Ausgerechnet der adrette Sam Collins im Smoking mit seiner braunen Zigarette und dem gepflegten Schnurrbart und dem Lächeln eines Mississippi-Dandy, der eines Abends zu einem gemütlichen kleinen Schwatz geladen war, segelte herein und sagte: »Wenn ich mir's recht überlege, ja, alter Junge, das kann ich.«
Aber hinter Smileys neuerlicher Frage und Sams entscheidender Antwort lauerte die furchteinflößende Gestalt von Miss Connie Sachs auf der Pirsch nach russischem Gold. Und hinter Connie wiederum, wie eh und je, die unscharfe Fotografie Karlas.
»Connie hat einen erwischt, Peter«, flüsterte sie eines Nachts Guillam über das Haustelefon zu. »Sie hat einen erwischt, klar wie Kloßbrühe.«
Es war keineswegs ihr erster Fund, auch nicht ihr zehnter, aber ihr untrüglicher Instinkt sagte ihr sofort, dies sei »der wahre Jakob, darling, glaub's der alten Connie«. Also sagte Guillam es Smiley, und Smiley schloß seine Akten weg, räumte den Schreibtisch ab und sagte: »All right, rein mit ihr.«
Connie war eine gewaltige, verkrüppelte, gerissene Frau, Tochter eines Universitätsprofessors, Schwester eines Universitätsprofessors, selber Akademikerin und bei den älteren Mitarbeitern bekannt als Mütterchen Rußland. Es ging die Sage, Control habe sie, als sie noch eine junge Dame war, beim Bridgespiel angeworben, in der Nacht, in der Neville Chamberlain »Frieden, solange wir leben« versprach. Als Haydon auf den Gleitspuren seines Protektors Alleline zur Macht schlitterte, war einer seiner ersten und umsichtigsten Schachzüge, daß er Connie abhalfterte. Denn Connie wußte mehr über die Wege und Stege der Moskauer Zentrale als die meisten der, wie sie sie nannte, erbärmlichen Kerle, die sich dort abrackerten, und Karlas Privatarmee von Maulwürfen und Anwerbern war schon immer ihre ganz besondere Wonne gewesen. Es gab in jenen alten Tagen keinen einzigen sowjetischen Überläufer, dessen Vernehmungsprotokoll nicht durch Mütterchen Rußlands gichtige Finger gegangen wäre; keinen einzigen Provokateur, der sich an einen identifizierten Talentsucher Karlas herangemacht hatte, den Connie nicht gierig bis in die kleinste Kleinigkeit in seinem Tanz um das Opfer nachgespielt hätte; kein Quentchen Hörensagen in den nahezu vierzig Jahren beim Bau, das nicht ihrem schmerzgequälten Körper einverleibt wurde und dort unter dem Trödel ihres umfassenden Gedächtnisses lagerte, um sofort wieder aufzutauchen, wenn sie danach kramte. Connies Hirn, hatte Control einmal in einer Art Verzweiflung gesagt, sei ein einziger riesiger Aktendeckel. Nach ihrer Entlassung ging sie zurück nach Oxford und vor die Hunde. Bis Smiley sie wieder anforderte, bestand ihr einziger Zeitvertreib darin, das Kreuzworträtsel der Times zu lösen, und sie brachte es gut und gerne auf ihre zwei Flaschen pro Tag. Aber in jener Nacht, in jener fast könnte man sagen historischen Nacht, als sie ihre Massen durch den Korridor des fünften Stockwerks und in Smileys Allerheiligstes schob, hatte sie sich in einen sauberen grauen Kaftan geworfen, ein Paar rosige Lippen, nicht unfern ihren eigenen, aufgemalt, sich den ganzen Tag nichts Stärkeres genehmigt als einen gräßlichen Pfefferminzlikör, dessen Fahne sie hinter sich herzog, und ihre Züge, darin waren sich später alle einig, trugen den Stempel des großen Ereignisses. Sie schleppte eine voluminöse Einkaufstasche aus Plastik, denn sie mochte kein Leder. In ihrer Höhle auf einem unteren Stockwerk wimmerte der Bastardhund Trot, den sie in einer Anwandlung von schlechtem Gewissen gegenüber seinem verstorbenen Vorgänger ins Haus genommen hatte, untröstlich unter ihrem Schreibtisch, zur höchsten Erbitterung des Zimmergenossen di Salis, der häufig insgeheim nach dem Tier ausschlug; oder in jovialeren Augenblicken sich damit begnügte, Connie die zahlreichen schmackhaften Arten aufzuzählen, in denen die Chinesen ihre Hunde für die Tafel zubereiteten. Vor den hohen edwardianischen Fenstern, an denen sie vorüberschritt, prasselte nach langer Trockenheit endlich der Spätsommerregen, und sie betrachtete ihn - wie sie später den anderen berichtete - als symbolisch, wenn nicht gar biblisch. Die Tropfen knallten wie Schüsse auf das Schieferdach und klebten die welken Blätter fest, die sich dort angesammelt hatten. Im Vorzimmer setzten die Mütter unbeirrt ihre Arbeit fort; sie waren an Connies Pilgerfahrten gewöhnt, ohne ihnen deshalb Sympathie entgegenzubringen. »Darlings«, murmelte Connie und winkte ihnen mit der verschwollenen Hand zu wie eine Königin. »So treue Seelen. So reine Seelen.«
In den Thronsaal führte eine Stufe nach abwärts - Uneingeweihte stolperten trotz des verblichenen Warnschilds meist hinunter -, und Connie mit ihrer Arthritis stieg rücklings ab wie über eine Leiter, während Guillam sie am Ellbogen festhielt. Smiley hatte die fleischigen Hände auf dem Schreibtisch gefaltet und sah ihr zu, wie sie ihre Opfergaben feierlich aus dem Behälter nahm: nicht das Auge eines Wassermolchs, nicht der Finger eines bei der Geburt erstickten Säuglings - dies Guillams Ausspruch -, sondern Akten, eine ganze Reihe mit Aufklebern und Anmerkungen versehen, die Ausbeute der jüngsten ihrer leidenschaftlichen Expeditionen durch das Archiv der Moskauer Zentrale, die bis vor ihrer Rückkehr aus dem Totenreich vor ein paar Monaten dank Haydon drei lange Jahre nur herumgelegen und Staub angesammelt hatten. Während sie sie herauszog und die Zettel glättete, die sie ihnen auf ihrer Schnitzeljagd wie Wegmarkierungen angesteckt hatte, lächelte sie ihr randvolles Lächeln - wiederum laut Guillam, den die Neugier gezwungen hatte, Feierabend zu machen und herüberzukommen -, und sie brabbelte »Aha, du kleiner Satan« und »Wo steckst du denn, du Stück Malheur?«, womit natürlich weder Smiley noch Guillam gemeint waren, sondern die Dokumente, denn Connie gefiel sich darin, so zu tun, als wäre alles lebendig und zeigte sich wenn irgend möglich widerspenstig, ob es nun ihr Hund Trot war oder ein Stuhl, der ihr im Weg stand oder die Moskauer Zentrale oder schließlich Karla selbst. »Eine richtige Rundreise, darlings«, verkündete sie, »hat Connie machen dürfen. Superspaß. Erinnert mich an Ostern, als Mutter rings ums Haus bunte Eier versteckte, und wir Mädels mußten sie suchen.«
Danach bemühte Guillam sich ungefähr drei Stunden lang, nur unterbrochen von Kaffee, Sandwiches und anderen unverlangten Köstlichkeiten, die der finstere Fawn ihnen aufnötigte, den verschlungenen Pfaden von Connies wunderbarer Reise zu folgen, deren solide Unterlagen sie inzwischen erfolgreich zusammengesucht hatte. Sie teilte Smiley Schriftstücke zu, als wären es Spielkarten, klatschte sie hin und scharrte sie mit den verkrümmten Händen schon wieder zusammen, fast ehe er sie hatte lesen können. Die ganze Prozedur übergoß sie mit ihrem, laut Guillam, »fünftrangigen Rotwelsch«, dem Abrakadabra der verfolgungswahnsinnigen Wühlmaus. Im Kern ihrer Entdeckung lag, soweit Guillam ausmachen konnte, eine Moskauer Goldader; eine sowjetische Manipulation, die geheime Gelder in offene Kanäle leiten sollte. Das Lagebild sei noch nicht vollständig. Die Israelis hatten einen Teil geliefert, einen weiteren die Vettern, Steve Mackelvore, Oberresident in Paris, jetzt tot, den dritten. Von Paris aus wandte die Spur sich nach Osten, auf dem Weg über die Banque del Indochine. In dieser Phase wurden zudem die Dokumente Haydons London Station, wie die Einsatzzentrale hieß, angeboten, zusammen mit einer Empfehlung der entvölkerten Rußland-Abteilung, daß der Fall für umfassende Recherchen vor Ort freigegeben werde. London Station würgte den Vorschlag glatt ab.
»Potentiell schädlich für eine hochempfindliche Quelle«, schrieb einer von Haydons Günstlingen, und damit hatte sich's. »Ablegen und vergessen«, murmelte Smiley, während er zerstreut die Seiten umwandte. »Ablegen und vergessen. Wir haben immer gute Gründe, nichts zu unternehmen.« Draußen lag die Welt in tiefem Schlaf.
»Genau, mein Lieber«, sagte Connie sehr leise, als fürchtete sie, ihn zu wecken.
Jetzt waren Akten und Hefter über den ganzen Thronsaal verstreut. Die Szenerie glich weit eher einer Katastrophe als einem Triumph. Eine weitere Stunde hindurch blickten Guillam und Connie schweigend ins Leere oder auf Karlas Fotografie, während Smiley gewissenhaft Connies Schritte zurückverfolgte. Sein aufmerksames Gesicht war dicht über die Leselampe gebeugt, die schwammigen Züge wurden vom Lichtstrahl schärfer hervorgehoben, die Hände fuhren übers Papier und hoben sich dann und wann zum Mund, damit er den Daumen ablecken konnte. Ein paarmal machte er Miene, sie anzublicken oder den Mund zum Sprechen zu öffnen, aber Connie hatte die Antwort schon bereit, ehe er die Frage stellen konnte. Sie ging im Geist ständig neben ihm her. Als er fertig war, lehnte er sich zurück, nahm die Brille ab und putzte sie, ausnahmsweise nicht mit dem breiten Ende seiner Krawatte, sondern mit einem neuen Seidentuch aus der Brusttasche seines schwarzen Rocks, denn er hatte den Tag größtenteils in Klausur mit den Vettern behufs Durchsetzung seiner Interessen verbracht. Während er dies tat, strahlte Connie Guillam an und knautschte affektiert: »Ist er nicht geliebt?« - ein geflügeltes Wort, wenn sie von ihrem obersten Chef sprach, das Guillam fast zur Raserei trieb.
Smileys nächste Verlautbarung kam im Ton eines milden Einwands.
»Trotzdem, Con, London hat wirklich ein formelles Ansuchen um Aufklärung an unseren Residenten in Vientiane geschickt.«
»War, ehe Bill Zeit gehabt hat, seinen Huf draufzusetzen«, erwiderte sie.
Smiley schien sie nicht gehört zu haben, er nahm eine aufgeschlagene Akte und hielt sie ihr über den Schreibtisch weg vor die Nase: »Und Vientiane hat wirklich ausführlich geantwortet. Alles im Index vermerkt. Das Schreiben scheint aber nicht dabei zu sein. Wo ist es?«
Connie hatte sich nicht die Mühe gemacht, die dargebotene Akte entgegenzunehmen.
»In der Häckselmaschine, darling«, sagte sie und strahlte Guillam triumphierend an.
Der Tag war angebrochen. Guillam ging überall herum und knipste die Lampen aus.
Am gleichen Nachmittag suchte Guillam den ruhigen Spielclub im West End auf, wo Sam Collins in der ewigen Nacht seines freiwilligen Exils die Leiden des Ruhestands genoß. Zu seiner Überraschung wurde Guillam, der ihn bei der Beaufsichtigung des üblichen nachmittäglichen chemm-de-fer-Spielchens vermutete, in ein prächtiges Gemach mit der Aufschrift »Geschäftsleitung« geführt. Sam ruhte hinter einem imposanten Schreibtisch und grinste wohlig durch den Rauch seiner üblichen braunen Zigarette.
»Was zum Teufel haben Sie angestellt, Sam?« flüsterte Guillam wie ein Bühnenschurke und tat, als blickte er sich nervös um. »Die Mafia übernommen? Herrjeh!«
»Ach, das war nicht nötig«, sagte Sam mit dem gleichen Schmierengrinsen. Er warf einen Regenmantel über den Smoking, führte Guillam durch einen Korridor und den Notausgang auf die Straße, und sie sprangen in Guillams wartendes Taxi, während Guillam sich insgeheim noch immer über Sams nagelneue Vornehmheit wunderte.
Außenleute haben verschiedene Arten, ihre Gefühle nicht zu zeigen. Sam zum Beispiel tat es, indem er grinste, langsamer rauchte und einen dunklen Glanz besonderer Nachsicht in die Augen bekam, die er fest auf seinen Gesprächspartner richtete. Sam war Asienmann gewesen, ein alter Circus-Hase mit einer Menge Erfahrung im Außendienst: fünf Jahre in Borneo, sechs in Birma, weitere fünf im nördlichen Thailand und zuletzt drei in der laotischen Hauptstadt Vientiane, alles unter der naheliegenden Legende als Export-Import-Kaufmann. Die Thais hatten ihn zweimal im Schwitzkasten gehabt, aber wieder laufen lassen. Er hatte Hals über Kopf aus Sarawak abzischen müssen. Wenn er in Stimmung war, konnte er allerhand über seine Abenteuer bei den Bergstämmen Nordbirmas und in den Shan-Staaten erzählen, aber er war nur selten in Stimmung. Sam war auch eines der Haydon-Opfer. Vor nunmehr fünf Jahren hatte Sams mühelose Meisterschaft ihn einen Augenblick lang zum ernsthaften Kandidaten für eine Beförderung in die fünfte Etage gemacht - ja, so hieß es, sogar für den Chefposten selbst, wenn Haydon sich nicht mit seinem ganzen Gewicht hinter den lächerlichen Percy Alleline gestellt hätte. Anstatt in Amt und Würden grau zu werden, konnte Sam nun im Außendienst verschimmeln, bis Haydon eine Gelegenheit fand, ihn zurückzupfeifen und wegen angeblich schuldhaften Fehlverhaltens an die Luft setzen zu lassen. »Sam! Wie nett von Ihnen! Bitte Platz zu nehmen!« sagte Smiley in ausnahmsweise überströmender Gastlichkeit. »Etwas zu trinken? Wie spät ist es nach Ihrer Zeitrechnung? Vielleicht sollten wir Ihnen ein Frühstück anbieten?«
In Cambridge hatte Sam mit Auszeichnung abgeschlossen, zum ratlosen Erstaunen seiner Lehrer, die ihn bis dato als Halbidioten eingestuft hatten. Er hatte es, wie die Herren Professoren einander tröstend versicherten, ausschließlich dank seinem phänomenalen Gedächtnis geschafft. Weniger weltfremde Zungen erzählten allerdings eine andere Geschichte. Nach ihrer Version habe Sam eine Liebschaft mit einem häßlichen Mädchen aus dem Büro der Prüfungskommission auf sich genommen und von seiner Herzdame, neben anderen Gunstbeweisen, ein Vorausexemplar der Examensthemen erhalten.
Das Schloß erwacht
Smiley tastete zunächst einmal bei Sam das Gelände ab und Sam, selbst ein alter Pokerspieler, tastete das Gelände bei Smiley ab. Manche Außenagenten, und besonders die klügsten, setzen einen perversen Ehrgeiz darein, nicht das ganze Bild zu kennen. Ihre Kunst besteht in der geschickten Handhabung der Details. Sie weigern sich hartnäckig, weiterzugehen. Sam war so veranlagt. Nachdem Smiley ein bißchen in Sams Dossier gestöbert hatte, testete er ihn anhand verschiedener alter Vorfälle, die nichts Bedrohliches an sich hatten, aber auf Sams gegenwärtige Disposition schließen ließen und sein präzises Erinnerungsvermögen bestätigten. Er empfing Sam allein, denn in Anwesenheit weiterer Personen wäre es ein anderes Spiel gewesen: intensiver oder weniger intensiv, auf jeden Fall anders. Später, als die Geschichte klar ans Licht gekommen war und nur noch Nachstoßfragen zu stellen waren, ließ er allerdings Connie und Doc di Salis aus den Niederungen heraufholen und auch Guillam dabeisitzen. Aber das war später, und fürs erste testete Smiley Sams Gedächtnis allein, wobei er ihm verschwieg, daß alle einschlägigen Unterlagen vernichtet waren und daß Sam nun, nach Mackelvores Tod, der einzige Zeuge gewisser entscheidender Vorkommnisse war. »Also, Sam, erinnern Sie sich noch«, fragte Smiley, als ihm endlich der rechte Augenblick gekommen schien, »an eine Anfrage aus London, die Sie einmal in Vientiane erreichte betreffs gewisser Geldüberweisungen aus Paris? Es müßte ein ganz normales Ansuchen um >anonyme Nachforschungen gewesen sein, >bitten um Bestätigung oder Fehlanzeige< - so in dieser Art? Fällt Ihnen da zufällig etwas ein?«
Er hatte ein ganzes Blatt voll Notizen vor sich liegen, so daß diese Frage nur eine von vielen in einer langsamen Abfolge war. Er schrieb sich sogar während des Sprechens etwas mit Bleistift auf und sah Sam überhaupt nicht an. Aber so, wie man mit geschlossenen Augen besser hört, fühlte er, daß Sams Aufmerksamkeit sich steigerte: was heißen will, daß Sam die Beine ein wenig streckte und kreuzte und seine Bewegungen fast bis zum Stillstand verlangsamte.
»Monatliche Überweisungen an die Banque del Indochine«, sagte Sam nach angemessener Pause. »Saftige. Stammten aus einem kanadischen Überseekonto bei der Pariser Filiale.« Er nannte die Kontonummer. »Zahlungen am letzten Freitag eines jeden Monats. Fing an im Januar dreiundsiebzig oder so. Klar fällt mir da etwas ein.«
Smiley entdeckte sofort, daß Sam sich auf ein langes Spiel einrichtete. Sein Gedächtnis war klar, aber seine Information mager: mehr ein Erstangebot als eine unumwundene Antwort. Smiley, noch immer über seine Papiere gebeugt, sagte: »Wir sollten das vielleicht ein bißchen genauer durchgehen, Sam. Einiges in den Akten ist hier widersprüchlich, und ich möchte gern Ihre Version klarstellen.«
»Klar«, sagte Sam wiederum und zog gelassen an seiner braunen Zigarette. Er beobachtete Smileys Hände und gelegentlich mit forcierter Unabsichtlichkeit auch seine Augen - aber nie zu lange. Während Smiley seinerseits sich ausschließlich bemühte, Ohr und Geist für die verschlungenen Lebenspfade eines Außenagenten offenzuhalten. Es war leicht möglich, daß Sam irgend etwas ganz Unwichtiges verbergen wollte. Er hatte zum Beispiel ein bißchen an seinen Ausgaben gedreht und fürchtete, aufgekommen zu sein. Er hatte seinen Bericht erfunden, anstatt hinauszugehen und Hals und Kragen zu riskieren: Sam war schließlich in einem Alter, in dem ein Außenagent zuerst seine eigene Haut rettet. Oder es war genau umgekehrt: Sam hatte seine Nachforschungen ein wenig weiter ausgedehnt als die Hauptstelle genehmigte. Unter Druck war er lieber zu den Hausierern gegangen, als Fehlanzeige einzureichen. Er hatte ein wenig mit den Vettern am Ort gemauschelt. Oder die örtlichen Sicherheitskräfte, die Engel, wie sie im Sarratt-Jargon hießen, hatten ihm die Daumenschrauben angelegt, und er hatte die Geschichte nach beiden Seiten ausgespielt, um zu überleben und zu lächeln und seine Pension vom Circus zu behalten. Smiley wußte, wenn er Sams Bewegungen richtig deuten wollte, so mußte er diesen und zahlreichen anderen Möglichkeiten wache Aufmerksamkeit schenken. Ein Schreibtisch ist ein gefährlicher Ausguck.
Also gingen sie es durch, wie Smiley vorgeschlagen hatte. Londons Ansuchen um Nachforschungen vor Ort, sagte Sam, erreichte ihn in der normalen Form, ganz wie Smiley es beschrieb. Es wurde ihm vom alten Mac vorgelegt, der bis zu seiner Versetzung nach Paris Verbindungsmann des Circus in der Botschaft von Vientiane war. Eine Abendsitzung in ihrem sicheren Haus. Eine Routinesache, obwohl der Zusammenhang mit den Russen sofort augenfällig war, und Sam erinnerte sich sogar, daß er schon damals zu Mac gesagt habe: »London muß glauben, es handle sich um Geld aus dem Reptilienfonds der Moskauer Zentrale«, denn er hatte die Tarnbezeichnung der Sowjetabteilung des Circus bei der Absenderangabe des Telegramms erspäht. (Smiley notierte, daß Mac keine Veranlassung hatte, Sam das Telegramm zu zeigen.) Sam erinnerte sich auch an Macs Antwort auf seine Bemerkung: »Sie hätten die alte Connie Sachs nie und nimmer absägen dürfen«, hatte er gesagt. Sam stimmte ihm aus vollem Herzen zu. Zufällig, sagte Sam, sei das Ansuchen unschwer zu erfüllen gewesen. Sam hatte bereits einen Kontakt in der Indochine, einen guten, nennen wir ihn Johnny. »Aktenkundig, Sam?« fragte Smiley höflich. Sam vermied es, die Frage direkt zu beantworten, und Smiley respektierte seine Hemmung. Der Außenagent, der alle seine Kontakte bei seiner Dienststelle aktenkundig macht oder sie auch nur auf Sicherheit überprüft, ist noch nicht geboren. So wie Zauberkünstler ihre Geheimnisse hüten, so sind Außenagenten, wenn auch aus anderen Gründen, von Haus aus verschwiegen, was ihre Quellen betrifft.
Johnny sei zuverlässig, sagte Sam mit Wärme. Er habe bei verschiedenen Waffen- und Rauschgiftgeschäften ausgezeichnete Arbeit geleistet und überhaupt, Sam würde für ihn die Hand ins Feuer legen.
»Ach, mit solchen Sachen beschäftigten Sie sich auch, Sam?« fragte Smiley respektvoll.
Sam hatte also für das dortige Rauschgiftdezernat Schwarzarbeit geleistet, notierte sich Smiley. Das taten viele Außenagenten, einige sogar mit Wissen ihrer Dienststelle: für sie war das, als verkauften sie Abfallprodukte. Es war ein Nebenverdienst. Folglich nichts Weltbewegendes, aber Smiley speicherte die Information dennoch.
»Johnny war okay«, wiederholte Sam mit drohendem Unterton. »Davon bin ich überzeugt«, sagte Smiley unbeirrt höflich. Sam fuhr in seiner Erzählung fort. Er hatte Johnny in der Indochine aufgesucht und ihm ein Tarnmärchen aufgebunden, um ihn zu beruhigen, und ein paar Tage später hatte Johnny, der nur ein bescheidener Schalterbeamter war, die Bücher durchgesehen und die Belegzettel ausgegraben, und Sam hatte den ersten Anhaltspunkt in der Hand. Die Routine sei folgendermaßen abgelaufen, sagte Sam:
»Am letzten Freitag eines jeden Monats traf aus Paris eine telegrafische Geldanweisung zugunsten eines Monsieur Delassus ein, wohnhaft zur Zeit im Hotel Condor, Vientiane, zahlbar gegen Vorlage des Reisepasses. Folgte die Nummer«. Wiederum sagte Sam mühelos die Zahlen her. »Die Bank ließ das Aviso hinausgehen, Delassus stellte sich am Montag frühstmöglich ein, hob das Geld in bar ab, stopfte es in eine Aktentasche und marschierte damit hinaus. Ende des Fahnenmastes«, sagte Sam. »Wieviel?«
»Fing klein an und wuchs rasch. Wuchs immer weiter, wuchs dann kräftiger.«
»Bis wohin?«
»Fünfundzwanzigtausend US in großen Lappen«, sagte Sam prompt.
Smileys Brauen hoben sich leicht. »Im Monat?« sagte er mit komischem Erstaunen.
»Der große Tisch«, pflichtete Sam ihm bei und verfiel in gemütliches Schweigen. Gescheite Leute, deren Gehirn unterbeansprucht ist, haben eine besondere Spannung in sich, und manchmal können sie deren Ausstrahlungen einfach nicht unter Kontrolle halten. Insofern sind sie, im Scheinwerferlicht, weit mehr gefährdet als ihre dümmeren Kollegen. »Sie bringen mich mit der Akte zur Deckung, alter Junge?« fragte Sam. »Ich bringe Sie mit gar nichts zur Deckung, Sam. Sie wissen doch, wie es ist in einer solchen Lage. Man klammert sich an jeden Strohhalm, horcht auf jeden Wind.«
»Klar«, sagte Sam mitfühlend, und nachdem sie weitere vertrauensvolle Blicke getauscht hatten, fuhr er mit seiner Erzählung fort.
Sam erkundigte sich also im Hotel Condor sagte er. Der Portier war eine feste Informationsquelle, jedem zugänglich. Kein Delassus hier abgestiegen, aber der Mann am Empfang gestern vergnügt, daß er eine Kleinigkeit dafür bekommen habe, diesem Herrn eine Gelegenheitsadresse zu verschaffen. Gleich am nächsten Montag - es war zufällig der Montag nach dem letzten Freitag des Monats, sagte Sam - trieb Sam sich mit Hilfe seines Kontakts Johnny pflichtschuldigst in der Bank herum, »kassierte Reiseschecks und so weiter«, und genoß eine großartige Aussicht auf obengenannten Monsieur Delassus, der hereinstapfte, seinen französischen Paß vorzeigte, das Geld in eine Aktenmappe stopfte und den Rückmarsch zu einem wartenden Taxi antrat.
Taxis, erklärte Sam, seien in Vientiane seltene Tiere. Wer überhaupt jemand war, hatte Wagen und Chauffeur, also durfte angenommen werden, daß Delassus keinen Wert darauf legte, jemand zu sein.
»So weit, so gut«, schloß Sam und sah interessiert zu, wie Smiley schrieb.
»So weit, so sehr gut«, verbesserte Smiley. Wie sein Vorgänger Control benutzte Smiley niemals Schreibblocks: nur einzelne Blätter, eines nach dem anderen, und als Unterlage eine Glasplatte, die Fawn zweimal am Tag polierte. »Haut's hin mit der Akte oder liege ich daneben?« fragte Sam. »Ich würde sagen, Sie liegen richtig, Sam«, sagte Smiley. »Die Details sind mir besonders wichtig. Sie wissen, wie das mit Akten ist.«
Am gleichen Abend, sagte Sam, nochmals mit seinem Verbindungsmann Mac im Dunkeln gemunkelt. Er warf einen langen kühlen Blick auf das Verbrecheralbum der dort ansässigen Russen und konnte die uneinnehmenden Züge eines Zweiten Sekretärs (Handel) an der Sowjetischen Botschaft in Vientiane identifizieren, Mittfünfziger, militärisches Aussehen, keine Vorstrafen, vollständiger Name bekannt, aber unaussprechbar und daher in Diplomatenkreisen nur »Handels-Boris« genannt. Aber Sam hatte selbstverständlich die unaussprechbaren Namen im Kopf parat und buchstabierte sie Smiley langsam genug vor, daß er sie in Blockbuchstaben aufschreiben konnte. »Mitgekriegt?« erkundigte er sich hilfsbereit. »Ja, vielen Dank.«
»Irgendwer hat die Kartei im Autobus liegenlassen, wie, alter Junge?« fragte Sam.
»Stimmt«, bestätigte Smiley lachend.
Als der kritische Montag nach Ablauf eines Monats wieder kam, sagte Sam weiter, beschloß er, behutsam vorzugehen. Anstatt also selbst hinter Handels-Boris herzuschleichen, blieb er zu Hause und setzte ein Paar am Ort stationierte Spürhunde an, die auf Beschattung spezialisiert waren.
»Bloß observieren«, sagte Sam. »Keine Bäume schütteln, keine Nebenarbeiten, kein gar nichts. Lao-Jungs.«
»Unsere?«
»Drei Jahre beim Bau«, sagte Sam. »Und gut«, fügte der Außenagent in ihm hinzu, für den alle seine Gänse Schwäne sind. Besagte Spürhunde beobachteten die Aktenmappe bei ihrer nächsten Fahrt. Das Taxi, ein anderes als im letzten Monat, fuhr Boris eine Weile durch die Stadt und setzte ihn nach einer halben Stunde wieder in der Nähe des Hauptplatzes ab, nicht weit von der Indochine entfernt. Handels-Boris ging ein kleines Stück zu Fuß, flitzte in eine andere Bank, eine Lokalbank, und zahlte die ganze Summe auf den Tisch des Hauses zugunsten eines anderen Kontos wieder ein.
»Aus dein treuer Vater«, sagte Sam, zündete sich eine neue Zigarette an und tat nichts, um sein belustigtes Staunen darüber zu verbergen, daß Smiley einen so umfassend dokumentierten Fall Wort für Wort wiederkäute.
»Ja, aus dein treuer Vater«, murmelte Smiley und schrieb mit Volldampf.
Danach, sagte Sam, verhielt er sich ein paar Wochen still, bis der Staub sich gelegt hatte, dann setzte er seine Assistentin für den Entscheidungsschlag ein. »Name?«
Sam nannte ihn. Eine bewährte Mitarbeiterin des Circus, in Sarrat ausgebildet, ebenfalls unter kaufmännischer Tarnung. Diese bewährte Mitarbeiterin wartete in der Lokalbank vor Boris, ließ ihn seine Einzahlungsformulare ausfüllen und machte dann eine kleine Szene.
»Wie hat sie das gemacht, Sam?« wollte Smiley wissen. »Verlangte, zuerst abgefertigt zu werden«, sagte Sam feixend. »Bruder Boris, dieser chauvinistische Schweinehund, erachtete sich für gleichberechtigt und protestierte. Ein Wort gab das andere.«
Der Einzahlungsschein lag auf dem Tresen, sagte Sam, und während die bewährte Mitarbeiterin ihre Schau abzog, las sie ihn verkehrtherum: fünfundzwanzigtausend amerikanische Dollar zugunsten des Überseekontos einer Schmalspur-Luftfahrtgesellschaft namens Indocharter S.A.: »Betriebskapital: eine Handvoll klapprige DC 3s, eine Blechhütte, ein Stapel Luxus-Briefpapier, eine törichte Blondine für das Besucherbüro und einen tollkühnen mexikanischen Piloten, in der Stadt bekannt als Tiny Ricardo, wegen seiner beachtlichen Größe«, sagte Sam. Er ergänzte noch: »Und die übliche anonyme Horde bienenfleißiger Chinesen im Hintergrund, versteht sich.«
Smileys Ohren waren in diesem Moment so geschärft, daß er ein Blatt hätte vom Baum fallen hören: was er aber hörte, waren, bildlich gesprochen, niedergehende Schranken, und er wußte sofort - er erkannte es an der angespannteren Stimme, an den winzigen Veränderungen in Gesicht und Haltung, die eine übertriebene Bagatellisierung ausdrückten, daß er ins Zentrum von Sams Verteidigungsstellung vorgestoßen war. Also legte er an dieser , ,Stelle im Geist ein Lesezeichen ein und beschloß, noch ein wenig bei der Schmalspur-Luftfahrtgesellschaft zu verweilen:
»Ah«, sagte er leichthin, »Sie wollen sagen, daß Sie die Firma bereits kannten?«
Sam spielte eine niedrige Karte aus. »Vientiane ist nicht ganz Ihre gewaltige Metropole, alter Junge.«
»Aber Sie kannten sie? Das ist wichtig.«
»Jedermann in der Stadt kannte Tiny Ricardo«, sagte Sam und grinste breiter denn je, und Smiley wußte sofort, daß Sam ihm Sand in die Augen streute. Aber er drillte Sam unverdrossen weiter.
»Erzählen Sie mir von Ricardo«, schlug er vor.
»Einer der Ex-Clowns von Air America. Vientiane wimmelte von ihnen. Trugen den heimlichen Krieg in Laos aus.«
»Und verloren ihn«, sagte Smiley, der jetzt wieder schrieb.
»Mühelos«, pflichtete Sam ihm bei und sah zu, wie Smiley ein Blatt beiseitelegte und ein neues aus der Schublade nahm.
»Ricardo gehörte zur Ortslegende. Flog mit Captain Rocky und dieser Bande. Hat angeblich für die Vettern ein paar Spritztouren in die Provinz Yünnan geflogen. Nach Kriegsende ist er ein bißchen rumgekreuzt und hat sich dann mit den Chinesen eingelassen. Wir nannten diese Sorte Air Opium. Um die Zeit, als Bill mich zurückpfiff, hat ihr Weizen in voller Pracht geblüht.« Smiley ließ Sam noch immer weitermachen. Solange Sam glaubte, er locke Smiley von der Witterung weg, würde er ihm Löcher in den Bauch reden; sobald er jedoch glaubte, Smiley komme der Sache zu nah, würde er augenblicklich den Rolladen herunterlassen.
»Sehr schön«, sagte Smiley daher, nachdem er wiederum sorgfältig Notizen gemacht hatte. »Jetzt wollen wir zurückgehen zu Sams nächstem Schritt, ja? Wir haben das Geld, wir wissen, an wen es bezahlt wird, wir wissen, wer es besorgt. Was ist Ihr nächster Schritt, Sam?«
Also, wenn Sam sich recht erinnere, überlegte er ein paar Tage. Es waren da einige überstehende Kanten, erklärte Sam, der wieder Zuversicht gefaßt hatte: Kleinigkeiten, die auffielen. Erstens der seltsame Fall des Handels-Boris, wie man sagen könnte. Boris galt, wie Sam bereits angedeutet hatte, als Diplomat mit weißer Weste, falls es das überhaupt gab: keine bekannte Verbindung mit irgendeiner anderen Firma. Trotzdem kutschierte er allein herum, hatte alleinige Zeichnungsvollmacht für einen Haufen Geld, und nach Sams beschränkter Erfahrung schrie jeder dieser beiden Umstände für sich allein schon lauthals Spion. »Nicht bloß ein Spion, ein verdammt hohes Tier, alter Stabsoffizier, irgendwas vom Oberst aufwärts, stimmt's?«
»Was sonst noch für Kanten, Sam?« fragte Smiley, der Sam weiterhin am langen Zügel laufen ließ und noch immer keine Anstrengungen unternahm in Richtung auf das, was Sam als das Herz der Dinge betrachtete.
»Das Geld war nicht regulär«, sagte Sam. »Es war außer der Reihe. Mac sagte das. Ich sagte das. Wir alle sagten das.« Smileys Kopf hob sich sogar noch langsamer als bisher. »Warum?« fragte er und blickte Sam direkt in die Augen. »Die offizielle Sowjet-Residentur in Vientiane hielt drei Bankkonten, über die Stadt verteilt. Die Vettern hatten alle drei angezapft. Schon seit Jahren. Sie wußten über jeden Cent Bescheid, den die Residentur abhob und sogar, je nach der Kontpnummer, ob es für beigebrachtes Nachrichtenmaterial oder subversive Aktivitäten war. Die Sowjet-Residentur hatte ihre eigenen Geldboten und für jede Abhebung über tausend Eier waren drei Unterschriften nötig. Herrgott, George, das steht doch alles in den Akten!«
»Sam, ich möchte, daß Sie sich vorstellen, diese Akte existierte nicht«, sagte Smiley ernst und schrieb noch immer. »Zur rechten Zeit sollen Sie alles erfahren. Bis dahin müssen Sie Geduld mit uns haben.«
»Ganz wie Sie wünschen«, sagte Sam und atmete bedeutend leichter, wie Smiley feststellte: er schien sich jetzt auf festerem Boden zu fühlen.
An dieser Stelle machte Smiley den Vorschlag, sie sollten Connie heraufkommen und zuhören lassen und vielleicht auch Doc di Salis, denn schließlich war Südostasien Docs Revier. Aus taktischen Gründen war er durchaus willens, sich mit Sams kleinem Geheimnis Zeit zu lassen; und strategisch war der Inhalt von Sams Geschichte bereits von brennendem Interesse. Also wurde Guillam ausgeschickt, die beiden anzuschleppen, während Smiley eine Pause einlegte und Sam und er ein wenig die Beine ausstreckten. »Wie geht's Geschäft?« fragte Sam höflich. »Ein bißchen schleppend«, gab Smiley zu. »Vermissen Sie es?«
»Das ist Karla, wie?« fragte Sam und studierte das Foto. Smileys Tonfall wurde sofort steif und ausweichend. »Wer? Ah ja, ja, gewiß. Leider nicht sehr ähnlich, aber das Beste, das wir haben.«
Sie hätten ein frühes Aquarell bewundern können.
»Sie haben irgend etwas persönlich gegen ihn, wie?« sagte Sam grübelnd.
In diesem Moment kamen Connie, di Salis und Guillam im Gänsemarsch herein, Guillam an der Spitze, und der kleine Fawn hielt gänzlich überflüssigerweise die Tür auf.
Das Rätsel wurde vorübergehend ausgespart und die Sitzung glich einem Kriegsrat: die Jagd war eröffnet. Zuerst rekapitulierte Smiley, was Sam berichtet hatte, wobei er en passant einflocht, sie hätten sich vorgestellt, es existierten keine Akten - eine verschleierte Warnung an die Neuankömmlinge. Dann nahm Sam seinen Bericht dort auf, wo er stehengeblieben war: bei den Kanten, den auffälligen Kleinigkeiten; obwohl es, wie er betonte, wirklich nicht mehr viel zu sagen gab. Die Fährte führte bis zu Indocharter, Vientiane S. A. und brach dort ab.
»Indocharter war eine chinesische Überseegesellschaft«, sagte Sam mit einem flüchtigen Blick auf di Salis. »Vorwiegend swatonesisch.«
Bei dem Wort »swatonesisch« stieß di Salis einen Laut aus, halb Lachen, halb Klage: »Oh, die sind die Allerschlimmsten«, erklärte er: sollte heißen, am schwierigsten zu knacken. »Es war eine chinesische Überseefirma«, wiederholte Sam für die übrige Gesellschaft, »und die Klapsmühlen von Südostasien sind randvoll mit ehrlichen Außenagenten, die versucht haben, den weiteren Lebenslauf heißer Gelder aufzudröseln, nachdem sie einmal im Rachen der Übersee-Chinesen gelandet waren.« Ganz besonders, fügte er hinzu, im Rachen der Swatonesen oder der Chiu Chow, die ein Volk für sich seien und das Reis-Monopol in Thailand, Laos und noch verschiedenen anderen Orten innehatten. Für diese Sippschaft, sagte Sam, sei Indocharter, Vientiane S. A. klassisch gewesen. Seine Tarnung als Kaufmann hatte ihm anscheinend erlaubt, der Sache weiter nachzugehen. »Erstens war die societe anonyme in Paris eingetragen«, sagte er. »Zweitens gehörte die societe nach zuverlässiger Information einer ebenso diskreten wie vielseitigen schanghainesischen Übersee-Handelsgesellschaft mit Sitz in Manila, die ihrerseits im Besitz einer Chiu-Chow-Gesellschaft, eingetragen in Bangkok, war, welche hinwiederum ihre Gewinne an ein total undurchsichtiges Unternehmen in Hongkong abführte, das sich China Airsea nannte und an der dortigen Aktienbörse notiert war; ihm gehörte alles mögliche, von ganzen Dschunken-Flotten über Zementfabriken und Rennpferden bis zu Restaurants. Nach Hongkonger Maßstäben war China Airsea ein hochseriöses Handelshaus, alteingesessen und sehr angesehen«, sagte Sam, »und die einzige Verbindung zwischen Indocharter und China Airsea bestand vermutlich darin, daß irgend jemandes fünftältester Bruder eine Tante hatte, die mit einem der Aktionäre zur Schule gegangen war und ihm eine Gefälligkeit schuldete.«
di Salis nickte flüchtig Zustimmung, verschränkte die ungeschickten Hände, schlang sie mühsam über ein angewinkeltes Knie, und zog es bis zum Kinn hoch.
Smiley hatte die Augen geschlossen und schien entschlummert zu sein. Aber in Wirklichkeit hörte er genau, was er zu hören erwartet hatte: als die Rede auf das Personal der Firma Indocharter kam, umging Sam Collins leichtfüßig eine bestimmte Person. »Aber ich glaube, Sie erwähnten auch zwei Nicht-Chinesen in der Firma, Sam«, erinnerte Smiley ihn. »Eine törichte Blondine, sagten Sie, und ein Pilot: Ricardo.« Sam wischte den Einwand lässig vom Tisch.
»Ricardo war verrückt wie ein Märzhase« sagte er. »Die Chinesen hätten ihm nicht einmal die Portokasse anvertraut. Die wirkliche Arbeit wurde im Hinterzimmer erledigt. Wenn Bargeld hereinkam, dann ging es dorthin und dann verschwand es dort. Ob Russengeld, Opiumgeld oder sonstwas.«
Di Salis riß sich ungestüm an einem Ohrläppchen und pflichtete prompt bei: »Um nach Gutdünken in Vancouver, Amsterdam oder Hongkong wieder aufzutauchen, wo immer es jemand in seinen sehr chinesischen Kram paßte«, erklärte er und wand sich vor Vergnügen über seine eigene Bemerkung. Sam hat sich auch diesmal wieder vom Haken losgemacht, dachte Smiley. »Nun gut«, sagte er. »Und wie ging es danach weiter, Sam, nach Ihrer autorisierten Lesart?«
»London hat die Sache abgeblasen.«
An der Totenstille mußte Sam blitzschnell erkannt haben, daß er an einen wichtigen Nerv gerührt hatte. Was sich allerdings nur aus gewissen Anzeichen entnehmen ließ: er blickte weder in die Runde, um ihre Gesichter zu sehen, noch ließ er irgendeine Neugier erkennen. Statt dessen betrachtete er in einer Art theatralischer Bescheidenheit angelegentlich seine glänzenden Abendschuhe und die eleganten Seidensocken, und zog nachdenklich an seiner braunen Zigarette. »Und wann ist das passiert, Sam?« Sam nannte das Datum.
»Gehen Sie ein Stück zurück. Immer noch, als gäbe es keine Akten, ja? Wieviel wußte London von Ihren Nachforschungen, während Sie am Ball waren? Sagen Sie uns das. Schickten Sie tägliche Lageberichte? Schickte Mac welche?« Hätten die Mütter nebenan eine Bombe losgelassen, sagte Guillam später, keiner von ihnen hätte den Blick von Sam gewendet. Nun, sagte Sam unbefangen, als ginge er zum Spaß auf Smileys Grillen ein, er sei ein alter Hase. Sein Grundsatz bei der Außenarbeit sei immer gewesen: erst handeln, dann fragen. Auch Mac habe es so gemacht. Wer den umgekehrten Weg einschlage, der sei bald so weit, daß London ihn nicht mehr über die Straße gehen lasse, ohne ihm zuerst die Windeln zu wechseln, sagte Sam. »Also?« sagte Smiley geduldig.
Also war die erste Mitteilung, die sie über die Sache nach London machten, sozusagen auch ihre letzte. Mac bestätigte die Anfrage, berichtete über die Hauptpunkte von Sams Entdeckungen und bat London um weitere Instruktionen.
»Und London? Was hat London getan, Sam?«
»Hat an Mac einen eilig-dringend-wichtigen Aufschrei gejagt, daß wir beide von der Sache abgezogen seien und er umgehend die Bestätigung zurückkabeln solle, ich hätte den Befehl verstanden und befolgt. Sicherheitshalber knallten sie uns noch eins auf den Deckel: wir sollten nie wieder solo fliegen.«
Guillam malte auf das vor ihm liegende Blatt Papier eine Blume, dann Blütenblätter, dann Regen, der auf die Blume fiel. Connie strahlte Sam an, als wäre es sein Hochzeitstag, und in ihren Babyaugen standen Tränen der Erregung, di Salis ruckte und zuckte seiner Gewohnheit gemäß wie ein alter Motor, aber sein Blick war, wenn überhaupt irgendwohin, auf Sam gerichtet.
»Sie müssen ziemlich wütend gewesen sein«, sagte Smiley schließlich.
»Eigentlich nicht.«
»Wollten Sie die Sache denn nicht zu Ende führen? Sie hatten schließlich einen großartigen Treffer gemacht.«
»Geärgert hat es mich schon, klar.«
»Aber Sie hielten sich an die Anweisungen aus London?«
»Ich bin Soldat, George. Wir stehen alle im Feld.«
»Sehr lobenswert«, sagte Smiley und betrachtete wieder Sam, der sich so nett und charmant im Smoking rekelte.
»Befehl ist Befehl«, sagte Sam lächelnd.
»Jawohl. Und als Sie dann schließlich nach London zurückkamen«, fuhr Smiley beherrscht und zwanglos fort, »und ihre >Willkommen-zuhause-gut-gemacht<-Sitzung mit Bill hatten, ob Sie da wohl, so ganz nebenbei, zufällig die Sache Bill gegenüber erwähnten?«
»Hab' ihn gefragt, was zum Teufel er sich dabei gedacht hat«, gab Sam ebenso lässig zurück.
»Und was hatte Bill darauf zu antworten, Sam?«
»Hat's auf die Vettern geschoben. Sagte, sie hätten es schon vor uns im Programm gehabt. Sagte, es sei ihr Fall und ihr Sprengel.«
»Hatten Sie irgendeinen Grund, ihm das zu glauben?«
»Klar. Ricardo.«
»Sie nahmen an, er gehörte den Vettern?«
»Er ist für sie geflogen. Stand schon in ihren Büchern. Genau der Richtige. Sie mußten nur dafür sorgen, daß er bei der Stange blieb.«
»Ich dachte, wir wären uns einig, daß ein Mann wie Ricardo keinen Zugang zu den wirklichen Geschäften der Gesellschaft haben würde.«
»Hätte sie nicht abgehalten, ihn zu benutzen. Nicht die Vettern. Würde immer noch ihr Fall sein, auch wenn Ricardo eine Null wäre. Das Hände-Weg-Abkommen würde unter allen Umständen gelten.«
»Gehen wir nochmals zurück bis dorthin, als London Sie von der Sache abzog. Sie erhielten den Befehl >alles einstellen. Sie gehorchten. Aber es dauerte doch noch eine ganze Weile, ehe Sie nach London zurückkehrten, nicht wahr? Hat's noch irgendeine Nachlese gegeben?«
»Kann Ihnen nicht ganz folgen, alter Junge.«
Wiederum machte Smiley sich im stillen eine gewissenhafte Notiz über Sams Ausweichen.
»Zum Beispiel Ihr freundschaftlicher Kontakt zur Banque del Indochine. Johnny. Sie hielten die Beziehung zu ihm aufrecht, versteht sich.«
»Klar«, sagte Sam.
»Und erwähnte Johnny Ihnen gegenüber zufällig, rein als geschichtliche Tatsache, was aus der Goldader wurde, nachdem Sie Ihr Hände-Weg-Telegramm erhielten? Floß sie auch weiterhin Monat für Monat, so wie vorher?«
»Knall auf Fall aufgehört. Paris hat den Hahn zugedreht. Kein Indocharter, kein gar nichts.«
»Und Handels-Boris, der Mann ohne Vorstrafen? Lebt er noch heute bis an sein seliges Ende?«
»Ging nach Hause.«
»War er dran?«
»Hat drei Jahre voll gehabt.«
»Im allgemeinen machen sie mehr.«
»Besonders die Geheimen«, pflichtete Sam grinsend bei.
»Und Ricardo, der verrückte mexikanische Flieger, den Sie als Agenten der Vettern verdächtigen: was ist aus ihm geworden?«
»Tot«, sagte Sam und ließ Smiley nicht aus den Augen, »Abgestürzt droben an der Grenze von Thailand. Die Jungens schoben es auf eine Überdosis Heroin.«
Unter Druck förderte Sam auch dieses Datum zutage.
»Herrschte große Trauer darüber in der Gemeinde, sozusagen?«
»Nicht viel. Allgemein schien man der Ansicht zu sein, Vientiane würde sicherer sein ohne Ricardo, der gern seine Pistole in den Plafond des White Rose oder bei Madame Lulu abfeuerte.«
»Wo wurde dieser Ansicht Ausdruck verliehen, Sam?«
»Oh, Bei Maurice.«
»Maurice?«
»Hotel Constellation. Maurice ist der Besitzer.«
»Aha. Danke.«
Hier klaffte entschieden eine Lücke, aber Smiley zeigte keine Neigung, sie auszufüllen. Während Sam und seine drei Assistenten und Fawn das Faktotum ihn beobachteten, rückte Smiley an seiner Brille, kippte sie nach vorn, setzte sie wieder zurecht und legte die Hände auf die gläserne Schreibplatte zurück. Dann ließ er Sam die ganze Geschichte noch einmal herbeten, verglich Daten und Namen und Orte sehr eingehend, wie das alle gelernten Vernehmer in der ganzen Welt tun, lauschte aus alter Gewohnheit auf die winzigen Abweichungen und die zufälligen Widersprüche und die Auslassungen und die Akzentverschiebungen, und schien keine zu finden. Und Sam ließ es geschehen, wiegte sich in falscher Sicherheit und zeigte das gleiche ausdruckslose Lächeln, mit dem er Spielkarten über die Tuchbespannung gleiten sah oder das Rouletterad beobachtete, wie es die weiße Kugel von einer Vertiefung in die andere hüpfen ließ.
»Sam, ob Sie es wohl einrichten könnten, die Nacht über bei uns zu bleiben?« sagte Smiley, als die beiden wieder allein waren. »Fawn wird Ihnen ein Bett zurechtmachen und so weiter. Glauben Sie, daß Sie es mit Ihrem Club hinkriegen?«
»Mein lieber Freund«, sagte Sam großmütig. Dann tat Smiley etwas ausgesprochen Beunruhigendes. Nachdem er Sam einen Packen Zeitschriften gegeben hatte, telefonierte er nach Sams Personalakte, sämtliche Bände, und während Sam vor ihm saß, las er sie schweigend durch, einen Band nach dem anderen.
»Wie ich sehe, sind Sie ein Damenfreund«, bemerkte er schließlich, als vor den Fenstern die Dämmerung herabsank. »Dann und wann«, gab Sam zu und lächelte noch immer. »Dann und wann.« Aber seiner Stimme war die Nervosität deutlich anzuhören.
Als es Abend wurde, schickte Smiley die Mütter nach Hause und ließ durch die Housekeepers Befehl ergehen, daß bis spätestens acht Uhr die Archive von allen Wühlmäusen geräumt sein müßten. Er gab keine Gründe an. Er ließ sie denken, was sie wollten. Sam sollte sich in der Rumpelkammer hinlegen, um jederzeit zur Hand zu sein, und Fawn sollte ihm Gesellschaft leisten und ihn nicht herumgeistern lassen. Fawn führte diesen Befehl buchstäblich aus. Selbst als die Stunden sich hinzogen und Sam zu dösen schien, blieb Fawn zusammengekauert wie eine Katze auf der Türschwelle hocken, aber die Augen hielt er offen. Dann verschanzten sich die vier in der Registratur - Connie, di Salis, Smiley und Guillam - und machten sich auf die lange, vorsichtige Schnitzeljagd. Zuerst suchten sie nach den Unterlagen zu dem betreffenden Einsatz, die von Rechts wegen bei Südostasien abgelegt sein sollten, unter den von Sam angegebenen Daten. In der Kartei fand sich keine Karte, und es fanden sich auch keine Einsatzpapiere, aber das mußte noch nichts zu bedeuten haben. In Haydons London Station waren operative Akten häufig abgefangen und seinem eigenen Geheimarchiv einverleibt worden. Also tappten sie durch das Souterrain, wo ihre Tritte auf den braunen Linoleumfliesen klapperten, bis sie zu einem vergitterten Alkoven kamen, einer Art Seitenkapelle, in der die Überreste des einstigen Archivs von London Station zur Ruhe gebettet waren. Wieder fanden sie keine Karteikarte und keine Papiere. »Sehen wir bei den Telegrammen nach«, befahl Smiley, also gingen sie die Telegrammbücher durch, Eingang und Ausgang, und für einen Augenblick war zumindest Guillam drauf und dran, Sam der Lüge zu verdächtigen, bis Connie sie darauf aufmerksam machte, daß die entscheidenden Seiten auf einer anderen Schreibmaschine getippt worden waren: einer Maschine, die, wie sich später herausstellte, erst sechs Monate nach dem Datum auf der Seite angeschafft worden war. »Die Laufzettel«, befahl Smiley.
Die Laufzettel des Circus waren zweifache Kopien der Ausleihlisten, die von der Registratur ausgegeben wurden, wenn Einsatzunterlagen in ständiger Bewegung zu sein drohten. Sie wurden in Lose-Blatt-Heftern verwahrt wie alte Zeitschriften, und alle sechs Wochen wurde eine Kartei anglegt. Nach langem Graben wurde Connie mit Hilfe des Südostasienbandes fündig, der die sechs Wochenperioden unmittelbar nach Collins' Suchanforderung enthielt. Es fand sich darin kein Hinweis auf eine vermutete sowjetische Goldader, und auch keiner auf Indocharter, Vientiane, S. A.
»Probieren Sie's mit den PAs«, sagte Smiley unter Benutzung der ansonsten von ihm verabscheuten Abkürzung. Also zogen sie in eine andere Ecke der Registratur und arbeiteten sich durch Schubkästen voller Karteikarten. Zuerst suchten sie nach persönlichen Unterlagen über Handels-Boris, dann über Ricardo, dann unter angenommenen Namen für Tiny, mutmaßlich tot, die Sam anscheinend in seinem ursprünglichen, vom Unglück verfolgten Bericht an London Station erwähnt hatte. In Abständen wurde Guillam nach oben geschickt, um Sam eine Kleinigkeit zu fragen, fand ihn bei der Lektüre von Field und an einem großen Glas Whisky nippen, unerbittlich bewacht von Fawn, der zur Abwechslung - wie Guillam später erfuhr - gelegentlich Liegestütze machte, zuerst auf zwei Knöcheln einer jeden Hand, dann auf den Fingerspitzen. Für Ricardo entwickelten sie phonetische Varianten und suchten im Personenregister auch nach ihnen. »Wo sind die Organisationen abgelegt?« fragte Smiley. Aber von der als Indocharter, Vientiane, bekannten societe anonyme fand sich auch in der Kartei der Organisationen nichts. »Sehen Sie das Material der Verbindungsstelle nach.« Verhandlungen mit den Vettern wurden zu Haydons Zeit ausschließlich über das Sekretariat der Londoner Verbindungsstelle abgewickelt, über das er aus naheliegenden Gründen persönliche Befehlsgewalt hatte und das von der gesamten Korrespondenz zwischen den beiden Büros seine eigenen Kopien verwahrte. Sie kehrten wieder in die Seitenkapelle zurück und zogen abermals eine Niete. Für Peter Guillam nahm die Nacht unwirkliche Dimensionen an. Smiley war fast völlig verstummt. Das volle Gesicht wurde zu Stein. Connie hatte in der Erregung ihre arthritischen Schmerzen und Beschwerden vergessen und hüpfte herum wie ein Teenager beim Ball. Guillam, der alles andere als ein geborener Papiermensch war, mühte sich hinter ihr her, tat, als hielte er mit der Meute Schritt und war insgeheim dankbar für seine Ausflüge hinauf zu Sam. »Wir haben ihn, George, darling«, sagte Connie immer wieder flüsternd. »Klar wie Kloßbrühe, daß wir die verdammte Kröte hierhaben.«
Doc di Salis war abgetänzelt, um die chinesischen Direktoren von Indocharter herauszusuchen - Sam hatte erstaunlicherweise noch immer zwei Namen im Kopf - und schlug sich zunächst mit der chinesischen Form der Namen herum, dann mit der Umschrift in lateinischen Buchstaben und schließlich im chinesischen Handelscode. Smiley saß auf einem Stuhl und las die Akten, die er auf den Knie liegen hatte wie ein Mann in der Eisenbahn, der die übrigen Fahrgäste beharrlich ignoriert. Von Zeit zu Zeit hob er den Kopf, aber die Töne, die er vernahm, kamen nicht aus diesem Raum. Connie hatte sich aus eigenem Antrieb in die Suche nach Querverbindungen zu Akten gestürzt, mit denen die Einsatzpapiere theoretisch in Bezug stehen sollten. Es fanden sich persönliche Unterlagen über Söldner und über freiberufliche Piloten. Es fanden sich Verfahrensunterlagen über die Techniken der Zentrale für das Durchschleusen von Agentenentlohnungen und sogar eine von ihr selbst vor Jahren verfaßte Abhandlung über das Thema: Anonyme Zahlmeister für Karlas illegale Netze, die ohne Wissen der regulären Residenten betrieben werden. Handels-Boris' unaussprechliche Familiennamen waren dem Anhang nicht beigefügt. Es fanden sich Background-Unterlagen über die Banque de l'Indochine und ihre Verbindungen zur Moskauer Narodny Bank und Statistiken über die wachsenden Aktivitäten Moskaus in Südostasien und Arbeitspapiere über die Residentur in Vientiane. Aber die Fehlanzeigen wurden nur immer mehr, und je mehr sie wurden, desto mehr bestätigten sie die positive Annahme. Nirgendwo waren sie bei ihrer Jagd nach Haydon auf eine so systematische und umfassende Verwischung aller Spuren gestoßen. Es war die Rückpeilung aller Zeiten. Und die Fährte wies unleugbar nach Fernost. In dieser Nacht fand sich nur ein einziger Hinweis auf den Schuldigen. Sie entdeckten ihn irgendwann zwischen Dämmerung und Tag, während Guillam im Stehen schlief. Connie hatte den Fingerzeig ausgegraben, Smiley legte ihn schweigend auf den Tisch, und zu dreien beäugten sie ihn unter der Leselampe, als wäre er der Schlüssel zu einem vergrabenen Schatz: ein Packen Anweisungen zur Vernichtung von Dokumenten, insgesamt ein Dutzend, abgezeichnet mit einem in schwarzem Filzstift hingekritzelten Codesigel quer durch die Mitte, fast wie eine hübsche Kohlezeichnung. Die todgeweihten Dokumente bezogen sich auf: »streng geheime Korrespondenz mit H/Annex« - was heißen sollte mit dem Londoner Chef der Vettern, damals wie heute Smileys Bruder in Christo, Martello. Der Grund für die Vernichtung war der gleiche, den Haydon Sam Collins für das Einstellen der Nachforschungen in Vientiane genannt hatte: »Gefahr, schwierige amerikanische Operation zu stören.« Unterzeichnet war das Papier, das die Dokumente zum Feuertod verurteilte, mit Haydons Codenamen.
Smiley begab sich wieder nach oben und bat Sam nochmals in sein Büro. Sam hatte die Smokingschleife abgenommen, und die Stoppeln um sein Kinn und das offene weiße Hemd machten ihn bedeutend weniger elegant.
Als erstes schickte Smiley Fawn um Kaffee. Er wartete, bis der Kaffee kam und bis Fawn wieder hinausgeflitzt war, ehe er zwei Tassen eingoß, beide schwarz, Zucker für Sam, Süßstoff für Smiley wegen seiner Figurprobleme. Dann ließ er sich in einem weichen Polstersessel neben Sam nieder, nicht hinter dem Schreibtisch, um mit Sam auf gleicher Ebene zu verhandeln. »Sam, ich glaube, ich sollte noch einiges über das Mädchen erfahren«, sagte er sanft, als überbrächte er eine schlechte Nachricht. »Haben Sie sie aus Ritterlichkeit aus dem Spiel gelassen?«
Sam wirkte recht belustigt: »Die Unterlagen verloren, was, alter Junge?« erkundigte er sich mit der gleichen augenzwinkernden Vertraulichkeit.
Manchmal muß man, um ein Geheimnis zu erfahren, ein eigenes preisgeben.
»Bill hat sie verloren«, erwiderte Smiley freundlich. Sam verfiel demonstrativ in tiefes Sinnen. Er rollte eine seiner Kartenspielerhände ein und inspizierte die Fingerspitzen; beklagte deren unsauberen Zustand.
»Mein Club da läuft heutzutage praktisch von alleine«, grübelte er. »Langweilt mich allmählich, offen gesagt. Geld, Geld. Zeit, daß ich mich verändere, etwas aus mir mache.«
Smiley verstand, aber er mußte fest bleiben.
»Ich habe keine Mittel, Sam. Ich kann kaum die Münder füttern, die ich bis jetzt engagiert habe.«
Sam schlürfte gedankenvoll seinen schwarzen Kaffee und lächelte durch den Dampf.
»Wer ist sie, Sam? Was hat's damit auf sich. Niemand wird sich darüber aufregen, und wenn's noch so schlimm ist. Vergessen und vergeben.«
Sam stand auf, schob die Hände in die Taschen, schüttelte den Kopf und fing an, ähnlich wie Jerry Westerby es gemacht hätte, im Zimmer umherzuwandern und die deprimierenden Relikte zu betrachten, die an den Wänden herumhingen: Gruppenfotos von Oxfordleuten in Uniform, aus der Kriegszeit; ein gerahmter handgeschriebener Brief eines toten Premierministers und wiederum Karlas Porträt, das er ganz in der Nähe studierte, lange Zeit hindurch.
»> Wirf niemals deine Chips weg<«, bemerkte er so dicht vor Karla, daß sein Atem das Glas beschlug. »Das hat meine alte Mutter mir ständig eingetrichtert. >Verschleudere niemals deine Trümpfe. Wir bekommen nur sehr wenige im Leben. Mußt sie sparsam herausrücken.< Nicht als ob das Spiel nicht rollte, wie?« erkundigte er sich. Mit dem Ärmel wischte er das Glas ab. »In Ihrem Haus hier herrscht ein gesunder Appetit. Hab' ich sofort gespürt, als ich reinkam. Der große Tisch, sagte ich mir. Fällt für Klein Sammy auch was ab.«
Er war wieder bei Smileys Schreibtisch angelangt und setzte sich auf den Stuhl, als wolle er ausprobieren, ob er bequem sei. Der Stuhl war nicht nur drehbar, er schaukelte auch. Sam probierte beide Bewegungen aus. »Ich brauche eine Suchanforderung«, sagte er.
»In Ordnung«, sagte Smiley und beobachtete Sam, während er die Schublade aufzog, ein gelbes Formular herauszog und es auf die gläserne Schreibplatte legte.
Ein paar Minuten lang war Sam wortlos mit dem Ausfüllen beschäftigt, hielt, von Zeit zu Zeit zwecks künstlerischer Überlegung inne und schrieb wieder weiter.
»Rufen Sie mich an, wenn sie auftaucht«, sagte er, winkte Karla scherzhaft zu und empfahl sich.
Als er fort war, nahm Smiley das Formblatt vom Schreibtisch, ließ Guillam kommen und händigte es ihm wortlos aus. Auf der Treppe machte Guillam halt, um den Text zu lesen. »Worthington Elizabeth alias Lizzie, alias Ricardo Lizzie.« Das war die erste Zeile. Dann die Einzelheiten: »Alter etwa siebenundzwanzig. Staatsangehörigkeit britisch. Familienstand verheiratet, Näheres über den Ehemann nicht bekannt, Mädchenname gleichfalls nicht bekannt. 1972/73 Ehe nach dem Common Law mit Ricardo Tiny, inzwischen verstorben. Letzter bekannter Wohnort Vientiane, Laos. Letzte bekannte Beschäftigung: Empfangssekretärin bei Indocharter, Vientiane S. A. Frühere Beschäftigungen: Nachtclub-Hostess, Whiskyvertreterin, Edelnutte.« Zur Ausübung ihrer wie immer glanzlosen Rolle benötigte die Registratur in jenen Tagen ungefähr drei Minuten, um zu bedauern: »Keine Hinweise wiederholen keine Hinweise auf Zielperson.« Darüber hinaus griff die Bienenkönigin den Ausdruck »edel« auf. Sie bestand darauf, »bessere« sei die korrekte Bezeichnung für eine solche Nutte.
Seltsamerweise ließ Smiley sich durch Sams Widerspenstigkeit nicht stören. Er schien sie klaglos als wesentlichen Bestandteil des Metiers hinzunehmen. Hingegen forderte er Kopien aller Quellenberichte an, die Sam während der letzten rund zehn Jahre aus Vientiane oder anderswo beigebracht hatte und die Haydons geschicktem Messer entgangen waren. Und dann begann er sie in seinen Mußestunden, soweit vorhanden, durchzuackern und gestattete seiner rastlosen Phantasie, sich Bilder von Sams privater trüber Welt zu machen.
In diesem Stadium, als die ganze Sache in der Schwebe hing, bewies Smiley höchst lobenswertes Taktgefühl, wie später alle zugaben. Ein geringerer Mann wäre vielleicht zu den Vettern hinübergestürmt und hätte als eine Sache von höchster Dringlichkeit verlangt, daß Martello die amerikanische Seite des vernichteten Schriftwechsels heraussuche und ihm Einblick gewähre, aber Smiley wollte nichts aufrühren, nichts andeuten. Also wählte er statt dessen seinen bescheidensten Boten. Molly Meakin war eine artige hübsche junge Dame mit Hochschulexamen, vielleicht ein bißchen blaustrümpfig, ein bißchen vergeistigt, aber sie hatte sich bereits einen bescheidenen Namen als fähige Kraft gemacht und war dem Circus von Vaters- und Brudersseite seit langem verbunden. Zur Zeit des Sündenfalls war sie noch auf Probe angestellt und verdiente sich ihre Sporen in der Registratur. Danach wurde sie dem Stammpersonal einverleibt und bekam eine Beförderung, wenn dies das richtige Wort ist, in die »Fleischbeschau«, von wannen, wie die Sage behauptet, noch niemals ein Mann, geschweige eine Frau, lebend wiedergekehrt war. Aber Molly hatte - vielleicht durch Vererbung - das, was man beim Bau als natürliches Auge bezeichnet. Während ihre Umgebung noch darüber palaverte, wo genau jeder gewesen sei und was jede getragen habe, als die Nachricht von Haydons Festnahme bei ihnen eintraf, baute Molly in aller Stille einen unauffälligen und inoffiziellen Kanal zu ihrer Partnerstelle im Annex am Grosvenor Square, der sich an den von den Vettern seit dem Sündenfall eingeführten Dienstwegen vorbeischlängelte. Ihr wichtigster Verbündeter war die Routine. Mollys Besuchstag war Freitag. Jeden Freitag trank sie Kaffee mit Ed, der den Computer bediente; sie sprach über Musik mit Marge, die Ed ablöste, und manchmal blieb sie auf ein Tänzchen oder eine Partie Shuffleboard oder Kegeln im Twilight Club im Souterrain des Annex. Freitag war auch der Tag, an dem sie so ganz nebenbei ihre kleine Einkaufsliste von Suchanforderungen mitnahm. Auch wenn nichts anstand, so erfand Molly vorsorglich irgend etwas, um den Kanal offen zu halten. An diesem speziellen Freitag nahm Molly Meakin auf Smileys Geheiß den Namen Tiny Ricardo in ihre Liste auf. »Aber ich will nicht, daß er irgendwie auffällt, Molly«, sagte Smiley besorgt.
»Natürlich nicht«, sagte Molly.
Als Rauch, wie Molly es nannte, wählte sie ein Dutzend weitere Rs, und als sie zu Ricardo kam, schrieb sie auf »Richards, siehe auch Rickard, siehe auch Ricardo, Beruf Lehrer, siehe auch Fluglehrer«, so daß der echte Ricardo nur als eine mögliche Identifizierung auftauchen würde. Staatsangehörigkeit mexikanisch siehe auch arabisch, fügte sie hinzu: und sie streute als zusätzliche Information hinein, daß er ohnehin bereits tot sein könne.
Es war wieder einmal später Abend, als Molly in den Circus zurückkehrte. Guillam war erschöpft. Vierzig ist ein schwieriges Alter zum Wachbleiben, fand er. Mit zwanzig oder mit sechzig weiß der Körper, woran er ist, aber vierzig ist eine Entwicklungsstufe, in der man schläft, um erwachsen zu werden oder jung zu bleiben. Molly war dreiundzwanzig. Sie ging direkt in Smileys Zimmer, setzte sich artig mit zusammengepreßten Knien hin und packte ihre Tasche aus, genau beobachtet von Connie Sachs und noch genauer von Peter Guillam, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Es tue ihr leid, daß sie so spät komme, sagte sie ernsthaft, aber Ed habe darauf bestanden, sie in eine Wiederaufführung von True Grit mitzunehmen, einem Knüller im Twilight Club, und anschließend habe sie ihn abwimmeln müssen, wollte ihn jedoch nicht kränken, am allerwenigsten heute Abend. Sie reichte Smiley einen Umschlag, und er öffnete ihn und zog eine lange gelbbraune Computerkarte heraus. Hat sie ihn nun abgewimmelt oder nicht?, hätte Guillam gern gewußt. »Wie ist es gelaufen?« war Smileys erste Frage.
»Wie am Schnürchen«, antwortete sie.
»Was für ein seltsames Schriftstück«, rief Smiley zunächst aus. Aber als er weiterlas, wechselte sein Gesichtsausdruck langsam zu einem ungewohnten wölfischen Grinsen. Connie war weniger beherrscht. Als sie die Karte schließlich an Guillam weiterreichte, lachte sie lauthals: »O Bill! O du böser lieber Junge! Wie er alle in die falsche Richtung geschickt hat! O dieser Satan!« Um die Vettern zu beschwichtigen, hatte Haydon seine ursprüngliche Lüge umgekehrt. Im Klartext erzählte das ziemlich lange Computerblatt die folgende berückende Geschichte: Um zu verhindern, daß die Vettern parallel zum Circus Recherchen über die Firma Indocharter anstellten, hatte Bill Haydon in seiner Eigenschaft als Leiter von London Station pro forma ein Hände-Weg-Schreiben an den Annex geschickt, entsprechend der gültigen bilateralen Vereinbarung zwischen den beiden Dienststellen. Darin wurde den Amerikanern zur Kenntnis gebracht, daß Indocharter, Vientiane S. A. zur Zeit von London überprüft werde und daß der Circus einen Agenten am Ort habe. Die Amerikaner erklärten sich einverstanden, alle eventuellen Interessen an der Sache ruhen zu lassen, gegen Beteiligung am eventuellen Resultat. Um der britischen Operation behilflich zu sein, erwähnten die Vettern jedoch, daß ihre Verbindung zu dem Piloten Tiny Ricardo erloschen sei.
Kurzum, ein einmalig schönes Beispiel dafür, wie man ein doppeltes Spiel treibt.
»Danke, Molly«, sagte Smiley höflich, als alle ihrer Bewunderung Ausdruck verliehen hatten. »Vielen Dank.«
»Nichts zu danken«, sagte Molly artig wie ein Kindermädchen. »Und Ricardo ist wirklich tot, Mister Smiley«, fügte sie abschließend hinzu und nannte das gleiche Sterbedatum, das auch Sana Collins angegeben hatte. Damit ließ sie ihre Taschenbügel zuschnappen, zog den Rock über die bewundernswerten Knie und ging anmutig aus dem Zimmer, auch hierbei wieder genau beobachtet von Peter Guillam.
Jetzt herrschte eine andere Gangart, eine völlig andere Stimmung im Circus. Die fieberhafte Suche nach einer Spur, irgendeiner Spur, war vorüber. Sie konnten, anstatt in alle Richtungen zu galoppieren, auf ein Ziel zuschreiten. Die trennenden Schranken zwischen den beiden Familien fielen weitgehend: die Bolschies und die Gelben Gefahren wurden eine einzige Mannschaft unter der vereinten Führung Connies und des Doc, auch wenn jede ihre spezielle Domäne bewahrte. Danach kamen die freudigen Ereignisse für die Wühlmäuse in weiten Abständen, wie Wasserlöcher auf einem langen und staubigen Treck, und manchmal wären sie beinah am Wegrand zusammengebrochen. Connie brauchte nur eine Woche, um den sowjetischen Zahlmeister in Vientiane zu identifizieren, der die Überweisung von Geldern an Indocharter, Vientiane S. A. tätigte - Handels-Boris. Es handelte sich um den ehemaligen Soldaten Zimin, Ex-Absolvent von Karlas privatem Ausbildungslager in der Nähe von Moskau. Unter dem früheren Decknamen Smirnow war dieser Zimin bereits aktenkundig als einstiger Zahlmeister für einen ostdeutschen Apparat in der Schweiz vor sechs Jahren. Davor war er unter dem Namen Kursky in Wien aufgetaucht. Er hatte sich auch als Lauscher und Fallensteller hervorgetan, und man wollte wissen, daß er der gleiche Zimin sei, der in West-Berlin die großartige Liebesfalle für eben jenen französischen Senator aufgestellt habe, der dann später die Hälfte aller Geheimnisse seines Landes an die andere Seite verkauft hatte. Er hatte Vientiane genau einen Monat nach dem Eintreffen von Sams Bericht in London verlassen. Nach diesem kleinen Sieg nahm Connie sich die scheinbar unmögliche Aufgabe vor, herauszufinden, welche Anordnungen Karla oder sein Zahlmeister Zimin getroffen haben mochten, um die stillgelegte Goldader zu ersetzen. Verschiedene Ansätze standen ihr zur Verfügung. Erstens der bekannte Konservativismus riesiger Nachrichtenapparate und deren Festhalten an bewährten Handelswegen. Zweitens die Annahme, daß die Zentrale, da es sich um bedeutende Zahlungen handelte, das alte System baldmöglichst durch ein neues ersetzen müßte. Drittens Karlas Genugtuung sowohl vor dem Sündenfall, als er den Circus manövrierunfähig machte wie auch danach, als der Circus ihm zahnlos und in den letzten Zügen zu Füßen lag. Und schließlich verließ sie sich ganz einfach auf ihre eigene umfassende Kenntnis der Materie. Connies Team suchte zunächst die Unmengen nicht verarbeiteten Rohmaterials zusammen, das in den Jahren ihres Exils absichtlich vernachlässigt herumgelegen hatte, und unternahm gewaltige Streifzüge durch die Unterlagen, sichtete, verglich, fertigte Karten und Diagramme an, verfolgte die individuelle Handschrift bekannter Spezialisten, litt an Migränen, zankte sich, spielte Ping-Pong; und unternahm dann und wann mit nervtötender Behutsamkeit und mit Smileys ausdrücklicher Genehmigung schüchterne Erkundungsvorstöße in die Außenwelt. Eine freundschaftliche Beziehung in der City wurde überredet, einen alten Bekannten aufzusuchen, der sich mit Firmen auf dem Festland von Hongkong auskannte. Ein Devisenhändler in Cheapside gewährte Toby Esterhase, dem scharfäugigen ungarischen Überlebenden des frühen Circus - er war alles, was von der ruhmreichen riesigen Schar von Kurieren und Observanten noch übrig war -, Einsicht in seine Bücher. So ging es weiter, im Schneckentempo: aber wenigstens wußte die Schnecke, wohin sie wollte. Doc di Salis schlug in seiner distanzierten Art den überseeischen Chinapfad ein, arbeitete sich durch die verschlungenen Zusammenhänge zwischen Indocharter, Vientiane S. A. und dessen schwer zu fassenden Abfolgen von Stammfirmen. Seine Gehilfen waren so ungewöhnlich wie er selbst, entweder Sprachstudenten oder ältere reaktivierte Chinaexperten. Mit der Zeit nahmen sie eine einheitliche Blässe an, wie die Insassen des gleichen feuchtkalten Alumnats. Inzwischen schob Smiley sich nicht weniger behutsam voran, womöglich durch noch gewundenere Straßen und durch eine noch größere Anzahl von Türen.
Wieder einmal verschwand er von der Bildfläche. Es war eine Zeit des Wartens, und er nutzte sie, um sich den hundert anderen Dingen zu widmen, die seine dringende Aufmerksamkeit erheischten. Nach seinem kurzen Ausflug ins Teamwork zog er sich in die inneren Regionen seiner einsamen Welt zurück. Whitehall bekam ihn zu sehen, auch noch Bloomsbury und die Vettern, dann aber blieb die Tür zum Thronsaal ganze Tage hindurch verschlossen, und nur der finstere Fawn, das Faktotum, durfte auf seinen Turnschuhen hinein- und heraushuschen, mit Tassen dampfenden Kaffees, Tellern mit Keksen und gelegentlich schriftlichen Memoranden an oder von seinem Herrn. Smiley hatte das Telefon schon immer gehaßt, jetzt nahm er überhaupt keine Gespräche mehr entgegen, es sei denn, sie beträfen nach Guillams Ansicht Dinge von äußerster Wichtigkeit, und das war nicht der Fall. Der einzige Apparat, den Smiley nicht abstellen konnte, war die direkte Verbindung mit Guillams Schreibtisch, aber wenn er in überreizter Verfassung war, ging er so weit, einen Teewärmer darüber zu stülpen, um das Klingeln zu dämpfen. Guillam hatte ein für allemal Anweisung, jedem mitzuteilen, Smiley sei außer Haus oder in einer Besprechung und würde in einer Stunde zurückrufen. Er machte dann eine Notiz, händigte sie Fawn aus, und da nun die Initiative auf seiner Seite war, rief Smiley manchmal tatsächlich zurück. Er konferierte mit Connie, dann und wann mit di Salis, gelegentlich auch mit beiden, aber Guillam wurde nicht benötigt. Die Karla-Akte wurde endgültig von Connies Recherchenabteilung in Smileys Privatsafe überführt, alle sieben Bände. Guillam unterschrieb für sie und brachte sie Smiley, und als Smiley den Blick vom Schreibtisch hob und sie sah, kam die Ruhe des Wiedererkennens über ihn, und er streckte die Hände nach ihnen aus wie nach einem alten Freund. Die Tür schloß sich wieder, und weitere Tage vergingen. »Was gehört?« erkundigte Smiley sich in Abständen bei Guillam. Er meinte: »Hat Connie angerufen?«
Die Residentur in Hongkong wurde etwa um diese Zeit geräumt, und Smiley erfuhr zu spät von den gigantischen Bemühungen der Housekeepers, die High-Haven-Story zu unterdrücken. Er holte sich sofort Craws Dossier und ließ wiederum Connie zu sich rufen. Ein paar Tage später tauchte Craw persönlich zu einem achtundvierzigstündigen Besuch in London auf. Guillam hatte Vorträge von ihm in Sarratt gehört und haßte ihn. Etliche Wochen danach erblickte der berühmte Artikel des Alten endlich das Licht der Welt. Smiley las ihn aufmerksam, gab ihn dann an Guillam weiter und lieferte ausnahmsweise sogar eine Erklärung für sein Vorgehen: Karla würde sehr genau wissen, worauf der Circus aus war, sagte er. Rückpeilungen seien ein altehrwürdiger Zeitvertreib. Indessen würde Karla kein menschliches Wesen sein, wenn er nach einem so großen Fang nicht eine Weile schliefe. »Er soll von allen Seiten zu hören kriegen, wie mausetot wir sind«, erklärte er.
Bald wurde diese Scheintot-Masche auch auf andere Sphären ausgedehnt, und es war eine von Guillams ergötzlicheren Aufgaben, dafür zu sorgen, daß Roddy Martindale reichlich mit Geschichten über die trostlose Lage des Circus eingedeckt wurde.
Und die Wühlmäuse werkelten weiter. Sie nannten es später den Scheinfrieden. Sie hatten die Landkarte, sagte Connie, und sie hatten die Richtungen, aber noch waren löffelweise ganze Berge zu versetzen. Während der Wartezeit führte Guillam Molly Meakin zu ausgedehnten und kostspieligen Dinners aus, die indes erfolglos endeten. Er spielte Squash mit ihr und bewunderte ihr Auge, er schwamm mit ihr und bewunderte ihren Körper, aber jeden engeren Kontakt wehrte sie mit geheimnisvollem, verhaltenem Lächeln ab, drehte den Kopf zur Seite und nach unten, während sie ihn fest an der Leine hielt.
Unter dem ständigen Druck des Müßiggangs nahm Fawn, das Faktotum, seltsame Gewohnheiten an. Wenn Smiley verschwand und ihn zurückließ, schmachtete er buchstäblich nach der Rückkehr seines Herrn. Eines Abends überraschte ihn Guillam in seiner kleinen Höhle und war zutiefst betroffen, ihn zusammengekauert wie einen Fötus vorzufinden; er wand sich ein Taschentuch wie eine Abbindungsschnur um den Daumen, bis es ihm wehtat.
»Um Gottes willen, es ist doch nicht persönlich gemeint, Mensch!« rief Guillam aus. »George braucht Sie ausnahmsweise mal nicht, das ist alles. Nehmen Sie ein paar Tage Urlaub oder so. Dampf ablassen.«
Aber für Fawn war Smiley der Chef, und er blickte jeden scheel an, der ihn George nannte.
Gegen Ende dieser unfruchtbaren Phase erschien ein neues und wunderschönes Spielzeug auf der fünften Etage. Es wurde von zwei bürstenköpfigen Technikern in Koffern angebracht und in dreitägiger Arbeit installiert: ein grünes Telefon, das trotz Smileys Vorurteilen für seinen Schreibtisch bestimmt war und ihn direkt mit dem Annex verband. Es lief über Guillams Büro und war mit allen möglichen rätselhaften grauen Boxen verbunden, die ohne Warnung lossummten. Sein Vorhandensein vergrößerte noch die allgemeine Nervosität: was sollte eine solche Maschine, fragten sie einander, wenn sie ihr nichts einzufüttern hatten? Aber sie hatten etwas.
Plötzlich war die Katze aus dem Sack. Connie sagte nicht, was sie gefunden hatte, aber die Nachricht von ihrer Entdeckung verbreitete sich wie ein Lauffeuer durch das ganze Haus: »Connie hat einen Treffer gemacht! Die Wühlmäuse haben einen Treffer gemacht! Sie haben die neue Goldader gefunden! Sie haben sie von A bis Z aufgespürt!«
Wo aufgespürt? Wo war A? Wo war Z? Connie und di Salis sagten nichts. Einen Tag und eine Nacht hindurch schleppten sie Akten in den Thronsaal und wieder heraus, zweifellos wieder einmal, um Smiley ihre Werke vorzuführen.
Dann verschwand Smiley auf drei Tage, und Guillam erfuhr erst lang danach, daß er, »um alles wasserdicht zu machen«, wie er sagte, Hamburg und Amsterdam aufgesucht und mit bedeutenden Bankiers aus seinem Bekanntenkreis gesprochen hatte. Diese Herren ließen es sich viel Zeit kosten, ihm zu erklären, der Krieg sei vorbei und sie könnten unter keinen Umständen gegen ihren Ehrencodex verstoßen, und am Ende gaben sie ihm die Auskunft, die er so dringend brauchte: obwohl sie nur die letzte Bestätigung alles dessen war, was die Wühlmäuse errechnet hatten. Smiley kehrte zurück, aber Peter Guillam blieb weiterhin ausgeschlossen und wäre womöglich auf unabsehbare Zeit in seiner privaten Vorhölle isoliert geblieben, hätte nicht das Dinner bei den Lacons stattgefunden.
Daß er einbezogen wurde, war reiner Zufall. Desgleichen das Dinner. Smiley hatte Lacon um eine Nachmittagsaudienz in dessen Ministerium gebeten und zur Vorbereitung mehrere Stunden in Gesellschaft Connies und di Salis' zugebracht. Im letzten Moment wurde Lacon von seinen Vorgesetzten im Parlament mit Beschlag belegt und schlug Smiley als Ersatz ein improvisiertes Essen in seiner scheußlichen Burg in Ascot vor. Smiley haßte das Chauffieren, und es gab keinen Dienstwagen. Schließlich bot Guillam an, ihn in seinem zugigen alten Porsche hinzufahren. Er breitete eine Decke über Smiley, die immer in seinem Wagen lag, für den Fall, daß Molly Meakin sich zu einem Picknick bereitfände. Auf der Fahrt versuchte Smiley, Konversation zu machen, was ihn hart ankam, aber er war nervös. Sie kamen bei Regen an, und an der Tür gab es einige Verwirrung darüber, was mit dem unerwarteten Gefolgsmann zu tun sei. Smiley beteuerte, Guillam könne inzwischen freinehmen und um halb elf wiederkommen; die Lacons, daß er bleiben müsse, es sei massenhaft zu essen da. »Wie Sie wünschen«, sagte Guillam zu Smiley. »Oh, natürlich. Nein, ich meine natürlich, wenn es den Lacons recht ist, selbstverständlich«, sagte Smiley mißmutig, und sie gingen hinein.
Es wurde also ein viertes Gedeck aufgelegt und das verbratene Steak in so kleine Stücke geschnitten, daß es wie vertrocknetes Stew aussah; eine Tochter wurde mit einem Pfund per Fahrrad ausgeschickt, um eine zweite Flasche Wein aus der Kneipe an der Landstraße zu holen. Mrs. Lacon war das scheue Reh, blond und errötend, eine Kindbraut, aus der eine Kindmutter geworden war. Der Tisch war zu lang für vier Personen. Sie setzte Smiley und ihren Mann ans eine Ende und Guillam neben sich. Im Anschluß an die Frage, ob er Madrigale liebe, stürzte sie sich in eine endlose Schilderung eines Konzerts an der Privatschule ihrer Tochter. Sie sagte, die Schule werde einfach kaputtgemacht von den reichen Ausländern, die dort aufgenommen würden, bloß damit die Kasse stimmte. Die Hälfte von ihnen könne überhaupt nicht nach europäischer Art singen:
»Ich meine, wer läßt sein Kind gern mit einem Haufen Perserinnen aufwachsen, wo dort jeder sechs Ehefrauen hat?« Guillam ermunterte sie zum Weiterplappern und spitzte die Ohren, um etwas von dem Gespräch am anderen Tischende mitzubekommen. Lacon schien gleichzeitig alle Register zu ziehen:
»Zuerst ein Gesuch an mich«, trompetete er, »machen Sie das sofort und sehr korrekt. In diesem Stadium sollten Sie höchstens einen vorläufigen Überblick geben. Minister haben bekanntermaßen eine Abneigung gegen alles, was nicht auf einer Postkarte Platz hat. Am besten auf einer Ansichtskarte«, sagte er und nahm einen beherzten Schluck von dem gräßlichen Rotwein. Mrs. Lacon, deren Intoleranz etwas von strahlender Unschuld an sich hatte, jammerte nun über die Juden: »Ich meine, sie essen nicht einmal die gleichen Speisen wie wir«, sagte sie. »Penny sagt, sie kriegen zum Lunch besondere Heringsgerichte.«
Guillam verlor wiederum den Faden, bis Lacon warnend die Stimme hob:
»Versuchen Sie, Karla hier rauszuhalten, George. Ich bat Sie bereits darum. Gewöhnen Sie sich an, statt dessen Moskau zu sagen, ja? Die Leute mögen nichts Persönliches - so leidenschaftslos Ihr Haß gegen ihn auch sein mag. Ich auch nicht.«
»Gut, Moskau«, sagte Smiley.
»Nicht daß man etwas gegen sie hätte«, sagte Mrs. Lacon. »Sie sind nur so anders.«
Lacon kam wieder auf einen früheren Punkt zu sprechen: »Wenn Sie sagen, eine große Summe, wie groß ist dann groß?«
»Wir sind noch nicht in der Lage, das anzugeben«, erwiderte Smiley.
»Gut. Um so verlockender. Haben Sie keinen Panik-Faktor?« Smiley konnte dieser Frage sowenig folgen wie Guillam. »Was regt Sie an Ihrer Entdeckung am meisten auf, George? Worum fürchten Sie, hier, in Ihrer Rolle als Wachhund?«
»Um die Sicherheit einer britischen Kronkolonie?« schlug Smiley nach einigem Überlegen vor.
»Sie sprechen über Hongkong«, erklärte Mrs. Lacon Guillam. »Mein Onkel war Staatssekretär. Väterlicherseits«, fügte sie hinzu. »Mamas Brüder haben nie etwas Gescheites getan.« Sie sagte, Hongkong sei nett, aber es rieche. Lacon war jetzt rosig angehaucht und schweifte ein bißchen ab. »Kolonie, mein Gott, hast du das gehört, Val?« rief er über den Tisch, um ihr bei dieser Gelegenheit ein bißchen Bildung zu vermitteln. »Doppelt so reich wie wir, denke ich, und von meiner Warte aus gesehen auch beneidenswert sicherer. Volle zwanzig Jahre muß der Vertrag noch laufen, auch wenn die Chinesen die Pacht hochtreiben. In dieser Preislage sollten sie uns in Frieden aussterben lassen.«
»Oliver glaubt, wir seien verloren«, erklärte Mrs. Lacon Guillam so erregt, als vertraute sie ihm ein Familiengeheimnis an, und warf ihrem Mann ein engelhaftes Lächeln zu. Lacon nahm seinen früheren freundschaftlichen Tonfall wieder auf, aber er sprach sehr sonor, so daß Guillam vermutete, er wolle vor seiner Squaw eine Schau abziehen.
»Sie würden mich außerdem darauf hinweisen, ja? - gewissermaßen als Hintergrund der Ansichtskarte -, daß bedeutendere nachrichtendienstliche Aktivitäten der Sowjets in Hongkong für die Kolonialregierung eine verheerende Erschwernis in ihren Beziehungen zu Peking darstellen würde?«
»Ehe ich so weit gehen würde . . . «
»Von dessen Wohlwollen«, fuhr Lacon fort, »ihr Überleben von Stunde zu Stunde abhängt, stimmt's?«
»Es geht darum, daß allein solche möglichen Weiterungen . . . «, sagte Smiley.
»Oh, Penny, du bist nackt«, rief Mrs. Lacon nachsichtig. Zu Guillams unendlicher Erleichterung sprang sie auf, um eine ungebärdige kleine Tochter zu beruhigen, die unter der Tür erschienen war. Lacon hatte inzwischen zu einer Arie Luft geholt. »Daher beschützen wir Hongkong nicht nur vor den Russen - was schon schwierig genug ist, das garantiere ich Ihnen, aber vielleicht nicht schwierig genug für einige unserer feinsinnigen Minister -, wir beschützen Hongkong auch vor dem Zorn Pekings - der weltweit als schrecklich gilt, stimmt's, Guillam? Indessen«, fuhr Lacon fort, und ging, um dem volte face Nachdruck zu verleihen, so weit, Smileys Arm mit seiner langen Hand festzuhalten, so daß er das Glas absetzen mußte -, »indessen«, warnte er, und seine unberechenbare Stimme fiel und hob sich wieder, »ob unsere Herrn und Meister das alles schlucken werden, ist eine ganz andere Frage.«
»Ich habe nicht vor, sie darum zu bitten, ehe ich nicht Erhärtung unserer Daten erhalten habe«, sagte Smiley scharf. »Ah, aber das können Sie nicht, oder?« protestierte Lacon, der das Rollenfach wechselte. »Sie können nicht über Inlandsuntersuchungen hinausgehen. Sie haben keine Befugnis.«
»Ohne eingehende Prüfung der Information . . . «
»Ah, was wollen Sie damit sagen, George?«
»Daß ein Agent angesetzt werden muß.« Lacon hob die Brauen und wandte den Kopf ab, wodurch er Guillam unwillkürlich an Molly Meakin erinnerte. »Weder die Verfahrensart noch Details sind meine Angelegenheit. Klar ist, daß Sie nichts Unliebsames unternehmen können. Schließlich haben Sie kein Geld und keine Hilfsmittel.« Er goß sich Wein nach und verschüttete kräftig. »Val!« schrie er. »Lappen!«
»Ich habe einiges Geld.«