte Ricardo.

Aber der Sarratt-Mann obsiegte. »Aber eines Tages fand der Flug doch statt, ja?« sagte Jerry. »Er wurde nicht abgeblasen. Und dann? Los, altes Haus, erzählen Sie, wie's war.«

»Klar«, sagte Ricardo. »Klar, Voltaire«, trank einen Schluck und beobachtete ihn. »Wie's war«, sagte er. »Hören Sie zu, ich erzähle Ihnen, wie's war, Voltaire.«

Und dann bringe ich dich um, sagten seine Augen.

Ricardo war in Bangkok, Rosie forderte ihn heftig. Tiu bestand darauf, daß Ricardo jederzeit erreichbar sein müsse, und eines frühen Morgens, etwa um fünf, traf ein Bote in ihrem Liebesnest ein und beorderte Ricardo per sofort ins Erawan. Ricardo war von der Hotelsuite sehr beeindruckt. So etwas hätte er auch gern gehabt.

»Jemals Versailles gesehen, Voltaire? Ein Schreibtisch, so groß wie eine B 52. Dieser Tiu ist eine ganz andere Persönlichkeit als der Kuli mit der Katzenstinke, der nach Vientiane gekommen ist, okay? Er ist ein sehr einflußreicher Mann. >Ricardo<, sagt er zu mir. »Diesmal ist es sicher. Diesmal liefern wir ab.«< Seine Anweisungen waren einfach. In ein paar Stunden ging eine reguläre Maschine nach Chiang Mai. Ricardo sollte sie nehmen. Im Hotel Rincome waren bereits Zimmer für ihn bestellt. Dort sollte er über Nacht bleiben. Allein. Kein Alkohol, keine Frauen, keine Gesellschaft.

»>Sie sollten sich eine Menge zu lesen mitnehmen, Mr. Ricardo«, sagte er zu mir. >Mr. Tiu«, sage ich zu ihm. >Sie sagen mir, wo ich hinfliegen soll. Sie sagen mir nicht, wo ich lesen soll. Okay?« Der Kerl ist sehr arrogant hinter seinem großmächtigen Schreibtisch, verstehen Sie, Voltaire? Ich seh mich gezwungen, ihm Manieren beizubringen.«

Am nächsten Morgen um sechs Uhr würde Ricardo im Hotel den Besuch eines Mannes erhalten, der sich als Freund von Mr. Johnny melden würde. Ricardo sollte mit ihm gehen. Alles lief ab, wie geplant. Ricardo flog nach Chiang Mai, verbrachte eine enthaltsame Nacht im Rincome, und um sechs Uhr stellten sich zwei Chinesen, nicht einer, bei ihm ein und fuhren mit ihm ein paar Stunden lang nach Norden, bis sie zu einem Hakka-Dorf kamen. Sie stiegen aus, marschierten eine halbe Stunde bis zu einem leeren Feld, an dessen Ende ein Schuppen stand. Im Schuppen war eine »flotte kleine Beechcraft« abgestellt, nagelneu, und in der Beechcraft saß Tiu auf dem Sitz des Copiloten und hatte eine Menge Landkarten und Papiere auf dem Schoß. Die rückwärtigen Sitze waren ausgebaut worden, um für die Rupfensäcke Platz zu schaffen. Ein paar chinesische Bullen standen abseits und sahen zu, und die ganze Stimmung war, wie Ricardo durchblicken ließ, nicht unbedingt nach seinem Geschmack.

»Zuerst mußte ich meine Taschen leeren. Meine Taschen sind für mich etwas sehr Persönliches, Voltaire. Wie die Handtasche für eine Dame. Andenken, Briefe, Fotos, meine Madonna. Sie behalten alles. Meinen Paß, meine Fluglizenz, mein Geld . . . sogar meine Armbänder«, sagte er und hob die braunen Arme, so daß sie klimperten.

Danach, sagte er mißbilligend, hatte er weitere Dokumente zu unterschreiben. Zum Beispiel eine Prozeßvollmacht, mit der er die geringen Reste abtrat, die von seinem Leben nach dem Indocharter-Vertrag noch übrig waren. Zum Beispiel mehrere Geständnisse früherer »technisch illegaler Unternehmungen«, die - sagte Ricardo mit beträchtlicher Empörung - häufig auf das Konto von Indocharter gegangen seien. Einer der chinesischen Bullen entpuppte sich sogar als Jurist. Ricardo betrachtete das als besonders unsportlich.

Erst dann rückte Tiu mit den Landkarten und den Instruktionen heraus, die Ricardo in einer Mischung aus seiner eigenen und Tius Redeweise wiedergab. »>Sie nehmen Kurs nach Norden, Mister Ricardo, und Sie behalten diesen Kurs bei. Ob Sie nun den Abschneider über Laos nehmen oder über den Shans bleiben ist mir egal. Das Fliegen ist Ihre Sache, nicht die meine. Fünfzig Meilen hinter der chinesischen Grenze stoßen Sie auf den Mekong und folgen ihm. Dann fliegen Sie weiter nach Norden, bis sie eine kleine Gebirgsstadt namens Tien-pao sehen, die an einem Zufluß dieses berühmten Stroms steht. Von dort zwanzig Meilen nach Osten finden Sie eine Landebahn, ein grünes Leuchtfeuer, ein weißes. Sie tun mir den Gefallen, dort zu landen. Ein Mann wird Sie erwarten. Er spricht Englisch nur mangelhaft, aber er spricht es. Hier ist eine halbierte Dollarnote. Der Mann hat die andere Hälfte. Laden Sie das Opium aus. Der Mann wird Ihnen ein Paket und gewisse spezielle Instruktionen übergeben. Dieses Paket ist Ihre Quittung. Bringen Sie es mit, wenn Sie zurückkommen, und befolgen Sie sämtliche Instruktionen ganz genau, besonders was den Ort Ihrer Landung betrifft. Haben Sie mich komplett verstanden, Mr. Ricardo?<«

»Was für eine Art Paket?« fragte Jerry.

»Er sagt es nicht, und mir ist es egal. >Sie tun das«, sagt er, >und halten Ihre große Klappe, Mr. Ricardo, und meine Geschäftspartner werden sich ihr ganzes Leben lang um Sie kümmern wie um einen eigenen Sohn. Um Ihre Kinder werden sie sich kümmern, um Ihre Mädchen. Um Ihr Mädchen in Bali. Solange Sie leben, werden sie sich dankbar zeigen. Aber wenn Sie sie betrügen oder etwas in der Stadt austrompeten, dann bringen sie Sie todsicher um, Mr. Ricardo, glauben Sie mir. Vielleicht nicht morgen und auch nicht übermorgen, aber sie bringen Sie todsicher um. Wir haben einen Vertrag, Mr. Ricardo. Meine Geschäftspartner brechen niemals einen Vertrag. Sie sind sehr rechtsbewußte Männer.« Mir ist der Schweiß ausgebrochen, Voltaire. Ich bin in bester Kondition, erstklassiger Sportsmann, aber der Schweiß bricht mir aus. >Keine Sorge, Mr. Tiu«, sage ich zu ihm. >Mr. Tiu, Sir, wann immer Sie Opium nach Rotchina fliegen wollen, ist Ricardo Ihr Mann.« Voltaire, glauben Sie mir, mir war gar nicht wohl bei der Sache.«

Ricardo kniff sich in die Nase, als wollte er Meerwasser herausdrücken.

»Hören Sie zu, Voltaire. Hören Sie sehr aufmerksam zu. Als ich jung und dumm war, flog ich zweimal für die Amerikaner in die Provinz Yünnan. Um ein Held zu sein, muß man gewisse blödsinnige Dinge tun, und wenn man abstürzt, holen sie einen vielleicht eines Tages heraus. Aber bei jedem Flug schaue ich hinunter auf die lausige braune Erde und sehe Ricardo in einem Holzkäfig. Keine Weiber, einen lausigen Fraß, kein Platz zum Stehen, kein Platz zum Sitzen oder Schlafen, Ketten an den Armen, keinerlei Status oder Zugehörigkeit. >Hier ist ein Imperialistenspion und Schmuggler zu sehen !< Voltaire, diese Vorstellung gefällt mir nicht. Mein ganzes Leben lang in China eingesperrt zu sein, weil ich Opium geschmuggelt habe? Ich bin nicht begeistert. >Klar, Mr. Tiu! Bye-bye! Bis heute nachmittag!« Ich muß ernsthaft nachdenken.«

Der braune Dunst des Sonnenuntergangs erfüllte plötzlich den Raum. Auf Ricardos gebräunter Brust hatte sich trotz seiner tadellosen Kondition wiederum Schweiß gebildet. Er lag in Tropfen auf dem schwarzen Haar und den geölten Schultern.

»Wo war Lizzie während der ganzen Zeit?«fragte Jerry abermals.

Ricardos Antwort kam nervös, ja ärgerlich.

»In Vientiane. Auf dem Mond. Im Bett mit Charlie. Was zum Teufel geht das mich an?«

»Wußte sie von dem Handel mit Tiu?«

Ricardo schnitt nur eine verächtliche Grimasse.

Zeit, daß ich gehe, dachte Jerry. Zeit, daß ich die letzte Ladung zünde und davonrenne. Drunten zog Mickey vor Ricardos Frauen eine große Schau ab. Jerry konnte sein singendes Geplapper hören, unterbrochen von ihrem hellen Lachen, das sich anhörte wie das Lachen einer ganzen Mädchenklasse.

»Also sind Sie geflogen«, sagte er. Er wartete, aber Ricardo blieb tief in seinen Gedanken versunken.

»Sie sind gestartet und nahmen Kurs nach Norden«, sagte Jerry. Ricardo hob ein wenig die Lider und heftete einen drohenden, wütenden Blick auf Jerry, bis er schließlich der Aufforderung, von seiner Heldentat zu berichten, doch nicht länger widerstehen konnte.

»Ich bin nie im Leben so gut geflogen. Diese kleine schwarze Beechcraft. Hundert Meilen nach Norden, weil ich keinem traue. Vielleicht haben diese Clowns mich irgendwo auf einem Radarschirm eingefangen? Ich gehe kein Risiko ein. Dann nach Osten, aber sehr langsam, so nah über den Bergen, daß ich den Kühen zwischen den Beinen durchfliege, okay? Im Krieg haben wir dort droben kleine Landebahnen, verrückte Vorposten mitten im feindlichen Land. Ich habe solche Plätze schon angeflogen, Voltaire. Ich kenne sie. Ich finde einen, direkt auf einem Berggipfel, ist nur aus der Luft erreichbar. Ich schaue hinunter, sehe die Tanksäule, ich lande, ich tanke die Maschine auf, ich schlafe ein bißchen, verrückte Sache. Aber Herrgott, Voltaire, es ist nicht die Provinz Yünnan, okay? Es ist nicht China, und Ricardo, der amerikanische Kriegsverbrecher und Opiumschmuggler, wird den Rest seines Lebens nicht in Peking an einem Fleischerhaken hängen, okay? Hören Sie, ich bringe diese Maschine wieder zurück nach Süden, ich kenne Orte, ich kenne Orte, an denen ich eine komplette Luftwaffe verlieren könnte, glauben Sie mir.«

Was die kommenden Monate seines Lebens anging, wurde Ricardo plötzlich sehr unpräzis. Er hatte einmal vom Fliegenden Holländer gehört und sagte, genau das sei aus ihm geworden. Er flog, versteckte sich wieder, flog, spritzte die Beechcraft neu, verkaufte das Opium in kleinen Portionen, um nicht aufzufallen, ein Kilo hier, fünfzig dort, wechselte einmal im Monat die Zulassung, kaufte bei einem Inder einen spanischen Paß, traute ihm aber nicht und hielt sich von allen seinen Bekannten fern, auch von Rosie in Bangkok und sogar von Charlie Marshall. Das war damals, so erinnerte Jerry sich an Old Craws Information, als Ricardo den Leuten vom Rauschgiftdezernat Opium verkaufte, aber mit seiner Geschichte abblitzte. Auf Tius Anweisung hatten die Jungens bei Indocharter Ricardo unverzüglich auf die Verlustliste gesetzt und seine Flugroute nach Süden verlegt, um die Aufmerksamkeit abzulenken. Ricardo hatte es erfahren und nichts dagegen gehabt, tot zu sein.

»Was haben Sie mit Lizzie angefangen?« fragte Jerry. Wiederum war Ricardo ziemlich aufgebracht: »Lizzie, Lizzie, haben Sie einen Komplex, was diese Schneegans betrifft, Voltaire, daß Sie mir dauernd Lizzie ins Gesicht schleudern? Ich habe nie eine so unbedeutende Person gekannt. Hören Sie, ich hab' sie an Ko abgetreten, okay? Ich mache ihr Glück.« Verdrießlich griff er zum Glas und trank einen Schluck Whisky. Sie vertrat seine Interessen, dachte Jerry. Sie und Charlie Marshall. Die beiden liefen sich die Hacken ab, um Ricardo zu schützen.

»Sie haben mit weiteren einträglichen Aspekten des Falls geprahlt«, sagte Ricardo. »Bitte sagen Sie mir, welche das sind.« Der Sarratt-Mann hatte seine Antwort parat: »Punkt eins: Ko erhielt große Summen von der russischen Botschaft in Vientiane. Das Geld wurde über Indocharter geschleust und landete auf einem Schwindelkonto in Hongkong. Wir haben die Beweise. Wir haben Aufnahmen der Bankauszüge.«

Ricardo schnitt ein Gesicht, als schmeckte ihm der Whisky plötzlich nicht mehr, dann trank er weiter. Jerry fuhr fort: »Ob das Geld für die Wiedereinführung des Opiumlasters in Rotchina war oder für irgendeine andere Dienstleistung, das wissen wir nicht«, sagte Jerry. »Aber wir werden es herausbringen. Punkt zwei. Wollen Sie ihn hören oder halte ich Sie auf?« Ricardo hatte gegähnt.

»Punkt zwei«, sprach Jerry weiter. »Kohat einen jüngerer Bruder in Rotchina. Hieß früher Nelson. Ko behauptet, er sei tot, aber in Wirklichkeit ist er jetzt ein hohes Tier bei der Regierung in Peking. Ko versucht seit Jahren, ihn aus China herauszubringen. Ihr Auftrag lautete, Opium einzufliegen und ein Paket herauszubringen. Dieses Paket war Bruder Nelson. Deshalb wollte Ko Sie lieben wie seinen eigenen Sohn, wenn Sie es schaffen würden. Und deshalb wollte er Sie töten, wenn Sie es nicht zurückbrächten. Wenn das keine fünf Millionen Dollar wert ist, was dann?« Während Jerry ihn im schwindenden Licht beobachtete, geschah nichts Besonderes, außer daß das schlummernde Tier in Ricardo sichtlich erwachte. Er beugte sich ganz langsam vor, um sein Glas abzusetzen, aber das Straffen seiner Schultern und das Zusammenziehen seiner Bauchmuskeln konnte er nicht verbergen. Er wandte' sich betont träge zu Jerry, um ihm ein höchst freundschaftliches Lächeln zu schenken, aber in seinen Augen war ein Schimmer, der einem Angriffsignal glich; so daß Jerry, als Ricardo die Hand ausstreckte und ihm mit der Rechten einen liebevollen Klaps auf die Wange gab, auf dem Sprung war, sich nach hinten zu werfen, die Hand zu packen und Ricardo wenn möglich quer durchs Zimmer zu schleudern.

»Fünf Millionen Taler, Voltaire!« rief Ricardo in flammender Erregung, »fünf Millionen! Hören Sie, wir müssen was für den armen Charlie Marshall tun, okay? Aus Liebe. Charlie ist immer pleite. Vielleicht könnten wir ihn einmal den Fußballfond verwalten lassen. Moment. Ich hole uns noch eine Flasche Whisky, wir feiern.« Er stand auf, neigte den Kopf zur Seite und streckte die nackten Arme aus. »Voltaire«, sagte er sanft. » Voltaire!« Liebevoll kniff er Jerry in beide Backen und küßte ihn.

»Hören Sie, Ihr Jungens habt da allerhand ausgegraben! Der Verleger, für den Sie arbeiten, ist ein cleverer Bursche. Sie sollen mein Geschäftspartner sein. Sie haben das Sagen. Okay? Ich brauche einen Engländer in meinem Leben. Ich muß noch wie Lizzie werden, einen Schulmeister heiraten. Tun Sie das für Ricardo, Voltaire? Halten Sie mich ein bißchen im Zaum?«

»Kein Problem«, sagte Jerry und erwiderte das Lächeln. »Spielen Sie einen Moment mit den Ballermännern, okay?«

»Klar.«

»Muß den Mädchen eine Kleinigkeit sagen.«

»Klar.«

»Familienangelegenheit.«

»Ich bleibe hier.«

Jerry sah ihm durch die Falltür gespannt nach. Mickey, der Chauffeur, wiegte das Baby auf den Armen und kitzelte es hinterm Ohr. In einer irren Welt muß man die Fiktion aufrechterhalten, dachte er. Bis zum bitteren Ende dabei bleiben, und ihm den ersten Biß überlassen. Jerry ging zum Schreibtisch zurück, nahm Ricardos Stift, seinen Schreibblock und schrieb eine nichtexistente Adresse in Hongkong darauf, wo er jederzeit erreichbar wäre. Ricardo war noch immer nicht zurück, aber als Jerry aufstand, konnte er ihn aus den Bäumen hinter dem Wagen hervorkommen sehen. Er hat eine Schwäche für Verträge, dachte er. Geben wir ihm was zu unterschreiben. Er nahm ein neues Blatt Papier: Ich, Jerry Westerby, versichere hiermit an Eides statt, daß ich mit meinem Freund Captain Tiny Ricardo den gesamten Ertrag aus unserer gemeinsamen Auswertung seiner Lebensgeschichte teilen werde, schrieb er, und setzte seinen Namen darunter. Ricardo kam jetzt die Treppe herauf. Jerry war versucht, sich aus dem privaten Armeemuseum zu bedienen, aber er mutmaßte, daß Ricardo genau das von ihm erwartete. Während Ricardo nochmals die Gläser vollgoß, überreichte Jerry ihm die beiden Papiere.

»Ich werde einen amtlich beglaubigten Vertrag aufsetzen«, sagte er und blickte Ricardo direkt in die Augen. »Ich kenne einen englischen Anwalt in Bangkok, dem ich absolut vertraue. Er soll den Vertrag prüfen und Ihnen zur Unterschrift bringen. Danach wollen wir die Marschroute festlegen, und ich werde mit Lizzie sprechen. Okay?«

»Klar. Hören Sie, draußen ist es schon dunkel. In den Wäldern stecken eine Menge Banditen. Bleiben Sie über Nacht. Ich spreche mit den Mädchen. Die mögen Sie. Sagen, Sie sind ein sehr starker Mann. Nicht so stark wie ich, aber stark.« Jerry sagte etwas, daß er keine Zeit verlieren dürfe. Er wolle morgen in Bangkok sein, sagte er. Für seine eigenen Ohren klang es so lahm wie ein dreibeiniges Muli, vielleicht gut genug, um irgendwo reinzukommen, aber nie wieder raus. Aber Ricardo schien zufrieden, ja erfreut. Vielleicht ein Hinterhalt, dachte Jerry, irgendwas, das der Colonel arrangiert. »Gott befohlen, Pferdeschreiber. Gott befohlen, mein Freund.« Ricardo legte beide Hände um Jerrys Nacken und ließ die Daumenspitzen auf Jerrys Kiefer ruhen, dann zog er Jerrys Kopf nach vorn und zu sich heran und küßte ihn. Jerry ließ es zu. Obwohl sein Herz hämmerte und sein nasses Rückgrat bei der Berührung mit dem Hemd wie eine Wunde schmerzte, ließ Jerry es zu. Draußen war es fast dunkel. Ricardo begleitete sie nicht zum Wagen, sondern sah ihnen milde von dem Platz unter den Pfählen aus nach, und die Mädchen saßen zu seinen Füßen, während er mit beiden nackten Armen winkte. Vor dem Wagen blieb Jerry stehen, drehte sich um und winkte zurück. Die letzten Sonnenstrahlen lagen sterbend in den Teakbäumen. Mein allerletzter Sonnenuntergang, dachte er.

»Nicht starten«, sagte er ruhig zu Mickey. »Ich möchte den Ölstand prüfen.«

Vielleicht bin bloß ich hier der Verrückte. Vielleicht habe ich wirklich einen guten Handel abgeschlossen, dachte er. Mickey, der auf dem Fahrersitz saß, öffnete die Halterung, und Jerry hob die Kühlerhaube, aber da war kein kleiner Sprengsatz, kein Abschiedsgeschenk von seinem neuen Freund und Partner. Er zog den Ölstab heraus und tat, als prüfte er ihn. »Brauchen Sie Öl, Pferdeschreiber?« schrie Ricardo den Weg entlang.

»Nein, alles in Ordnung. Wiedersehen!«

»Wiedersehen.«

Er hatte keine Taschenlampe, aber als er sich bückte und im Zwielicht unter dem Chassis herumtastete, fand er wiederum nichts.

»Haben Sie was verloren, Pferdeschreiber?« rief Ricardo wieder, wobei er die Hände vor den Mund hielt. »Anlassen«, sagte Jerry und stieg ein.

»Lichter an, Mister?« fragte Mickey. »Ja, Mickey. Lichter an.«

»Warum nennt er Sie Pferdeschreiber?«

»Gemeinsame Bekannte.«

Wenn Ricardo die KTs bestochen hat, dachte Jerry, dann ist es so und so egal. Mickey schaltete die Scheinwerfer an, und im Wagen leuchtete das amerikanische Armaturenbrett auf wie eine kleine Stadt.

»Los«, sagte Jerry. »Tempo-Tempo?«

»Ja, Tempo-Tempo!«

Sie fuhren fünf Meilen, sieben, neun. Jerry behielt den Zeiger im Auge. Er rechnete zwanzig bis zur ersten Kontrollstelle und fünfundvierzig bis zur zweiten. Mickey fuhr jetzt siebzig, und Jerry war nicht in Stimmung, um zu protestieren. Sie fuhren in der Straßenmitte, die Straße verlief gerade, und jenseits der gerodeten Streifen glitten die hohen Teakbäume vorüber wie orangefarbene Gespenster.

»Feiner Mann«, sagte Mickey. »Viel feiner Liebhaber. Die Mädchen sagen, er ein feiner Liebhaber.«

»Halt nach Drähten Ausschau«, sagte Jerry.

Auf der rechten Seite erschien eine Lücke zwischen den Bäumen, und ein roter Feldweg verschwand darin.

»Er hat schönes Leben da drinnen«, sagte Mickey. »Mädchen, Babies, er hat Whisky, PX. Er hat wirklich schönes Leben.«

»Gas weg, Mickey. Anhalten. Hier in der Mitte der Straße, wo es eben ist. Tu, was ich sage, Mickey.«

Mickey fing an zu lachen.

»Mädchen haben auch schönes Leben«, sagte er. »Mädchen kriegen Süßigkeiten, kleines Baby kriegt Süßigkeiten, alle kriegen Süßigkeiten!«

»Halt den verdammten Wagen an!«

Mickey ließ sich Zeit, bis er den Wagen zum Stehen brachte, er kicherte noch immer über die Mädchen.

»Ist das Ding da zuverlässig?« fragte Jerry und wies auf die Benzinuhr.

»Zuverlässig?« echote Mickey, der mit dem englischen Wort nichts anfangen konnte.

»Benzin. Sprit. Voll. Oder halb voll? Oder drei Viertel? Hat es auf der Hinfahrt richtig angezeigt?«

»Klar. Ist richtig«, versicherte Mickey ohne Zögern.

»Als wir zu dem verbrannten Dorf kamen, Mickey, stand es auf halbvoll. Es steht noch immer auf halbvoll.«

»Klar.«

»Hast du nachgefüllt? Aus einem Kanister? Hast du Benzin nachgefüllt?«

»Nein.«

»Steig aus.«

Mickey begann zu widersprechen, aber Jerry beugte sich über ihn, öffnete die Tür auf seiner Seite, stieß Mickey kurzerhand hinaus auf die Straße und folgte ihm. Er packte Mickeys Arm, drehte ihn auf den Rücken und schob den Jungen im Galopp vor sich her, über die Straße und zum Seitenstreifen und zwanzig Yards über die breite, weiche Fläche, dann warf er ihn ins Gebüsch und stürzte halb neben ihn, halb auf ihn, so daß der Atem aus Mickeys Brust in einem überraschten Japsen herausgepreßt wurde und er eine geschlagene halbe Minute brauchte, ehe er ein entrüstetes »Wozu« hervorbringen konnte. Aber Jerry hatte inzwischen bereits das Gesicht des Jungen wieder auf die Erde gepreßt, damit die Explosion darüber hinweggehen sollte. Der alte Ford schien zuerst zu brennen und nachher zu explodieren, schließlich bäumte er sich in einer letzten Lebensregung auf in die Luft, ehe er tot und lodernd auf die Seite fiel. Während Mickey bewundernd nach Luft rang, blickte Jerry auf die Uhr. Achtzehn Minuten, seit sie den Pfahlbau verlassen hatten. Vielleicht zwanzig. Hätte eigentlich früher passieren sollen, dachte er. Kein Wunder, daß Ricardo uns so schnell draußen haben wollte: in Sarratt wären sie nicht darauf gefaßt gewesen: das hier war fernöstliche Machart, und Sarratt gehörte mit Leib und Seele nach Europa und in die guten alten Tage des Kalten Krieges: Tschechei, Berlin und die alten Fronten. Jerry überlegte, welche Art Granate wohl verwendet wurde. Die Vietkong bevorzugten amerikanische Modelle: wegen der Doppelwirkung. Man braucht weiter nichts, sagten sie, als einen breiten Stutzen zum Benzintank. Man entfernt den Schwimmer, klebt ein Gummiband über die Feder, steckt die Granate in den Benzintank und wartet geduldig, bis sich das Benzin durch den Gummi gefressen hatte. Das Ergebnis gehörte zu jenen westlichen Errungenschaften, die erst durch die Vietkong entdeckt wurden. Ricardo mußte dicke Gummistreifen benutzt haben, dachte er.

Zum ersten Kontrollpunkt kamen sie nach vierstündigem Marsch auf der Straße. Mickey war überglücklich wegen der Versicherung, denn er nahm an, da Jerry die Prämie bezahlt hatte, würden sie automatisch das Geld kassieren und verprassen können. Jerry konnte ihn nicht von dieser Annahme abbringen. Aber Mickey hatte auch Angst: zuerst vor den KTs, dann vor Gespenstern, dann vor dem Colonel. Also erklärte Jerry ihm, daß sich nach diesem kleinen Zwischenfall weder ein Gespenst noch ein KT in die Nähe der Straße wagen würde. Was den Colonel anging - aber das sagte Jerry nicht zu Mickey -: der war Vater und Soldat und hatte einen Damm zu bauen: nicht umsonst baute er ihn mit Kos Zement und mit Transportmitteln von China Airsea.

Am Kontrollpunkt fand sich ein Lastwagen, der Mickey nach Hause brachte. Jerry fuhr ein Stück weit mit und sicherte ihm die Unterstützung seiner Zeitung bei irgendwelchen Schwierigkeiten mit der Versicherung zu, aber Mickey wollte in seiner Euphorie kein Wort von Schwierigkeiten hören. Unter anhaltendem Lachen tauschten sie ihre Adressen und zahlreiche herzliche Händedrücke aus, dann ließ Jerry sich an einer Raststätte absetzen und wartete einen halben Tag auf den Bus, der ihn nach Osten, auf einen neuen Kriegsschauplatz befördern sollte.

Erstens: Mußte Jerry unbedingt Ricardo aufsuchen? Wäre der Ausgang, für ihn persönlich, ein anderer gewesen, wenn er es nicht getan hätte? Oder lieferte Jerry, wie Smileys Verteidiger bis auf den heutigen Tag behaupten, durch seine Stippvisite bei Ricardo den letzten und entscheidenden Anstoß, der den Baum schüttelte und die reife Frucht zu Fall brachte? Für den Club der Smiley-Anhänger besteht kein Zweifel: der Besuch bei Ricardo war der letzte Tropfen, und Ko ertrank darin. Ohne ihn hätte er womöglich noch so lange gezögert, bis die Schonzeit abgelaufen und Ko, und der Geheimdienst mit ihm, Freiwild für jedermann gewesen wären. Basta. Und auf den ersten Blick bewiesen die Fakten eine wunderbare Kausalität.

Denn folgendes passierte. Nur sechs Stunden nachdem Jerry und sein Fahrer Mickey sich aus dem Staub dieses Randstreifens in Nordost-Thailand aufgerappelt hatten, explodierte das ganze fünfte Stockwerk des Circus in einem Feuerbrand ekstatischen Jubels, der den Scheiterhaufen von Mickeys brennendem Leihwagen jederzeit in den Schatten gestellt hätte. In der Rumpelkammer, wo Smiley die Nachricht kundtat, tanzte Doc di Salis tatsächlich einen steifbeinigen kleinen Gigue, und Connie hätte unzweifelhaft mitgetanzt, wenn die Arthritis sie nicht an den elenden Rollstuhl gefesselt hätte. Trot heulte, Guillam und Molly fielen sich in die Arme, und nur Smiley bewahrte inmitten all dieses Überschwangs seine gewohnte leicht erschrockene Miene, obgleich Molly schwor, sie habe ihn erröten sehen, als er in die Runde blinzelte.

Er habe soeben eine Meldung bekommen, sagte er. Ein Blitzgespräch von den Vettern. Um sieben heute morgen, Hongkong-Zeit, habe Tiu bei Ko in Star Heights angerufen, wo Ko die Nacht bei Lizzie Worth zugebracht habe. Zuerst nahm Lizzie den Anruf entgegen, aber Ko schaltete sich am Nebenapparat ein und befahl ihr schroff, aufzulegen, was sie auch tat. Tiu schlug ein sofortiges gemeinsames Frühstück in der Stadt vor, bei George, sagte Tiu, zur großen Belustigung der Aufzeichner.

Drei Stunden später machte Tiu bei einem Telefongespräch mit seinem Reisebüro eilige. Pläne für eine Geschäftsreise nach dem chinesischen Festland. Seine erste Station würde Kanton sein, wo China Airsea eine Vertretung hatte, aber sein Ziel war Schanghai. Wie aber hatte Ricardo Tiu so schnell erreicht, ohne das Telefon zu benutzen? Die wahrscheinlichste Theorie lautete: durch die Verbindung des Polizei-Obersten mit Bangkok. Und von Bangkok aus? Das wußte der Himmel. Handels-Telex, das Wechselkursübertragungsnetz, alles ist möglich. Die Chinesen haben bei solchen Unternehmungen ihre eigenen Kanäle. Andererseits war es auch denkbar, daß einfach Kos Geduldsfaden gerade in diesem Augenblick von selbst gerissen war und daß es bei dem Frühstück »Bei George« um etwas völlig anderes ging. So oder so, es war der Durchbruch, von dem sie alle geträumt hatten, die triumphale Rechtfertigung für Smileys Mühen. Um die Lunchzeit hatte Lacon persönlich vorgesprochen, um seine Glückwünsche zu entbieten, und am frühen Abend hatte sich Saul Enderby zu einer Geste aufgeschwungen, die niemand von der falschen Seite des Trafalgar Square jemals gemacht hatte. Er hatte von Berry Brothers and Rudd eine Kiste Champagner schicken lassen, Krug Auslese, eine wahre Pracht. Dabei lag ein Briefchen an George mit den Worten: »Auf den ersten Sommertag«. Und genau das schien es zu sein, auch wenn man erst Ende April schrieb. Durch die dicken Netzgardinen der unteren Stockwerke konnte man das volle Laub der Platanen sehen. Weiter oben waren die Hyazinthen in Connies Fensterkasten erblüht. »Rot«, sagte sie, als sie auf Saul Enderbys Wohl trank. »Karlas Lieblingsfarbe, hol ihn der Teufel.«

Die Flußbiegung


Der Luftstützpunkt war weder großartig noch berühmt. Technisch gesehen unterstand er den Thais, in der Praxis durften die Thais lediglich den Müll einsammeln und die Einzäunung des Platzes bewachen. Der Kontrollpunkt war eine Stadt für sich. Überall roch es nach Holzkohle, Urin, Pökelfisch und Propangas, und eine Reihe baufälliger Wellblechschuppen beherbergte die uralten Gewerbe des militärischen Besatzungszustands. Die Bordelle waren mit Ausschußware bevölkert, die Schneiderläden boten Hochzeitsfräcke feil, die Buchhandlungen boten Pornographie und Reisen an, die Bars hießen Sunset Strip, Hawaii und Lucky Time. In der M.P.-Baracke fragte Jerry nach Captain Urquhart von Public Relations, und der schwarze Sergeant machte Miene, ihn rauszuwerfen, als er sagte, er sei Journalist. Am Diensttelefon hörte Jerry lange Zeit nur Klicken und Knattern, bis eine langsame Südstaatenstimme sagte: »Urquhart ist im Moment nicht da. Mein Name ist Masters. Wer spricht?«

»Urquhart und ich trafen uns letzten Sommer beim Lagebericht von General Crosse«, sagte Jerry, »Na, dann trafen wir zwei uns auch«, sagte die erstaunlich langsame Stimme, die ihn an Deathwish erinnerte. »Zahlen Sie Ihr Taxi. Komme gleich. Blauer Jeep. Warten Sie, bis Sie das Weiße in seinen Augen sehen.«

Langes Schweigen folgte, vermutlich während die Codewörter Urquhart und Crosse auf der Liste nachgesehen wurden. Auf dem Gelände herrschte ein ständiges Hin und Her von Flugpersonal, Schwarzen und Weißen in getrennten, finster blickenden Gruppen. Ein weißer Offizier kam vorbei. Die Schwarzen entboten ihm den Gruß von Black Power. Der Offizier erwiderte ihn zögernd. Die Mannschaften trugen, ähnlich wie Charlie Marshall, aufgenähte Abzeichen an den Uniformen, meist mit Werbesprüchen für Drogen. Die Stimmung war mürrisch, niedergeschlagen, latent gewalttätig. Die Thai-Soldaten grüßten niemanden. Niemand grüßte die Thais. Ein blauer Jeep kam mit Blinklicht und heulender Sirene am Schlagbaum angeschlittert. Der Sergeant ließ Jerry passieren. Eine Sekunde später rasten sie in halsbrecherischem Tempo über die Rollbahn auf eine lange Reihe niedriger weißer Baracken in der Mitte des Flugplatzes zu. Der Fahrer war ein schlaksiger Junge, ganz offensichtlich ein Neuling. »Sind Sie Masters?« fragte Jerry;

»Nein, Sir. Ich trage nur das Gepäck des Majors, Sir«, sagte er. Immer noch mit Blinklicht und ständig heulender Sirene fuhren sie an einem drittklassigen Baseballspiel vorüber. »Großartige Legende«, sagte Jerry.

»Was meinen Sie, Sir?« schrie der Junge über den Lärm hinweg. »Ach, nichts.«

Es war nicht gerade die größte Luftbasis. Jerry hatte größere gesehen. Sie kamen an Reihen von Phantomjägern und Hubschraubern vorbei, und als sie sich den weißen Baracken näherten, erkannte Jerry unter ihnen einen separaten Spukhaus-Komplex, mit eigenen Gebäuden und Funkantennen und einer eigenen kleinen Luftflotte aus schwarzbemalten Kleinflugzeugen, die vor dem Abzug Gott weiß wen Gott weiß wo abgesetzt und aufgefischt hatte.

Sie traten durch eine Seitentür ein, die der Junge aufschloß. Der kurze Korridor war leer und still. An seinem Ende eine offene Tür aus der traditionellen Rosenholz-Imitation. Masters trug eine kurzärmelige Luftwaffenuniform mit wenigen Abzeichen. Er hatte Orden und den Rang eines Majors, und Jerry tippte auf einen paramilitärischen Vetter, vielleicht nicht einmal Berufsoffizier. Er war fahl und drahtig, hatte einen bitteren, verkniffenen Mund und hohle Wangen. Er stand vor einer Kaminattrappe unter der Reproduktion eines Bildes von Andrew Wyeth und wirkte seltsam still und isoliert. Man hatte den Eindruck, er gebe sich absichtlich langsam, weil ringsum alles in Eile war. Der Junge besorgte die Vorstellung und zögerte dann. Masters glotzte ihn an, bis er hinausging, dann wandte er die farblosen Augen zu dem Rosenholztisch, auf dem Kaffee bereitstand. »Sehen aus, als könnten Sie ein Frühstück gebrauchen«, sagte Masters.

Er goß Kaffee ein und bot Doughnuts an, alles im Zeitlupentempo.

»Dann redet sich's leichter«, sagte er, »Stimmt«, pflichtete Jerry bei.

Auf dem Schreibtisch stand eine elektrische Schreibmaschine, daneben lag einfaches Papier. Masters marschierte steifbeinig zu seinem Stuhl und hockte sich auf die Lehne. Er nahm ein Exemplar von Stars and Stripes zur Hand und las demonstrativ, während Jerry sich am Schreibtisch niederließ.

»Höre, Sie erobern das Ganze für uns mit der linken Hand wieder zurück«, sagte Masters in Richtung Sfars and Stripes. »Sehr schön.«

Anstatt die elektrische Schreibmaschine zu benutzen, stellte Jerry seine Reisemaschine auf den Tisch und hackte seinen Bericht in raschen Salven herunter, die ihm immer lauter vorkamen, je weiter sein Werk vorrückte. Vielleicht kam es auch Masters so vor, denn er blickte häufig auf, wenn auch nur bis in Höhe von Jerrys Händen und der Spielzeugschreibmaschine. Jerry gab ihm das Blatt.

»Ihre Anweisung lautet, daß Sie hierbleiben«, sagte Masters, wobei er jedes Wort bedächtig artikulierte. »Ihre Anweisung lautet, daß Sie hierbleiben, während wir Ihr Funktelegramm weitergeben. Mann, und wie wir dieses Telegramm weitergeben! Ihre Anweisung lautet, hierzubleiben zwecks Bestätigung und Entgegennahme weiterer Instruktionen. Klar? Ist das klar, Sir?«

»Klar«, sagte Jerry.

»Zufällig schon die gute Nachricht gehört?« erkundigte sich Masters. Sie standen einander gegenüber, keinen Meter von einander entfernt. Masters starrte auf Jerrys Telegramm, aber seine Augen schienen nicht den Zeilen zu folgen. »Was denn für eine Nachricht, altes Haus?«

»Wir haben soeben den Krieg verloren, Mr. Westerby. Yes, Sir. Die Letzten der Tapferen haben sich gerade von einem Heli vom Dach der Botschaft in Saigon runterkratzen lassen, wie eine Bande Blödmänner, die mit runtergelassenen Hosen in einem Puff geschnappt werden. Vielleicht interessiert es Sie gar nicht. Hund des Botschafters ist gerettet, wird Sie freuen zu hören. Journalist ließ ihn auf seinem Schoß mitfliegen. Vielleicht interessiert Sie das auch nicht. Vielleicht sind Sie kein Hundefreund. Vielleicht mögen Sie Hunde ungefähr so gern, wie ich persönlich Journalisten mag, Mr. Westerby, Sir.«

Jerry hatte inzwischen Masters' Brandyfahne gerochen, die keine noch so große Menge Kaffee überdecken konnte, und er vermutete, daß Masters schon sehr lange getrunken hatte, ohne daß es ihm gelang, betrunken zu werden. »Mr. Westerby, Sir?«

»Ja, alter Junge.« Masters streckte die Hand aus.

»Alter Junge, ich möchte, daß Sie mir die Hand schütteln.« Die Hand schwebte mit hochgerecktem Daumen zwischen ihnen. »Wozu?« sagte Jerry.

»Ich möchte, daß Sie die Willkommenshand ergreifen, Sir. Die Vereinigten Staaten von Amerika haben sich soeben um Aufnahme in den Club zweitklassiger Machte beworben, wo, soviel ich höre, Ihre eigene ruhmreiche Nation Chairman, Präsident und ältestes Mitglied ist. Schütteln!«

»Begrüße Sie an Bord«, sagte Jerry und schüttelte dem Major zuvorkommend die Hand.

Sofort wurde ihm dafür ein strahlendes Lächeln falscher Dankbarkeit zuteil.

»Also das nenn ich wirklich hübsch von Ihnen, Mr. Westerby, Sir. Wenn wir irgend etwas tun können, um Ihren Aufenthalt bei uns angenehmer zu machen, bitte lassen Sie es mich wissen. Wenn Sie das Anwesen mieten möchten: jedes einigermaßen vernünftige Angebot wird akzeptiert.«

»Sie könnten ein Fläschchen Whisky durch die Gitterstäbe schieben«, sagte Jerry und grinste.

»Aber mit Vergnügen«, sagte Masters und zog die Worte so in die Länge, daß sie wie ein langsamer Boxhieb wirkten. »Mann nach meinem Herzen. Yes, Sir.«

Masters ließ ihm eine halbe Flasche J & B, die er aus dem Schrank genommen hatte, und ein paar alte Nummern von Playboy zurück.

»Halten wir uns eigens für englische Gentlemen, die keinen Finger gerührt haben, uns zu helfen«, erklärte er herzlich. »Sehr aufmerksam von Ihnen«, sagte Jerry. »Jetzt geh ich und schicke Ihren Brief heim zur Mammi. Übrigens, wie geht's der Queen?«

Masters schloß nicht ab, aber als Jerry die Tür probierte, war sie nicht zu öffnen. Die Fenster, die auf den Flugplatz hinausgingen, hatten undurchsichtige Doppelscheiben. Auf der Rollbahn landeten und starteten Flugzeuge, ohne daß man einen Laut hörte. So versuchten sie, den Krieg zu gewinnen, dachte Jerry: aus schalldichten Räumen heraus, hinter undurchsichtigem Glas, mit allen Maschinen in Reichweite. So haben sie ihn verloren. Er trank, er empfand nichts. Es ist also vorbei, dachte er, das war alles. Was würde seine nächste Station sein? Charlie Marshalls alter Herr? Kleine Spritztour durch die Shan-Staaten, Plauderstündchen mit den Leibwächtern des Generals? Er wartete, seine Gedanken drängten sich formlos. Er setzte sich, dann legte er sich aufs Sofa und schlief eine Weile, wie lange, wußte er nicht. Er erwachte jäh, als die Tonbandmusik einsetzte, die gelegentlich von Wald-und-Wiesendurchsagen unterbrochen wurde. Würde Captain Soundso dies oder jenes tun? Einmal wies der Sprecher auf die Möglichkeit zur Weiterbildung hin. Dann auf preisgünstige Waschmaschinen. Einmal kam ein Gebet. Die Krematoriumsstille und die Musik machten Jerry so nervös, daß er im Zimmer auf und ab lief.

Er ging hinüber zum anderen Fenster, und im Geist sah er Lizzies Gesicht neben seiner Schulter, wie damals das Gesicht der Waise. Er trank noch einen Schluck Whisky. Ich hätte im Lastwagen schlafen sollen, dachte er. Ich hätte überhaupt mehr schlafen sollen. Also haben sie den Krieg schließlich doch verloren. Der Schlaf hatte ihm nicht gut getan. Es schien lange her zu sein, daß er nicht mehr so geschlafen hatte wie früher. Seit Old Frosti war es aus damit. Seine Hand zitterte: Herrje, sieh dir das an. Er dachte an Luke. Zeit, daß wir wieder mal zusammen auf den Schwoof gehen. Er muß jetzt wieder zurück sein, wenn es ihn nicht erwischt hat. Muß mein Hirn ein bißchen zur Ruhe bringen, dachte er. Aber das Hirn machte sich in letzter Zeit gern selbständig. Ein bißchen zu oft, genau gesagt. Muß es an die Kandarre nehmen, sagte er sich streng. Mann. Er dachte an Ricardos Granaten. Beeil dich, dachte er. Los, wir müssen uns entscheiden. Wohin jetzt? Wer kommt als nächster dran? Sein Gesicht war trocken und heiß, und seine Hände waren feucht. Sein Kopf schmerzte über den Augen. Verdammte Musik, dachte er. Gottverdammte Weltuntergangsmusik. Er suchte fieberhaft herum, ob man sie nicht irgendwo abstellen konnte, als er Masters unter der Tür stehen sah, einen Umschlag in der Hand und Leere im Blick. Jerry las das Telegramm. Masters ließ sich wieder auf die Sessellehne nieder.

»>Junge, komm bald Wieden«, sang Masters und äffte seinen eigenen Südstaatenakzent nach. »>Komm direkt nach Haus. Nicht erst noch zweihundert Dollar kassieren.« Die Vettern werden Sie nach Bangkok fliegen. Von Bangkok fliegen Sie unverzüglich weiter nach London in England, nicht, wiederhole, nicht London in Ontario, mit einer Maschine Ihrer Wahl. Unter keinen Umständen kehren Sie nach Hongkong zurück. Ausgeschlossen! Nein, Sir! Mission beendet, Junge. Danke, gut gemacht. Ihre Majestät ist entzückt. Also flugs heim zum Abendbrot, es gibt Maisgrütze und Truthahn und Blaubeerkuchen. Hört sich an wie eine Bande Tanten, für die Sie da arbeiten, Mann.« Jerry las das Telegramm ein zweites Mal. »Maschine nach Bangkok startet eins, eins, null, null«, sagte Masters. Er trug seine Armbanduhr mit dem Zifferblatt nach innen, so daß sie die Zeit nur für ihn anzeigte. »Hören Sie?« Jerry grinste: »Entschuldigung, altes Haus. Langsamer Leser. Vielen Dank. Zu viele große Worte. Muß das alte Hirn ganz schön arbeiten. Hören Sie, ich hab meine Sachen im Hotel gelassen.«

»Meine Hausboys stehen Eurer Königlichen Hoheit zur Verfügung.«

»Danke, aber wenn's Ihnen nichts ausmacht, möchte ich lieber den offiziellen Kanal vermeiden.«

»Wie Sie wünschen, Sir, ganz wie Sie wünschen.«

Am Tor stehen Taxis. Hin und zurück in einer Stunde. »Danke«, wiederholte er.

»Wir haben Ihnen zu danken.«

Zum Abschied lieferte der Sarratt-Mann ein smartes Beispiel von Verfahrenstechnik. »Darf ich das solang hierlassen?«fragte er und wies auf seine schäbige Schreibmaschine neben Masters' IBM-Kugelkopfmodell.

»Sir, wir werden sie hüten wie unseren Augapfel.« Hätte Masters sich die Mühe gemacht, in diesem Augenblick zu ihm hinzusehen, so wäre er vielleicht angesichts von Jerrys ungewöhnlich leuchtendem Blick stutzig geworden. Vielleicht wäre er, wenn er Jerrys Stimme besser gekannt oder auf ihre so besonders liebenswürdige Rauheit geachtet hätte, gleichfalls stutzig geworden. Hätte er gesehen, wie Jerry sich in seine Haartolle einkrallte, den Unterarm vor die Brust hielt in dem instinktiven Wunsch, sich zu verstecken, oder hätte er auf Jerrys albernes Dankesgrinsen geachtet, als der Junge wiederkam, um ihn in dem blauen Jeep zum Tor zu fahren: dann wären ihm vielleicht Zweifel gekommen. Aber Major Masters war nicht nur ein verbitterter Fachmann, der eine Menge Enttäuschungen erlebt hatte. Er war ein Gentleman aus dem Süden, der den Dolchstoß der Niederlage von den Händen unergründlicher Wilder empfing; und er hatte gerade damals nicht viel Zeit übrig für die Verdrehtheiten eines ausgedienten, überfälligen Briten, der sein in den letzten Zügen liegendes Spukhaus als Postamt benutzte.

Vor dem Aufbruch der Hongkong-Reisenden aus dem Circus herrschte festliche Stimmung, die durch die geheimnisvollen Vorbereitungen noch gesteigert wurde. Die Nachricht von Jerrys Wiederauftauchen hatte sie ausgelöst. Der Inhalt seines Fernschreibens intensivierte sie noch und fiel mit einer Meldung der Vettern zusammen, wonach Drake Ko seine sämtlichen gesellschaftlichen und geschäftlichen Verabredungen abgesagt und sich in die Abgeschiedenheit seines Hauses Seven Gates an der Headland Road zurückgezogen habe. Ein Foto von Ko, per Teleobjektiv aus dem Observierungswagen der Vettern aufgenommen, zeigte ihn im Viertelprofil, wie er in seinem großen Garten am Ende einer Rosenpflanzung stand und aufs Meer hinausblickte. Die Betondschunke sah man nicht, aber Ko trug seine viel zu große Baskenmütze.

»Wie ein moderner Gatsby, mein Lieber!« rief Connie Sachs entzückt, als sie sich alle über das Foto beugten. »Schmachtet hinüber zu dem blöden Licht an der Pier, oder was der arme Tropf sonst getan hat!«

Als der Observierungswagen zwei Stunden später wieder des Wegs kam, stand Ko noch immer in der gleichen Haltung da, also machten sie kein zweites Foto mehr. Viel bedeutsamer war die Tatsache, daß Ko das Telefon überhaupt nicht mehr benutzte - jedenfalls nicht die Apparate, die die Vettern angezapft hatten. Auch Sam Collins schickte einen Bericht, den dritten kurz nacheinander, aber den bisher bei weitem längsten. Wie üblich kam er in einem Spezialumschlag, der an Smiley persönlich adressiert war, und wie üblich besprach Smiley den Inhalt nur mit Connie Sachs. Und genau in dem Augenblick, als die Reisenden zum Flugplatz von London aufbrechen wollten, traf noch eine Botschaft von Martello ein, des Inhalts, daß Tiu aus China zurückgekehrt und zur Zeit mit Ko in der Headland Road in Klausur sei.

Aber die wichtigste Zeremonie, soweit Guillam sich damals und später erinnern konnte, und die verwirrendste, war ein kleiner Kriegsrat in Martellos Räumen im Annex, zu dem sich ausnahmsweise nicht nur das gewohnte Quintett Martello, seine beiden schweigsamen Männer sowie Smiley und Guillam einfanden, sondern auch Lacon und Enderby, die bezeichnenderweise mit dem gleichen Dienstwagen ankamen. Zweck dieser - von Smiley berufenen - Versammlung war die formelle Schlüsselübergabe. Martello sollte jetzt ein vollständiges Bild vom »Unternehmen Delphin« bekommen, einschließlich der hochwichtigen Verbindungen zu Nelson. Er sollte als vollgültiger Partner eingewiesen werden - abgesehen von einigen kleineren Auslassungen, die erst später bekannt wurden. Wie Lacon und Enderby sich hatten eindrängen können, erfuhr Guillam nie genau, und Smiley war später in diesem Punkt verständlicherweise zurückhaltend. Enderby erklärte rundweg, er sei »im Interesse der Ordnung und der militärischen Disziplin« mitgekommen. Lacon wirkte farbloser und herablassender denn je. Guillam hatte den deutlichen Eindruck, daß sie etwas im Schilde führten, und dieser Eindruck wurde noch verstärkt durch die Vorstellung, die Enderby und Martello gaben: die frischgebackenen Busenfreunde ignorierten einander so völlig, daß sie Guillam an ein heimliches Liebespaar erinnerten, das am gemeinsamen Frühstück in einem Landhaus teilnimmt, eine Situation, in der er selber sich schon häufig befunden hatte.

Es sei der Maßstab der Sache, erklärte Enderby einmal. Sie habe solche Ausmaße angenommen, daß er wirklich meine, ein paar große Tiere sollten mitmischen. Dann wieder erklärte er, es sei die Kolonial-Lobby. Wilbraham mache Stunk beim Schatzamt. »So, jetzt haben wir also den ganzen Plunder gehört«, sagte Enderby, als Smiley seinen ausführlichen Überblick beendet hatte und Martellos Lobsprüche fast das Dach zum Einstürzen gebracht hätten. »Wer hat jetzt den Finger am Abzug, George, Punkt eins?« wollte er wissen, und daraufhin wurde die Besprechung vorwiegend Enderbys große Show, was Besprechungen mit Enderby gewöhnlich wurden. »Wer gibt den Feuerbefehl, wenn es zum Treffen kommt? Sie, George? Immer noch? Ich meine, Sie haben gute Planungsarbeit geleistet, zugegeben, aber unser alter Marty hier liefert schließlich die Artillerie, nicht wahr?« Worauf Martello sich taub stellte, ein strahlendes Lächeln ausgoß über all die großartigen und reizenden Briten, mit denen verbündet zu sein er die Ehre hatte, und Enderby weiterhin die grobe Arbeit tun ließ.

»Marty, wie sehen Sie diesen Punkt?« drängte Enderby, als hätte er selber keine Ahnung; als ginge er nie mit Martello angeln oder gäbe üppige Diners für ihn oder diskutierte mit ihm privat streng geheime Angelegenheiten.

In diesem Augenblick kam Guillam eine seltsame Erkenntnis, und später machte er sich Vorwürfe, daß er sie so wenig genutzt hatte. Martello wußte es. Die Enthüllungen über Nelson, über die Martello sich so völlig perplex gab, waren überhaupt keine Enthüllungen, sondern nur die Bestätigung von Informationen, die er und seine schweigsamen Männer längst besaßen. Guillam las es in ihren blassen hölzernen Gesichtern und den aufmerksamen Augen. Er las es aus Martellos Überschwang. Martello wußte alles.

»Äh, technisch ist es Georges Show, Saul«, erinnerte Martello loyalerweise Enderby in Beantwortung seiner Frage, aber mit gerade genug Nachdruck auf dem Wort technisch, um das übrige in Frage zu stellen. »George steht auf der Brücke, Saul. Wir heizen nur die Kessel.«

Enderby setzte ein unglückliches Stirnrunzeln auf und steckte ein Streichholz zwischen die Zähne.

»George, wie paßt Ihnen das? Paßt es Ihnen, so wie es ist? Daß Marty den Feuerschutz liefert, vor Ort alles bereithält, Kommunikationsmittel, die ganze Verschwörungsarbeit, Observierung, das Gelände in Hongkong sondieren und was weiß ich noch alles? Und Sie geben den Feuerbefehl? Muß schon sagen! Käme mir vor wie im fremden Frack rumzustolzieren.«

Smiley hielt sich gut, aber nach Guillams Meinung nahm er die Frage viel zu ernst und die kaum verhüllte Durchstecherei längst nicht ernst genug.

»Ganz und gar nicht«, sagte Smiley. »Martello und ich haben ein klares Abkommen getroffen. Die Speerspitze der Operation wird von uns dirigiert. Falls Unterstützung erforderlich ist, springt Martello ein. Das Produkt wird geteilt. Was den Gewinnanteil für die amerikanische Investition angeht, so wird er nach Erhalt des Produktes ausgeschüttet. Die Verantwortung dafür, daß ein solches Produkt anfällt, liegt nach wie vor bei uns.« Er schloß energisch: »Das Schreiben, worin das alles genau ausgeführt ist, liegt natürlich schon längst bei den Akten.«

Enderby sah Lacon an. »Oliver, Sie sagten, Sie würden es mir schicken. Wo ist es geblieben?«

Lacon legte den länglichen Kopf zur Seite und lächelte trübselig ins Leere. »Treibt sich irgendwo in Ihren hinteren Räumen herum, nehme ich an, Saul.«

Enderby versuchte es mit einer anderen Taktik. »Und ihr beiden da könnt euch vorstellen, daß der Handel unter allen Umständen gültig bleibt, ja? Ich meine, wer sorgt für die sicheren Häuser und so weiter? Begräbt die Toten, all das?«

Wiederum Smiley. »Housekeeping Section hat bereits ein Haus auf dem Land gemietet und bereitet alles für künftige Bewohner vor«, sagte er ungerührt.

Enderby nahm das besabberte Streichholz aus dem Mund und zerbrach es über dem Aschenbecher. »Hätten meines haben können, wenn Sie was gesagt hätten«, murmelte er zerstreut. »Mengen von Zimmern. Kein Mensch je dort. Personal. Alles.« Aber seine Sorge galt dem anderen Thema. »Hören Sie. Beantworten Sie mir diese Frage. Ihr Mann dreht durch. Er türmt und rennt durch die Gassen von Hongkong. Wer spielt Räuber und Gendarm, um ihn wieder einzufangen?« Nicht antworten! betete Guillam. Er hat überhaupt kein Recht, so um sich zu dreschen! Sag ihm, er soll sich zum Teufel scheren! Smileys Antwort war zwar entschieden, ermangelte indes der Hitzigkeit, die Guillam sich gewünscht hätte. »Ach, ich glaube, Hypothesen kann man immer aufstellen«, konterte er milde. »Ich glaube, hier kann man lediglich sagen, daß Martello und ich in einem solchen Fall gemeinsam überlegen und nach bestem Ermessen handeln würden.«

»George und ich arbeiten großartig zusammen, Saul«, erklärte Martello großmütig. »Ganz großartig.«

»Wäre viel sauberer, verstehen Sie, George«, fuhr Enderby mit einem frischen Streichholz im Mund fort. »Viel sicherer, wenn es ganz in Yankee-Händen wäre. Wenn Martys Leute einen Bock schießen, brauchen Sie sich bloß beim Gouverneur zu entschuldigen, ein paar Kamele in die Wüste schicken und versprechen, daß Sie's nie wieder tun. Das wär's. Mehr erwartet ohnehin niemand von ihnen. Sind die Vorteile eines schlechten Rufs, wie, Marty? Keiner wundert sich, wenn Sie das Zimmermädchen vögeln.«

»Aber SauU, sagte Martello und lachte ausgiebig über den köstlichen britischen Sinn für Humor.

»Viel komplizierter, wenn wir die Bösewichter sind«, fuhr Enderby fort. »Oder besser gesagt, Sie, George. Der Gouverneur könnte Sie mit einem Puster vom Tisch fegen, so wie die Dinge im Moment stehen. Wilbraham weint schon seinen ganzen Schreibtisch naß.«

Gegen Smileys heillose Verstocktheit war indessen nichts auszurichten, also trat Enderby für eine Weile von der Bühne ab, und sie nahmen ihre Diskussion der Modalitäten wieder auf. Aber ehe sie fertig waren, machte Enderby noch einen letzten Vorstoß, um Smiley aus dem Sattel zu heben. Er wählte dazu wiederum die Frage nach der sachdienlichsten Behandlung und Nachbehandlung des Falls.

»George, wer wird denn die Verhöre und so weiter besorgen? Setzen Sie Ihren komischen kleinen Jesuiten an, den mit dem possierlichen Namen?«

»di Salis wird für die chinesischen Aspekte der Einvernahme zuständig sein, und unsere Soviet Research Section für die russische Seite.«

»Ist das die invalide Akademikerin, George, die der verdammte Bill Haydon wegen Trunksucht gefeuert hat?«

»Diese beiden haben das Unternehmen bis zu seinem augenblicklichen Stand gefördert«, sagte Smiley. Wie immer sprang Martello in die Bresche. »Also George, das lasse ich nicht zu! Sir, das nicht! Saul, Oliver, nehmen Sie zur Kenntnis, daß ich das Unternehmen Delphin - in allen seinen Aspekten, Saul - als persönlichen Triumph für unseren George betrachte, und für George allein!« Nach reichlichem Applaus für den lieben alten George fuhren sie zurück zum Cambridge Circus.

»Himmelarschundzwirn!« platzte Guillam los. »Warum will dieser Enderby Sie abschießen? Was soll dieser ganze Quatsch von wegen:_das Schreiben verloren?«

»Ja«, sagte Smiley nach einer langen Pause von weit her. »Ja, das ist sehr nachlässig von ihnen. Ich glaube, ich schicke ihnen eine Abschrift. Unsigniert, von Hand, nur zur Information. Enderby wirkte so wollig, wie? Würden Sie das übernehmen, Peter, die Mütter bitten?«

Die Erwähnung des Schreibens - Hauptpunkt des Abkommens, wie Lacon es nannte - weckte Guillams schlimmste Befürchtungen von neuem. Er erinnerte sich, wie er es törichterweise durch Sam Collins hatte überbringen lassen und wie Sam, laut Fawn, unter dem Vorwand der Ablieferung mehr als eine Stunde zusammen mit Martello in dessen Büro verschwunden war. Er erinnerte sich auch daran, wie er Sam Collins in Lacons Vorzimmer gesehen hatte, den geheimnisvollen Vertrauten Lacons und Enderbys, der in Whitehall herumlungerte wie die verflixte Edamer Katze aus »Alice im Wunderland«. Er erinnerte sich an Enderbys Vorliebe für Backgammon, wobei er um sehr hohe Einsätze spielte, und während er versuchte, der Verschwörung auf den Grund zu kommen, dachte er sogar daran, daß Enderby Stammkunde in Sam Collins' Club sein mochte. Er wies diesen Gedanken als geradezu absurd sofort wieder von sich. Ironischerweise stellte er sich später als zutreffend heraus. Und er erinnerte sich an seine aufblitzende Überzeugung - die sich lediglich auf den Gesichtsausdruck der drei Amerikaner stützen konnte und daher gleichfalls wieder verworfen wurde -, daß sie bereits wüßten, was Smiley ihnen bei der Besprechung mitzuteilen hatte.

Aber die Idee, daß Sam Collins bei diesem Festmahl die Rolle des Steinernen Gasts spielte, gab Guillam nicht auf, und als er auf dem Londoner Flugplatz die Maschine bestieg, erschöpft von seinem langen und gründlichen Abschied von Molly, grinste ihn das Gespenst durch den Rauch von Sams teuflischer brauner Zigarette an.

Der Flug verlief ereignislos, mit einer Ausnahme. Sie waren zu dritt, und in Sachen Sitzordnung hatte Guillam in seinem Dauerkrieg mit Fawn eine kleine Schlacht gewonnen. Über die Leichen der Housekeepers hinweg flogen Smiley und Guillam in der Ersten Klasse, während Fawn, der Babysitter, einen vorderen Eckplatz am Mittelgang der Touristenklasse bekam, Wange an Wange mit der Wachmannschaft der Fluglinie, die fast während der ganzen Reise schlief, während Fawn schmollte. Glücklicherweise war nie der Vorschlag aufgetaucht, daß Martello und seine schweigsamen Männer mit ihnen fliegen könnten, denn Smiley war entschlossen, daß dies auf gar keinen Fall passieren dürfe. Und so flog Martello gen Westen, machte in Langley Station, um sich Instruktionen zu holen, und setzte seine Reise über Honolulu und Tokio fort, um bei ihrer Ankunft in Hongkong zur Stelle zu sein. Als unbewußt ironische Fußnote zu ihrer Abreise hinterließ Smiley einen langen, handgeschriebenen Brief an Jerry, der diesem bei seiner Ankunft im Circus ausgehändigt werden sollte und worin er ihm zu seiner erstklassigen Leistung gratulierte. Der Durchschlag liegt noch immer in Jerrys Akte. Niemand kam auf den Gedanken, ihn zu entfernen. Smiley spricht von Jerrys »unbeirrbarer Loyalität« und davon, daß er »einer mehr als dreißigjährigen Dienstzeit die Krone aufgesetzt« habe. Er schließt einen nicht unbedingt authentischen Gruß von Ann ein, »die Ihnen, ebenso wie ich, eine gleicherweise ruhmreiche Karriere als Romancier wünscht«. Und er endet ziemlich ungeschickt mit dem Ausdruck seiner Überzeugung, wonach »eines der Privilegien unserer Arbeit darin besteht, daß sie uns mit so wundervollen Kollegen zusammenbringt. Ich darf Sie versichern, daß wir alle in diesem Sinn an Sie denken«-.

Manche Leute fragen sich noch immer, warum den Circus vor dem Aufbruch kein Wort der Besorgnis über Jerrys Verbleib erreichte. Schließlich war er seit mehreren Tagen überfällig. Auch hier will man Smiley die Schuld in die Schuhe schieben, aber es gibt keinen Beweis dafür, daß der Circus sich einen Lapsus geleistet hätte. Für die Weitergabe von Jerrys Bericht aus dem Luftstützpunkt in Nordost-Thailand - seinem letzten - hatten die Vettern einen direkten Kanal über Bangkok nach London und in den Annex freigemacht. Aber das Arrangement galt nur für ein einziges Funktelegramm und eine einzige Rückantwort, ein Nachfaß-Telegramm war nicht vorgesehen. Entsprechend wurde Major Masters' Meldung, als sie erstattet wurde, zuerst über das militärische Nachrichtennetz nach Bangkok geleitet, von dort nach Hongkong über deren Nachrichtennetz an die Vettern - da man der Ansicht war, Hongkong habe totales Zurückhalterecht auf alles Material im Zusammenhang mit dem »Unternehmen Delphin« - und erst danach, mit dem Vermerk »Routine« versehen, von Hongkong an London, wo sie in mehreren rosenholzfurnierten Einlaufkästen zu liegen kam, ehe irgend jemand ihre Bedeutung erkannte. Übrigens hatte bereits der langsame Major Masters dem Nicht-Auftritt, wie er sich später ausdrückte, einer x-beliebigen englischen Reisetante sehr wenig Bedeutung zugemessen. »ERKLÄRUNG VERMUTLICH BEI IHNEN«, lautet der Schluß seiner Meldung. Major Masters lebt jetzt in Norman, Oklahoma, wo er eine kleine Autoreparaturwerkstatt betreibt.

Auch die Housekeepers hatten keinen Grund zur Panik - jedenfalls behaupten sie das noch heute. Jerrys Instruktionen lauteten, er solle sich, sobald er in Bangkok eintreffe, ein Flugzeug suchen, irgendeins, seine Flugnetzkarte vorzeigen und nach London kommen. Es wurde kein Datum genannt, auch keine Fluglinie. Zweck des Ganzen war lediglich, die Sache in Bewegung zu halten. Höchstwahrscheinlich hatte er irgendwo eine Erholungspause eingelegt. Das taten die meisten heimreisenden Außenagenten, und Jerry war als großer Sexkonsument aktennotorisch. Also hielten sie wie üblich ein Auge auf die Fluglisten und meldeten ihn provisorisch in Sarratt zur zweiwöchentlichen Desinstruktions- und Wiedereinschleusungszeremonie an, woraufhin sie sich wieder der weitaus dringenderen Aufgabe widmeten, das sichere Haus für »Delphin« vorzubereiten. Es war eine reizende alte Mühle, sehr abgelegen, aber in der Nähe der Pendlerstadt Maresfield in Sussex, und beinah immer fanden sie einen Vorwand, hinzufahren. Außer di Salis und einem beträchtlichen Teil seines China-Archivs mußte eine kleine Armee von Übersetzern und Transskriptions-Spezialisten untergebracht werden, ganz zu schweigen von den Technikern, Babysittern und einem chinesischsprechenden Arzt. Es dauerte nicht läng, bis die Bürger des Orts sich bei der Polizei lautstark über den Zustrom von Japanern beklagten. Die Regionalzeitung schrieb, es handle sich um eine Tanztruppe auf Tournee. Der Tip stammte von den Housekeepers.

Jerry hatte nichts im Hotel abzuholen, und zudem hatte er überhaupt kein Hotel, aber er schätzte, daß er eine Stunde Zeit haben würde, um sich aus dem Staub zu machen. Er zweifelte nicht daran, daß die Amerikaner die ganze Stadt abgeriegelt hatten, und er wußte, nichts würde - falls London es verlangen sollte - für Major Masters einfacher sein, als Jerrys Namen und Personenbeschreibung als die eines amerikanischen Deserteurs, der mit falschem Paß reiste, über den Rundfunk durchzugeben. Daher ließ er das Taxi, sobald es weit genug vom Tor entfernt war, zum südlichen Stadtrand fahren, dann wartete er eine Weile, nahm ein zweites Taxi und dirigierte es nach Norden. Feuchter Nebel hing über den Reisfeldern, und die schnurgerade Straße lief endlos in diesen Nebel hinein. Aus dem Radio leierten die Stimmen von Thaifrauen, es klang wie ein langgezogener, nicht endender Kinderreim. Sie fuhren an einer elektronischen Überwachungsanlage der Amerikaner vorbei, einem kreisförmigen Drahtzaun von einer Viertelmeile Durchmesser, der im Nebel schwamm und bei den Einheimischen der Elefantenkäfig hieß. Der Umkreis war mit riesigen Pfählen abgesteckt, und in der Mitte brannte, umgeben von Spinnennetzen aus gespanntem Draht, ein einzelnes höllisches Licht wie die Verheißung eines künftigen Krieges. Er hatte gehört, hier hausten zwölfhundert Sprachenstudenten, aber keine Menschenseele war zu sehen. Er brauchte Zeit, und es gelang ihm sogar, sich mehr als eine Woche zu verschaffen. Sogar jetzt brauchte er so viel Zeit, um zu sich selbst zu kommen; denn im Herzen war Jerry Soldat und dachte mit den Füßen. Im Anfang war die Tat, pflegte Smiley, wenn er in seiner Predigerstimmung war, aus einem seiner deutschen Dichter zu zitieren. Für Jerry war diese schlichte Maxime zur Säule seiner unkomplizierten Philosophie geworden. Was man denkt, ist jedermanns Privatsache. Wichtig ist, was man tut.

Als er am frühen Abend den Mekong erreichte, suchte er sich ein Dorf und streunte ein paar Tage lang müßig am Flußufer entlang, schleppte seine Umhängetasche und kickte mit den Zehen seines Wildlederstiefels leere Coca-Cola-Dosen vor sich her. Jenseits des Flusses, hinter den braunen Bergen, die wie Ameisenhügel aussahen, lag der Ho-Chi-Minh-Pfad. Er hatte einmal von genau dieser Stelle aus beobachtet, wie eine B 52 drei Meilen entfernt in Zentral-Laos angriff. Er erinnerte sich, wie der Boden unter seinen Füßen geschwankt, der Himmel sich geleert und gebrannt hatte, und ihm wurde bewußt, einen Augenblick lang klar bewußt, was es bedeutete, mittendrin zu sein.

Noch in der gleichen Nacht hieb Jerry Westerby, um seine eigene Redewendung zu gebrauchen, tüchtig auf die Pauke, ziemlich genau so, wie die Housekeepers es von ihm erwarteten, wenn auch unter etwas anderen Umständen. In einer Bar am Fluß, wo eine Musikbox alte Weisen plärrte, trank er Schwarzmarktwhisky aus dem PX, Nacht für Nacht, bis das Vergessen sich einstellte, führte eines der lachenden Mädchen nach dem anderen die unbeleuchtete Treppe in ein schäbiges Schlafzimmer hinauf, bis er schließlich dort wirklich einschlief und nicht mehr herunterkam. Erwachte er dann ruckartig und mit relativ klarem Kopf in der Morgendämmerung am Krähen der Hähne und dem Lärm auf dem Fluß, so zwang er sich, lang und liebevoll an seinen Kumpel und Mentor George Smiley zu denken. Es war ein reiner Willensakt, beinah ein Akt des Gehorsams. Er wollte ganz einfach die Glaubensartikel seines Credos hersagen, und sein Credo war bisher der gute alte George gewesen. Die Leute in Sarratt haben viel Verständnis für die Motive eines Außenagenten, und gar nichts übrig für den augenrollenden Fanatiker, der mit den Zähnen knirscht und »Ich hasse den Kommunismus« blökt. Wenn er ihn so sehr haßt, argumentieren sie, dann dürfte er bereits in ihn verliebt sein. Was sie wirklich gern hatten - und Jerry entsprach dieser Vorstellung -, war ein Mann, der nicht lang faselte, der seine Arbeit liebte und wußte - obwohl er um Himmels willen kein großes Trara darum machen sollte -, daß wir recht haben. Wobei wir ein notwendigerweise dehnbarer Begriff ist, aber für Jerry bedeutete er George und damit basta.

Alter George. Super. Guten Morgen.

Er sah ihn vor sich, so, wie er sich am liebsten an ihn erinnerte: bei ihrer ersten Begegnung in Sarratt kurz nach dem Krieg. Jerry war noch ein untergeordneter Dienstgrad bei der Army, - seine Dienstzeit war fast abgelaufen, Oxford drohte, und er langweilte sich tödlich. Es war ein Kursus für Gelegentliche: für Leute, die schon kleine Proben ihrer Geschicklichkeit geliefert hatten, ohne formell auf die Gehaltsliste des Circus zu kommen und als Reservetruppe geschliffen wurden. Jerry hatte sich bereits um eine reguläre Anstellung beworben, aber die Personalabteilung des Circus hatte ihn abgelehnt, was seine Stimmung auch nicht gerade hob. Als daher Smiley mit Wintermantel und Brille in die ölbeheizte Unterrichtsbaracke gewatschelt kam, hatte Jerry innerlich einen Seufzer ausgestoßen und sich auf weitere fünfzig Minuten gähnender Langeweile gefaßt gemacht - auf geeignete Plätze für tote Briefkästen vermutlich - anschließend einen geheimen Streifzug durch die Umgebung von Rickmannsworth, bei dem es galt, hohle Baumstämme auf Friedhöfen auszumachen. Es gab große Heiterkeit, als die Hausverwaltung sich abmühte, das Lesepult niedriger zu schrauben, damit George darüber wegsehen könne. Schließlich stellte er sich ein bißchen nervös daneben und erklärte, sein Thema heute nachmittag laute: »Probleme der Führung von Kurierverbindungen innerhalb feindlichen Territoriums«. Langsam dämmerte es Jerry, daß Smiley nicht aus Büchern lehrte, sondern aus Erfahrung: daß dieser eulenhafte kleine Pedant mit der schüchternen Stimme und der zwinkernden, wie um Entschuldigung bittenden Erscheinung drei Jahre in einer deutschen Provinzstadt durchgehalten hatte, die Fäden eines sehr bedeutenden Netzes in der Hand, während er ständig darauf wartete, daß ein Stiefel durch die Türfüllung fahren oder ein Pistolenknauf auf sein Gesicht niedersausen würde und er die Freuden eines Verhörs genießen dürfte. Als der Vortrag vorbei war, wollte Smiley ihn sprechen. Sie trafe sich in der Ecke eines leeren Lokals, unter den Hirschgeweihen, wo die Scheiben für das Pfeilwerfen hingen.

»Es tut mir so leid, daß wir Sie nicht nehmen konnten«, sagte Smiley. »Ich glaube, wir waren der Ansicht, Sie hätten zuerst noch ein bißchen mehr Zeit draußen nötig.« Was heißen sollte, daß er unreif sei. Zu spät erinnerte Jerry sich, daß Smiley zu den wortlosen Mitgliedern des Prüfungsausschusses gehört hatte, von dem er abgelehnt worden war. »Vielleicht, wenn Sie Ihr Studium abschließen und es auf einem anderen Gebiet zu einigem Erfolg bringen könnten, würde man es sich anders überlegen. Bleiben Sie in Verbindung, ja?« «

Und seitdem war der alte George auf die eine oder andere Art eigentlich immer dagewesen. Nie überrascht, nie ungeduldig hatte der alte George Jerrys Leben gelenkt, bis es dem Circus gehörte. Das väterliche Imperium brach zusammen: George wartete mit ausgestreckten Händen, um ihn aufzufangen. Seine Ehen scheiterten: George saß nächtelang bei ihm und hielt ihm den Kopf. »Ich war diesem Amt immer dankbar, daß es mir Gelegenheit gibt, abzuzahlen«, hatte Smiley gesagt. »Ich bin überzeugt, daß wir so empfinden sollten. Ich glaube nicht, daß wir uns davor fürchten sollten, uns . . . aufzuopfern. Ist das altmodisch von mir?«

»Sie deuten in die Richtung, und ich zieh los«, hatte Jerry erwidert. »Sie geben mir die Schläge an, ich führe sie aus.« Noch war es Zeit. Er wußte es. Zug nach Bangkok, hopp rein in ein Flugzeug und heimfliegen, und das Schlimmste, was ihm passieren konnte, war, daß sie ihm tüchtig den Kopf waschen würden, weil er für ein paar Tage ohne Erlaubnis von Bord gegangen war. Heim, dachte er. Bißchen schwierig. Heim in die Toskana und in die gähnende Leere auf dem Hügel, ohne die Waise? Heim zur alten Pet, sich wegen der kaputten Tasse entschuldigen? Heim zum lieben alten Stubbsi, Desk-Jockey spielen mit Zuständigkeit für abgelehnte Manuskripte? Oder heim in den Circus: »Wir nehmen an, in der Bankabteilung fühlen Sie sich am wohlsten.« Oder sogar - großartiger Gedanke - heim nach Sarratt, als Ausbilder, Herzen und Seelen der Neuen erobern, und verbotene Abstecher in eine Maisonettewohnung in Watford unternehmen.

Am dritten oder vierten Morgen wachte er sehr früh auf. Über dem Fluß erschien das erste Tageslicht, färbte ihn zuerst rot, dann orange, dann braun. Eine Familie von Wasserbüffeln watete im Schlamm, ihre Glocken bimmelten. In der Mitte der Strömung waren drei Sampans durch ein langes und kompliziertes Schleppnetz verbunden. Er hörte ein Zischen und sah ein Netz sich verknäueln, dann wie Hagel auf das Wasser klatschen. Ich bin nicht hier, weil mir eine Zukunft fehlt, dachte er. Ich bin hier, weil ich keine Gegenwart habe.

Heim ist das, wo du hingehst, wenn du kein Heim mehr hast, dachte er. Womit ich bei Lizzie wäre. Verzwickte Sache. Verschieben wir's auf später. Erst mal frühstücken. Als er auf dem Teakholzbalkon saß und Eier und Reis mampfte, erinnerte er sich, wie George ihm die Nachricht über Haydon beigebracht hatte. El Vino's Bar, Fleet Street, regnerischer Mittag. Jerry war nie fähig gewesen, jemand lange Zeit zu hassen, und nachdem der erste Schock vorbei war, gab es kaum noch etwas zu sagen.

»Well, hat keinen Sinn, in den Schnaps zu flennen, wie, altes Haus? Können das Schiff nicht den Ratten überlassen. Weiterkämpfen ist das einzige.«

Smiley stimmte zu: ja, das war das einzige, weiterkämpfen, dankbar für die Gelegenheit, abzuzahlen. Jerry hatte sogar einen seltsamen Trost in der Tatsache gefunden, daß Bill zum Clan gehörte. Er hatte, auf seine unartikulierte Weise, nie ernstlich daran gezweifelt, daß sein Land sich im Zustand unwiderruflichen Niedergangs befinde und daß seine eigene Klasse die Schuld an der Katastrophe trug.

»Wir haben Bill gemacht«, lautete sein Argument, »also ist es nur recht, daß wir seinen Verrat ausbadei müssen.« Bezahlen hieß das. Bezahlen. Was der alte George schon die ganze Zeit tat.

Wieder bummelte Jerry den Fluß entlang, atmete die freie warme Luft und ließ flache Steine über das Wasser flitzen.

Lizzie, dachte er. Lizzie Worthington, Ausreißerin aus der Vorstadt, Ricardos Schülerin und Spielball. Charlie Marshalls große Schwester und große Mutter und unerreichbare Hure. Drake Kos gefangener Vogel. Meine Tischgefährtin vier ganze Stunden lang. Und für - Sam Collins - um nochmals auf diese Frage zurückzukommen - was war sie für ihn gewesen? Für Mr. Mellon, Charlies »schmierigen englischen Kaufmann« von vor eineinhalb Jahren, war sie der Kurier gewesen, der Heroin nach Hongkong schaffte. Aber sie war mehr als das gewesen. Irgendwann hatte Sam den Vorhang ein Stückchen gelüftet und ihr gesagt, er arbeite für Königin und Vaterland. Eine frohe Botschaft, die Lizzie umgehend ihrem bewundernden Freundeskreis mitteilte. Was Sam erzürnte, so daß er sie fallenließ wie eine heiße Kartoffel und sie schließlich als eine Art Lockziege verwendete. Als Köder auf Bewährung. In einer Hinsicht amüsierte dieser Gedanke Jerry sehr, denn Sam genoß den Ruf eines Staragenten, während Lizzie Worthington den Star einer Demonstration in Sarratt hätte abgeben können, Titel: »Urtyp der Frau, die man niemals anwerben darf, solange sie noch sprechen oder atmen kann.« Weniger amüsant war die Frage, was sie jetzt für Sam bedeutete. Warum lauerte er in ihrem Schatten wie ein geduldiger Mörder und lächelte sein gußeisernes Lächeln? Diese Frage machte Jerry arg zu schaffen. Kurzum, er war von ihr besessen. Er wollte einfach nicht, daß Lizzie noch einen weiteren Reinfall erlebte. Wenn sie von Kos Bett irgendwo anders hinginge, dann sollte es Jerrys Bett sein. Immer wieder einmal - seit er sie zum erstenmal gesehen hatte - hatte er sich ausgemalt, wie gut Lizzie die kräftige Luft der Toskana bekommen würde. Es war ihm zwar nicht klar, was es mit Sams Anwesenheit in Hongkong auf sich hatte und was der Circus auf längere Sicht mit Drake Ko plante, aber eins - und dies war der Angelpunkt der ganze Sache - wußte er genau: daß er, wenn er in diesem Moment nach London abzischen würde, anstatt Lizzie auf seinem weißen Renner zu entführen, er sie auf einer sehr großen Bombe sitzend zurückließ. Was für ihn nicht in Frage kam. Zu anderen Zeiten hätte er vielleicht die Lösung dieses Problems den Eulen überlassen, wie so manches andere in seinem früheren Leben. Aber jetzt waren nicht andere Zeiten. Diesmal zahlten die Vettern die Zeche, wie er wußte, und wenn Jerry auch weiter nichts gegen die Vettern hatte, so machte ihre Anwesenheit das Spiel doch bedeutend rauher. Und deshalb spielten seine vagen Vorstellungen von Georges Menschlichkeit in diesem Fall keine Rolle.

Außerdem hing er an Lizzie. Über die Maßen. Hier waren seine Gefühle klar und eindeutig. Er sehnte sich nach ihr mit allen Fasern. Sie war ein Verlierer, wie fr, und erliebte sie. Er hatte über alles nachgedacht und den Schlußstrich gezogen, und war, nach tagelangem Hinundherüberlegen zu diesem genauen, unabänderlichen Resultat gelangt. Es erschreckte ihn ein wenig, aber es gefiel ihm ungemein.

Gerald Westerby, ermahnte er sich. Du warst bei deiner Geburt anwesend. Du warst bei deinen verschiedenen Eheschließungen anwesend und bei einigen deiner Scheidungen, und mit Sicherheit wirst du bei deiner Beerdigung anwesend sein. Höchste Zeit, unserer wohlerwogenen Meinung nach, daß du auch einmal an gewissen anderen entscheidenden Wendepunkten deiner Lebensgeschichte anwesend bist.

Er fuhr mit einem Bus ein paar Meilen flußaufwärts, ging dann ein Stück zu Fuß, fuhr in Rikschas, saß in Kneipen, ging mit den Mädchen ins Bett und dachte nur an Lizzie. Der Gasthof, in dem er logierte, war voller Kinder, und als er eines Morgens erwachte, saßen zwei von ihnen auf seinem Bett, staunten über die gewaltig langen Beine des farang und kicherten darüber, wie seine nackten Füße unten hervorguckten. Vielleicht bleibe ich einfach hier, dachte er. Aber das meinte er nicht ernst, denn er wußte, daß er zurück mußte und sie fragen: auch wenn die Antwort nur blauer Dunst sein würde. Er ließ für die Kinder Papierflugzeuge vom Balkon segeln, und sie klatschten in die Hände und tanzten und sahen zu, wie die papierenen Vögel davonschwebten.

Er fand einen Schiffer, und als es Abend wurde, ließ er sich nach Vientiane übersetzen und vermied so die Einreiseformalitäten. Am nächsten Morgen schummelte er sich, ebenfalls ohne Formalitäten, an Bord einer außerplanmäßigen Royal Air LaoDC 8, und am Nachmittag war er auf dem Flug, einen köstlichen warmen Whisky in der Hand, und plauderte fröhlich mit ein paar freundlichen Opiumschmugglern. Als sie landeten, fiel schwarzer Regen, und die Fenster des Flughafenbusses waren dreckverschmiert. Jerry war das egal. Zum erstenmal in seinem Leben war die Rückkehr nach Hongkong für ihn, als käme er endlich doch noch nach Hause.

Trotzdem verhielt sich Jerry in der Ankunftshalle äußerst vorsichtig. Nur nicht auffallen, sagte er sich, nie mehr auffallen. Die wenigen Ruhetage hatten für seine Geistesgegenwart Wunder getan. Nachdem er sich gründlich umgesehen hatte, begab er sich in »Herren« anstatt zum Einreiseschalter und blieb dort, bis ein großer Trupp japanischer Touristen eintraf, dann rannte er zu ihnen hin und fragte, ob jemand von ihnen Englisch spreche. Er suchte sich vier Leute aus, denen er seinen Presseausweis aus Hongkong unter die Nase hielt, und während sie Schlange standen und auf die Paßkontrolle warteten, bestürmte er sie mit Fragen über den Grund ihres Hierseins und über ihre Pläne, was sie unternehmen wollten und mit wem, und schrieb wie rasend auf seinen Notizblock, dann wandte er sich an die nächsten vier und wiederholte das Ganze. Inzwischen wartete er ab, bis die diensthabenden Polizisten abgelöst wurden. Um vier Uhr war es soweit, und sofort stürzte er zu einer Tür mit der Aufschrift »Kein Zutritt«, die er bereits früher ausgemacht hatte. Er ballerte an die Füllung, bis ihm geöffnet wurde, und machte Miene, hindurchzugehen.

»Wo zum Teufel wollen Sie hin?«fragte ein empörter schottischer Polizeiinspektor.

»Heim zum Käseblättchen, altes Haus. Muß den Quark über unsere reizenden japanischen Besucher abliefern.« Er zeigte seinen Presseausweis vor.

»Gehn Sie gefälligst durch die verdammte Sperre, wie alle anderen.«

»Seien Sie doch nicht stur. Ich hab' meinen Paß nicht bei mir. Deshalb hat mich Ihr vortrefflicher Kollege vorhin hier durchgelassen.«

Seine Größe, sein sicherer Ton, seine eindeutig britische Erscheinung, sein gewinnendes Lächeln verschafften ihm fünf Minuten später einen Platz im Bus zur Stadt. Vor seinem Häuserblock trödelte er eine Weile herum, sah jedoch keine verdächtige Gestalt, aber hier war China, und wer konnte da wissen? Der Lift leerte sich wie üblich für ihn. Im Hinauffahren summte er Deathwishs einzige Platte, in der Vorfreude auf ein heißes Bad und frische Kleider. An der Wohnungstür erlebte er einen gelinden Schrecken, als er die kleinen Holzstückchen, die er eingeklemmt hatte, auf dem Boden liegen sah, aber dann fiel ihm Luke ein, und er lächelte bei dem Gedanken, ihn wiederzusehen. Er schloß die Tür auf und hörte in diesem Moment drinnen ein Summen, ein monotones Dröhnen, das von einer Klimaanlage hätte stammen können, aber nicht von der in Deathwishs Wohnung, da sie zu schwach und unzulänglich war. Dieser Idiot von Luke hat den Plattenspieler nicht abgestellt, dachte er, und jetzt ist er am Durchbrennen. Dann dachte er: ich tue Luke unrecht, es ist dieser Kühlschrank. Dann öffnete er die Tür und sah Lukes Leiche auf dem Fußboden liegen. Der Kopf war zur Hälfte in Stücke geschossen, und fünfzig Prozent aller Fliegen Hongkongs umschwärmten ihn. Jerry fiel nichts Besseres ein - nachdem er schnell die Tür hinter sich geschlossen und das Taschentuch vor den Mund gepreßt hatte - als in die Küche zu rennen, für den Fall, daß dort noch jemand wäre. Dann kehrte er in den Wohnraum zurück, schob Lukes Füße beiseite, stemmte das Bodenbrett hoch, unter dem er seine verbotene Waffe und seinen Fluchtbeutel versteckt hatte, und stopfte alles in seine Taschen, ehe er sich erbrach.

Natürlich, dachte er. Deshalb war Ricardo so felsenfest überzeugt, daß der Pferdeschreiber tot sei.

Wir sind schon ein ganzer Club, dachte er, als er wieder draußen auf der Straße stand und Wut und Schmerz ihm in Ohren und Augen hämmerte. Nelson Ko ist tot, aber er regiert China. Ricardo ist tot, aber Drake Ko sagt, er könne am Leben bleiben, solange er sich auf der Schattenseite der Straße halte. Jerry Westerby, der Pferdeschreiber, ist auch mausetot, nur daß Kos blöder, verdammter, dreckiger Schweinehund von Leibwächter, Mr. Scheiß-Tiu, so dämlich gewesen war, das falsche Rundauge abzuknallen.

Die Goldmakrele


Das Innere des amerikanischen Konsulats in Hongkong hätte bis hin zum allgegenwärtigen falschen Rosenholz, der falschen Liebenswürdigkeit, den Flughallensesseln und dem herzerquickenden Porträt des Präsidenten, auch wenn es diesmal Ford war, das Innere des Annex' sein können. Willkommen im Spukhaus, dachte Giullam. Die Abteilung, in der sie arbeiteten, hieß Die Isolierstation und hatte einen eigenen Ausgang zur Straße, den zwei Marineinfanteristen bewachten. Die Circusleute hatten Pässe auf falsche Namen - Guillam hieß Gordon -, und während der Dauer ihres Aufenthalts sprachen sie, außer am Telefon, mit keinem anderen Menschen innerhalb des Gebäudes. »Wir sind nicht nur offiziell inexistent, Gentlemen«, hatte Martello während der Lagebesprechung stolz erklärt, »wir sind auch unsichtbar.« So sei es gedacht, sagte er. Der amerikanische Generalkonsul würde dem Gouverneur mit der Hand auf der Bibel schwören können, daß sie nicht hier seien und sein eigenes Personal von der ganzen Sache nichts wisse, sagte Martello. »Keiner hat was gesehen oder gehört.« Danach hatte er George Platz gemacht, denn: »George, das hier ist Ihre Show, von der Suppe bis zum Nachtisch.«

Bergab waren sie in fünf Minuten im Hilton, wo Martello sie eingemietet hatte. Bergauf hätten sie zu Fuß, was ziemlich mühsam gewesen wäre, zehn Minuten bis zu Lizzie Worths Wohnblock gebraucht. Sie waren seit nunmehr fünf Tagen hier, und jetzt war es Abend, aber das war innen nicht festzustellen, denn ihre Arbeitsräume hatten keine Fenster. Sie verfügten über Landkarten, Seekarten und mehrere Telefone, die von Martellos schweigsamen Männern, Murphy und seinem Kameraden, bedient wurden. Martello und Smiley hatten je einen großen Schreibtisch. Guillam, Murphy und sein Kollege teilten sich den Tisch mit den Telefonen, Fawn hockte düster, wie ein gelangweilter Kritiker in der Pressevorführung, in der Mitte einer leeren Reihe von Kinostühlen an der rückwärtigen Wand, stocherte in den Zähnen, gähnte, aber er scherte sich nicht raus, wie Guillam ihm wiederholt nahelegte. An Craw war der Befehl ergangen, er solle sich völlig fernhalten: auf Tauchstation gehen. Smiley war seit Frosts Tod besorgt um ihn und hätte ihn lieber außer Landes gebracht, aber der alte Knabe wollte nicht weg. Nun schlug endlich auch den schweigsamen Männern die große Stunde: »Unsere letzte detaillierte Lagebesprechung«, hatte Martello es genannt. »Äh, wenn es Ihnen recht ist, George.« Der blasse Murphy stand in weißem Hemd und blauer Hose auf dem Podium vor einer Wandkarte und las monoton aus einem Bündel Notizen. Die übrigen, einschließlich Smiley und Martello, saßen zu seinen Füßen und lauschten zumeist wortlos. Murphy hätte einen Staubsauger beschreiben können, und gerade deshalb fand Guillam seine Ausführungen so hypnotisierend. Auf der Karte war hauptsächlich das Meer zu sehen, nur oben und links hing der Spitzensaum der südchinesischen Küste. Hinter Hongkong sah man unter der Leiste, mit der die Karte befestigt war, gerade noch die versprenkelten Außenbezirke von Kanton, und in südlicher Richtung von Hongkong, genau in der Mitte der Karte, eine grün umzogene Fläche, wie eine Wolke, die in vier Sektoren A, B, C und D aufgeteilt war. Dies, sagte Murphy ehrfurchtsvoll, seien die Fischgründe, und das Kreuz in der Mitte sei der Zentralpunkt, Sir. Murphy sprach ausschließlich zu Martello, ob es nun Georges Show von der Suppe bis zum Nachtisch war oder nicht. »Sir, ausgehend von Drakes letzter Ausreise aus China, Sir, haben wir, zusammen mit Navy Int., Sir -«

»Murphy, Murphy«, unterbrach Martello ihn freundlich, »machen Sie's nicht so feierlich, ja, mein Lieber? Wir sind hier nicht im Ausbildungslager, okay? Gürtel lockern, ja, mein Sohn?«

»Sir, erstens: das Wetter«, sagte Murphy, völlig taub gegen Martellos Vorschlag. »April und Mai sind die Übergangsmonate, Sir, zwischen den Nordost-Monsunen und dem Einsetzen der Südwest-Monsune. Die Wetterverhältnisse von einem Tag zum anderen sind nicht vorherzusagen, aber es werden für die Fahrt keine extremen Bedingungen erwartet.« Er benutzte den Zeigestock, um eine Linie von Swatow südwärts zu den Fischgründen zu ziehen, dann von den Fischgründen nordwestlich über Hongkong und den Perlfluß aufwärts nach Kanton.

»Nebel zu erwarten?« fragte Martello.

»Nebel, herrscht um diese Jahreszeit üblicherweise, und die voraussichtliche Bewölkung ist sechs bis sieben Oktas, Sir.«

»Was zum Kuckuck ist ein Okta, Murphy?«

»Ein Okta ist ein Achtel der bedeckten Himmelsfläche, Sir. Die Oktas ersetzen die früheren Zehntel. Taifune im April wurden seit über fünfzig Jahren nicht registriert, und Navy Int. hält Taifune für unwahrscheinlich. Wind aus östlicher Richtung, neun bis zehn Knoten, aber eine Flotte, die unter Wind geht, muß sowohl mit Flauten wie mit Gegenwinden rechnen, Sir. Luftfeuchtigkeit um achtzig Prozent, Temperaturen von fünfzehn bis vierundzwanzig Grad Celsius. Meer ruhig mit geringer Dünung. Strömungen in der Gegend von Swatow zumeist nordöstlich durch die Formosa-Straße mit etwa drei Seemeilen pro Tag. Aber weiter westlich - auf dieser Seite, Sir - «.

»Also das weiß ich selber, Murphy«, warf Martello barsch ein. »Ich weiß, wo Westen ist, verdammt nochmal.« Dann grinste er zu Smiley hinüber, als wollte erjagen: »Diese neunmalklugen Grünschnäbel.«

Murphy war nicht zu erschüttern. »Wir haben dabei den Geschwindigkeitsfaktor sowie die Flottenbewegung an jedem Punkt ihrer Fahrt zu berücksichtigen, Sir.«

»Klar, klar.«

»Der Mond, Sir«, fuhr Murphy fort. »Angenommen, die Flotte hat Swatow in der Nacht vom Freitag, dem 25. April, verlassen, so würde das drei Tage vor Vollmond sein -«

»Warum wird das angenommen, Murphy?«

»Weil die Flotte zu dieser Zeit in Swatow auslief, Sir. Wir bekamen vor einer Stunde die Bestätigung von Navy Int., Sir. Dschunken-Kolonne gesichtet an östlichem Rand von Fischgrund C, bewegt sich langsam im Wind Richtung Westen, Sir. Eindeutige Identifizierung der Führungsdschunke bestätigt.« Knisternde Stille. Martello lief rot an.

»Sie sind ein cleverer Junge, Murphy«, sagte Martello in warnendem Ton. »Aber Sie hätten mir das ein wenig früher mitteilen sollen.«

»Ja, Sir. Ferner angenommen, daß die Dschunke mit Nelson Ko an Bord in der Nacht des 4. Mai in den Gewässern von Hongkong eintreffen soll, so wird der Mond im letzten Viertel stehen, Sir. Wenn wir auch hier von unserem Präzedenzfall ausgehen . . . «

»Das tun wir«, sagte Smiley fest. »Die Flucht wird die genaue Wiederholung von Drakes Reise im Jahr einundfünfzig sein.« Wiederum zog niemand seine Worte in Zweifel, wie Guillam feststellte. Warum nicht? Es war höchst verwirrend. » . . . dann erreicht unsere Dschunke die südlichste Außeninsel Po Toi morgen um zwanzig Uhr und trifft mit der Flotte droben am Perlfluß rechtzeitig zusammen, um am folgenden Tag zwischen zehn Uhr dreißig und zwölf Uhr im Hafen von Kanton einzulaufen, am 5. Mai, Sir.

Während Murphy weiterleierte, linste Guillam verstohlen zu Smiley hinüber und dachte, wie schon so oft, daß er ihn bis zum heutigen Tag nicht besser kenne als zur Zeit ihrer ersten Begegnung, damals in den dunklen Tagen des Kalten Kriegs in Europa. Wohin verschwand er zu den unmöglichsten Tageszeiten? Wollte er in Ruhe von Ann träumen? Von Karla? In welcher Gesellschaft hatte er sich bewegt, wenn er um vier Uhr morgens ins Hotel zurückkehrte? George wird doch nicht einen zweiten Frühling durchmachen, dachte er. Gestern Nacht um elf war ein Aufschrei aus London eingetroffen, und Guillam war hier heraufgetrabt, um ihn in Empfang zu nehmen. Westerby abgängig, hieß es. London fürchtete, Ko habe ihn ermordet oder, noch schlimmer, entführt und gefoltert, und somit würde das Unternehmen platzen. Guillam hielt es für wahrscheinlicher, daß Jerry sich auf dem Weg nach London mit ein paar Flughostessen irgendwo ein Nest gebaut hatte, aber der Dringlichkeitsvermerk ließ ihm keine Wahl, er mußte Smiley wecken und ihm Mitteilung machen. Er rief in Smileys Hotelzimmer an und erhielt keine Antwort, also machte er sich auf und hämmerte an Smileys Tür, und schließlich blieb ihm nichts anderes übrig, als das Schloß zu knacken, denn jetzt hatte die Panik von Guillam Besitz ergriffen: er glaubte, Smiley sei krank geworden. Aber Smileys Zimmer war leer, das Bett unberührt, und als Guillam ein bißchen herumstöberte, entdeckte er fasziniert, daß der alte Außenmann sich die Mühe gemacht hatte, falsche Monogramme in seine Hemden zu nähen. Das war aber auch' alles, was er entdeckte. Er setzte sich also in Smileys Sessel, döste ein und erwachte erst um vier Uhr durch ein winziges Geräusch. Er schlug die Augen auf und sah Smiley, der sich über ihn beugte und ihn aus zwanzig Zentimeter Entfernung anlinste. Wie er so lautlos ins Zimmer gelangt war, wußte Gott allein. »Gordon?« fragte Smiley leise. »Was kann ich für Sie tun?«, denn sie kannten sich natürlich rein beruflich und mußten annehmen, daß die Zimmer mit Wanzen versehen waren. Deshalb sagte Guillam auch nichts, sondern überreichte Smiley nur den Umschlag mit Connies Botschaft, die er las, nochmals las und dann verbrannte. Guillam war beeindruckt, wie ernst er die Meldung nahm. Ungeachtet der frühen Morgenstunde bestand er darauf, sofort zum Konsulat zu gehen und alles Nötige zu veranlassen, also ging Guillam mit ihm und trug sein Gepäck. »Lehrreicher Abend?« fragte Guillam leichthin, als sie die kurze Strecke hügelan marschierten.

»Oh, in etwa, vielen Dank, in etwa«, erwiderte Smiley, ehe er wieder einmal verschwand, und das war alles, was Guillam oder irgend jemand sonst über seine nächtlichen oder sonstigen Wanderungen aus ihm herausbringen konnte. Während Guillam über all das nachdachte, hatte Smiley mit harten Daten zum anhängigen Unternehmen aufgewartet, und zwar auf eine Weise, die keinerlei Rückfragen duldete.

»Äh, George, wir können uns darauf verlassen, wie?« hatte Martello bei Smileys ersten Angaben gefragt. »Wie? Ja, ja, das können Sie.«

»Großartig. Großartige Leistung, George. Ich bewundere Sie«, sagte Martello herzlich nach einer weiteren ratlosen Pause, und danach nahmen sie es, wie es kam, sie hatten keine andere Wahl. Denn niemand, nicht einmal Martello, wagte Smileys Autorität anzuzweifeln.

»Das macht wie viele Fischtage, Murphy?« fragte Martello jetzt. »Die Flotte wird sieben Tage lang gefischt haben und hoffnungsfroh mit vollen Behältern nach Kanton kommen, Sir.«

»Paßt das, George?«

»Ja, o ja, nichts hinzuzufügen, vielen Dank.« Martello fragte, um welche Zeit die Flotte die Fischgründe verlassen müßte, damit Nelsons Dschunke morgen abend rechtzeitig zum Rendezvous käme.

»Ich habe elf Uhr morgen vormittag angesetzt«, sagte Smiley, ohne von seinen Notizen aufzublicken, »Ich auch«, sagte Murphy.

»Diese Ausreißerdschunke, Murphy«, sagte Martello mit einem weiteren ehrfurchtsvollen Blick auf Smiley. »Ja, Sir«, sagte Murphy.

»Kann sie sich so ohne weiteres von der Meute lösen? Unter welcher Legende würde sie in die Gewässer von Hongkong einlaufen?«

»Passiert ständig, Sir. Rotchinesische Dschunkenflotten arbeiten nach einem kollektiven Fangsystem ohne Rücksicht auf die Einzelergebnisse, Sir. Folge ist, daß immer wieder einzelne Dschunken bei Nacht ausbrechen, unbeleuchtet einlaufen und ihre Fische an die Leute auf den Außeninseln für gutes Geld verkaufen.«

Smiley hatte sich zur Karte der Insel Po Toi an der anderen Wand umgewandt und hielt den Kopf schräg, um die vergrößernde Wirkung seiner Brillengläser zu erhöhen.

»Mit welchem Dschunkentyp haben wir's zu tun?« fragte Martello.

»Achtundzwanzig-Mann-Langleiner, Sir, beködert für Haie, Goldmakrelen und Meeraale.«

»Hat Drake auch diesen Typ benutzt?« fragte Martello.

»Ja«, sagte Smiley, der noch immer auf die Karte blickte. »Ja, das hat er.«

»Und sie kann so weit hereinkommen, wie? Vorausgesetzt, das Wetter tut mit?«

Wiederum gab Smiley die Antwort. Bis auf den heutigen Tag hatte Guillam ihn im ganzen Leben noch nicht einmal das Wort Boot aussprechen hören.

»Der Tiefgang eines Langleiners beträgt weniger als fünf Faden«, erklärte er. »Die Dschunke kann so nah herankommen, wie sie will, immer vorausgesetzt, daß die See nicht zu rauh ist.« Fawn auf seiner Hinterbank ließ ein unbändiges Lachen los. Guillam fuhr in seinem Sessel herum und schleuderte ihm einen mörderischen Blick zu. Fawn feixte und schüttelte den Kopf, er vermochte sich vor Freude über die Allwissenheit seines Herrn und Meisters gar nicht zu fassen..

»Aus wie vielen Dschunken besteht eine Flotte?« fragte Martello. »Zwanzig bis dreißig«, sagte Smiley. »Schach«, sagte Murphy schwach.

»Was wird also unser Nelson machen, George? Sich an den Rand der Meute schieben, ein bißchen rumzockeln?«

»Er wird zurückbleiben«, sagte Smiley. »Die Flotten formieren sich in Kiellinie. Nelson wird seinen Skipper anweisen, die Nachhut zu bilden.«

»Gott geb's«, murmelte Martello vor sich hin. »Murphy, welches sind die traditionellen Erkennungszeichen?«

»Sehr wenig bekannt in dieser Gegend, Sir. Die Bootsleute sind notorisch schwer zu fassen. Haben keinen Respekt vor dem Seerecht. Draußen auf dem Meer setzen die Boote überhaupt keine Lichter, schon aus Furcht vor den Piraten.«

Smiley war wieder für die Welt gestorben. Er war in hölzerne Starre versunken, und obwohl seine Augen unverwandt auf die große Seekarte blickten, war er im Geist, wie Guillam wußte, überall, nur nicht bei Murphys öden, statistischen Aufzählungen.

Nicht so Martello.

»Wie umfangreich ist der gesamte Küstenhandel, Murphy?

»Sir, es gibt keine Kontrollen und keine Angaben.

»Bestehen Quarantänekontrollen, wenn die Dschunken in die Gewässer von Hongkong einfahren, Murphy?« fragte Martello.

»Theoretisch sollte jedes Fahrzeug anhalten und sich kontrollieren lassen, Sir.«

»Und in der Praxis, Murphy?«

»Dschunken haben ihre eigenen Gesetze, Sir. Technisch gesehen ist es den Dschunken verboten, zwischen Victoria Island und Kowloon Point zu verkehren, Sir, aber das letzte, was die Briten sich wünschen, ist ein GekabbeL mit Festlandchina wegen der Wegerechte. Verzeihung, Sir.«

»Keine Ursache«, sagte Smiley höflich und wandte den Blick nicht von der Karte. »Briten sind wir, und Briten werden wir bleiben.« Es ist sein Karla-Gesicht. Das gleiche, das er immer hat, wenn er das Foto ansieht. Sein Blick fällt darauf, er ist erstaunt und scheint es eine Weile zu studieren, die Konturen, die verschwommenen, blicklosen Augen. Dann erlischt in seinen eigenen Augen langsam das Licht und irgendwie auch die Hoffnung, und man spürt, daß er sich in äußerster Erregung in sich selber zurückzieht. »Murphy, sprachen Sie nicht soeben von Positionslichtern?« fragte Smiley, wobei er den Kopf ein wenig drehte, die Karte jedoch nicht aus den Augen ließ. »Ja, Sir.«

»Ich erwarte, daß Nelsons Dschunke drei Lichter setzt«, sagte Smiley. »Zwei grüne untereinander am Heckmast, und ein rotes Licht steuerbords.«

»Ja, Sir«, sagte Murphy wieder.

Martello versuchte, Guillams Blick zu erhaschen, aber Guillam spielte nicht mit.

»Vielleicht aber auch nicht«, warnte Smiley nach einigem Überlegen. »Vielleicht setzt sie überhaupt keine Lichter und signalisiert erst, wenn sie ganz nah ist.«

Murphy nahm seinen Vortrag wieder auf. Ein neues Kapitel: Nachrichtenverbindungen.

»Sir, zu den Nachrichtenverbindungen ist zu sagen, daß nur wenige Dschunken ein eigenes Funkgerät haben, aber fast alle haben einen Empfänger. Gelegentlich kauft ein Skipper ein Walkie-Talkie mit etwa einer Meile Reichweite, um das Trawlen zu erleichtern, aber sie machen es schon so lange, daß sie einander kaum etwas mitzuteilen haben dürften. Ferner, wie sie ihren Weg finden, also dazu sagt Navy Int., es grenze an ein Wunder. Wir haben zuverlässige Informationen, wonach manche Langleiner mit Hilfe eines primitiven Kompasses navigieren oder sogar nur mittels einer rostigen Alarmglocke ihren Kurs halten.«

»Murphy, wie zum Teufel stellen sie das an?« rief Martello. »Leine mit einem Bleilot und Wachs daran, Sir. Sie loten den Grund aus, und an dem, was an dem Wachs hängen bleibt, erkennen sie, wo sie sind.«

»Na, umständlicher geht's wohl nicht mehr«, erklärte Martello. Ein Telefon klingelte. Martellos zweiter Gehilfe nahm den Hörer ab, lauschte, dann legte er die Hand über die Sprechmuschel. »Quarry Worth kommt gerade zurück, Sir«, sagte er zu Smiley. »Observierte fuhr eine Stunde lang herum, jetzt hat sie den Wagen hinter dem Häuserblock abgestellt. Mac sagt, es hört sich an, als würde sie Badewasser einlaufen lassen, also will sie vielleicht später noch ausgehen.«

»Und sie ist allein«, sagte Smiley unbewegt. Es war eine Frage. »Ist sie allein in der Wohnung, Mac?« Er lachte bellend auf. »Würde dir so passen, du Halunke. Ja, Sir, die Dame ist ganz allein im Bad, und Mac sagt, wann kriegen wir endlich Video. Singt die Dame in der Badewanne, Mac?« Er legte auf. »Sie singt nicht.«

»Murphy, weiter im Text«, fauchte Martello. Smiley sagte, er möchte die Pläne für das Eingreifen nochmals durchgehen.

»Klar George! Bitte! Es ist doch Ihre Show!«

»Vielleicht könnten wir uns nochmals der großen Karte der Insel Po Toi zuwenden, ja? Und dann könnte Murphy es noch einmal Zug um Zug erklären, wenn's recht ist.«

»Recht, George, recht!« rief Martello, und Murphy begann von neuem, jetzt wieder mit dem Zeigestock in der Hand. »Die Posten von Navy Int. sind hier, Sir. In ständiger Wechselverbindung mit der Basis, Sir. Keinerlei Posten innerhalb von zwei Seemeilen rings um die Landezone. Navy Int. benachrichtigt die Basis, sobald Kos Jacht wieder Kurs auf Hongkong nimmt, Sir. Eingreifen geschieht durch reguläres britisches Polizeiboot, wenn Kos Jacht in den Hafen einläuft. US liefert lediglich operative Hilfestellung und hält sich bereit, falls unvorhergesehene Situation eintreten sollte.«

Smiley bekräftigte jedes Detail mit einem pedantischen Kopfnicken.

»So wie die Dinge stehen, Marty«, warf er an einer Stelle ein, »kann Ko doch, wenn er Nelson einmal ah Bord hat, nirgendwo anders hinfahren, wie? Po Toi liegt direkt an der Grenze der chinesischen Hoheitsgewässer. Also heißt es für ihn: wir oder gar nichts.«

Eines schönen Tages, dachte Guillam, während er zuhörte, wird George eines von zwei Dingen passieren. Entweder er hört auf, sich um alles Gedanken zu machen, oder er geht an der Widersprüchlichkeit des Ganzen zugrunde. Wenn er aufhört, sich um alles Gedanken zu machen, ist er nur noch halb soviel wert. Wenn nicht, dann würde ihm das Herz vor Anstrengung brechen, die Erklärung für unser Tun zu finden. Smiley selber hatte einmal, in einem unseligen inoffiziellen Gespräch mit seinem Stab, das Dilemma in Worte gefaßt, und Guillam bewahrte die peinliche Erinnerung bis auf den heutigen Tag. Mit unmenschlichen Mitteln unsere Menschlichkeit verteidigen, Härte zeigen im Kampf um das Mitgefühl, Intoleranz im Kampf um unsere Meinungsvielfalt, hatte er gesagt. In einem regelrechten Protestmarsch hatten sie Mann für Mann den Raum verlassen. Warum konnte George nicht einfach seine Arbeit tun und die Klappe halten, anstatt sein Credo an die große Glocke zu hängen und daran herumzurubbeln, bis die schwachen Stellen zum Vorschein kamen? Connie hatte Guillam sogar einen russischen Aphorismus ins Ohr geflüstert, von dem sie behauptete, er stamme von Karla. »Es wird keinen Krieg geben, nicht wahr, Peter, darling«, hatte sie tröstend gesagt und seine Hand gedrückt, als er sie durch den Korridor stützte. »Aber im Kampf um den Frieden wird kein Stein auf dem anderen bleiben. Recht hat er gehabt, der alte Fuchs, aber wetten, daß das Collegium ihm auch hierfür keinen Dank wußte.«

Ein Plumps ließ Guillam herumfahren. Fawn hatte wieder einmal seinen Kinositz gewechselt. Als Guillam ihn ansah, blähte Fawn die Nüstern zu einer unverschämten Grimasse. »Er ist übergeschnappt«, dachte Guillam schaudernd. Auch um Fawn sorgte Guillam sich jetzt ernstlich, wenn auch aus anderen Gründen. Vor zwei Tagen hatte Fawn in Guillams Anwesenheit einen widerlichen Zwischenfall verursacht. Smiley war wie üblich allein ausgegangen. Um die Zeit totzuschlagen, hatte Guillam einen Wagen gemietet und war mit Fawn zur chinesischen Grenze gefahren, wo Fawn über die geheimnisvollen Berge gekichert und geprustet hatte. Auf der Rückfahrt mußten sie an einer Verkehrsampel irgendwo auf dem Land stoppen, als ein junger Chinese auf einer Honda sich neben ihren. Wagen schob. Guillam saß am Steuer, Fawn neben ihm. Das Fenster auf Fawns Seite war heruntergedreht, er hatte die Jacke ausgezogen und den linken Arm auf den Rahmen gestützt, so daß er die neue goldene Armbanduhr bewundern konnte, die er sich in der Ladengalerie des Hilton gekauft hatte. Als sie anfuhren, ließ es sich der Chinesenjunge zu seinem Unglück einfallen, nach der Uhr zu grabschen, aber Fawn war viel zu schnell für ihn. Er packte seinerseits das Handgelenk des Jungen, hielt es fest und zog ihn, der sich vergebens loszureißen suchte, samt Honda neben dem Wagen her. Guillam war etwa fünfzig Yards gefahren, ehe er merkte, was vorging, dann hielt er sofort an, worauf Fawn nur gewartet hatte. Fawn sprang heraus, ehe Guillam ihn festhalten konnte, hob den Jungen aus dem Sattel der Honda, zerrte ihn an den Straßenrand und brach ihm beide Arme; dann kehrte er lächelnd zum Wagen zurück. Da Guillam Heidenangst vor einem Skandal hatte, fuhr er schleunigst weg, während der Junge schreiend zurückblieb und seine herabbaumelnden Arme anstarrte. Als sie in Hongkong ankamen, war Guillam fest entschlossen, Fawn unverzüglich bei George zu verklagen, aber zu Fawns Glück wurde es acht Uhr, ehe Smiley auftauchte, und Guillam vermutete, daß George inzwischen für den Moment genug habe. Wieder klingelte ein Telefon, diesmal das rote. Martello nahm den Anruf persönlich entgegen. Er lauschte eine Weile und brach dann in lautes Lachen aus.

»Sie haben ihn gefunden«, sagte er zu Smiley und hielt ihm den Hörer hin.

»Wen?«

Der Hörer schwebte zwischen ihnen.

»Ihren Mann, George. Ihren Weatherby.«

»Westerby« berichtigte Murphy, und Martello schleuderte ihm einen giftigen Blick zu.

»Sie haben ihn« sagte Martello.

»Wo ist er?«

»Wo war er, wollen Sie sagen! George, er hat sich in zwei Puffs droben am Mekong gründlich ausgetobt. Wenn unsere Leute nicht übertreiben, dann ist er die heißeste Nummer, seit Barnums Elefantenbaby anno 49 die Stadt verließ!«

»Und wo ist er jetzt, bitte?«

Martello drückte ihm den Hörer in die Hand. »Am besten lassen Sie sich die Meldung selber vorlesen, okay? Er soll den Fluß überquert haben oder so.« Er wandte sich zu Guillam um und zwinkerte. »In Vientiane soll's auch ein paar Plätzchen geben, wo er sich betätigen könnte«, sagte er und lachte lang und herzhaft, während Smiley geduldig dasaß, den Telefonhörer am Ohr.

Jerry suchte sich ein Taxi mit zwei Seitenspiegeln und setzte sich neben den Fahrer. In Kaulun mietete er bei der größten Firma, die er finden konnte, einen Wagen. Er zeigte den Fluchtpaß und den dazugehörigen Führerschein vor, weil er blitzschnell überlegt hatte, daß der falsche Name sicherer sein könnte, wenn auch nur für eine Stunde. Als er die Midlevels hinauffuhr war es dämmrig, es regnete noch immer, und um die Neonlampen, die den Abhang beleuchteten, schwebten riesige Monde. Er fuhr am amerikanischen Konsulat vorbei und zweimal an Star Heights, in der vagen Erwartung, Sam Collins zu sehen, und beim zweitenmal glaubte er mit Sicherheit, ihre Wohnung ausfindig gemacht zu haben. Das Licht brannte: ein eleganter italienischer Kunstleuchter, soviel man sah, hing hinter dem Panoramafenster, dreihundert Dollar Angabe. Auch das Mattglasfenster des Badezimmers war erleuchtet. Als er zum drittenmal vorbeikam, sah er sie, wie sie einen Umhang um die Schultern schlug, und sein Instinkt oder etwas an der Förmlichkeit ihrer Bewegung sagte ihm, daß sie sich auch heute für einen abendlichen Ausgang rüstete, aber diesmal war sie in großer Aufmachung.

Sooft er sich den Gedanken an Luke erlaubte, legte sich ein schwarzer Schleier über seine Augen, und er stellte sich vor, daß er etwas Edles, Sinnloses tun werde, zum Beispiel Lukes Angehörige in Kalifornien anrufen oder den Zwerg im Büro oder sogar, zu welchem Zweck auch immer, den Rocker. Später, dachte er. Später, so gelobte er sich, würde er Luke gebührend betrauern. Er glitt langsam die Auffahrt des Hauses hinauf bis zum Fahrstreifen vor dem Parkplatz. Der Parkplatz war dreireihig angelegt, und Jerry kurvte herum, bis er den roten Jaguar entdeckte. Er stand in einer sicheren Ecke, die durch eine Kette abgetrennt war, damit kein unvorsichtiger Nachbar dem funkelnden Lack zu nahe kommen könnte. Das Steuerrad war mit imitiertem Leopardenfell bezogen. Sie kann für den verdammten Wagen nicht genug tun. Sollte ein Kind kriegen, dachte er wütend, sich einen Hund kaufen oder Mäuse züchten. Um ein Haar hätte er die Kühlerhaube eingedrückt, aber eben nur um jenes bewußte Haar, das ihn öfter zurückgehalten hatte, als er wahrhaben wollte. Wenn sie den Jaguar nicht benutzt, dann schickt er ihr die Limousine, dachte er. Vielleicht sogar mit Tiu als Bordschützen. Oder er kommt persönlich. Oder sie putzt sich nur fürs abendliche Opferfest raus und geht überhaupt nicht weg. Er wünschte, es wäre Sonntag. Craw hatte ihm einmal gesagt, daß Drake Ko die Sonntage im Familienkreise verbringe und daß Lizzie sich den Tag allein vertreiben müsse. Aber es war nicht Sonntag, und er hatte auch nicht den guten alten Craw an seiner Seite, der ihm hätte sagen können, daß Ko geschäftlich verreist war, in Bangkok oder in Timbuktu.

Dankbar, daß der Regen sich in Nebel verwandelte, fuhr Jerry zurück zur Auffahrt und fand an der Einmündung einen schmalen Randstreifen, wo er den Wagen so dicht an der Barriere abstellte, daß die übrigen Verkehrsteilnehmer sich eben noch vorbeidrücken konnten, wenn auch schimpfend. Er schrammte die Barriere, aber das war ihm egal. Von seinem Platz aus konnte er beobachten, wie die Leute den Häuserblock unter der gestreiften Markise betraten und verließen, die Autos von der Hauptstraße ab- oder in sie einbogen. Er empfand nicht das Bedürfnis, sich in acht zu nehmen. Er zündete sich eine Zigarette an. Die Limousinen rauschten in beiden Richtungen an ihm vorbei, aber Kos Wagen war nicht darunter. Manchmal, wenn ein Wagen sich an ihm vorbeizwängte, verlangsamte der Fahrer und hupte oder fluchte, aber Jerry nahm keine Notiz davon. Alle paar Sekunden warf er einen Blick in die Spiegel, und einmal, als eine plumpe Gestalt, die Tiu hätte sein können, verstohlen hinter ihm herangewatschelt kam, entsicherte er sogar die Pistole in der Jackentasche, ehe er erkannte, daß der Mann weit weniger muskulös war als Tiu. Treibt vermutlich Spielschulden bei den pac-pai-Chauf teuren ein, dachte er, als die Gestalt an ihm vorbeiging. Er dachte daran, wie er mit Luke zusammen im Happy Valley war. Er dachte überhaupt daran, wie er mit Luke zusammen war. Er blickte noch immer in den Spiegel, als der rote Jaguar hinter ihm aus der Parkplatzausfahrt auftauchte. Die Fahrerin war allein, das Verdeck hochgeschlagen. Die eine Möglichkeit, an die er nicht gedacht hatte: daß sie mit dem Lift direkt zum Parkplatz fahren und dort einsteigen könnte, anstatt sich, wie damals, den Wagen vom Portier vor die Tür stellen zu lassen. Als er hinter ihr herfuhr, warf er einen Blick nach oben und sah, daß das Licht hinter ihren Fenstern noch immer brannte. War jemand in der Wohnung zurückgeblieben? Oder wollte sie gleich wieder heimkommen? Dann dachte er, sei bloß nicht überschlau, sie verschwendet einfach Strom.

Als ich zum letztenmal mit Luke sprach, sagte ich, er solle mir den Buckel runterrutschen, dachte er, und als er zum letztenmal mit mir sprach, sagte er, daß er mich Stubbsi gegenüber gedeckt habe. Sie fuhr jetzt bergab in Richtung Stadt. Er hielt sich hinter ihr, und eine ganze Weile folgte ihm kein anderes Fahrzeug, was ungewöhnlich war, aber diese Stunden waren überhaupt ungewöhnlich, und der Sarratt-Mann in ihm starb schneller, als er folgen konnte. Sie peilte den hellsten Teil der Stadt an. Er vermutete, daß er sie noch immer liebte, wenngleich er gerade jetzt in der Stimmung war, jedem Menschen alles Erdenkliche zuzutrauen. Er hielt sich dicht hinter ihr, denn er erinnerte sich daran, daß sie selten in den Rückspiegel schaute. Und auch dann hätte sie in der nebligen Dämmerung nur seine Scheinwerfer sehen kennen. Der Nebel hing in einzelnen Schwaden, und der Hafen sah aus, als stünde er in Flammen, gegen deren ziehenden Rauch sich die Strahlenfinger der Kranlichter wie Wasserschläuche richteten. In der Central Street tauchte sie in eine Tiefgarage, er fuhr straks hinter ihr her und parkte sechs Plätze entfernt, trotzdem sah sie ihn nicht. Sie blieb noch eine Weile im Wagen sitzen, um ihr Make-up aufzufrischen, und er konnte sogar feststellen, daß sie die Narben am Kinn überpuderte. Dann stieg sie aus und schloß den Wagen umständlich ab, obwohl jedes Kind im Handumdrehen das Verdeck mit einer Rasierklinge hätte aufschlitzen können. Sie trug etwas wie ein Seidencape und ein langes Seidenkleid, und als sie auf die steinerne Wendeltreppe zuschritt, hob sie beide Hände und legte ihr Haar, das im Nacken zu einem Pferdeschwanz gerafft war, sorgfältig über den Kragen des Capes. Jerry stieg ebenfalls aus und folgte ihr bis in die Hotelhalle, wo er gerade noch rechtzeitig zur Seite treten konnte, um aus dem Schußfeld einer schnatternden Meute von Modefotografen und Journalisten beiderlei Geschlechts in Abendgarderobe zu gelangen.

Jerry verzog sich in die relative Sicherheit des Korridors und setzte sich die einzelnen Teile der Szene zusammen. Es war eine große Privatparty, die Lizzie hier durch die Hintertür betreten hatte. Die übrigen Gäste kamen durch den Haupteingang; wo die Rolls-Royces so dicht gesät waren, daß keiner mehr besonders auffiel. Eine Frau mit blaugrauem Haar führte die Aufsicht, sie flatterte herum und redete in gingetränktem Französisch. Das Public-Relations-Mädchen, eine adrette Chinesin, bildete zusammen mit einigen Assistentinnen das Empfangsspalier. Eine ganze Riege rückte mit erschreckender Liebenswürdigkeit an und fragte nach den Namen, und manchmal ließen sie sich auch die Einladungskarten zeigen, ehe sie in einer Liste nachsahen und »Oh, ja, natürlich« flöteten. Die blaugraue Dame lächelte und knurrte abwechselnd. Die Riege verteilte Anstecknadeln an die Herren und Orchideen an die Damen, dann stürzte sie sich auf die nächsten Ankömmlinge. Lizzie Worthington durchlief mit stoischer Ruhe die Prüfung. Jerry ließ ihr eine Minute Vorsprung, sah ihr nach, wie sie durch die Flügeltür schritt, an der ein Schild mit der Aufschrift »Soiree« und einem Pfeil hing, dann reihte er sich in die Schlange der Wartenden. Seine Wildlederstiefel machten der Public-Relations-Dame schwer zu schaffen. Sein Anzug war schon fragwürdig genug, aber was ihr wirklich zu schaffen machte, waren die Stiefel. Während sie hinunterstarrte, dachte er, in ihrem Ausbildungskursus hatte sie gelernt, größten Wert auf Schuhwerk zu legen. Millionäre können vom Kopf bis zu den Socken wie Tramps aussehen, aber ein Paar Zweihundert-Dollar-Schuhe von Gucci sind eine Legitimation. Stirnrunzelnd studierte sie seinen Presseausweis, dann ihre Gästeliste, dann nochmals den Presseausweis und wiederum die Stiefel, warf danach einen langen Blick hinüber zu der blaugrauen Schnapsdrossel, die immer noch lächelte und knurrte. Schließlich setzte das. Mädchen in eigener Regie ihr Speziallächeln für ausgefallene Kunden auf und überreichte ihm eine untertassengroße Scheibe in rosa Leuchtfarbe mit der drei Zentimeter hohen weißen Aufschrift PRESSE. »Heute machen wir alle unsere Gäste besonders schön, Mr. Westerby«, sagte sie.

»Hartes Stück Arbeit bei mir, junge Frau.«

»Gefällt Ihnen mein Parfüm, Mr. Westerby?«

»Umwerfend«, sagte Jerry.

»Es heißt Juice of the Vine, Mr. Westerby, hundert Hongkong-Dollar die kleine Flasche, aber heute abend verteilt Maison Flaubert Gratismuster an alle unsere Gäste. Madame Montifiori . . . ja, ja natürlich, Maison Flaubert heißt Sie willkommen. Gefällt Ihnen mein Parfüm, Madame Montifiori?«

Eine junge Eurasierin im Cheongsam trat mit einem Tablett auf ihn zu und flüsterte: »Flaubert wünscht Ihnen eine exotische Nacht.«

»Um Himmels willen«, sagte Jerry.

Innerhalb der Flügeltür wartete ein zweites Empfangsspalier, gebildet aus drei hübschen Knaben, die man ihrer Reize wegen aus Paris eingeflogen hatte, sowie einem Aufgebot Gorillas, das einem Präsidenten Ehre gemacht hätte. Sekundenlang fürchtete er, sie könnten ihn durchsuchen, und er wußte, daß er in diesem Fall den ganzen Tempel in seinen Untergang mitgerissen hätte. Sie beäugten Jerry ohne Freundlichkeit, hielten ihn für ein Mitglied des Aushilfspersonals, aber immerhin war er hellhaarig, und sie ließen ihn passieren.

»Presse dritte Reihe hinter dem Laufsteg«, näselte ein blonder Hermaphrodit im ledernen Cowboyanzug und überreichte ihm die Presseinformation. »Haben Sie keine Kamera, Monsieur?«

»Ich mach nur die Texte«, sagte Jerry und wies mit dem Daumen über die Schulter. »Spike dort hinten macht die Bilder«, und er marschierte in den Empfangssaal, sah sich unbefangen um, grinste übertrieben und winkte jedem zu, der in sein Blickfeld geriet. Die Pyramide aus Champagnergläsern war sechs Fuß hoch und stand auf einem Sockel aus schwarzen, seidenbezogenen Stufen, damit die Kellner hinaufreichen konnten. In tiefen Eissärgen ruhten Magnumflaschen und warteten auf das Begräbnis. Eine Schubkarre war mit gekochten Langusten gefüllt, und ein Hochzeitskuchen aus päte de foie gras trug in Aspik die Aufschrift: »Maison Flaubert«. Vom Plafond strömte Musik herab, darunter wurde sogar Konversation gemacht, wenn auch nur das langweilige Bla-bla-bla der Superreichen. Der Laufsteg führte von der Mitte des Raums bis zu einem bodentiefen Fenster, das den Blick zum Hafen frei gab, aber der Nebel teilte die Aussicht in unregelmäßige Flecke auf. Die Klimaanlage lief auf Hochtouren, so daß die Damen ohne zu ersticken ihre Nerze tragen konnten. Die meisten Männer waren im Smoking, nur die jungen chinesischen Playboys traten in Slacks auf, wie sie in New York gerade Mode waren, schwarzen Hemden und Goldkettchen. Die britischen Taipans standen mit ihren Frauen in einem Kreis und süffelten wie gelangweilte Offiziere bei einem Garnisonsfest. Jerry spürte eine Hand auf seiner Schulter und fuhr herum, aber vor ihm stand nur ein kleiner schwuler Chinese namens Graham, der für eines der lokalen Klatschblättchen arbeitete. Jerry hatte ihm einmal mit einer Story ausgeholfen, die er beim Comic nicht loswurde. Dem Laufsteg gegenüber waren Sesselreihen hufeisenförmig aufgestellt. Lizzie saß in der ersten Reihe zwischen Mr. Arpego und dessen Frau oder Mätresse. Jerry kannte sie aus Happy Valley. Sie sahen aus, als hätten sie Lizzie für den Abend unter ihre Fittiche genommen. Die Arpegos redeten mit ihr, aber sie schien kaum zuzuhören. Sie saß kerzengerade da und sah wunderschön aus und hatte das Cape abgelegt, und von Jerrys Platz aus gesehen hätte sie bis auf das Perlenkollier und die Perlohrringe splitternackt sein können. Wenigstens ist sie noch ganz, dachte er. Nichts kaputt, keine Cholera und keine Kugel im Kopf. Er entsann sich des goldenen Flaums, den er ihren Rücker entlang hatte schimmern sehen, als er an jenem ersten Abend neben ihr im Lift stand. Der schwule Graham saß neben Jerry, zwei Plätze weiter hockte Phoebe Wayfarer. Jerry kannte sie nur flüchtig, winkte ihr aber ausgiebig zu.

»Super, Pheeb, toll sehen Sie aus. Sollten da droben auf dem Laufsteg sein, altes Haus, ein Stückchen Bein zeigen.« Er nahm an, sie sei ein bißchen blau, und vielleicht nahm sie das auch von ihm an, obwohl er seit dem Flug nichts getrunken hatte. Er nahm einen Block zur Hand und schrieb etwas darauf, es würde ihn beruhigen, wenn er sich professionell gäbe. Immer mit der Ruhe. Nicht das Wild erschrecken. Als er las, was er geschrieben hatte, sah er nur »Lizzie Worthington«, sonst nichts. Auch Graham, der Chinese, las es und lachte.

»Mein neues Pseudonym«, sagte Jerry, und jetzt lachten sie beide so laut, daß die Leute in der vordersten Reihe sich umdrehten, während die Lichter sich verdunkelten. Aber Lizzie drehte sich nicht um, obwohl Jerry dachte, sie könnte seine Stimme erkannt haben.

Hinter ihnen wurden die Türen geschlossen, und als es dunkel war, wäre Jerry am liebsten in seinem weichen freundlichen Sessel eingeschlummert. Die Sphärenmusik wich einem Dschungel-Beat, mit Jazzbesen und Becken, bis nur noch ein einziger Leuchter über dem schwarzen Laufsteg flimmerte, als Gegenstück zu den flackernden Lichtflecken, die vom Hafen durch das rückwärtige Fenster hereinleuchteten. Verstärker in allen Winkeln ließen den Drumbeat in einem langsamen Crescendo anschwellen. Es ging lange Zeit so weiter, nur Trommeln, sehr gut gespielt, sehr eindringlich, bis nach und nach groteske menschliche Schatten vor dem Hafenfenster sichtbar wurden. Die Trommeln schwiegen. Im gespannten Schweigen wiegten sich zwei schwarze Mädchen Hüfte an Hüfte den Laufsteg entlang, nur mit Juwelen bekleidet. Ihre Köpfe waren geschoren, und sie trugen runde Elfenbeinohrringe und Brillantcolliers, wie die Eisenringe bei Sklavinnen. Sie waren groß, schön und geschmeidig, und kamen völlig unerwartet. Sekundenlang hielten sie die Zuschauer in einem unentrinnbaren erotischen Bann. Die Trommeln erwachten wieder und steigerten sich, Scheinwerfer flitzten über die Juwelen und die Glieder der Mädchen. Sie entwanden sich dem Dunstkreis des Hafens und schritten mit dem Zorn versklavter Sinnlichkeit auf die Zuschauer zu. Sie machten kehrt und gingen langsam zurück, ihre Hüften lockten und versagten sich zugleich. Die Lichter flammten wieder auf, und nach einem Ausbruch nervösen Beifalls folgten Lachen und Drinks. Alle redeten jetzt zugleich, Jerry am lautesten: er sprach zu Miss Lizzie Worthington, der bekannten blaublütigen Partyschönheit, deren Mutter nicht einmal ein Ei kochen konnte, und zu den Arpegos, denen Manila gehörte und ein paar der umliegenden Inseln, wie Captain Grant vom Jockey-Club ihm dereinst versichert hatte. Jerry zückte seinen Notizbjock wie ein Oberkellner. »Lizzie Worthington, super, ganz Hongkong zu Ihren Füßen, Madam, wenn ich so sagen darf. Meine Zeitung bringt einen Exklusivartikel über diese Veranstaltung, Miss Worth oder Worthington, und wir hoffen, auch über Sie schreiben zu dürfen, ihre Kleider, ihren faszinierenden Lebensstil und ihre noch faszinierenderen Freunde. Meine Fotografen folgen mir auf dem Fuß.« Er verbeugte sich vor den Arpegos. »Guten Abend, Madame, Sir. Eine Ehre, Sie hier zu sehen. Ist dies Ihr erster Besuch in Hongkong?«

Er spielte den tapsigen jungen Riesenhund, die jungenhafte Seele des Abends. Ein Kellner brachte Champagner, und Jerry ließ es sich nicht nehmen, selber die Gläser herumzureichen. Den Arpegos machte seine Nummer Spaß. Craw hatte gesagt, sie seien falsche Fuffziger. Lizzie starte ihn an, es lag etwas in ihrem Blick, was er nicht definieren konnte, etwas Reales und Entsetztes, als hätte sie, nicht Jerry, kürzlich die Tür geöffnet und Luke gefunden.

»Mr. Westerby hat bereits einen Artikel über mich geschrieben, soviel ich weiß«, sagte sie. »Er ist wahrscheinlich nie erschienen, wie, Mr. Westerby?«

»Für wen schreiben Sie?« fragte Mr. Arpego plötzlich. Er lachte nicht mehr. Er sah gefährlich und häßlich aus, eindeutig hatte Lizzie ihn an etwas erinnert, was er gehört und gar nicht gemocht hatte. Etwas, wovor Tiu ihn gewarnt hatte, zum Beispiel. Jerry sagte es ihm.

»Dann schreiben Sie nur. Lassen Sie diese Dame in Ruhe. Sie gibt keine Interviews. Wenn Sie hier zu tun haben, dann tun Sie es woanders. Sie sind nicht zu Ihrem Vergnügen hier. Verdienen Sie sich Ihr Geld.«

»Dann also ein paar Fragen an Sie, Mr. Arpego. Ehe ich weggehe. Wie darf ich Sie beschreiben, Sir? Als einen ungehobelten Philipino-Millionär? Oder nur Halb-Millionär?«

»Um Gottes willen«, hauchte Lizzie, und gnädigerweise gingen die Lichter wieder aus, das Trommeln setzte ein, jeder begab sich zurück auf seinen Platz, und die Stimme einer Frau mit französischem Akzent gab einen leisen Kommentar über den Lautsprecher. Am hinteren Ende des Laufstegs vollführten die beiden schwarzen Mädchen einen langen lasziven Schattentanz. Als das erste Mannequin erschien, sah Jerry, wie Lizzie vor ihm im Dunkeln aufstand, das Cape über die Schulter zog und an ihm vorbei schnell und leise den Gang entlang mit gesenktem Kopf auf die Türen zuschritt. Jerry folgte ihr. In der Halle drehte sie sich halb um, als wollte sie nach ihm sehen, und er dachte, sie müsse ihn erwarten. Ihr Gesichtsausdruck war noch der gleiche und spiegelte seine eigene Stimmung. Sie wirkte gejagt, müde und aufs äußerste verwirrt.

»Lizzie!« rief er, als wäre er soeben einer alten Freundin wiederbegegnet, und lief schnell zu ihr hin, ehe sie die Damengarderobe erreichen konnte. »Lizzie! Mein Gott! Es muß Jahre her sein! Eine Ewigkeit! Super!«

Ein paar Wachmänner blickten lässig auf, als er die Arme zum Kuß langer Freundschaft um sie schlang. Seine linke Hand war unter ihr Cape geschlüpft, und als er das lachende Gesicht zu dem ihren niederbeugte, hielt er den kleinen Revolver an ihren nackten Rücken, den Lauf direkt unter ihren Nacken, und so, von den Banden alter Zuneigung an sie gefesselt, führte er sie stracks hinaus auf die Straße, unter pausenlosem fröhlichem Geplauder, und schob sie in ein Taxi. Er hatte die Pistole nicht zu Hilfe nehmen wollen, aber er konnte es nicht riskieren, sie im Polizeigriff abführen zu müssen. Ja, so geht's, dachte er. Da kommt man zurück, um ihr zu sagen, daß man sie liebt, und dann führt man sie mit vorgehaltener Pistole ab. Sie zitterte und war wütend, aber er glaubte nicht, daß sie Angst hatte, er glaubte nicht einmal, daß sie diese gräßliche Veranstaltung besonders ungern verließ.

»Das hat mir noch gefehlt«, sagte sie, als sie sich wieder durch den Nebel bergan schlängelten. »Gut gemacht. Verdammt gut gemacht.«

Sie trug einen Duft, der ihm fremd war, aber er fand ihn unvergleichlich angenehmer als Juice of the Vine.

Nicht daß Guillam sich direkt langweilte, aber seine Konzentrationsfähigkeit war auch nicht grenzenlos, wie es bei George der Fall zu sein schien. Wenn er nicht gerade darüber nachdachte, was zum Teufel Jerry Westerby vorhaben mochte, dann sonnte er sich beim Gedanken an die erotischen Entbehrungen, unter denen Molly Meakin jetzt zu leiden hatte, oder er dachte an den Chinesenjungen mit den verdrehten Armen, der wie ein angeschossener Hase hinter dem entschwindenden Wagen hergeheult hatte. Murphy dozierte jetzt über die Insel Po Toi, und er verbreitete sich erbarmungslos über dieses Thema. Vulkanisch, Sir, sagte er.

Härteste Felsen Substanz der ganzen Hongkong-Gruppe, Sir, sagte er.

Und die südlichste der Inseln, sagte er, und direkt dort, am Rande der chinesischen Hoheitsgewässer.

Siebenhundertneunzig Fuß hoch, Sir, die Fischer benutzen sie als Landmarke vom Meer her, Sir, sagte er. Technisch gesehen keine einzelne Insel, sondern eine Gruppe von sechs Inseln, davon fünf völlig unfruchtbar, baumlos und unbewohnt. 1

Schöner Tempel, Sir. Echte Antiquität. Schöne Holzschnitzereien, aber kaum natürliche Bewässerung.

»Herrgott, Murphy, wir wollen die verdammte Insel doch nicht kaufen!« rief Martello. Nun, da der Einsatz nahe und London weit weg war, hatte Martello, wie Guillam feststellte, viel von seinem Firnis und jeden englischen Anstrich verloren. Seine Tropenanzüge waren reinste amerikanische Kreationen, urtd er empfand das Bedürfnis, sich mit Menschen zu unterhalten, vorzugsweise mit seinen eigenen Leuten. Guillam argwöhnte, daß sogar London für ihn ein Abenteuer bedeutete, und Hongkong war bereits Feindesland. Smiley hingegen reagierte auf Streß genau umgekehrt: er wurde verschlossen und von eisiger Höflichkeit. Po Toi selber hat eine im Abnehmen begriffene Einwohnerzahl von einhundertachtzig Bauern und Fischern, zumeist Kommunisten, drei bewohnte Dörfer und drei verlassene, Sir, sagte Murphy. Er leierte weiter. Smiley hörte nach wie vor aufmerksam zu, Martello hingegen zeichnete Männchen auf seinen Notizblock.

»Und morgen, Sir«, sagte Murphy, »morgen nacht hält Po Toi das alljährliche Fest zu Ehren von Tin Hau ab, der Meeresgöttin, Sir.«

Martello hörte mit seinem Gekritzel auf. »Glauben die Leute wirklich an diesen Scheiß?«

»Jeder hat ein Recht auf seinen Glauben, Sir.«

»Lernt man das auch in Ihrem Ausbildungscollege, Murphy?«

Martello widmete sich wieder seinen Zeichnungen.

Betretenes Schweigen herrschte, bis Murphy tapfer wieder zum Zeigestock griff und mit der Spitze auf eine Stelle an der Südküste der Insel wies.

»Das Tin-Hau-Fest, Sir, konzentriert sich auf den einzigen größeren Hafen, Sir, direkt hier an der Südwestspitze, wo der alte Tempel steht. Nach Mr. Smileys wohlbegründeter Prognose, Sir, würde Kos Landeuntemehmen hier stattfinden, abseits der Hauptbucht, in einer kleinen Bai an der Ostseite der Insel. Eine Landung auf dieser Seite der Insel, die nicht bewohnt ist, keinen natürlichen Zugang zum Meer bietet, zu einem Zeitpunkt, da die Festlichkeiten in der Haworbucht eine Ablenkung . . . « Guillam hatte das Klingeln nicht gehört. Erst die Stimme von Martellos zweitem Gehilfen, der den Anruf beantwortete: »Ja, Mac«, dann das Quietschen seines Sessels, als er sich bolzengerade aufrichtete und Smiley anstarrte. »Gut, Mac. Klar, Mac. Sofort. Ja. Sekunde. Direkt neben mir. Bleib dran.« Smiley stand bereits neben ihm und hatte die Hand' nach dem Hörer ausgestreckt. Martello beobachtete Smiley. Murphy auf dem Podium wandte ihnen den Rücken, während er weitere fesselnde Besonderheiten der Insel Po Toi aufzeigte und die Unterbrechung gar nicht richtig zur Kenntnis nahm. »Die Insel ist den Seeleuten auch als Geisterfelsen bekannt, Sir«, erklärte er mit der gleichen langweiligen Stimme. »Aber niemand scheint zu wissen, warum.« Smiley lauschte kurze Zeit, dann legte er auf. »Vielen Dank, Murphy«, sagte er höflich. »Es war sehr interessant.«

Eine Weile stand er wie versteinert da und hatte die Finger wie der selige Mr. Pickwick nachdenklich an die Oberlippe gelegt. »Ja«, wiederholte er. »Ja, sehr interessant.« Er ging bis zur Tür, dann blieb er wieder stehen. »Entschuldigung, Marty, ich muß Sie für eine Weile verlassen. Nicht mehr als ein, zwei Stunden, nehme ich an. Auf jeden Fall rufe ich Sie an.«

Er streckte die Hand nach dem Türgriff aus, dann wandte er sich zu Guillam um.

»Peter, es wäre mir lieb, wenn Sie mitkämen. Es könnte sein, daß wir einen Wagen brauchen, und Sie scheinen mit dem Verkehr in Hongkong fabelhaft zurechtzukommen. Habe ich Fawn nicht irgendwo gesehen? Ah, da sind Sie ja.«

Die Blumen an der Headland Road glänzten flaumig, wie Farne, die für Weihnachten mit Lackspray verschönert wurden. Der Gehsteig war schmal und wenig benutzt, außer von den Amahs, die den Kindern Bewegung verschafften, was sie taten, ohne mit den Kleinen zu sprechen, als führten sie Hunde spazieren. Der Observierangswagen der Vettern war ein absichtlich unauffälliger brauner Mercedeslaster, ziemlich mitgenommen, mit Tonstaub an den Kotflügeln und den an einer Seitenwand aufgemalten Buchstaben H.K.DEVp. und BLDg.SURVEY Ltd. Eine alte Antenne mit chinesischen Wimpeln daran war über die Kabine geneigt, und als der Lastwagen sich - zum zweiten, oder war es zum viertenmal an diesem Vormittag -, an Kos Wohnsitz vorüberschob, achtete niemand auf ihn. Irgend jemand baut immer in Headland Road, wie überall in Hongkong. In seinem Inneren kauerten in eigens für diesen Zweck installierten kunststoffbezogenen Kojen zwei Männer in einem Wald von Ferngläsern, Kameras und Funktelefoneinrichtungen und beobachteten intensiv. Auch für sie war die Fahrt an Seven Gates vorbei langsam zur Routine geworden. »Keine Veränderung?« sagte der erste. »Keine Veränderung«, bestätigte der zweite. »Keine Veränderung«, wiederholte der erste in das Funksprechgerät, und hörte am anderen Ende Murphys vertrauenerweckende Stimme die Nachricht bestätigen.

»Vielleicht sind sie bloß Wachsfiguren«, sagte der erste, ohne sich ablenken zu lassen. »Vielleicht sollten wir mal mit der Nadel reinstechen, ob sie dann schreien.«

»Sollten wir vielleicht wirklich«, sagte der zweite. Während der ganzen beruflichen Laufbahn, darüber waren sie sich einig, hatten sie niemals irgend etwas beobachtet, das sich so still verhalten hatte. Ko stand, wo er immer zu stehen pflegte, am Ende des Rosenbeets, den Rücken ihnen zugewandt, und starrte aufs Meer hinaus. Seine winzige Ehefrau saß ein Stück von ihm entfernt allein auf einem weißen Gartenstuhl, wie immer schwarz gekleidet, und schien auf ihren Mann zu starren. Nur an Tiu bewegte sich etwas. Auch er saß auf einem Stuhl, aber neben Ko, und er mampfte irgend etwas, das wie ein Schmalzkringel aussah. Als der Lastwagen die Hauptstraße erreicht hatte, rumpelte er in Richtung Stanley weiter und setzte aus Gründen der Tarnung seine angebliche Inspektionsfahrt durch die Gegend fort.

Lieses Lover


Ihre Wohnung war groß und ohne einheitliche Note: eine Mischung aus Wartesaal, Direktionssuite und Bordellsalon. Die Decke des Wohnraums fiel nach einer Seite schräg ab wie das Schiff einer Kirche, deren Grundmauern sich gesenkt haben. Das Niveau des Fußbodens wechselte ständig, der Teppich war dicht wie ein Rasen, und beider Schritte ließen glänzende Fußabdrücke zurück. Die riesigen Fenster gaben den Blick auf grenzenlose Einsamkeiten frei, und als Lizzie die Jalousien heruntergelassen und die Vorhänge zugezogen hatte, waren sie und Jerry plötzlich in einem Vorstadtbungalow ohne Garten. Die Amah hatte sich in ihr Zimmer hinter der Küche zurückgezogen, und als sie von dort auftauchte, schickte Lizzie sie wieder weg. Sie schlurfte zischend und stirnrunzelnd hinaus. Warte nur, bis ich's dem Herrn stecke, hieß das.

Jerry legte die Ketten an der Wohnungstür vor, und danach ging er mit ihr durch alle Räume, ließ sie zu seiner Linken einen Schritt vorangehen und die Türen öffnen, sogar die Schränke. Das Schlafzimmer glich dem Bühnenaufbau für einen Fernsehfilm über eine femme fatale, mit seinem runden abgesteppten Bett und der eingelassenen Badewanne hinter Wandschirmen. Er durchsuchte die Nachtschränkchen nach einer Waffe. Man ist zwar in Hongkong nicht besonders schießwütig, aber wer einmal in Indochina gelebt hat, bei dem war im allgemeinen irgend etwas im Haus. Ihr Ankleidezimmer sah aus, als hätte sie einen der smarten skandinavischen Einrichtungsläden per Telefon ausgekauft. Das Eßzimmer bestand aus Rauchglas, blitzendem Chrom und Leder. Falsche Gainsborough-Ahnen starrten verdrossen auf die leeren Stühle - alle die Mamas, die keine Eier kochen konnten, dachte er. Mit schwarzem Tigerfell bezogene Stufen führten zu Kos Gemach, und hier blieb Jerry staunend stehen. Er war wider Willen fasziniert, sah in jeder Einzelheit den Mann und seine Verwandtschaft mit Old Sambo. Der überdimensionale Schreibtisch mit den geschweiften Beinen und den Klauenfüßen, die Präsidentengarnitur. Die Tintenfässer, Brieföffner und Scheren im Futteral, die unberührten Gesetzesbücher, genau die gleichen, die auch Old Sambo überall mitgeschleift hatte: Simon über Steuerrecht, Charlesworthy über Gesellschaftsrecht. Die gerahmten Zertifikate an der Wand. Die Verleihungsurkunde zu seinem O. B. E., die mit den Worten begann: »Elizabeth die Zweite von Gottes Gnaden . . . « Der Orden selbst, auf Seide gebettet wie die Waffen eines toten Ritters. Gruppenfotos chinesischer Angehöriger auf den Stufen eines Tempels. Siegreiche Rennpferde. Lizzie, wie sie ihn anlachte. Lizzie im Badeanzug, ein atemraubender Anblick. Lizzie in Paris. Behutsam zog er die Schreibtischläden auf und entdeckte geprägte Geschäftsbogen von einem Dutzend verschiedener Firmen. In den Schränken leere Aktenordner, eine elektrische IBM-Schreibmaschine ohne Kabel, ein Adressenbuch ohne Adressen darin. Lizzie mit nacktem Oberkörper, wie sie über den langen Rücken hinweg zu ihm hinsah. Lizzie, Gott sei ihr gnädig, im Hochzeitskleid, einen Gardenienstrauß in der Hand. Ko mußte sie zum Fotografieren zu einem Brautausstatter geschickt haben.

Nirgends ein Foto von Rupfensäcken voller Opium. Die Freistatt des Chefs, dachte Jerry. Old Sambo hatte deren mehrere gehabt: Mädchen, denen er Wohnungen hielt, einer sogar ein Haus, und die ihn doch nur ein paarmal im Jahr zu sehen kriegten. Aber immer dieser ganz besondere Raum mit dem Schreibtisch und den unbenutzten Telefonen und den Erinnerungsfotos, eine Ecke, die er buchstäblich aus dem Leben eines anderen Menschen herausgeschnitten hatte, ein Versteck vor seinen anderen Verstecken.

»Wo ist er?« fragte Jerry und mußte wieder an Luke denken.

»Drake?«

»Nein, der Weihnachtsmann.«

»Das möchte ich von Ihnen wissen.«

Er folgte ihr ins Schlafzimmer.

»Wissen Sie oft nicht, wo er ist?« fragte er.

Sie zog die Ohrringe ab und warf sie in eine Schmuckschatulle.

Dann die Brosche, die Halskette und die Armbänder.

»Er ruft mich von überall her an, bei Tag oder Nacht, ganz egal.

Dies ist das erste Mal, daß er nichts von sich hören läßt.«

»Können Sie ihn zu Hause anrufen?« fragte Jerry.

»Aber jederzeit«, erwiderte sie mit wildem Hohn. »Klar kann ich das. Erste Gattin und ich kommen blendend miteinander aus.

Wußten Sie das nicht?«

»Und im Büro?«

»Er geht nicht ins Büro.«

»Wie steht's mit Tiu?«

»Dieser Schuft von Tiu!«

»Warum?«

»Weil er ein Schwein ist«, fauchte sie und riß eine Schranktür auf. »Er könnte eine Botschaft von Ihnen übermitteln.«

»Wenn er Lust dazu hätte, was er nicht hat.«

»Warum nicht?«

»Woher zum Teufel soll ich das wissen?« Sie zerrte einen Pullover und Jeans heraus und schleuderte sie aufs Bett. »Weil er mich nicht mag. Weil er mir nicht traut. Weil er nicht zuläßt, daß ein Rundauge seinen Hohen Herrn belästigt. Gehen Sie jetzt raus, solange ich mich umziehe.«

Er schlenderte also wieder in den Wohnraum, wo er mit dem Rücken zur Tür stehenblieb und das Rascheln von Seide auf Haut hörte.

»Ich war bei Ricardo«, sagte er. »Wir hatten einen umfassenden und sehr offenen Meinungsaustausch.«

Er mußte unbedingt wissen, ob sie davon erfahren hatte. Er mußte sie von Lukes Tod freisprechen können. Er wartete eine Weile, dann fuhr er fort:

»Charlie Marshall gab mir die Adresse, also bin ich bei ihm aufgetaucht, und wir haben ein bißchen geplaudert.«

»Großartig«, sagte sie. »Demnach gehören Sie jetzt zur Familie.«

»Von Mellon war auch die Rede. Angeblich haben Sie für ihn Rauschgift geschmuggelt.«

Sie schwieg. Als er sich zu ihr umdrehte, saß sie auf dem Bett und hielt den Kopf in den Händen. In Jeans und Pullover sah sie aus wie fünfzehn und wirkte um eine Handbreit kleiner als sonst. »Was wollen Sie denn eigentlich?« flüsterte sie endlich, so leise, als hätte sie sich selber die Frage gestellt. »Sie«, sagte er. »Für immer.«

Er wußte nicht, ob sie es gehört hatte, denn ihre Antwort bestand nur in einem langen Ausatmen und einem geflüsterten »Mein Gott«.

»Sind Sie mit Mellon befreundet?« fragte sie schließlich. »Nein.«

»Schade. Er braucht einen Freund wie Sie.«

»Weiß Arpego, wo Ko ist?«

Sie zuckte die Achseln.

»Wann haben Sie zuletzt von ihm gehört?«

»Vor einer Woche.«

»Was hat er gesagt?«

»Er hat verschiedene Erledigungen.«

»Welche Erledigungen?«

»Hören Sie um Himmels willen mit der Fragerei auf! Die ganze verdammte Welt stellt Fragen, also müssen Sie sich unbedingt anschließen, wie?«

Er starrte sie an, und ihre Augen loderten vor Zorn und Verzweiflung. Er öffnete die Tür zur Terrasse und trat hinaus. Ich brauche Instruktionen, dachte er erbittert. Bärentreiber von Sarratt, wo seid ihr, jetzt, da ich euch brauche? Bisher war ihm nicht aufgegangen, daß er auch den Lotsen verlor, als er das Seil durchschnitt.

Die Terrasse umlief die Wohnung auf drei Seiten. Der Nebel hatte sich vorübergehend verzogen. Dahinter lag der Peak, die Vorsprünge waren von goldenen Lichtern bekränzt. Ziehende Wolkenbänke bildeten rings um den Mond wechselnde Höhlungen. Der Hafen hatte seinen ganzen Staat angelegt, in der Mitte räkelte sich ein angestrahlter, aufgeputzter amerikanischer Flugzeugträger wie eine verwöhnte Dame inmitten einer Traube dienernder Jachten. Die auf dem Deck abgestellten Hubschrauber und kleinen Kampfflugzeuge erinnerten ihn an die Luftbasis in Thailand. Eine Formation hochseetüchtiger Dschunken zog in Richtung Kanton langsam vorüber. »Jerry?«

Sie stand unter der Tür und beobachtete ihn hinter einer Reihe von Bäumen, die in Kübeln gepflanzt waren. »Kommen Sie rein. Ich bin hungrig«, sagte sie. Es war eine Küche, in der niemand kochte oder aß, aber sie hatte eine bayrische Ecke mit Holzbänken, Berglandschaften und Aschenbechern mit der Aufschrift Carlsberg. Lizzie goß Kaffee aus der Maschine ein. Er stellte fest, daß sie, wenn sie vor etwas auf der Hut war, die Schultern vorschob und die Unterarme vor der Brust gekreuzt hielt, wie es auch die Waise immer getan hatte.

Sie zitterte. Sie muß schon die ganze Zeit gezittert haben, dachte er, seit er ihr die Pistole in den Rücken gedrückt hatte, und er wünschte, er hätte es nicht getan, denn langsam dämmerte ihm, daß ihr genauso schlimm zumute war wie ihm, vielleicht sogar erheblich schlimmer, und daß sie wirkten wie zwei Menschen nach einer Katastrophe, ein jeder lebte seine eigene Hölle: Er bereitete ihr einen Brandy mit Soda, für sich selber auch einen, und setzte sich ins Wohnzimmer, wo es wärmer war, und sah zu, wie sie dort kauerte und den Brandy trank und auf den Teppich starrte.

»Musik?« fragte er. Sie schüttelte den Kopf.

»Ich bin auf eigene Rechnung hier«, sagte er. »Keinerlei Verbindung mit einer anderen Firma.« Sie reagierte nicht.

»Ich bin aus freien Stücken und ohne böse Absicht hier«, sagte er. »Nur, ein Freund von mir ist vor kprzen gestorben.« Er sah, daß sie nickte, aber nur aus Mitgefühl. Er war überzeugt, daß die Mitteilung ihr nichts sagte.

»Die Sache mit Ko nimmt üble Formen an«, sagte er. »Sie wird kein gutes Ende nehmen. Rauhe Burschen, mit denen Sie sich da eingelassen haben. Ko eingeschlossen. Objektiv gesehen ist er der Staatsfeind Nummer eins. Ich dachte mir, vielleicht möchten Sie aussteigen. Deshalb bin ich zurückgekommen. Sir Galahad persönlich. Weil ich einfach nicht dahinterkomme, was sich um Sie zusammenbraut. Mellon und so weiter. Vielleicht sollten wir's zusammen ausknobeln und sehen, worum's geht.« An dieser Stelle seiner nicht besonders lichtvollen Ausführungen klingelte das Telefon. Das heißt, es gab jenes gedämpfte Schnarren von sich, das angeblich die Nerven schont.

Das Telefon stand auf der anderen Seite des Zimmers auf einem vergoldeten Teewagen. Bei jedem Ton flammte ein Lämpchen auf, und die gerippten Glasregale warfen den Schein zurück. Lizzie blickte auf den Apparat, dann auf Jerry, und ihr Gesicht war plötzlich lebhaft und voll Hoffnung. Jerry sprang auf und schob den Wagen, dessen Räder im Flor des Teppichs nur mühsam rollten, zur ihr hinüber. Hinter ihm ringelte sich die Schnur, bis sie die Form einer Kinderkritzelei angenommen hatte. Sie hob rasch den Hörer ab und sagte »Worth«, in dem ein wenig barschen Tonfall, den Frauen annehmen, wenn sie allein leben. Er überlegte, ob er ihr sagen sollte, daß die Leitung angezapft war, aber er wußte nicht, wovor er sie warnen sollte: er gehörte nirgends mehr hin, weder auf die eine noch auf die andere Seite. Er wußte nicht, welches die Seiten waren, aber plötzlich war sein ganzes Denken wieder von Luke erfüllt, und der Jäger in ihm war hellwach.

Sie hielt den Hörer ans Ohr, aber sie hatte nichts mehr gesagt. Nur einmal ein »Ja«, als bestätige sie einen Befehl, und einmal sehr entschieden »nein«. Ihre Miene war ausdruckslos geworden, ihre Stimme verriet ihm nichts. Aber er spürte ihren Gehorsam und er spürte die Heimlichkeit, und Zorn flammte in ihm auf und überlagerte alles andere.

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