Sie kannte ein neues japanisches Restaurant, wo es phantastisches Kobe-Beef gab.
»Sagen Sie, woher haben Sie diese Narben?«, fragte er, als sie hinfuhren. Er faßt sich an sein eigenes Kinn. »Die linke und die rechte. Wie ist das passiert?«
»Ach, bei der Hätz auf unschuldige Füchse«, sagte sie mit leisem Lächeln. »Mein lieber Papa war ein Pferdenarr. Ich fürchte, er ist es noch immer.«
»Wo lebt er?«
»Daddy? Ach, das übliche verfallene Schloßgemäuer in Shropshire. Meilen zu groß, aber sie wollen nicht weg. Kein Personal, kein Geld, drei Viertel des Jahres eiskalt. Mama kann nicht mal ein Ei kochen.«
Er hatte sich noch nicht wieder erholt, als ihr eine Bar einfiel, wo man himmlische Curry-Canapes bekam, also fuhren sie herum, bis sie das Lokal gefunden hatten, und sie küßte den Barmann. Es gab keine Musik. Er wußte selbst nicht, wie es zuging, daß er ihr plötzlich von sich und der Waise erzählte. Wie es zur Trennung kam, verschwieg er aus guten Gründen.
»Ah, aber Jerry, darling«, sagte sie lehrhaft: »Mit fünfundzwanzig Jahren Unterschied zwischen Ihnen und ihr, was können Sie da anderes erwarten?«
Und mit neunzehn Jahren und einer chinesischen Ehefrau zwischen dir und Drake Ko, was zum Teufel kannst du erwarten? dachte er beinah ärgerlich.
Sie gingen - nochmals Küßchen für den Barmann -, und Jerry war weder durch ihre Gesellschaft noch von den Cognac-Sodas so berauscht, daß ihm der Telefonanruf entgangen wäre, den sie angeblich tätigte, um eine Verabredung abzusagen, noch die ungewöhnliche Dauer dieses Telefonanrufs noch ihre ziemlich ernste Miene, als sie zurückkam. Als sie wieder im Wagen saßen, erhaschte er ihren Blick und glaubte, darin eine Spur von Mißtrauen zu lesen. »Jerry?«
»Ja?«
Sie schüttelte den Kopf, lachte, strich ihm mit der Hand übers Gesicht, dann küßte sie ihn. »Lustig«, sagte sie. Er nahm an, sie verstehe nicht recht, wieso sie ihn vollständig vergessen haben konnte, wenn sie ihm wirklich damals dieses Faß ungelagerten Whisky verkauft hatte. Er nahm an, sie überlege ferner, ob sie ihm wohl, zusammen mit dem Verkauf des Whisky, weitere Dienstleistung hatte zukommen lassen, von der Art, auf die Craw so unverblümt angespielt hatte. Aber das war ihr Problem, fand er. Von Anfang an gewesen.
Im japanischen Restaurant bekamen sie, dank Lizzies Lächeln und anderer Attribute, den Ecktisch. Sie saß so, daß sie den Raum überblickte, und er saß da und blickte Lizzie an, was recht hübsch war für Jerry, aber Sarratt zum hellen Wahnsinn getrieben hätte. Im Kerzenlicht sah er ihr Gesicht sehr deutlich und nahm zum erstenmal bewußt die Zeichen der Abnutzung wahr: nicht nur die Krallenspuren an ihrem Kinn, sondern auch die Zeugnisse ihrer Reisen und Strapazen, die für Jerry eine bestimmte Qualität besaßen, wie ehrenhafte Narben aus all den Kämpfen gegen ihr Pech und ihren Unverstand. Sie trug ein entzückendes Goldarmband, neu, und eine verbeulte Blechuhr mit einem Walt-Disney-Zifferblatt und verkratzten behandschuhten Zeigern, die auf die Ziffern wiesen. Ihre Anhänglichkeit an die alte Uhr beeindruckte ihn, und er wollte wissen, wer sie ihr geschenkt habe. »Daddy«, sagte sie zerstreut.
Über ihnen, im Plafond, war ein Spiegel eingelassen, und Jerry konnte zwischen den Skalps der Speisenden Lizzies goldenes Haar und den Ansatz ihres Busens sehen und den Goldstaub der Härchen in ihrem Nacken. Als er versucht hatte, sie mit Ricardo zu überrumpeln, war sie argwöhnisch geworden: Jerry hätte merken müssen, was er indessen nicht tat, daß ihre Haltung sich verändert hatte, seit sie diesen Telefonanruf tätigte. »Welche Garantie habe ich, daß mein Name nicht in Ihrem Blatt erscheint?« fragte sie. »Nur mein Versprechen.«
»Aber wenn Ihr Redakteur weiß, daß ich Ricardos Mädchen war, was könnte ihn daran hindern, ihn hineinzusetzen?«
»Ricardo hatte massenhaft Mädchen. Das wissen Sie. Er hatte sie in jeder Machart und Größe, nacheinander und gleichzeitig.«
»Aber mich gab es nur einmal«, sagte sie fest, und er sah sie zur Tür blicken. Aber sie hatte bekanntermaßen die Gewohnheit, wo immer sie auch sein mochte, sich dauernd nach jemandem umzusehen, der nicht anwesend war. Er überließ ihr weiterhin die Initiative.
»Sie sagten, Ihr Blatt habe einen heißen Tip«, sagte sie. »Was ist damit gemeint?«
Die Antwort hierauf hatte er mit Craw zurechtgezimmert, ja, sogar richtiggehend eingeübt. Daher gab er sie nun energisch, wenn nicht sogar überzeugt von sich.
»Ries Absturz ereignete sich vor achtzehn Monaten in den Bergen bei Peilin nahe der Grenze zwischen Thailand und Kambodscha. Niemand fand eine Leiche, niemand fand Wrackteile, und es geht das Gerücht, er habe Opium geflogen. Die Versicherung zahlte nie die Police aus, und Indocharter reichte nie eine Klage ein. Warum nicht? Weil Ricardo einen Exklusiwertrag hatte, für sie zu fliegen. A propos, warum verklagt niemand Indocharter? Zum Beispiel Sie? Sie waren seine Lebensgefährtin. Warum reichten Sie nicht Schadenersatzklage ein?«
»Das ist eine sehr vulgäre Bemerkung«, sagte sie mit ihrer Herzoginnenstimme.
»Außerdem heißt es auch, er sei unlängst in der einen oder anderen Spelunke gesehen worden. Er hat sich einen Bart wachsen lassen, aber das Hinken kann er nicht kaschieren, heißt es, so wenig wie seine löbliche Gepflogenheit, pro Tag einer Flasche Whisky den Hals zu brechen oder, mit Verlaub gesagt, im Umkreis von fünf Meilen oder wo er gerade geht und steht hinter allem herzulaufen, was einen Rock anhat.« Sie rüstete sich zu einer Erwiderung, aber er wollte seinen Spruch bis zum Ende aufsagen.
»Der Chefportier im Hotel Rincome in Chiang Mai identifizierte ihn nach einem Foto, trotz des Barts. Gut, wir Europäer sehen für sie alle gleich aus. Aber er war seiner Sache wirklich ziemlich sicher. Ferner, erst im vergangenen Monat nahm ein fünfzehn Jahre altes Mädchen in Bangkok, Einzelheiten liegen vor, ihr Bündelchen mit zum mexikanischen Konsulat und benannte Ricardo als den glücklichen Vater. Ich persönlich glaube nicht an Achtzehnmonatskinder, und Sie vermutlich auch nicht. Und sehen Sie mich nicht so an, altes Haus. War nicht meine Idee, oder?«
Es war Londons Idee, hätte er hinzufügen können, eine so saubere Mischung aus Fakten und Fiktion, wie sie nur jemals zum Bäumeschütteln verwendet wurde. Aber das Mädchen sah in Wahrheit an ihm vorbei, wieder genau auf die Tür. »Noch etwas, wonach ich Sie fragen möchte, ist dieser faule Zauber mit den Whiskyfässern«, sagte er.
»Es war kein fauler Zauber, Jerry, es war ein absolut korrektes Unternehmen.«
»Altes Haus. Sie waren absolut in Ordnung. Keine Spur von Skandal mit Ihnen verknüpft. Etcetera. Aber wenn Ric ein paar faule Sachen zuviel gemacht haben sollte, so könnte das doch ein Grund sein für das altbewährte Verschwindez-vous oder?«
»Das sähe Ric nicht ähnlich«, sagte sie nach einer Weile, und es klang wenig überzeugt. »Er wollte immer der stadtbekannte große Mann sein. Davonlaufen war nicht seine Art.« Es tat ihm aufrichtig leid, daß er sie so quälen mußte. War genau das Gegenteil dessen, was er sich normalerweise für sie gewünscht hätte. Er beobachtete sie und wußte, daß sie bei jedem Wortgefecht immer der Verlierer war; sie fühlte sich dabei hoffnungslos unterlegen und schickte sich in die Niederlage. »Zum Beispiel«, fuhr Jerry fort - während sie besiegt den Kopf senkte -, »wenn bewiesen würde, daß Ihr Ric, wenn er seine Fässer losschlug, das Geld für sich behielt und, anstatt es an die Brennerei abzuführen - reine Hypothese, nicht der geringste Beweis -, dann, in diesem Fall . . . «
Sie unterbrach ihn: »Als unsere Partnerschaft endete, war jeder Anleger im Besitz eines beglaubigten Vertrags mit Zinsen vom Tag des Kaufs an. Jeder Penny, den wir entnahmen, wurde pünktlich beglichen.«
Bis jetzt war alles nur Anpirschen gewesen. Nun sah er sein Ziel auftauchen, und er hielt stracks darauf zu. »Nicht pünktlich, altes Haus«, berichtigte er, während sie unverwandt in den vollen Teller starrte. »Diese Abrechnungen wurden ein halbes Jahr nach dem Fälligkeitsdatum erstellt. Unpünktlich. Das ist meiner Ansicht nach ein sehr aufschlußreicher Punkt. Frage: wer hat Ric freigekauft? Soviel uns bekannt ist, war so ziemlich alle Welt hinter ihm her. Die Brennerei, die Gläubiger, das Gericht, die Gemeinde. Jeder hatte schon das Messer für ihn gewetzt. Dann, eines schönen Tages: päng! Anklagen zurückgezogen, Schatten der Kerkerstäbe weichen. Wieso? Ric war fix und fertig. Wer ist der rettende Engel? Wer hat seine Schulden aufgekauft?«
Während er redete, hatte sie den Kopf gehoben, und zu seinem Erstaunen erhellte plötzlich ein strahlendes Lächeln ihre Züge, und schon winkte sie über seine Schulter hinweg jemandem zu, den er nicht sehen konnte, bis er in den Deckenspiegel blickte und den Schimmer eines stratoblauen Anzugs sah und einen Kopf voller gutgeölter schwarzer Haare; und zwischen beidem saß ein plattes rundes Chinesengesicht auf mächtigen Schultern, und zwei verschlungene Hände streckten sich im Ringergruß aus, während Lizzie ihn heranflötete:
»Mr. Tiu! Was für ein herrlicher Zufall. Das ist Mr. Tiu. Kommen Sie rüber. Probieren Sie das Beef. Es ist großartig. Mr. Tiu, das ist Jerry von der Fleet Street. Jerry, Mr. Tiu ist ein sehr guter Freund, der ein bißchen hilft, auf mich aufzupassen. Er macht ein Interview mit mir, Mr. Tiu! Mit mir! Wahnsinnig aufregend. Alles über Vientiane und einen armen Flieger, dem ich vor hundert Jahren einmal helfen wollte. Jerry weiß alles über mich. Er ist ein Wunder!«
»Wir kennen uns bereits«, sagte Jerry und grinste breit. »Klar«, sagte Tiu genauso begeistert, und als er das sagte, roch Jerry wiederum die vertraute Duftmischung aus Mandeln und Rosenwasser, die seine einstige Frau so sehr geliebt hatte. »Klar«, wiederholte Tiu. »Sie sind der Pferdeschreiber, okay?«
»Okay«, bestätigte Jerry und strapazierte sein Lächeln fast bis zum Reißen.
Hiermit schlug natürlich Jerrys Weltbild mehrere Purzelbäume, und er hatte nun eine ganze Menge Dinge zu beachten: zum Beispiel mußte er den Eindruck erwecken, über den ausgesprochen glücklichen Zufall von Tius Auftauchen ebenso entzückt zu sein wie alle anderen; Händedrücke tauschen, die einem gegenseitigen Versprechen künftigen Einvernehmens glichen; einen Stuhl heranziehen und Drinks bestellen, Beef, Eßstäbchen und alles übrige. Aber was ihn während aller dieser Verrichtungen wirklich beschäftigte - was in seinem Gedächtnis so ausdauernd haften blieb wie die späteren Ereignisse es irgend erlaubten -, hatte wenig mit Tiu oder dessen eiligem Erscheinen zu tun. Es war Lizzies Gesichtsausdruck, als sie den eintretenden Tiu erblickte, den Bruchteil einer Sekunde, ehe das Zusammenraffen allen Muts ihr das fröhliche Lächeln entrang. Er erklärte ihm besser als irgend etwas anderes die unvereinbaren Widersprüche, aus denen Lizzie zusammengesetzt war: ihre Gefangenenträume, ihre entliehenen Persönlichkeiten, die wie Verkleidungen waren, in denen sie für kurze Zeit ihrem Schicksal entrinnen konnte. Natürlich hatte sie Tiu herbeigerufen: sie hatte keine Wahl. Er wunderte sich, wieso weder der Circus noch er selber das vorhergesehen hatten. Die Ricardo-Story, ob wahr oder nicht, war viel zu heiß, als daß das Mädchen alleine damit fertig werden konnte. Aber der Ausdruck der grauen Augen, als Tiu das Restaurant betrat, zeigte nicht Erleichterung, sondern Resignation: wiedereinmal waren die Türen hinter ihr zugefallen, war der Spaß vorbei. »Wir sind wie diese verdammten Leuchtkäfer«, hatte die Waise ihm einmal zugeflüstert, als sie sich wütend über ihre Kindheit ausließ, »schleppen das verdammte Feuer auf dem Buckel mit.« Operativ gesehen war Tius Erscheinen, wie Jerry sofort erkannte, ein Geschenk des Himmel. Wenn hier Informationen an Kos Adresse gelangen sollten, so war Tiu ein unendlich geeigneterer Kanal dafür, als Lizzie Worthington jemals zu sein erhoffen durfte.
Sie war mit Tiu-Küssen fertig und reichte ihn an Jerry weiter. »Mr. Tiu, Sie sind mein Zeuge«, erklärte sie im Verschwörerton. »Sie müssen sich jedes Wort merken, das ich sage. Jerry, machen Sie einfach weiter, ganz als wäre er gar nicht hier. Ich meine, Mr. Tiu ist verschwiegen wie das Grab, nicht wahr, darling«, sagte sie und küßte ihn abermals. »Es ist so aufregend«, wiederholte sie, und dann machten sie es sich zu einem freundschaftlichen Schwatz gemütlich.
»Also, worauf sind Sie aus, Mr. Wessby?« erkundigte Tiu sich vollendet liebenswürdig, während er in sein Rindfleisch einhieb. »Sie sind Pferdeschreiber, warum hübsche Mädchen nicht in Ruhe lassen, okay?«
»Gute Frage, altes Haus! Gute Frage. Pferde viel sicherer, okay?« Sie lachten alle drei ausgiebig, ohne einander anzusehen. Der Kellner stellte eine halbe Flasche Black Label vor ihm auf den Tisch. Tiu entkorkte sie und schnüffelte kritisch daran, ehe er eingoß.
»Er ist auf Ricardo aus, Mr. Tiu, verstehen Sie das? Er glaubt, Ricardo sei am Leben. Ist das nicht wundervoll? Ich meine, ich empfinde jetzt nicht die Spur mehr für Ric, natürlich nicht, aber es wäre doch nett, ihn wieder bei uns zu haben. Denken Sie nur an die Party, die wir geben könnten!«
»Hat Liese Ihnen das erzählt?« fragte Tiu und goß sich drei Finger hoch Whisky ein. Hat sie ihnen erzählt, es gibt Ricardo noch?«
»Wer, alter Junge, sollnmir's erzählt haben? Hab' den Namen nicht mitgekriegt.«
Tiu deutete mit einem Eßstäbchen auf Lizzie. »Hat sie Ihnen erzählt, er lebt? Dieser Pilot da? Dieser Ricardo? Hat Liese das gesagt?«
»Ich gebe meine Quellen nie preis, Mr. Tiu«, sagte Jerry ebenso liebenswürdig. »Journalistentrick. So sieht's aus, als hätte man selbst was rausgefunden«, erklärte er.
Tiu lachte aufs neue, aber Lizzie lachte noch lauter. Wieder verließ sie die Besonnenheit. Vielleicht kommt es vom Alkohol, dachte Jerry, oder vielleicht hat sie's mit stärkerem Tobak, und der Alkohol hat die Wirkung noch erhöht. Und wenn er mich noch einmal Pferdeschreiber nennt, könnte es sein, daß mir der Gaul durchgeht.
Wiederum Lizzie, Salondame in einem Gesellschaftsstück: »Mr. Tiu, Ricardo war ein Glückspilz. Bedenken Sie nur, was er alles hatte. Indocharter, mich, alle Welt. Ich war da und arbeitete für diese kleine Fluggesellschaft - reizende Chinesen, Bekannte von Daddy -, und Ricardo war, wie alle diese Flieger, als Geschäftsmann hoffnungslos. Geriet in gräßliche Schulden« - eine Handbewegung bezog Jerry in die Szene mit ein -, »mein Gott, er hat sogar versucht, mich in eines von seinen Projekten hineinzuziehen, können Sie sich das vorstellen! Whisky verkaufen, also bitte. Und plötzlich fanden meine reizenden närrischen chinesischen Freunde, daß sie noch einen Charter-Piloten brauchten. Sie beglichen seine Schulden, setzten ihm ein Gehalt aus, gaben ihm eine alte Kiste zu fliegen -«
Nun tat Jerry den ersten von mehreren nicht mehr rückgängig zu machenden Schritten:
»Als Ricardo verscholl, flog er keine alte Kiste. Er flog eine nagelneue Beechcraft«, berichtigte er sie mit voller Überlegung. »Indocharter hatte nie eine Beechcraft im Besitz. Auch heute nicht. Mein Redakteur hat das alles genau nachgeprüft, fragen Sie mich nicht, wie Indocharter hat nie eine Beechcraft gemietet, nie eine gepachtet, nie eine durch Absturz verloren.« Tiu mußte wieder schallend lachen.
Tiu ist ein eiskalter Bischof, Eminenz, hatte Craw gewarnt. Hat Monsignore Kos Diözese in San Francisco fünf Jahre lang mit beispielhafter Tüchtigkeit geleitet, und das Schlimmste, was die Rauchgiftzwerge ihm anhängen konnten, war, daß er an einem Feiertag seinen Rolls-Royce gewaschen hat.
»Heh, Mr. Wessby, vielleicht hat Lizzie eine für sie geklaut!« rief Tiu mit seinem halb amerikanischen Akzent. »Vielleicht ist sie nachts losgezogen und hat Flugzeuge von anderen Gesellschaften geklaut.«
»Mr. Tiu, das ist aber sehr garstig von Ihnen!« schalt Lizzie. »Wie gefällt Ihnen das, Pferdeschreiber? Wie?« Die Heiterkeit an ihrem Tisch hatte jetzt eine für drei Personen so ungewöhnliche Lautstärke erreicht, daß sich mehrere Köpfe neugierig nach ihnen umdrehten. Jerry sah sie in den Spiegeln, wo er schon beinah erwartete, Ko höchstpersönlich zu erblicken, wie er mit seinem krummbeinigen Seemannsgang durch die Bambustür auf sie zugewatschelt kam. Lizzie plapperte unbesonnen weiter.
»Oh, es war ein richtiges Märchen! In einem Augenblick hat Ric kaum noch genug zu essen und schuldete uns allen Geld, Charlies Ersparnisse, mein Nadelgeld von Daddy. Ric hat uns praktisch alle an den Bettelstab gebracht. Natürlich gehörte unser Geld ganz selbstverständlich auch ihm. Und dann, ehe wir's uns versahen, hatte Ric Arbeit, war schuldenfrei, das Leben war wieder ein Fest. Alle die anderen armen Piloten saßen auf Grund, und Ric und Charlie flogen überall herum, wie . . . «
» . . . wie die Fliegenpilze«, schlug Jerry vor, worauf Tiu sich vor Lachen so sehr krümmte, daß er sich an Jerrys Schulter klammern mußte, um nicht unter den Tisch zu fallen - während Jerry das unbehagliche Gefühl hatte, als sollte ihm für das Messer Maß genommen werden.
»Heh, das ist aber gut! Fliegenpilze! Gefällt mir. Lustiger Bursche sind Sie, Pferdeschreiber!«
Genau an dieser Stelle und unter dem Druck von Tius fröhlichen Unverschämtheiten leistete Jerry ausgezeichnete Arbeit. Die beste, sagte Craw später. Er überging Tiu völlig und griff den Namert auf, den Lizzie gerade erwähnt hatte. »Tja, was ist übrigens aus dem guten alten Charlie geworden, Lizzie?« fragte er, obwohl er keine Ahnung hatte, wer Charlie sein mochte. »Was ist aus ihm geworden, nachdem Ric auf offener Bühne verschwand? Sagen Sie bloß nicht, er ist auch mit seinem Schiff untergegangen.«
Wiederum entschwand sie auf einer neuen Woge der Geschwätzigkeit, und Tiu genoß offensichtlich alles, was er hörte, kicherte und nickte und gluckste, während er aß.
Er will den Spielstand feststellen, dachte Jerry. Dieser Gauner ist nicht eigens hierhergekommen, um Lizzie an die Kandare zu legen. Ich mache ihm Sorgen, nicht sie.
»Oh, Charlie ist unverwüstlich, absolut unsterblich«, erklärte Lizzie, und wiederum mußte Tiu herhalten. »Charlie Marshall, Mr. Tiu«, klärte sie ihn auf. »Ach, Sie sollten ihn kennen, ein phantastischer Halbchinese, nur Haut, Knochen und Opium und ein ausgesprochen fabelhafter Pilot. Sein Vater ist ein alter Kuomintang, ein schrecklicher Brigant und lebt droben in den Shan-Staaten. Seine Mutter war eine arme junge Korsin - sie wissen, daß die Korsen scharenweise nach Indochina kamen -, aber er ist wirklich absolut einmalig. Wissen Sie, warum er sich Marshall nennt? Sein Vater wollte ihm nicht seinen eigenen Namen geben. Also was tut unser Charlie? Legt sich statt dessen den höchsten Dienstrang in der Army zu. >Mein Dad ist General, aber ich bin Marschall<, sagte er immer. Ist das nicht drollig? Und weit besser als Admiral, würde ich meinen.«
»Super«, pflichtete Jerry bei. »Großartig. Charlie ist ein toller Bursche.«
»Liese ist selber ziemlich einmalig, Mr. Wessby«, bemerkte Tiu großzügig, und Jerry ließ nicht locker, bis sie darauf tranken - auf Lieses Einmaligkeit.
»Heh, was soll eigentlich immer dieses Liese?« fragte Jerry, als er sein Glas absetzte. »Sie heißen doch Lizzie. Wer ist diese Liese? Mr. Tiu, ich kenne die Dame nicht. Warum weihen Sie mich nicht ein?«
Hier wandte Lizzie sich endgültig hilfesuchend an Tiu, aber Tiu hatte sich etwas aus rohem Fisch bestellt und aß hastig und hingebungsvoll.
»Manche Pferdeschreiber fragen verdammt viel«, äußerte er mampfend.
»Neue Stadt, neues Blatt, neuer Name«, sagte Lizzie endlich mit wenig überzeugendem Lächeln. »Ich wollte Abwechslung, also habe ich mir einen neuen Namen zugelegt. Manche Frauen legen sich eine neue Frisur zu, ich lege mir einen neuen Namen zu.«
»Haben Sie sich auch einen neuen Freund zugelegt?« fragte Jerry. Sie schüttelte mit niedergeschlagenen Augen den Kopf, während Tiu eine Lachsalve losließ.
»Was ist los mit dieser Stadt, Mr. Tiu?« fragte Jerry und suchte instinktiv, sie zu decken, »{find die Burschen hier alle blind geworden oder was? Mein Gott, ich würde Kontinente durchqueren für sie, Sie etwa nicht? Egal, wie sie sich nennt, wie?«
»Ich gehe von Kaulun nach Hongkong, nicht weiter!« sagte Tiu, riesig belustigt über seinen eigenen Witz. »Oder ich bleibe in Kaulun und ruf sie an, sie soll für eine Stunde zu mir kommen!« Worauf Lizzies Augen niedergeschlagen blieben, und Jerry dachte, es müßte ein Hauptspaß sein, bei einer anderen Gelegen- heit, wenn sie alle mehr Zeit hätten, Tius fettes Genick an mehreren Stellen zu brechen.
Nur leider hatte ihm Craw nicht auf die Einkaufsliste geschrieben, daß er Tiu das Genick brechen solle.
Das Geld, hatte Craw gesagt. Im richtigen Moment zapfen Sie ein Ende der Goldader an, das ist dann Ihr großes Finale.
Also, brachte er sie auf das Thema Indocharter. Wer waren diese Leute, hatte sie gern für die Firma gearbeitet? Sie sprang so prompt darauf an, daß er sich fragte, ob ihr am Ende dieses Leben auf des Messers Schneide mehr Spaß gemacht habe als er sich vorstellte.
»Oh, es war ein phantastisches Abenteuer, Jerry! Sie können es sich nicht im Traum vorstellen, das schwöre ich Ihnen.« Wiederum Ries multinationaler Akzent: »Fluggesellschaft: allein schon das Wort ist so absurd. Ich meine, Sie dürfen dabei nicht an ihre funkelnagelneuen Flugzeuge denken und ihre bezaubernden Stewardessen und Champagner und Kaviar oder dergleichen, keine Spur. Das war Arbeit. Das war Pionierarbeit, und das hat mich in allererster Linie dazu hingezogen. Ich hätte ohne weiteres von Daddys Geld leben können oder vom Geld meiner Tanten, ich meine, glücklicherweise bin ich absolut unabhängig, aber wer kann der Herausforderung widerstehen? Unser Grundstock waren ein paar schauderhafte alte DC 3, buchstäblich mit Bindfaden und Kaugummi zusammengehalten. Wir mußten sogar die Zulassungsbescheinigungen kaufen. Niemand wollte sie ausstellen. Danach flogen wir buchstäblich alles: Hondas, Gemüse, Schweine. Oh, die Jungens hatten solche Geschichten mit diesen armen Schweinen. Sie sind ausgebrochen, Jerry. Kamen in die Erste Klasse, sogar in die Pilotenkabine, stellen Sie sich vor!«
»Wie Passagiere«, erklärte Tiu mit vollem Mund. »Sie fliegt erstklassige Schweine, okay, Mr. Wessby?«
»Welche Routen?« fragte Jerry, nachdem sie sich von ihrem Lachen erholt hatten.
»Da sehen Sie, wie er mich ausfragt, Mr. Tiu. Ich wußte gar nicht, daß ich so berühmt bin! So geheimnisvoll! Wir flogen überall hin, Jerry. Bangkok, manchmal Kambodscha, Battambang, Phnom Penh, Kampong Cham, wenn es offen war. Überall hin. An gräßliche Orte.«
»Und wer waren Ihre Kunden? Händler, Pendler? Wer waren die Stammkunden?«
»Einfach jeder, den wir kriegen konnten. Jeder, der bezahlen konnte. Am liebsten im voraus natürlich.«
Tiu legte eine kleine Eßpause ein, um ein bißchen Konversation zu machen.
»Ihr Vater ein großer Lord, okay, Mr. Wessby?«
»Mehr oder weniger«, sagte Jerry.
»Lords sind ziemlich reiche Burschen. Warum müssen Sie Pferdeschreiber sein, okay?«
Ohne auf Tius Geschwätz zu achten, spielte Jerry seine Trumpfkarte aus und machte sich darauf gefaßt, daß der Deckenspiegel auf ihren Tisch herunterkrachen würde.
»Es wird gemunkelt, Ihre Leute hätte irgendeinen Kontakt zu der dortigen russischen Botschaft gehabt«, sagte er leichthin und ausschließlich zu Lizzie. »Ist da was Wahres dran, altes Haus? Irgendwelche Roten unterm Bett, wenn man fragen darf?« Tiu beschäftigte sich angelegentlich mit seinem Reis; er hielt die Schale unters-Kinn und schaufelte ohne Unterlaß ein. Aber diesmal warf Lizzie ihm bezeichnenderweise nicht einmal einen flüchtigen Blick zu.
»Russen?« echote sie verwirrt. »Warum um alles in der Welt sollten Russen zu uns kommen? Sie hatten ihre regelmäßigen Aeroflot-Flüge von und nach Vientiane einmal pro Woche.« Er hätte geschworen, damals und später, daß sie die Wahrheit sprach. Aber er gab sich trotzdem nicht ganz zufrieden: »Auch keine lokalen Flüge?« bohrte er weiter. »Botenflüge, Kurierdienste oder irgend sonst etwas?«
»Niemals. Wie hätten wir das gekonnt? Außerdem, die Chinesen hassen doch die Russen, nicht wahr, Mr. Tiu?«
»Russen ziemlich schlechte Leute, Mr. Wessby«, pflichtete Tiu bei. »Sie riechen ziemlich schlecht.«
Du aucK dachte Jerry, dem aufs neue der Mandeln- und Rosen-Duft der Ersten Gattin in die Nase stieg. Jerry lachte über seine eigene Albernheit: »Ich habe Redakteure, wie andere Leute Magenweh haben«, entschuldigte er sich. »Der meine ist überzeugt, daß wir ein paar Rote unterm Bett hervorholen könnten. »Ricardos sowjetische Zahlmeister«. Hat Ricardo mal Zwischenlandung im Kreml gemacht?«
»Zahlmeister?« wiederholte Lizzie höchlichst verblüfft. »Ric erhielt nie auch nur einen Penny von den Russen. Wovon reden ihre Leute eigentlich?«
Wiederum Jerry: »Indocharter aber schon, nicht wahr? - Es sei denn, meine Herren und Meister wären einer Ente aufgesessen, so wird's sein, wie üblich. Indocharter habe Geld von der dortigen Botschaft erhalten und es in Form von US-Dollar hinunter nach Hongkong gepumpt: das behaupten sie in Loidoi , und davon wollen sie nicht abgehen.«
»Die sind verrückt«, sagte das Mädchen überzeugt. »Ich habe nie solchen Unsinn gehört.«
Jerry erschien sie sogar erleichtert darüber, daß die Unterhaltung eine so unwahrscheinliche Wendung genommen hatte. Ricardo noch am Leben - da bewegte sie sich auf einem Minenfeld. Ko ihr Liebhaber - es lag bei Ko oder bei Tiu, ob er dieses Geheimnis preisgeben wollte, nicht bei ihr. Aber russisches Geld? Jerry war so überzeugt, wie er es irgend sein konnte, daß sie nichts davon wußte und nichts davon befürchtete.
Er schlug vor, mit ihr nach Star Heights zurückzufahren. Aber sie sagte, Tiu müsse sowieso in diese Richtung.
»Auf recht baldiges Wiedersehen, Mr. Wessby«, versprach Tiu.
»Freu mich schon, altes Haus«, sagte Jerry.
»Sie wollen Pferdeschreiber bleiben, ja? Ich meine, so verdienen Sie mehr Geld, Mr. Wessby, okay?« In seiner Stimme lag keine Drohung, auch nicht in der freundschaftlichen Art, in derer Jerry einen Klaps auf den Oberarm versetzte. Tiu sprach nicht einmal so, als erwarte er, daß sein Wort hier mehr Gewicht haben würde als ein Wort unter Freunden.
Plötzlich war es vorbei. Sie küßte den Oberkellner, aber nicht Jerry. Sie schickte Jerry, nicht Tiu nach ihrem Mantel, so daß sie nicht mit ihm allein war. Sie sah ihn kaum an, als sie sich verabschiedeten.
Geschäfte mit schönen Frauen, Ehrwürden, hatte Craw gewarnt, sind ähnlich wie Geschäfte mit bekannten Kriminellen, und die Dame, an die Sie sich jetzt heranmachen werden, fällt zweifellos in diese Kategorie. Als Jerry durch die mondhellen Straßen nach Hause wanderte - trotz des langen Wegs, der Bettler, der Augen in den Türnischen -, nahm er Craws Ausspruch genauer unter die Lupe. Über kriminell konnte er sich beim besten Willen nicht entscheiden; kriminell schien eine ziemlich variable Größe zu sein, selbst in den besten Zeiten, und weder der Circus noch seine Agenten waren berufen, ein Kirchspielkonzept von Gesetz und Ordnung zu pflegen. Craw hatte ihm erzählt, daß Ricardo sie in flauen Zeiten mit kleinen Päckchen über die Grenze geschickt habe. Große Sache. Überlaß sie den Eulen. Bekannte Kriminelle jedoch war etwas ganz anderes. Mit bekannt würde er unbedingt einverstanden sein. Als er an den gejagten Blick dachte, mit dem Elizabeth Worthington Tiu angestarrt hatte, kam er zu dem Schluß, er müsse dieses Gesicht, diesen Blick und diese Hilflosigkeit in der einen oder anderen Verkleidung schon die meiste Zeit seines bewußten Lebens gekannt haben.
Gewisse unbedeutende Kritiker George Smileys raunen gelegentlich, er hätte an diesem Wendepunkt irgendwie sehen müssen, woher bei Jerry der Wind blies und ihn unverzüglich zurückbeordern. Schließlich war Smiley im Endeffekt Jerrys Einsatzleiter. Er allein führte Jerrys Akte, betreute und instruierte ihn. Wäre er damals noch in Hochform gewesen, sagen sie, und nicht schon auf dem absteigenden Ast, so hätte er die Warnsignale zwischen den Zeilen von Craws Berichten lesen können und Jerry beizeiten abgezogen. Genausogut hätten sie beanstanden können, er sei bloß ein zweitklassiger Wahrsager. Die Fakten, so wie sie an Smiley gelangten, waren folgende:
Am Morgen nach Jerrys Nummer mit Lizzie Worthington - der Ausdruck hat keinen sexuellen Nebensinn - ließ Craw sich von Jerry über drei Stunden lang bei einem Autotreff berichten, und Craws Meldung beschreibt Jerrys Verfassung als, wie durchaus verständlich, »antiklimaktischen Katzenjammer«. Er fürchte anscheinend, sagte Craw, daß Tiu oder sogar Ko dem Mädchen die Schuld an ihrer »Mitwisserschaft« geben und sogar Hand an sie legen könnten. Jerry habe mehr als einmal Tius offenkundige Verachtung für das Mädchen - und für ihn selber und vermutlich für alle Europäer - erwähnt und Tius Bemerkung wiederholt, wonach er ihretwegen von Kaulun nach Hongkong reisen würde, aber nicht weiter. Craw habe Jerry entgegengehalten, daß Tiu sie jederzeit hätte zum Schweigen bringen können und daß ihr Wissen sich, laut Jerrys eigener Aussage, nicht einmal bis zu der russischen Goldader erstrecke, ganz zu schweigen von Bruder Nelson.
Kurzum, Jerry zeigte die klassischen post-operativen Symptome eines Außenagenten. Eine Art Schuldgefühl, gepaart mit bösen Ahnungen, eine unwillkürliche Hinwendung zur Zielperson: alles so vorhersehbar wie der Tränenausbruch eines Sportlers nach dem großen Rennen.
Bei ihrer nächsten Fühlungnahme - einem ausgedehnten Kassiberverkehr per Telefon an Tag zwei, in dessen Verlauf Craw, um Jerry aufzumuntern, ihm Smileys wärmste persönliche Glückwünsche übermittelte, obwohl sie damals vom Circus noch nicht eingegangen waren - hörte Jerry sich insgesamt besser an, machte sich allerdings Sorgen um seine Tochter Cat. Er habe ihren Geburtstag verpaßt - der morgen sei, sagte er - und bitte darum, daß der Circus ihr sofort einen japanischen Kassettenrecorder schicke, dazu einen Schwung Kassetten, als Grundstock für eine Sammlung. Craws Telegramm an Smiley benennt die Kassetten und ersucht um augenblickliche Erledigung durch die Housekeepers, und bittet ferner darum, daß die Schusterwerkstatt - mit anderen Worten die Fälscher des Circus - eine Begleitkarte in Jerrys Handschrift fabrizieren möge, Text anbei: »Liebste Cat. Bat einen Freund, dieses Päckchen in London aufzugeben. Paß gut auf Dich auf, mein Liebstes, und sei herzlich gegrüßt, jetzt und immer, Pa.« Smiley genehmigte den Kauf, instruierte die Housekeepers, die Kosten direkt von Jerrys Salär abzuziehen. Er prüfte das Paket persönlich, ehe es abging, und billigte die gefälschte Karte. Er stellte ferner fest, was er und Craw bereits geargwöhnt hatten, daß Cats Geburtstag weder jetzt noch in naher Zukunft war. Jerry hatte einfach das Bedürfnis gehabt, jemandem etwas Liebes zu tun: auch dies ein normales Symptom zeitweiliger Dienstmüdigkeit. Smiley kabelte an Craw, er solle Jerry nicht aus den Augen lassen, aber die Initiative lag bei Jerry, und Jerry meldete sich erst wieder am Abend von Tag fünf, als er einen Blitztreff innerhalb der nächsten Stunde forderte und bekam. Dieser Treff fand, wie immer nach Einbruch der Dunkelheit, in einer Raststätte in den New Territories statt, die Tag und Nacht geöffnet war. Zufällige Begegnung zweier alter Kollegen. Craws Brief mit dem Vermerk »Persönlich nur an Smiley« war die Ergänzung zu seinem Telegramm. Er gelangte durch den Kurier der Vettern zwei Tage nach der darin beschriebenen Episode in den Circus, also am Tag sieben. Craw hatte ihn, in der Annahme, daß die Vettern alles tun würden um den Text trotz Siegel und anderer Vorrichtungen zu lesen, mit Umschreibungen, Arbeitsnamen und Deckwörtern gespickt, die hier im Klartext wiedergegeben sind:
Westerby war sehr ärgerlich. Er wollte zum Teufel wissen, was Sam Collins in Hongkong zu suchen habe und inwiefern Collins in den Fall Ko verwickelt sei. Ich habe ihn noch nie so aufgebracht gesehen. Ich fragte ihn, wie er darauf komme, daß Collins in der Gegend sei. Er antwortete, er habe ihn an diesem Abend gesehen - genau um elf Uhr fünfzehn -, wie er in einem geparkten Auto in den Midlevels gesessen habe, auf einer ansteigenden Straße direkt unterhalb von Star Heights, unter einer Straßenlaterne, und eine Zeitung las. Von dem Standplatz, den Collins gewählt habe, sagte Westerby, habe er Lizzie Worthingtons Fenster im achten Stock direkt übersehen können, und Westerby sei der Meinung, Sam betreibe irgendeine Art von Beschattung. Westerby, der damals zu Fuß unterwegs war, versichert, er wäre »verdammt um ein Haar zu Sam hingegangen, um ihn geradeheraus zu fragen«. Aber die Sarratt-Disziplin hatte gehalten, und er marschierte weiter hügelab und blieb auf seiner Straßenseite. Aber er behauptet steif und fest, Collins habe, sobald er ihn sah, den Motor gestartet und sei bergauf davongebraust. Westerby hat die Zulassungsnummer, und sie stimmt natürlich. Das übrige bestätigt Collins.
Gemäß unserer diesbezüglichen Absprache (Ihr Telegramm vom 15. Febr.) gab ich Westerby folgende Antworten:
1) Selbst wenn es Collins gewesen sein sollte, so habe der Circus nichts damit zu tun. Collins habe den Circus vor dem Sündenfall unter nicht näher bekannten Umständen verlassen, er sei als Spieler, Vagant, Traffikant etc. bekannt, und der Ferne Osten sei schon immer sein Betätigungsfeld gewesen. Ich sagte zu Westerby, er sei ein Vollidiot, wenn er glaube, daß Collins noch immer auf der Gehaltsliste stehe oder sogar irgendwie am Fall Ko beteiligt sei.
2) Collins ist von der Physiognomie her ein Typus, sagte ich: regelmäßige Züge, Schnurrbärtchen, etc., sehe aus wie fünfzig Prozent aller Zuhälter in London. Ich bezweifele, ob Westerby ihn über die Fahrbahn hinweg um ein Viertel nach elf Uhr nachts wirklich mit Sicherheit habe identifizieren können. Worauf Westerby erwiderte, sein Sehvermögen sei 1A, und Sam habe die Zeitung auf der Rennseite aufgeschlagen gehabt. 3 J Und überhaupt, so fragte ich, was habe Westerby selber um ein Viertel nach elf Uhr nachts in der Gegend von Star Heights herumzubummeln gehabt. Antwort: er sei von einem Gläschen mit der UPI-Bande gekommen und habe gehofft, ein Taxi zu erwischen. Hierauf tat ich empört und sagte, niemand, der bei einer UPI-Sauferei gewesen sei, könne auf fünf Schritt einen Elefanten ausmachen und schon gar nicht Sam Collins auf fünfundzwanzig, in einem Auto, in stockfinsterer Nacht. Damit wäre es ausgestanden - hoffentlich.«
Daß Smiley über diesen Zwischenfall ernstlich beunruhigt war, versteht sich von selbst. Nur vier Leute wußten von der Collins-Sache: Smiley, Connie Sachs, Craw und Sam selber. Daß Jerry ihn zufällig entdeckt haben konnte, lieferte zusätzlichen Grund zur Besorgnis bei einer Operation, die ohnehin schon voller Unwägbarkeiten steckte. Aber Craw war geschickt, und Craw glaubte, Jerry die Grillen ausgeredet zu haben, und Craw war der Mann vor Ort. Höchstens hätte es noch die Möglichkeit gegeben, aber nur in einer absolut perfekten Welt, daß Craw es sich hätte angelegen sein lassen, nachzuprüfen, ob in jener Nacht wirklich in den Midlevels eine UPI-Party stattgefunen habe - und dann erfahren hätte, daß dies nicht der Fall war und sich daraufhin Jerry nochmals vorgenommen und ihn seine Anwesenheit in der Gegend von Star Heights hätte erklären lassen, und in diesem Fall hätte Jerry vermutlich einen Wutanfall gekriegt und irgendeine neue Geschichte aufgetischt, die nicht nachprüfbar gewesen wäre: daß er zum Beispiel mit einer Frau zusammengewesen sei und daß Craw sich um seinen eigenen Dreck kümmern solle. Woraus nichts weiter resultiert hätte als unnötig böses Blut und im übrigen die gleiche Entweder-oder-Situation wie zuvor. Es ist gleichfalls verlockend, aber unvernünftig, von Smiley, auf dem schon so viele Probleme lasteten - die fortgesetzte und nicht endenwollende Suche nach Nelson, tägliche Sitzungen mit den Vettern, Nachhutgefechte in den Whitehall-Korridoren -, zu erwarten, daß er die Parallele zu seiner eigenen Erfahrung der Einsamkeit hergestellt hätte: nämlich daß Jerry, dem an jenem Abend weder nach Schlaf noch nach Geselligkeit zumute war, durch die nächtlichen Straßen wanderte, bis er sich vor dem Wohnblock fand, in dem Lizzie lebte, und dort herumstrich, genau wie Smiley es bei seinen eigenen Nachtwanderungen tat, ohne genau zu wissen, was er wollte, außer der minimalen Chance, einen Blick auf sie zu erhaschen.
Der Strom der Ereignisse, auf dem Smiley dahingetrieben wurde, war viel zu mächtig, um dergleichen ausgefallene Abstraktionen zuzulassen. Nicht nur versetzte der achte Tag, als er herangekommen war, den Circus tatsächlich in den Kriegszustand: es ist auch die verzeihliche Eitelkeit der Einsamen in aller Welt, zu glauben, sie hätten keine Leidensgenossen.
Der achte Tag
Die heitere Stimmung auf der fünften Etage war eine große Erleichterung nach der Niedergeschlagenheit des letzten Meetings. Honigmond der Wühlmäuse, nannte es Guillam, und heute abend war der Höhepunkt, ein kleinerer Sternenschauer der Erfüllung, und er erfolgte, nach der Chronologie, die den Dingen später von den Historikern angekleistert wurde, genau acht Tage nachdem Jerry und Lizzie und Tiu ihren umfassenden und offenen Meinungsaustausch über die Themen Tiny Ricardo und russische Goldader gehabt hatten - zum großen Entzücken der Planer im Circus. Guillam hatte Molly listig eingeschleust. Sie hatten in allen Richtungen gegraben, diese schattenhaften Nachtgeschöpfe, waren alten und neuen Wegen und längst überwachsenen Pfaden gefolgt, die es neu zu entdecken galt; und jetzt drängten sie sich alle zwölf endlich, hinter ihren beiden Anführern Connie Sachs alias Mütterchen Rußland und dem unergründlichen di Salis, alias Doc, im Thronsaal zusammen, unter Karlas Porträt, wo sie einen untertänigen Halbkreis um ihren Chef bildeten, Bolschis und Gelbe Gefahren brüderlich vereint. Also eine Plenarsitzung; und für jeden, dem ein solches dramatisches Ereignis neu war, wirklich ein Markstein der Geschichte. Und Molly saß gesittet an Guillams Seite, das Haar lang herabhängend, um die Bißmale an ihrem Hals zu verbergen.
di Salis redet am meisten. Die anderen Ränge finden das in Ordnung. Schließlich ist Nelson Ko ausschließlich die Domäne des Doc: Chinesisch bis zu den Ärmelbündchen seines Gewands. Der Doc beherrscht sich übermenschlich - Ellbogen, Knie, Füße, fuchtelnde Finger, alles hält ausnahmsweise beinahe still, und er bringt seine Sache so unterkühlt und beinahe mißbilligend vor, daß die unerbittliche Klimax entsprechend aufregender ist. Und diese Klimax hat sogar einen Namen. Er lautet Schenghsiu alias Ko, Nelson, später auch bekannt als Yao Kaischeng, unter welchem Namen er dann während der Kulturrevolution in Ungnade fiel.
»Aber innerhalb dieser Mauern, Gentlemen«, piepst der Doc, für den das weibliche Geschlecht inexistent ist, »werden wir ihn weiterhin Nelson nennen.«
Geboren 1928 in Swatow in ärmlichen proletarischen Verhältnissen - um die offiziellen Quellen zu zitieren, sagt der Doc - und bald darauf nach Schanghai übersiedelt. Keine Erwähnung, weder in offiziellen noch in inoffiziellen Verlautbarungen, von Mr. Hibberts Missionsschule >Lord's Life<, nur ein betrübter Hinweis auf »Ausbeutung durch westliche Imperialisten in der Kindheit«, die ihn mit Religion vergifteten. Als die Japaner nach Schanghai kamen, schloß Nelson sich dem Flüchtlingstreck nach Tschung-king an, genau wie Mr. Hibbert berichtet hatte. Von Jugend an widmete Nelson sich, dies wiederum laut offizieller Unterlagen, fährt der Doc fort, insgeheim fruchtbaren revolutionären Studien und beteiligte sich an verbotenen kommunistischen Gruppen, ungeachtet der Unterdrückung durch den hassenswerten Tschiang-Kaischeck-Pöbel. Auf der Flucht versuchte er auch »bei mehreren Gelegenheiten, sich zu Mao abzusetzen, aber es mißlang wegen seiner großen Jugend. Nach seiner Rückkehr nach Schanghai wurde er bereits als Student ein führendes Mitglied der illegalen kommunistischen Bewegung und übernahm Sondereinsätze in den Werften von Kiangnan und Umgebung, um den verderblichen Einfluß von faschistischen Kuomintang-Elementen zu unterhöhlen. An der University of Communications erließ er einen öffentlichen Aufruf zur Schaffung einer gemeinsamen Front von Studenten und Bauern. Abschlußexamen mit Auszeichnung im Jahr 1951 . . . «
Hier unterbricht sich di Salis, wirft in jähem Nachlassen der Spannung einen Arm hoch und packt den Haarschopf in seinem Nacken.
»Das übliche schwülstige Porträt des erleuchteten Studentenhelden, Chef, der seiner Zeit voraus ist«, singt er. »Was ist mit Leningrad?« fragt Smiley, der am Schreibtisch sitzt und sich Notizen macht.
»Neunzehnhundertdreiundfünfzig bis sechsundfünfzig.«
»Ja, Connie?«
Connie sitzt wieder in ihrem Rollstuhl. Die Schuld daran gibt sie dem Eismonat und dieser Kröte Karla.
»Wir haben einen Bruder Bretlew, darling. Bretlew, Iwan Iwanowitsch, Professor, Leningrad, Fakultät Schiffsbau, alter China-Mann, leistete in Schanghai Handlangerdienste für die Chinaagenten der Zentrale. Revolutions-Haudegen, in jüngerer Zeit als Talentsucher aus Karlas Schule tätig, fischt unter den Übersee-Studenten nach brauchbaren Burschen und Mädels.« Für die Wühlmäuse auf der chinesischen Seite - die Gelben Gefahren - ist diese Information neu und aufregend und bewirkt heftiges Stühleknarzen und Papiergeraschel, bis di Salis auf Smileys Nicken hin seinen Kopf losläßt und seinen Bericht wieder aufnimmt.
»Kehrte siebenundfünfzig nach Schanghai zurück und würde mit der Leitung einer Eisenbahn-Reparaturwerkstätte betraut -.« Wiederum Smiley: »Aber in Leningrad war er von dreiundfünfzig bis sechsundfünfzig?«
»Richtig«, sagt di Salis. »Dann scheint ein Jahr zu fehlen.« Jetzt raschelten keine Papiere und kein Stuhl knarrte. »Die offizielle Erklärung lautet Rundreise zu sowjetischen Werften«, sagt di Salis, feixt Connie an und verdreht geheimnisvoll und wissend den Hals.
»Vielen Dank«, sagt Smiley und macht sich wieder eine Notiz. »Siebenundfünfzig«, wiederholt er. »War das vor dem chinesischsowjetischen Zerwürfnis oder danach, Doc?«
»Vor. Das Zerwürfnis nahm neunundfünfzig ernsthafte Formen an.«
Hier fragt Smiley, ob Nelsons Bruder irgendwo erwähnt werde: oder sei Drake in Nelsons China genauso in Ungnade wie Nelson in Drakes China?
»In einer der frühesten Biographien wird Drake erwähnt, allerdings nicht namentlich. In den späteren heißt es, ein Bruder sei während der kommunistischen Machtergreifung im Jahr neunundvierzig gestorben.«
Smiley macht einen seiner seltenen Witze, der mit gedankenlosem erleichtertem Gelächter quittiert wird: »In diesem Fall wimmelt es von Leuten, die behaupten, tot zu sein«, klagt er. »Ich werde geradezu aufatmen, wenn ich irgendwo eine echte Leiche finde.« Nur wenige Stunden später entsann man sich dieses bort mot mit Schaudern.
»Wir haben ferner einen Vermerk, wonach Nelson in Leningrad ein Musterstudent war«, fährt di Salis fort. »Zumindest in russischen Augen. Sie schickten ihn mit höchsten Empfehlungen nach Hause.«
Connie erlaubt sich aus ihrem Stahlsessel heraus einen weiteren Einwurf. Sie hat Trot, ihren räudigen braunen Bastardköter, mitgebracht. Er liegt verdreht auf ihrem geräumigen Schoß, stinkt und läßt dann und wann einen Seufzer fahren, aber nicht einmal Guillam, der Hunde haßt, hat den Nerv, ihn hinauszuwerfen. »Oh, natürlich haben sie das getan, wie?« ruft sie. »Die Russen haben Nelsons Talente in den Himmel gelobt, versteht sich, besonders wenn Bruder Bretlew Iwan Iwanowitsch ihn an der Universität geschnappt und Karlas Herzenskinder ihn ins Trainingslager und so weiter gezaubert haben! Begabter kleiner Maulwurf wie Nelson, geben ihm einen anständigen Start im Leben, für seine Rückkehr nach China! Ist ihm später nicht besonders gut bekommen, wie, Doc? Nicht, als die Große Barbarische Kulturrevolution ihn am Kragen erwischt hat! Die maßlose Bewunderung der feigen sowjetisch-imperialistischen Hunde trug man damals besser nicht stolz zur Schau, wie?« Über Nelsons Sturz sind nur wenige Einzelheiten zur Hand, verkündet der Doc, der nun auf Connies Ausbruch hin lauter spricht. »Es muß angenommen werden, daß es sich um einen heftigen Sturz handelte, und wie Connie bereits bemerkte: wer am höchsten in der Gunst der Russen stand, tat den schmerzlichsten Fall.« Er blickt auf das Blatt Papier, das er schief vor das fleckige Gesicht hält. »Ich lese Ihnen nicht seine sämtlichen Posten zur Zeit seines Sturzes vor, Chef, weil er sie ohnehin verlor. Aber es besteht kein Zweifel, daß er tatsächlich die technische Leitung des größten Teils der Schiffsbau-Werften in Kiangnan hatte, also maßgeblich für Chinas Flottenpotential verantwortlich war.«
»Verstehe«, sagt Smiley ruhig. Kritzelnd schürzt er die Lippen, wie tadelnd, während die Brauen sehr weit nach oben wandern. »Sein Posten in Kiangnan verschaffte ihm auch eine Reihe von Sitzen in den Planungsausschüssen für Marineangelegenheiten und auf dem Gebiet des Nachrichtenwesens und der Langzeit-Strategie. Ab neunzehnhundertdreiundsechzig kann man seinen Namen regelmäßig in den Peking-Reports der Vettern lesen.«
»Gut gemacht, Karla«, sagt Guillam, der neben Smiley sitzt, ruhig, und Smiley, der noch immer schreibt, schließt sich dieser Meinung tatsächlich an, indem er »ja« sagt.
»Der einzige, Peter, Lieber!« kräht Connie, die plötzlich nicht mehr länger an sich halten kann. »Der einzige von allen diesen Kröten, der es kommen sah! Eine Stimme in der Wildnis war er, was, Trot? >Gebt acht auf die gelbe Gefahr<, hat er sie gewarnt. >Eines Tages machen sie kehrt und beißen die Hand, die sie füttert, so sicher wie irgend etwas. Und wenn es soweit ist, dann habt ihr achthundert Millionen neue Feinde, die an eure Hintertür dreschen. Und eure Kanonen zeigen alle in die falsche Richtung. Laßt es euch gesagt sein.< Hat sie gewarnt«, wiederholte sie und zog in ihrer Erregung den Bastardhund heftig am Ohr. »Hat alles in einer Schrift niedergelegt, »Aufstrebender sozialistischer Partner zeigt abweichlerische Tendenzen«. Rannte zu jedem kleinen Lümmel im Kollegium der Moskauer Zentrale damit. Entwarf es Wort für Wort in seinem schlauen kleinen Kopf, während er seine Zeit in Sibirien für Onkelchen Joe Stalin absaß. »Spioniere heute schon bei deinen Freunden, sie werden morgen bestimmt deine Feinde sein«, hat er sie gewarnt. Ältester Spruch in der Branche, Karlas Lieblingsspruch. Als sie ihm seinen Job zurückgaben, hat er ihn praktisch auf dem Dschertschiniskij-Platz ans Schwarze Brett genagelt. Kein Mensch hat sich auch nur einen Deut darum geschert. Nicht die Bohne. Fiel auf unfruchtbaren Boden, mein Lieber. Fünf Jahre später erwies sich, daß er recht gehabt hatte, und das Kollegium dankte ihm auch dafür nicht, das kann ich Ihnen sagen! Er hat nach ihrem Geschmack eine Spur zu oft recht gehabt, diese Gimpel, wie, Trot! Du weißt es, darling, du weißt, worauf die alte Närrin hinauswill!« Worauf sie den Hund an den Vorderpfoten ein paar Zoll hochhebt und ihn wieder auf ihren Schoß plumpsen läßt.
Connie kann es nicht ertragen, daß der alte Doc das Rampenlicht für sich allein hat, finden sie in stillschweigender Übereinstimmung. Sie sieht die Logik ein, aber die Frau in ihr kann sich nicht mit der Realität abfinden.
»Sehr schön, er wurde reingewaschen, Doc« sagt Smiley gelassen und stellt damit die Ruhe wieder her. »Gehen wir nochmals zurück zum Jahr siebenundsechzig, ja?« Und er stützt wiederum das Kinn in die Hand.
Im Halbdunkel linst Karlas Porträt ausdruckslos auf die Versammlung herab, während di Salis weiterspricht. »Nun ja, die übliche unerfreuliche Geschichte, darf man annehmen, Chef«, leiert er. »Kriegte wohl die Eselsmütze auf. Auf der Straße angespuckt. Frau und Kinder herumgestoßen und verprügelt. Umerziehungshaft, Arbeitslager >dem Ausmaß seines Verbrechens angepaßt<. Zwangsweise Wiederentdeckung der bäuerlichen Tugenden. Einer der Berichte vermeldet, er sei in eine ländliche Gemeinde geschickt worden, um sein Gewissen zu prüfen. Und als er wieder nach Schanghai zurückgekrochen kam, ließen sie ihn nochmals ganz von unten anfangen, Bolzen in Eisenbahnschienen treiben oder was auch immer. Was die Russen anging - wenn sie unser Thema sind« - spricht er hastig weiter, ehe Connie ihn wieder unterbrechen kann -, »so war er eine Enttäuschung. Kein Zugriff, keinen Einfluß, keine Freunde.«
»Wie lang hat er gebraucht, um wieder nach oben zu klettern?« fragt Smiley mit einem charakteristischen Senken der Lieder. »Vor ungefähr drei Jahren bekam er zum erstenmal wieder eine gehobene Funktion. Auf lange Sicht hat er das, was ihnen am meisten fehlt: Verstand, technisches Know-how, Erfahrung. Aber seine formelle Rehabilitierung fand erst Anfang dreiundsiebzig, statt.«
Während di Salis mit der Beschreibung der verschiedenen Stadien von Nelsons ritueller Wiedereinsetzung in Ämter und Würden fortfährt, zieht Smiley ruhig eine Akte heran und schlägt andere Daten nach, die für ihn aus bisher noch ungeklärten Gründen plötzlich von brennender Relevanz sind.
»Die Zahlungen an Drake setzen Mitte zweiundsiebzig ein«, murmelt er. »Sie steigen Mitte dreiündsiebzig steil an.«
»Zugleich mit Nelsons neuerlichem Zugriff, darling«, raunt Connie ihm zu wie eine Souffleuse. »Je mehr er weiß, desto mehr sagt er, und je mehr er sagt, desto mehr kriegt er. Karla zahlt nur für Bonbons, und auch dann noch tut es ihm höllisch weh.« Dreiundsiebzig - sagt di Salis - sei Nelson, nachdem er sämtliche einschlägigen Geständnisse ablegte, in das Revolutionskomittee der Stadtverwaltung von Schanghai aufgenommen und zum Verantwortlichen für eine Marineeinheit der Volksarmee ernannt worden. Sechs Monate später -»Datum?« unterbricht Smiley. »Juli dreiundsiebzig.«
»Und wann wurde Nelson formell rehabilitiert?«
»Der Rehabilitierungsprozeß begann im Januar dreiundsiebzig.«
»Vielen Dank.«
Sechs Monate später, so berichtet di Salis weiter, sitzt Nelson in nicht bekanntet Funktion im Zentralkomitee der Chinesischen Kommunistischen Partei.«
»Heiliger Strohsack«, sagt Guillam leise, und Molly drückt verstohlen seine Hand.
»Und ein Bericht der Vettern«, sagt di Salis, »undatiert, wie üblich, aber gut belegt, bezeichnet Nelson als inoffiziellen Berater am Rüstungs- und Beschaffungsausschuß des Verteidigungsministeriums.«
Anstatt diese Enthüllung mit seiner gewohnten Kollektion von Ticks zu garnieren, hält di Salis wiederum eisern still, was die Wirkung erhöht.
»Was Qualifikation betrifft, Chef«, fährt er ruhig fort, »vom operativen Standpunkt aus gesehen würden wir von der China-Abteilung Ihres Hauses dies als eine der Schlüsselpositionen in der gesamten chinesischen Administration betrachten. Wenn es uns freistünde, ein Plätzchen für einen Agenten innerhalb des Festlands auszusuchen, so könnte unsere Wahl durchaus auf Nelsons Posten fallen.«
»Gründe?« will Smiley wissen, dessen Aufmerksamkeit noch immer abwechselnd seiner Niederschrift und dem geöffnet vor ihm liegenden Aktenband gilt.
»Die chinesische Marine ist noch immer in der Steinzeit. Natürlich haben wir formal Interesse am technologischen Wissen der Chinesen, aber unsere wahren Prioritäten liegen, wie wohl auch die Moskaus, auf strategischem und politischem Gebiet. Darüber hinaus könnte Nelson uns die Gesamtkapazität sämtlicher chinesischer Werften liefern. Und nochmals darüber hinaus könnte er uns das Potential der chinesischen U-Boot-Flotte angeben, die für die Vettern schon seit Jahren ein Schreckgespenst ist. Und für uns desgleichen, wenigstens zeitweise, wie ich vielleicht hinzufügen darf.«
»Danach kann man sich vorstellen, was sie für Moskau ist«, murmelt eine alte Wühlmaus ungefragt. »Die Chinesen entwickeln zur Zeit vermutlich ihre eigene Ausführung des russischen U-Boots der G-2-Klasse«, erklärt di Salis. »Niemand weiß besonders viel darüber. Haben sie ihr eigenes Modell? Mit zwei oder vier Abschußrohren? Sind sie mit See-Luft- oder mit See-See-Raketen bestückt? Welcher Etat ist für sie angesetzt? Es gibt Gerüchte über eine Han-Klasse. Wir erfuhren, daß sie einundsiebzig ein solches Modell auf Stapel legten. Bestätigung erhielten wir nie. Vierundsechzig bauten sie angeblich in Dairen ein Boot der G-Klasse, mit ballistischen Raketen ausgestattet, aber offiziell hat es noch niemand bestätigt. Und so weiter und so fort«, sagt di Salis mißbilligend, denn wie die meisten Circusleute hegt er eine tief verwurzelte Abneigung gegen militärische Angelegenheiten und würde die mehr künstlerischen Ziele vorziehen. »Für harte und rasche, detaillierte Informationen über diese Gegenstände würden die Vettern ein Vermögen zahlen. Langley könnte über Jahre hinweg Hunderte von Millionen für Nachforschung, Überflüge, Satelliten, Abhorchvorrichtungen und Gott weiß was noch ausgeben - und dennoch kein halb so gutes Resultat erzielen wie ein einziges Foto. Wenn also Nelson - « Er läßt den Satz in der Luft hängen, was weit wirkungsvoller ist, als wenn er ihn beendet hätte. Connie flüstert »Gut gemacht, Doc«, aber noch eine ganze Weile spricht sonst niemand; sie sind alle gebannt durch Smileys Kritzeln und sein fortgesetztes Studium der Akte.
»So gut wie Haydon«, murmelt Guillam. »Besser. China ist die letzte Grenze. Härteste Nuß in der Branche.«
Smiley lehnt sich zurück, offenbar hat er seine Berechnungen abgeschlossen.
»Ricardo flog ein paar Monate nach Nelsons formeller Rehabilitierung hinüber«, sagt er.
Niemand sieht sich veranlaßt, dies zu bezweifeln.
»Tiu reist nach Schanghai, und sechs Wochen später wird Ricardo - «
Weit im Hintergrund hört Guillam das Telefon der Vettern schnarren, das in sein Büro durchgestellt wurde, und er behauptet später hartnäckig, in diesem Augenblick sei Sam Collins' mißfälliges Bild aus seinem Unterbewußtsein aufgestiegen wie ein Geist aus der Flasche, und wieder einmal habe er sich gefragt, wie er jemals so unbedacht habe sein können, Sam Collins diesen eminent wichtigen Brief an Martello abliefern zu lassen. »Nelson hat noch ein weiteres Eisen im Feuer, Chef«, fährt di Salis genau in dem Moment fort, als alle glauben, er sei am Ende: »Ich zögere, es als bare Münze weiterzugeben, aber andererseits wage ich unter den gegebenen Umständen auch nicht, es völlig auszulassen. Ein eingetauschter Bericht von den Westdeutschen, datiert vor ein paar Wochen. Nach ihren Quellen ist Nelson seit jüngster Zeit Mitglied einer Gruppe, die wir mangels Information als The Peking Tea Club bezeichnen, eine Keimzelle, die nach unserer Meinung zur Koordination der chinesischen Geheimdienstambitionen geschaffen wurde. Nelson wurde zunächst als Berater in Fragen elektronischer Überwachung zugezogen und dann als Vollmitglied gewählt. Das Ganze funktioniert, soviel wir ergründen können, etwa so wie unser Lenkungsausschuß. Aber ich muß betonen, daß es sich hier um einen Schuß ins dunkle handelt. Wir wissen nicht das Geringste über die chinesischen Geheimdienste, und die Vettern auch nicht.« Smiley ist ausnahmsweise um Worte verlegen, er starrt di Salis an, macht den Mund auf und wieder zu, dann nimmt er die Brille ab und putzt sie.
»Und Nelsons Motiv?« fragt er und nimmt noch immer nicht Kenntnis vom unablässigen Schnarren des Vetterntelefons. »Nur ein Schuß ins dunkle, Doc. Wie würden Sie das sehen?« di Salis zuckt so heftig die Achseln, daß seine fettige Mähne wie ein Bohnermop fliegt. »Ach, die Mutmaßung, die jeder anstellen würde«, sagt er gereizt. »Wer glaubt heutzutage noch an Motive? Es wäre völlig natürlich gewesen, wenn er auf die Anwerbungsversuche in Leningrad angesprochen hätte, selbstverständlich nur, wenn sie in der richtigen Weise erfolgten. Nichts, was er als Verrat empfinden müßte. Und nichts Doktrinäres. Rußland war Chinas großer älterer Bruder. Sie brauchten Nelson nur zu sagen, er sei als einer der Wächter über die wahren Werte ausersehen. Das betrachte ich nicht als besonderes Kunststück.« Draußen bimmelte das grüne Telefon immer weiter. Bemerkenswert, Martello ist sonst nicht so ausdauernd. Nur Guillam und Smiley dürfen das Gespräch annehmen. Aber Smiley hat nichts gehört, und Guillam will verdammt sein, wenn er sich vom Fleck rührt, während di Salis über die Gründe extemporiert, die Nelson bewogen haben könnten, Karlas Maulwurf zu werden. »Als die Kulturrevolution ausbrach, glaubten viele Leute in Nelsons Rang, Mao sei verrückt geworden«, erläutert di Salis, noch immer nur zögernd Theorien von sich gebend. »Sogar ein paar seiner eigenen Generale dachten so. Die Demütigungen, die Nelson erlitten hatte, machten ihn nach außen hin konform, aber innerlich blieb vielleicht Bitterkeit zurück - wer weiß -, vielleicht sogar Rachegelüst.«
»Die Alimentenzahlungen an Drake begannen zu einer Zeit, als Nelsons Rehabilitierung kaum beendet war«, wirft Smiley milde ein. »Wie lauten hierüber die Vermutungen, Doc?«
Dies alles ist einfach zu viel für Connie, und wiederum fließt sie über.
»O George, wie können Sie so naiv sein. Sie können sich das doch denken, Lieber, natürlich können Sie's! Diese armen Chinesen können es sich nicht leisten, einen Spitzentechnologen sein halbes Leben lang auf Eis zu legen und ihn nicht zu nutzen! Karla sah, wohin die Entwicklung ging, wie, Doc? Er sah, wohin der Wind sich drehte und ging mit. Er hielt seinen armen kleinen Nelson an der Strippe, und sobald er aus der Wildnis zurückkam, schickte er ihm seine Boten: >Wir sind's, weißt du noch? Deine Freunde! Wir lassen dich nicht fallen! Wir spucken dich nicht auf der Straße an! Und jetzt wieder an unsere Arbeit !< Das würden Sie ganz genau so anstellen, und Sie wissen es!«
»Und das Geld?« fragt Smiley. »Die halbe Million?«
»Zuckerbrot und Peitsche! Drohende Erpressung oder enorme Belohnungen. Nelson ist von beiden Seiten festgenagelt.« Aber trotz Connies Ausbruch hat di Salis das letzte Wort: »Er ist Chinese. Er ist Pragmatiker. Er ist Drakes Bruder. Er kann aus China nicht heraus - «
»Noch nicht«, sagt Smiley mit sanfter Stimme und blickt wieder in die Akte.
» - und er kennt seinen Marktwert für den russischen Geheimdienst sehr genau. »Du kannst Politik nicht essen, du kannst nicht mit ihr ins Bett gehen< wie Drake immer sagte, also kannst du wenigstens Geld mit ihr verdienen - «
»Für den Tag, an dem du China verlassen und es ausgeben kannst«, ergänzt Smiley, schließt - als Guillam auf Zehenspitzen aus dem Büro geht -, die Akten, und nimmt sein Notizpapier wieder vor. »Drake versuchte schon einmal, ihn herauszuholen, es mißlang, also nahm Nelson das russische Geld an, bis . . . bis? Vielleicht bis Drake einmal mehr Glück hat.« Das beharrliche Rasseln des Telefons im Hintergrund hat endlich aufgehört.
»Nelson ist Karlas Maulwurf«, bemerkt Smiley schließlich, wiederum mehr zu sich selber. »Er sitzt auf einem unbezahlbaren Topf voll chinesischen Geheimmaterials. Das allein würde uns schon reichen. Er handelt auf Karlas Befehle. Die Befehle selbst sind für uns von unschätzbarem Wert. Sie würden uns genau zeigen, wieviel die Russen über ihren chinesischen Feind wissen und sogar, was sie gegen ihn planen. Wir könnten nach Herzenslust rückpeilen. Ja, Peter?«
Eine tragische Meldung schlägt immer wie ein Blitz aus heiterem Himmel ein. Eben noch stand ein Ideengebäude; im nächsten Moment ist es eingestürzt, und für die Betroffenen hat die Welt sich unwiderruflich verändert. Guillam hatte dennoch, als Polster sozusagen, ein Amtsformular des Circus und das geschriebene Wort verwendet. Er hatte seine Botschaft für Smiley auf ein Telegrammformular geschrieben in der Hoffnung, dessen Anblick werde ihn schonend vorbereiten. Er ging ruhig zum Schreibtisch, das Formular in der Hand, legte es auf die Glasplatte und wartete. »Übrigens, Charlie Marshall, der andere Pilot«, wendete sich Smiley, der Unterbrechung nicht achtend, an die Versammlung. »Haben die Vettern ihn schon aufgestöbert, Molly?«
»Seine Geschichte ist ähnlich der Ricardos«, erwiderte Molly Meakin und blickte Guillam fragend an. Er stand noch immer neben Smiley und sah plötzlich grau und ältlich und krank aus. »Wie Ricardo flog auch er im Laos-Krieg für die Vettern, Mr. Smiley. Die beiden waren Kursgenossen an Langleys geheimer Fliegerschule in Oklahoma. Als Laos vorbei war, ließen sie ihn fallen und wissen seither nichts mehr von ihm. Bei Rauschgift heißt es, er habe Opium transportiert, aber das heißt es von allen Piloten der Vettern.«
»Ich glaube, Sie sollten das lesen«, sagte Guillam und wies entschlossen auf die Meldung.
»Marshall muß Westerbys nächster Schritt sein. Wir müssen den Druck aufrechterhalten«, sagte Smiley.
Endlich nahm Smiley das Telegrammformular zur Hand und hielt es prüfend nach links, wo das Licht am hellsten' war. Er las mit hochgezogenen Brauen und gesenkten Lidern. Wie immer las er zweimal. Sein Ausdruck veränderte sich nicht, aber die Nächstsitzenden sagten, aus seinem Gesicht sei alle Bewegung gewichen.
»Vielen Dank, Peter«, sagte er ruhig und legte das Blatt nieder. »Und vielen Dank Ihnen allen. Connie und Doc, würden Sie vielleicht noch hierbleiben? Allen übrigen wünsche ich eine lange und gute Nacht.«
Das junge Volk quittierte diesen frommen Wunsch mit fröhlichem Gelächter, denn es war bereits weit über Mitternacht.
Das Mädchen von droben schlief wie eine nette braune Puppe an eines von Jerrys langen Beinen geschmiegt, drall und tadellos im orangefarbenen Nachtlicht des regentriefenden Hongkong-Himmels. Sie schnarchte wie ein Sägewerk, und Jerry starrte durchs Fenster und dachte an Lizzie Worthington. Er dachte an die beiden Krallenspuren an ihrem Kinn und fragte sich aufs neue, wer sie ihr beigebracht haben mochte. Er dachte an Tiu, den er sich als ihren Kerkermeister vorstellte, und er sagte das Wort »Pferdeschreiber« vor sich hin, bis es ihn richtig wütend machte. Er fragte sich, wieviel Warten ihm noch bevorstehe und ob er danach bei ihr eine Chance habe, was alles war, was er verlangte: eine Chance. Das Mädchen bewegte sich, aber nur, um sich zu kratzen. Von nebenan hörte Jerry ein rituelles Klicken, als die übliche Mahjong-Runde die Steine wusch, ehe sie verteilt wurden. Das Mädchen war zunächst nicht übermäßig begeistert auf Jerrys Annäherungsversuche eingegangen - ein Schwall leidenschaftlicher Billetts, die zu allen Stunden der vorhergegangenen Tage in ihren Briefkasten fielen -, aber sie mußte unbedingt ihre Gasrechnung bezahlen. Offiziell war sie Eigentum eines Geschäftsmannes, aber in letzter Zeit waren seine Besuche seltener geworden und in allerletzter hatten sie völlig aufgehört, mit dem Ergebnis, daß sie sich weder die Wahrsagerin leisten konnte noch Mahjong, noch die eleganten Kleider, für die sie sich entschieden hatte, sobald ihr der Durchbruch in die Kung-Fu-Filme gelingen würde. Also erhörte sie ihn, aber auf streng finanzieller Basis. Sie fürchtete vor allem, ihr Verkehr mit dem häßlichen kweilo könne bekanntwerden, und deshalb hatte sie ihre komplette Ausgehuniform angelegt, ehe sie das eine Stockwerk herunterkam; einen braunen Regenmantel mit amerikanischen Messingspangen an den Schulterstücken, gelbe Plastikstiefel und einen Plastikschirm mit roten Rosen. Jetzt lag diese ganze Ausrüstung auf dem Parkettboden herum wie Kriegsgerät nach einer Schlacht und sie schlief auch in der gleichen heldischen Erschöpfung, so daß ihre einzige Reaktion auf das Klingeln des Telefons in einem schläfrigen kantonesischen Fluch bestand.
Als Jerry den Hörer abnahm, tat er es in der idiotischen Hoffnung, es könne Lizzie sein, aber es war nicht Lizzie. »Bewegen Sie Ihren Hintern schleunigst hierher, und Stubbsi wird Sie lieben«, versprach Luke. »Beeilung. Ich tue Ihnen den größten Gefallen unserer Karriere.«
»Wo ist hierher, wenn ich fragen darf?« fragte Jerry. »Vor Ihrem Haus, Sie Affe.«
Er rollte das Mädchen von sich weg, aber sie wachte noch immer nicht auf.
Die Straßen glänzten vom unerwarteten Regen, und der Mond hatte einen dicken Hof. Luke fuhr, als säßen sie in einem Jeep, im höchsten Gang. An den Straßenecken dröhnte die Kupplung wie Hammerschläge. Whiskydünste füllten den Wagen. »Was haben Sie denn, um Himmels willen?« fragte Jerry. »Was ist los?«
»Großartiges Stück Fleisch. Schnauze.«
»Ich will kein Fleisch. Ich bin bedient.«
»Das werden Sie schon mögen, Mann, und ob Sie das mögen werden.«
Sie hielten auf den Hafentunnel zu. Ein Schwarm Radfahrer ohne Licht kurvte aus einer Querstraße heran, und Luke mußte auf den Mittelstreifen, um ihnen auszuweichen. »Halten Sie Ausschau nach einem verdammt großen Bau«, sagte Luke. Ein Streifenwagen mit blinkenden Lichtern überholte sie. Luke, der glaubte, daß er angehalten werden sollte, kurbelte sein Fenster herunter. »Wir sind Presse, ihr Idioten«, brüllte er. »Wir sind Stars, hört ihr?«
Im Inneren des vorbeirasenden Streifenwagens konnten sie einen chinesischen Sergeanten und dessen Fahrer ausmachen, im Fond thronte ein würdig aussehender Europäer, vielleicht ein Richter. Vor ihnen, rechter Hand vom Fahrdamm, kam der angekündigte Bau in Sicht; ein Käfig aus gelben Tragbalken und Bambusgerüsten, wimmelnd von schwitzenden Kulis. Kräne, die im Regen funkelten, hingen wie Peitschen über ihnen. Das Flutlicht kam vom Boden und wurde hoffnungslos vom Nebel verschluckt. »Halten Sie nach einem niedrigen Gebäude Ausschau, muß ganz nah sein«, befahl Luke und verlangsamte auf sechzig. »Weiß. Schauen Sie nach einem weißen Gebäude aus.« Jerry wies darauf hin, ein zweistöckiger Komplex aus feuchtem Stuck, weder neu noch alt, neben dem Eingang ein zwanzig Fuß hohes Bambusgestell und ein Krankenwagen. Der Krankenwagen stand offen, und die drei Fahrer lungerten rauchend darin und beobachteten die Polizisten, die im Vorhof herumschwärmten, als gälte es, einen Aufstand unter Kontrolle zu bringen.
»Er gibt uns eine Stunde Vorsprung vor dem Feld.«
»Wer?«
»Rocker. Der Rocker gibt ihn uns. Wer dachten Sie?«
»Warum?«
»Wahrscheinlich, weil er mich verprügelt hat. Er liebt mich. Er liebt Sie auch. Er hat eigens gesagt, ich soll Sie mitbringen.«
»Warum?«
Der Regen fiel unaufhörlich.
»Warum? Warum? Warum?« echote Luke wütend. »Los jetzt, schnell!«
Die Bambusstäbe waren überdimensional, höher als die Mauer. Ein paar orangerot gekleidete Priester suchten unter ihnen Schutz; sie schlugen auf Zimbeln. Ein dritter hielt einen Regenschirm. Ein paar Blumenstände waren da, viele Ringelblumen, und Leichenwagen, und von irgendwoher außer Sichtweite hörte man müßigen Singsang. Die Eingangshalle glich einem Dschungelsumpf und stank nach Formaldehyd. »Big Moos Sonderkurier«, sagte Luke. »Presse«, sagte Jerry.
Die Polizei ließ sie mit einem Kopfnicken durch, niemand wollte ihre Ausweise sehen.
»Wo ist der Superintendent?« fragte Luke. Der Formaldehyd-Gestank war gräßlich. Ein junger Sergeant führte sie. Durch eine gläserne Schwingtür kamen sie in einen Raum, wo an die dreißig alte Männer und Frauen, die meisten in Pyjama-Anzügen, phlegmatisch warteten, wie auf einen verspäteten Zug, über sich die schattenlosen Neonleuchten und einen elektrischen Ventilator. Einer der alten Männer räusperte sich und spuckte auf den grün gefliesten Boden. Beim Anblick der riesigen kweilos erstarrten sie in höflichem Staunen. Das Büro des Pathologen war gelb. Gelbe Wände, gelbe Jalousien, geschlossen; eine nicht funktionierende Klimaanlage. Der gleiche grüne Fliesenboden, leicht aufzuwaschen. »Toller Geruch«, sagte Luke. »Anheimelnd«, pflichtete Jerry bei.
Jerry wünschte sich aufs Schlachtfeld. Auf dem Schlachtfeld war es leichter. Der Sergeant wies sie an, zu warten und ging weiter voraus. Sie hörten Bahren quietschen, leise Stimmen, das Zuschlagen einer Gefrierfach-Tür, das Zischeln von Gummisohlen. Ein Band von »Grey's Anatomy« lag neben dem Telefon.
Jerry blätterte darin und starrte die Bilder an. Luke hockte auf einem Stuhl. Ein Assistent mit kurzen Gummistiefeln und einem Overall brachte Tee. Weiße Tasse, grüne Ränder, und das Wappen von Hongkong nebst einer Krone.
»Könnten Sie dem Sergeant bitte sagen, er möchte sich beeilen?« sagte Luke. »Im Handumdrehen wird die ganze verdammte Stadt hier sein.«
»Warum wir?« sagte Jerry wieder.
Luke goß einen Schwall Tee auf den Fliesenboden, und während der Tee in den Gully rann, schraubte er den Verschluß seiner Whiskyflasche auf. Der Sergeant kam zurück und winkte ihnen wortlos mit seiner schlanken Hand. Sie folgten ihm wieder zurück durch den Wartesaal. Dann kam keine Tür mehr, nur ein Korridor und eine Barriere wie in einer öffentlichen Bedürfnisanstalt, und dann waren sie da. Als erstes sah Jerry die ramponierte Bahre. Nichts kann so alt und trostlos aussehen, dachte er, wie ausgediente Krankenhauseinrichtung. Die Wände waren mit grünem Schimmel überzogen, vom Plafond hingen grüne Stalagtiten, ein verbeulter Spucknapf war mit gebrauchtem Verbandzeug gefüllt. Sie putzen ihnen die Nasen aus, erinnerte er sich, ehe sie das Laken herunterziehen und sie einem zeigen. Eine Höflichkeit, damit man nicht so geschockt ist. Die Formaldehydschwaden trieben ihm die Tränen in die Augen. Ein chinesischer Pathologe saß am Fenster und notierte etwas auf einen Block. Ein paar Wärter standen herum, und noch mehr Polizisten. Etwas um Entschuldigung Bittendes schien in der Luft zu liegen. Jerry konnte es nicht definieren. Der Rocker ignorierte sie. Er stand in einer Ecke und flüsterte auf den würdig aussehenden Herrn vom Rücksitz des Streifenwagens ein, aber die Ecke war nicht weit entfernt, und Jerry hörte zweimal den Ausspruch »Makel auf unserem guten Ruf« in empörtem, nervösem Ton vorgebracht. Über die Leiche war ein weißes Tuch gebreitet, darauf ein blaues Kreuz aus zwei gleichlangen Balken. Damit sie es so und andersherum benutzen können, dachte Jerry. Es war die einzige Bahre im Raum. Das einzige Laken. Der Rest der Ausstellung befand sich im Inneren der beiden großen Kühlfächer mit den Holztüren, begehbar, so groß wie ein Fleischerladen. Luke geriet vor Ungeduld allmählich außer sich.
»Herrjeh, Rocker!« rief er durch den Raum. »Wie lang wollen Sie denn den Deckel noch hier draufhalten? Wir haben zu tun.«
Niemand kümmerte sich um ihn. Luke, der genug vom Warten hatte, schlug das Laken zurück. Jerry sah hin und sah wieder weg. Der Sezierraum war nebenan, und er konnte das Geräusch der Säge hören, wie das Knurren eines Hundes. Kein Wunder, daß alle glauben, sie müßten sich entschuldigen, dachte Jerry blöde. Eine Euro-Leiche hierherbringen1. »Herrgottnochmal«, sagte Luke. »Herrgott. Wer hat das mit ihm angestellt? Wie macht man solche Male? Das sieht nach Triade aus. Herrjeh.«
Das beschlagene Fenster ging auf den Hof. Jerry konnte den Bambus im Regen schwanken sehen und die flüssigen Schatten einer weiteren Ambulanz, die einen weiteren Kunden ablieferte, aber keiner durfte wohl jemals so ausgesehen haben wie dieser hier, dachte er. Ein Polizeifotograf war erschienen, Blitzlichter flammten auf. An der Wand hing ein Telefon. Der Rocker redete hinein. Er hatte Luke noch immer nicht angesehen und Jerry auch nicht.
»Ich möchte, daß er von hier wegkommt«, sagte der würdige Herr. »Jederzeit«, sagte der Rocker. Er ging wieder ans Telefon. »In der Ummauerten Stadt, Sir . . . Ja, Sir . . . In einer Hintergasse, Sir. Nackt. Menge Alkohol . . . Der Gerichtspathologe identifizierte ihn sofort, Sir. Ja, Sir, die Bank ist bereits hier, Sir.« Er legte auf. »Ja, Sir, Nein, Sir, jede Menge, Sir«, knurrte er. Er wählte eine Nummer.
Luke machte sich Notizen. »Herrjeh«, sagte er immer wieder schaudernd. »Herrjeh. Muß Wochen gedauert haben, bis er hinüber war. Monate.«
Sie haben ihn zweimal getötet, dachte Jerry. Einmal, damit er redete, und einmal, um ihn zum Schweigen zu bringen. Was sie ihm beim erstenmal angetan hatten, war an seinem ganzen Körper zu sehen, große und kleine Stellen, wie Flammen einen Teppich erfassen, Löcher hineinfressen und dann plötzlich von ihm ablassen. Und dann das Ding rings um seinen Hals, ein völlig anderer, rascherer Tod. Das hatten sie als Letztes gemacht, als sie ihn nicht mehr brauchten.
Luke rief dem Pathologen zu: »Drehen Sie ihn doch mal um, ja?
Würden Sie die Güte haben, ihn umzudrehen, Sir?«
Der Superintendent hatte den Hörer aufgelegt.
»Wie lautet die Story?« fragte Jerry ihn. »Wer ist er?«
»Heißt Frost«, sagte der Rocker und starrte Jerry mit seinen hangenden Augen an. »Höherer Beamter der South Asian and China. Treuhand-Abteilung.«
»Wer hat ihn getötet?« fragte Jerry.
»Tja, wer hat's getan? Das ist die Frage«, sagte Luke und schrieb eifrig.
»Die Mäuse«, sagte der Rocker.
»In Hongkong gibt es keine Triaden, keine Kommunisten und keine Kuomintang. Stimmt's Rocker?«
»Und keine Huren«, knurrte der Rocker.
Der würdige Herr ersparte dem Rocker weitere Antworten:
»Ein ganz abscheulicher Fall von Raubmord«, erklärte er über die Schulter des Polizisten hinweg. »Gemeiner, perverser Raubmord, Beweis, wie wichtig es ist, daß die Sicherheitskräfte jederzeit auf ihrem Posten sind. Er war ein treuer Diener unserer Bank.«
»Das war kein Raubmord«, sagte Luke mit einem neuerlichen Blick auf Frost. »Das war ein Kommando.«
»Er hat weiß Gott ein paar verdammt komische Freunde gehabt«, sagte der Rocker und starrte Jerry unverwandt an.
»Was soll das heißen?« sagte Jerry.
»Was weiß man bis jetzt?« sagte Luke.
»Er war bis Mitternacht in der Stadt. Feierte in Gesellschaft einiger chinesischer Herren. Ein Puff nach dem anderen. Dann verliert sich seine Spur. Bis heute nacht.«
»Die Bank setzt eine Belohnung von fünfzigtausend Dollar aus«, sagte der Würdige.
»Hongkong oder US?« sagte Luke, während er weiterschrieb.
Der Würdige sagte »Hongkong« - sehr scharf.
»Macht mal halblang, ihr Jungens«, warnte der Rocker. »Er hat eine kranke Frau im Stanley Hospital, und er hat Kinder - «
»Und die Bank hat einen Ruf zu verlieren«, sagte der Würdige.
»Das soll unsere vornehmste Sorge sein«, sagte Luke.
Eine halbe Stunde danach gingen sie, vom Feld war noch immer nichts zu sehen.
»Danke«, sagte Luke zum Superintendent.
»Keine Ursache«, sagte der Rocker. Sein hängendes Augenlid tränte, wie Jerry feststellte, sobald er müde war.
Wir haben den Baum geschüttelt, dachte Jerry, als sie wegfuhren.
Junge, Junge, und wie wir ihn geschüttelt haben!
Sie saßen wieder in der gleichen Haltung da, Smiley an seinem Schreibtisch, Connie im Rollstuhl, di Salis in die Betrachtung der trägen Rauchkringel aus seiner Pfeife vertieft. Guillam stand neben Smiley; das Krächzen von Martellos Stimme klang ihm noch in den Ohren. Smiley allerdings polierte jetzt mit leicht kreisenden Daumenbewegungen seine Brille am Krawattenzipfel, di Salis, der Jesuit, sprach als erster. Vielleicht hatte er am meisten zu verdrängen. »Es führt keinerlei logische Verbindung von diesem Unfall zu uns. Frost war ein Libertin. Er hielt sich chinesische Frauen. Er war eindeutig korrupt. Er nahm unser Bestechungsgeld ohne weiteres an. Weiß der Himmel, was er bereits früher an Bestechungsgeldern kassierte. Mir kann man nichts vorwerfen.«
»Ach Quatsch«, brummte Connie. Sie saß ausdruckslos da, und der Hund lag schlafend auf ihrem Schoß. Sie wärmte sich die verkrüppelten Hände an seinem braunen Rücken. Im Hintergrund goß der dunkle Fawn Tee ein.
Smiley sprach zu dem Telegrammformular. Niemand hatte sein Gesicht gesehen, seit er sich zum erstenmal vorgebeugt hatte, um die Meldung zu lesen.
»Connie, wir müssen rechnen«, sagte er.
»Ja, Lieber.«
»Wer weiß außerhalb dieser vier Wände, daß wir Frost einschalteten?«
»Craw, Westerby, Craws Polizist. Und wenn sie ein bißchen Grütze im Kopf haben, müßten die Vettern es erraten haben.«
»Nicht Lacon, nicht Whitehall.«
»Und nicht Karla, Lieber«, erklärte'Connie mit einem scharfen Blick hinüber zu dem trüben Porträt.
»Nein. Karla nicht. Das glaube ich.« An seiner Stimme konnten sie spüren, wie mühsam der Verstand den Gefühlen seinen Willen aufzwang. »Für Karla würde es eine weit übertriebene Reaktion sein. Wenn ein Bankkonto auffliegt, so braucht er nur irgendwo anders ein neues zu eröffnen. Er hat so etwas nicht nötig.« Mit den Fingerspitzen schob er das Telegrammformular genau einen Zoll weit auf der Glasplatte nach oben. »Die Aktion gelang, wie sie geplant war. Die Reaktion war einfach -.« Er begann von neuem. »Die Reaktion war mehr, als wir erwarteten. Operativ gesehen ist nichts schiefgelaufen. Operativ haben wir den Fall gefördert.«
»Wir haben sie rausgelockt, Lieber«, sagte Connie entschieden, di Salis ging nun vollends in die Luft. »Ich verbitte mir, daß hier gesprochen wird, als wären wir alle Komplizen. Es besteht keine nachgewiesene Verbindung, und ich betrachte Ihre Unterstellung einer Verbindung als böswillig.« Smileys Erwiderung blieb neutral.
»Ich würde es als Unterstellung betrachten, wenn ich etwas anderes vorbrächte. Ich habe diese Initiative angeordnet. Ich verschließe die Augen nicht vor den Folgen, nur weil sie unerfreulich sind. Schreiben Sie's auf meine Rechnung. Aber wir wollen uns nicht selber betrügen.«
»Der arme Teufel wußte nicht genug, wie?« überlegte Connie anscheinend im Selbstgespräch. Zuerst griff niemand den Gedanken auf, dann wollte Guillam wissen, was sie damit sagen wolle. »Frost hatte nichts zu verraten, darling«, erklärte sie. »Das ist das Schlimmste, was einem passieren kann. Was konnte er ihnen geben? Einen übereifrigen Journalisten namens Westerby. Das hatten sie bereits, die armen Lieben. Also machten sie natürlich weiter. Und immer weiter.« Sie wandte sich Smiley zu. Er warder einzige, der soviel Historie mit ihr geteilt hatte. »Wir hatten es uns zur Regel gemacht, erinnern Sie sich, George, wenn die Jungens und Mädels rausgingen. Wir gaben ihnen immer etwas mit, das sie gestehen konnten, die Armen.« Mit liebevoller Behutsamkeit setzte Fawn einen Pappbecher voll Tee, mit einer Zitronenscheibe darin, auf Smileys Schreibtisch ab. Sein Totenschädelgrinsen löste Guillams unterdrückte Wut aus: »Wenn Sie mit Austeilen fertig sind, dann raus!« zischte er Fawn ins Ohr. Immer noch feixend ging Fawn hinaus. »Was mag jetzt in Ko vorgehen?« fragte Smiley, immer noch an das Telegrammformular gerichtet. Er hatte die Finger unterm Kinn verschränkt wie ein Betender.
»Geht der Arsch mit Grundeis«, erklärte Connie zuversichtlich. »Fleet Street auf dem Kriegspfad, Frost tot, und er selber keinen Schritt weiter.«
»Ja. Ja, er dürfte unsicher sein. >Kann er den Damm halten? Kann er die undichten Stellen verstopfen? Wo sind überhaupt die undichten Stellen?< . . . Genau das wollten wir. Wir haben es bekommen.« Er machte eine winzige Bewegung mit dem gesenkten Kopf in Richtung auf Guillam. »Peter, würden Sie die Vettern bitten, sie möchten Tius Überwachung verstärken. Aber nur statische Observierung, bitte sagen Sie ihnen das. Keine Beschattung auf der Straße, nichts von dergleichen Unfug, das Wild darf nicht verschreckt werden. Telefon, Post, nur diese einfachen Sachen. Doc, wann reiste Tiu zum letztenmal aufs Festland?« Mißmutig nannte di Salis ein Datum.
»Stellen Sie fest, welche Route er nahm und wo er sein Billett gekauft hat. Für den Fall, daß er es wieder macht.«
»Steht bereits in den Akten«, gab di Salis finster zurück, setzte ein höchst unschönes Hohnlächeln auf, blickte gen Himmel und verzog Lippen und Schultern.
»Dann seien Sie doch so freundlich, es für mich noch eigens herauszuschreiben«, erwiderte Smiley mit unerschütterlicher Langmut. »Westerby«, fuhr er mit der gleichen tonlosen Stimme fort, und Guillam hatte einen Moment lang das schwindelerregende Gefühl, Smiley leide an einer Art Halluzination und glaube Jerry hier im Büro, damit er wie alle anderen seine Befehle entgegennehme, »ziehe ich ab - das kann ich. Seine Zeitung ruft ihn zurück, was spricht dagegen? Was dann? Ko wartet. Er lauscht. Er hört nichts. Und er atmet auf.«
»Und auftreten unsere Rauschgifthelden«, sagte Guillam mit einem Blick auf den Kalender. »Sol Ecklands großer Tag.«
»Oder ich ziehe ihn ab und ersetze ihn, und ein anderer Außenmann übernimmt die Spur. Wäre er weniger gefährdet, als Westerby es jetzt ist?«
»Klappt nie«, murmelte Connie. »Die Pferde wechseln. Niemals. Und Sie wissen es. Instruktion, Training, andere Gangart, andere Verbindungen. Niemals.«
»Ich sehe gar nicht ein, wieso er gefährdet ist!« rief di Salis schrill. Guillam fuhr zornig herum und machte Miene, ihm eine zu verpassen, aber Smileys nächste Frage kam ihm zuvor. »Warum nicht, Doc?«
»Wenn wir Ihre Hypothese übernehmen wollen - was ich nicht tue -, so ist Ko kein Mann der Gewalt. Er ist ein erfolgreicher Geschäftsmann, und seine Maximen lauten Ansehen, Tüchtigkeit, Verdienstlichkeit und harte Arbeit. Ich dulde nicht, daß man von ihm spricht, als wäre er eine Art Raubmörder. Zugegeben, er hat seine Leute, und seine Leute sind vielleicht weniger nett als er, wenn es zum Treffen kommt. So wie wir Whitehalls Leute sind. Das macht aus Whitehall keine Schufte, möchte ich behaupten.« Um Gottes willen, Schluß damit, dachte Guillam. »Westerby ist nicht Frost«, fuhr di Salis mit dem gleichen lehrhaften Näseln fort. »Westerby ist kein ungetreuer Knecht.
Westerby hat Kos Vertrauen nicht mißbraucht, auch nicht sein Geld, er hat Kos Bruder nicht verraten. In Kos Augen repräsentiert Westerby eine große Zeitung. Und Westerby ließ durchblicken - sowohl Frost wie Tiu gegenüber, soviel ich weiß -, daß seine Zeitung über die betreffende Sache weit mehr wisse als er selber. Ko kennt die Welt. Wenn er einen Journalisten beseitigt, ist damit die Gefahr nicht gebannt. Im Gegenteil, er zieht sich die ganze Meute auf den Hals.«
»Was also bewegt ihn zur Zeit?«
»Ungewißheit. Wie Connie richtig sagte. Er kann die Gefahr nicht ermessen. Die Chinesen haben wenig Zugang zu Abstraktem und noch weniger zu abstrakten Situationen. Er wäre froh, wenn die Gefahr vorüberginge, und wenn sich nichts Konkretes ereignet, wird er annehmen, sie sei vorüber. Diese Angewohnheit ist nicht auf das Abendland beschränkt. Ich habe nur Ihre Hypothese ausgebaut.« Er stand auf. »Ich pflichte ihr nicht bei. Unter keinen Umständen. Ich distanziere mich ausdrücklich von ihr.« Er stelzte hinaus. Auf Smileys Nicken hin folgte ihm Guillam. Nur Connie blieb.
Smiley hielt die Augen geschlossen, die Stirn hatte sich über der Nasenwurzel zusammengezogen. Lange Zeit sagte Connie kein Wort. Trot lag wie tot auf ihrem Schoß, und sie blickte auf ihn herab und kraulte ihm den Bauch.
»Karla würde sich keinen Pfifferling drum scheren, wie, Liebes?« murmelte sie. »Nicht um einen toten Frost und nicht um zehn. Ja, das ist der Unterschied. Wir können nicht gut noch deutlicher werden, wie, heutzutage nicht? Wer hat doch gleich immer gesagt >Wir kämpfen um das Überleben des vernünftigen Menschen?< Steed-Asprey? Oder war es Control? Hat mir gefallen. War alles dran. Hitler. Die Neue Sache. Das ist es, was wir sind: vernünftig. Nicht wahr, Trot? Wir sind nicht bloß Engländer. Wir sind vernünftig.« Ihre Stimme wurde ein wenig leiser. »Darling, was ist mit Sam? Haben Sie darüber nachgedacht?« Es dauerte eine ganze Weile, ehe Smiley sprach, und dann war seine Stimme barsch, eine Stimme, die Connie auf Armeslänge fernhielt.
»Er soll in den Kulissen bleiben. Nichts tun, bis er grünes Licht bekommt. Er weiß das. Er muß auf das grüne Licht warten.« Er atmete tief ein und wieder aus. »Kann sein, daß er überhaupt nicht gebraucht wird. Kann durchaus sein, daß wir ohne ihn auskommen. Alles hängt davon ab, wie Ko springt.«
»George darling, lieber George.«
Nach stillschweigendem Ritual rollte sie sich zum Kamin, nahm den Schürhaken und begann unter großen Mühen, in den Kohlen zu stochern, während sie mit der anderen Hand den Hund festhielt.
Jerry stand am Küchenfenster und sah zu, wie die gelbe Dämmerung den Nebel des Hafens durchschnitt. Gestern abend war Sturm gewesen, erinnerte er sich. Mußte eine Stunde vor Lukes Anruf ausgebrochen sein. Er hatte auf seiner Matratze gewacht, während das Mädchen an seinem Bein schnarchte. Zuerst der Geruch nach Vegetation, dann der Wind, der verstohlen in den Palmen raschelte, als rieben sich trockene Hände aneinander. Dann das Zischen des Regens, als würden Tonnen geschmolzener Bleikugeln ins Meer geschüttet. Schließlich die Flächenblitze, die den Hafen in langen, langsamen Atemzügen erschütterten, während Donnersalven über den tanzenden Hausdächern krachten. Ich habe ihn getötet, dachte er. Wie man's auch dreht und wendet, ich habe ihm den entscheidenden Stoß versetzt. >Es sind nicht nur die Generale, es ist jeder Mann, der ein Gewehr trägt.< Quelle und Kontext zitieren.
Das Telefon klingelte. Soll es klingeln, dachte er. Wahrscheinlich Craw, der sich in die Hosen macht. Er nahm den Hörer ab. Luke, der sich amerikanischer denn je anhörte.
»Hey, Mann! Großes Drama! Stubbsi kam soeben über den Draht. Persönlich für Westerby. Vor dem Lesen essen. Wollen Sie's hören?«
»Nein.«
»Rundreise durch die Kriegszonen. Die kambodschanischen Fluggesellschaften und die Wirtschaft im Belagerungszustand. Unser Mann vor Ort mitten im Geschoßhagel! Sie haben Glück, Kamerad! Das Blättchen möchte, daß Sie sich eins auf den Pelz brennen lassen!«
Und daß ich Lizzie diesem Tiu überlasse, dachte er und legte auf. Und nach allem, was ich weiß, auch diesem Schwein Collins, der hinter ihr herschleicht wie ein Mädchenhändler. Jerry hatte ein paarmal mit Sam zusammengearbeitet, als dieser noch schlicht Mister Mellon in Vientiane war, ein unheimlich erfolgreicher Händler an der Spitze der dortigen europäischen Gangster. Jerry hielt ihn für eine der unappetitlichsten Gestalten, die er kannte. Er kehrte zu seinem Platz am Fenster zurück und dachte wieder an Lizzie dort droben auf ihrem schwindelnden Hausdach. Dachte an den kleinen Frost und wie gern er gelebt hatte. Dachte an den Geruch, der ihn bei der Rückkehr in die Wohnung begrüßt hatte. Der Geruch war überall. Er überlagerte den Geruch des Deodorants, das das Mädchen benutzte, den abgestandenen Zigarettenrauch und den Geruch nach Gas und Kochöl von den Mahjong-Spielern nebenan. Jerry hatte nach diesem Geruch den Weg verfolgen können, den Tiu bei seiner Suchaktion genommen hatte, wo er sich länger aufgehalten, wo er nur flüchtig verweilte auf seinem Streifzug durch Jerrys Kleidungsstücke, Jerrys Vorratskammer und Jerrys wenige Habseligkeiten. Dem Geruch einer Mischung aus Rosenwasser und Mandeln, Lieblingsduft einer früheren Ehefrau.
Die belagerte Stadt
Sobald man Hongkong verlaßt, hört es auf zu existieren. Wenn man den letzten chinesischen Polizisten in britischen Kommißstiefeln und Wickelgamaschen passiert hat und den Atem anhält, während die Maschine in sechzig Fuß Höhe über die grauen Dächer der Slums hinwegbraust, wenn die umliegenden Inseln im blauen Dunst verschwunden sind, dann weiß man, daß der Vorhang gefallen ist, die Requisiten weggeräumt sind und daß alles dort Erlebte Illusion war. Diesmal jedoch konnte Jerry sich nicht zu diesem Gefühl aufschwingen. Er trug die Erinnerung an den toten Frost und an das lebende Mädchen mit sich, und sie war auch noch bei ihm, als er Bangkok erreicht hatte. Wie immer brauchte er den ganzen Tag, bis er fand, was er suchte; wie immer war er nahe daran, aufzugeben. Nach Jerrys Ansicht ging das in Bangkok allen Leuten so: ob ein Tourist nach einem wat Ausschau hält, ein Journalist nach einer Story - oder Jerry nach Ricardos Freund und Partner Charlie Marshall - immer befindet sich das Ziel aller Wünsche am anderen Ende irgendeiner verdammten Gasse, eingeklemmt zwischen einem verstopften klongund einem Haufen Betonschutt, und es kostet einen immer fünf US-Dollar mehr, als man erwartete. Jetzt war in Bangkok zwar theoretisch Trockenzeit, aber Jerry kannte die Stadt nicht anders als im Regen, der unvermittelt in Wolkenbrüchen aus der Schmutzglocke des Himmels schoß. Später sagten die Leute immer, er habe den einzigen Regentag erwischt.
Er begann seine Suche am Flugplatz, weil er ohnehin schon hier war und von der Überlegung ausging, daß im Südosten niemand lange fliegen könne, ohne Bangkok anzusteuern. Charlie sei nicht mehr in der Gegend, hieß es. Jemand versicherte ihm, Charlie habe nach Ries Tod die Fliegerei überhaupt aufgegeben. Wieder jemand sagte, er sei im Gefängnis. Und noch jemand meinte, er sei höchstwahrscheinlich »in einer der Höhlen«. Eine hinreißende Hostesse von Air Vietnam sagte kichernd, er mache Frachtflüge nach Saigon; sie habe ihn immer nur in Saigon gesehen. »Von woher?« fragte Jerry.
»Vielleicht Phnom Penh, vielleicht Vientiane«, sagte sie - aber Charlies Ziel, dessen war sie sicher, sei immer nur Saigon, und er komme nie nach Bangkok. Jerry blätterte im Telefonbuch, Indocharter war nicht aufgeführt. Wider alle Hoffnung suchte er auch den Namen Marshall, fand einen - sogar einen Marshall, C. - und rief ihn an, bekam jedoch nicht den Sohn eines Kuomintang-Kriegsherrn, der sich einen hohen militärischen Rang zugelegt hatte, an den Apparat, sondern einen verwirrten schottischen Geschäftsmann, der immer wieder sagte: »Hören Sie, Sie müssen mal vorbeikommen.« Er ging zum Gefängnis, wo die farangs eingesperrt werden, wenn sie nicht zahlen können oder gegen einen General unhöflich waren, und sah die Liste der Insassen durch. Er marschierte die Galerien entlang und linste durch Käfigtüren und sprach mit einigen übergeschnappten Hippies. Sie wußten zwar eine Menge über ihre Inhaftierung zu sagen, aber Charlie Marshall hatten sie nicht gesehen, sie hatten nie von ihm gehört und sie scherten sich auch, um es fein auszudrücken, einen feuchten Staub um ihn. In düsterer Stimmung fuhr er zu dem sogenannten Sanatorium, wo Drogenabhängige ihre Entziehungskur machten, und dort herrschte große Aufregung, weil es einem Mann trotz der Zwangsjacke gelungen war, sich mit den Fingern die Augen auszustechen, aber es war nicht Charlie Marshall, und, nein, sie hatten keine Piloten hier, auch keine Korsen oder korsischen Chinesen und bestimmt keinen Sohn eines Kuomintang-Generals.
Also machte Jerry sich an die Hotels, in denen Piloten bei Zwischenlandungen herumlungern mochten. Er tat es nicht gern, denn es war eine stumpfsinnige Arbeit und überdies wußte er, daß Ko hier eine große Interessenvertretung unterhielt. Er zweifelte nicht ernsthaft daran, daß Frost ihn verraten hatte; er wußte, daß die meisten reichen Überseechinesen legitimerweise mehrere Pässe benutzen, und die Swatonesen mehr als mehrere; er wußte, daß Ko einen thailändischen Paß in der Tasche hatte und wahrscheinlich auch ein paar thailändische Generale. Und er wußte, daß die Thais, wenn sie erzürnt waren, bedeutend rascher und gründlicher töteten als andere Leute, auch wenn sie bei einer Exekution durch ein Erschießungskommando den Delinquenten durch ein ausgespanntes Laken hindurch erschossen, um die Gebote Buddhas nicht zu verletzen. Aus diesen und noch ein paar weiteren Gründen fühlte Jerry sich nicht ausgesprochen behaglich, als er Charlie Marshalls Namen in sämtlichen großen Hotels heraustrompetete.
Er probierte es mit dem Erawan, dem Hyatt, dem Miramar und dem Oriental und ungefähr dreißig weiteren, und im Erawan trat er besonders behutsam auf, weil er sich erinnerte, daß China Airsea hier eine Suite hatte und Craw gesagt hatte, Ko benutze sie häufig. Er stellte sich vor, wie die blondhaarige Lizzie für ihn Hostesse spielte oder ihre langen Glieder draußen am Swimmingpool sonnte, während die Bosse Whisky schlürften und überlegten, wieviel man für eine Stunde von Lizzies Zeit wohl anlegen müsse. Während er herumfuhr, prasselte ein jäher Regenschauer in dicken Tropfen herab, die so verschmutzt waren, daß sie das Gold der Straßentempel schwärzten. Der Taxifahrer geriet auf den überschwemmten Straßen ins Schleudern, so daß er die Wasserbüffel um Zentimeter verfehlte, die grellfarbenen Autobusse klingelten schrill und fuhren auf sie los, bluttriefende Kung-Fu-Plakate schrien auf sie ein, aber der Name Marshall - Charlie Marshall - Captain Marshall, sagte niemandem etwas, obwohl Jerry freigebig Trinkgelder verteilte. Er hat ein Mädchen, dachte Jerry. Er hat ein Mädchen und ist bei ihr untergekrochen, genau wie ich es auch machen würde. Im Oriental bestach er den Portier, daß er für ihn Nachrichten entgegennehme, außerdem durfte er das Telefon benutzen und erhielt, was das Beste von allem war, eine Quittung für zwei Übernachtungen, ein Schlag für Stubbs. Aber das Abklappern der Hotels hatte an seinen Nerven gezerrt, er fühlte sich ausgesetzt und gefährdet, also schlief er, für einen Dollar pro Nacht und im voraus zu bezahlen, in einem obskuren Logierhaus gleich um die Ecke, wo man auf Anmeldeformalitäten verzichtete: es bestand aus einer Reihe von Strandhütten, bei denen alle Türen sich direkt zur Straße öffneten, Marke sturmfrei, vor den offenen Garagen hingen nur Plastikvorhänge, die die Nummernschilder der Autos verhüllten. Am Abend blieben ihm nur noch die Luftfrachtspeditionen abzuklappern, und ohne große Begeisterung fragte er überall nach einer Firma namens Indocharter, und überlegte bereits ernstlich, ob er nicht doch der Hostesse von Air Vietnam Glauben schenken und die Fährte in Saigon aufnehmen solle, als ein chinesisches Mädchen in einem der Büros sagte: »Indocharter? Das ist Captain Marshalls Gesellschaft.« Sie verwies ihn an eine Buchhandlung, wo Charlie Marshall sich mit Lektüre versorgte und seine Post abholte, wenn er in der Stadt war. Auch die Buchhandlung gehörte einem Chinesen, und als Jerry den Namen Marshall erwähnte, lachte der alte Besitzer laut auf und sagte, Charlie sei seit Monaten nicht mehr hiergewesen. Der Alte war sehr klein und feixte über seine sämtlichen falschen Zähne.
»Er Ihnen Geld schulden? Charlie Marshall Ihnen Geld schulden, Ihr Flugzeug in Blüche gefahlen?« Wieder brüllte er vor Lachen, und Jerry stimmte mit ein:
»Super. Großartig. Hören Sie, was machen Sie mit seiner ganzen Post, wenn er nicht herkommt? Schicken Sie sie ihm nach?« Charlie Marshall, er bekam keine Post nicht, sagte der Alte. »Ah, aber, altes Haus, wenn morgen ein Brief kommt, wohin schicken Sie ihn dann?«
Nach Phnom Penh, sagte der Alte, steckte seine fünf Dollar ein und fischte einen Zettel aus seinem Schreibtisch, damit Jerry die Adresse abschreiben konnte.
»Vielleicht sollte ich ihm ein Buch kaufen«, sagte Jerry und sah sich um. »Was liest er gern?«
»Flanzösisch«, sagte der Alte automatisch, führte Jerry nach oben und zeigte ihm sein Allerheiligstes für Euro-Kultur. Für die Engländer Pornographie, in Brüssel gedruckt. Für die Franzosen reihenweise zerfledderte Klassiker: Voltaire, Montesquieu, Hugo. Jerry kaufte ein Exemplar von Candide und steckte es in die Tasche. Wer diesen Raum besuchte war offenbar ex officio eine Berühmtheit, denn der Alte brachte ein Gästebuch zum Vorschein, und Jerry trug sich ein: / Westerby, Presse. In der Spalte für Anmerkungen standen zumeist Witze, also schrieb er »Ein erlesenes Etablissement«. Dann blätterte er zurück und fragte: »Hat sich Charlie Marshall auch hier eingetragen, altes Haus?« Der Alte zeigte ihm Charlie Marshalls Unterschrift mehrere Male - »Adresse: hier«, hatte er geschrieben. »Und was macht sein Freund?«
»Fleund?«
»Captain Ricardo.«
Daraufhin wurde der Alte sehr ernst und nahm ihm sanft das Buch aus der Hand.
Jerry ging hinüber zum Auslandskorrespondenten-Club im Oriental und fand ihn leer bis auf eine Schar Japaner, die soeben aus Kambodscha zurückgekommen waren. Sie teilten ihm den gestrigen Spielstand mit, und er betrank sich ein bißchen. Und als er gerade weggehen wollte, tauchte zu seinem jähen Entsetzen der Zwerg auf, der zwecks Besprechungen mit dem örtlichen Büro in der Stadt war. Er hatte einen Thai-Jungen im Schlepptau und war daher besonders impertinent: »Sieh mal an, Westerby! Na, wie geht's dem Geheimdienst heute?« Diesen Witz machte er faat bei jedem, aber Jerrys Seelenfriede wurde dadurch nicht gefördert. In der Absteige trank er wiederum eine Menge Whisky, doch die Rührigkeit seiner Mitbewohner hielt ihn wach. Schließlich ging er, in Notwehr, hinaus und suchte sich ein Mädchen, ein sanftes kleines Geschöpf aus einer Bar an der Straße, aber als er wieder allein war, kehrten seine Gedanken zu Lizzie zurück. Es half alles nichts, sie war seine Bettgefährtin. Wie weit mochte sie bewußt in die Sache verwickelt sein? Wußte sie, womit sie spielte, als sie Tiu auf Jerry ansetzte? Wußte sie, was Drakes Jungens mit Frost angestellt hatten? Wußte sie, daß Jerry das gleiche passieren konnte? Es ging ihm sogar durch den Sinn, daß sie dabeigewesen sein könnte, als Frost in Behandlung war, und dieser Gedanke entsetzte ihn. Kein Zweifel: Frosts Leiche war in seiner Erinnerung noch sehr frisch. Eine seiner schlimmsten Erinnerungen. Um zwei Uhr morgens kam er zu dem Schluß, daß er Fieber haben müsse, er schwitzte und wälzte sich dauernd herum. Einmal hörte er das Geräusch leiser Schritte im Zimmer, warf sich in eine Ecke und hielt eine Tischlampe aus Teakholz, die er aus dem. Sockel gerissen hatte, schlagbereit in der Hand. Um vier Uhr weckte ihn die erstaunliche Geräuschkulisse Asiens: eine Art heiseres Schweinequieken, Glocken, Schreie alter Menschen in extremis, das Krähen von tausend Hähnen hallte in den Korridoren aus Beton und Kacheln. Er kämpfte mit der schadhaften Installation und machte sich an das mühsame Geschäft der Reinigung mit dünn tröpfelndem kaltem Wasser. Um fünf Uhr wurde das Radio zum Wecken auf volle Lautstärke gedreht, und wimmernde asiatische Musik verkündete, daß der Tag ernsthaft begonnen habe. Inzwischen hatte er sich rasiert, als wäre es sein Hochzeitstag, und um acht kabelte er seine Pläne, damit der Circus sie abfangen könne. Um elf bestieg er die Maschine nach Phnom Penh. Als er an Bord der Air Cambodge Caravelle kletterte, wandte ihm die Bodenstewardesse ihr liebliches Gesichtchen zu und wünschte ihm mit melodischem Singsang sehr korrekt einen »guten Frag«. »Danke. Ja. Super«, sagte er und wählte den Platz über der Tragfläche, wo man die meisten Chancen hat. Als sie abhoben, sah er eine Gruppe fetter Tha's auf erstklassigem Rasen direkt neben der Rollbahn lausiges Golf spielen.
Auf der Flugliste, die Jerry an der Anmeldung verkehrtherum gelesen hatte, standen acht Namen, aber außer ihm bestieg nur. noch ein Passagier das Flugzeug, ein schwarzgekleideter junger Amerikaner mit einer Aktenmappe. Alles übrige war Fracht, achtern in braunen Rupfensäcken und Binsenkörben gestapelt. Eine Luftbrücke, dachte Jerry automatisch. Man fliegt die Waren ein, man fliegt die Glücklichen aus. Die Stewardeß überreichte ihm eine alte Nummer von Jours de Trance und ein Malzbonbon. Er las Jours de France, um ein bißchen französisch zu üben, dann fiel ihm Candide ein, und er nahm sich das Buch vor. Er hatte Conrad mitgenommen, weil er in Phnom Penh immer Conrad las, und es reizte ihn, sich deutlich zu machen, das er jetzt im letzten der Conradschen Flußhäfen saß.
Sie setzten hoch zum Landeanflug an und sackten dann in einer engen, unangenehmen Spirale durch die Wolken, um ziellosem Beschuß aus dem Dschungel zu entgehen. Bodenkontrolle gab es nicht, aber das hatte Jerry auch nicht erwartet. Die Stewardeß wußte nicht, wie weit die Roten Khmer sich der Stadt bereits genähert hätten, aber die Japaner hatten gesagt auf fünfzehn Kilometer an allen Fronten, wo es keine Straßen gebe, weniger. Die Japaner hatten gesagt, der Flugplatz sei unter Feuer, aber nur Raketenbeschuß und nur sporadisch. Noch keine 105er - noch nicht, aber alles hat einmal seinen Anfang, dachte Jerry. Die Wolkenschicht war noch immer da, und Jerry hoffte zu Gott, der Höhenmesser möge in Ordnung sein. Dann sprang olivenfarbener Boden auf sie zu und Jerry sah Bombenkrater wie Eispritzer ringsum, und die gelben Furchen der Lastwagenreifen der Konvois. Als sie federleicht auf der narbigen Rollbahn aufsetzten, planschten die unvermeidlichen nackten braunen Kinder vergnügt in einem schlammgefüllten Krater herum. Die Sonne war durch die Wolken gebrochen, und Jerry hatte trotz des Gebrülls der Motoren die Illusion, in einen stillen Sommertag hinauszutreten. In Phnom Penh fand der Krieg, anders als an irgendeinem Ort, den Jerry kannte, in einer Atmosphäre des Friedens statt. Er erinnerte sich an seinen letzten Aufenthalt hier, ehe die Bombardierungen eingestellt worden waren. Eine Gruppe von Air-France-Passagieren auf dem Flug nach Tokio war neugierig auf einer Piste herumgeschlendert, ohne die geringste Ahnung, daß sie mitten in einer Schlacht gelandet waren. Niemand sagte ihnen, daß sie Deckung nehmen sollten, niemand begleitete sie. F-4- und 111-Maschinen pfiffen über den Platz, im nahen Umkreis wurde geschossen, Hubschrauber von Air America luden die Toten in Netzen ab, wie gräßliche Fänge aus einem roten Meer, und um starten zu können, mußte die Boeing 707 im Schneckentempo über das ganze Flugfeld Spießruten laufen. Fasziniert beobachtete Jerry, wie sie aus der Feuerlinie watschelte, und die ganze Zeit über wartete er auf den Plumps, der ihm sagen würde, daß sie in den Schwanz getroffen sei. Aber sie machte weiter, als seien die Unschuldigen kugelfest, und entschwand graziös in friedliche Höhen.
Ironischerweise stellte er nun, da das Ende so nah war, fest, daß die Fracht vorwiegend dem Überleben diente. Am anderen Ende des Flugplatzes landeten und starteten riesige silberne amerikanische Charterfrachtflugzeuge, 707 und große viermotorige Turboprop C130 mit der Aufschrift Transworld Bird Airways oder auch ohne jede Aufschrift, in unbeholfenem, gefährlichem Hinundher, brachten den Reis aus Thailand und Saigon und das Öl und die Munition aus Thailand. Während er zum Flughafengebäude hastete, sah Jerry zwei Landungen, und jedesmal hielt er den Atem an und wartete auf das letzte Aufbrüllen der Jets, wenn sie nach langem Manövrieren innerhalb der Verschalung aus erdegefüllten Munitionskisten am weichen Ende der Landebahn zitternd zum Stehen kamen. Noch ehe sie stillstanden, waren bereits Lastträger in Tarnjacken und Helmen wie unbewaffnete Truppen aufgetaucht, um die kostbaren Säcke aus den Laderäumen zu zerren.
Doch nicht einmal diese bösen Omina konnten seine Freude, wieder hierzusein, trüben.
»Vous resiez combien de temps, monsieur?« fragte ihn der Einwanderungsbeamte.
» Toujours, altes Haus«, sagte Jerry. »So lange Sie mich behalten wollen. Länger.« Er dachte daran, sich gleich hier nach Charlie Marshall zu erkundigen, aber der Flugplatz wimmelte von Polizisten und Spitzeln jeder Art, und solange er nicht wußte, womit er es eigentlich zu tun hatte, hielt er es für klüger, sein Interesse nicht kundzutun. Er sah ein buntes Aufgebot alter Maschinen mit neuen Abzeichen, aber keine, die Indocharter gehörte, deren eingetragene Kennzeichen, wie Craw ihm bei der letzten Instruktion, kurz ehe er Hongkong verließ, gesagt hatte, Kos Rennfarben sein sollten: Grau und Blaßblau. Er nahm ein Taxi und setzte sich neben den Fahrer, dessen höfliche Angebote von Mädchen, Shows, Clubs und Jungens er freundlich dankend ablehnte. Die Leuchtspurgeschosse zogen orangefarbene Lichtbogen über den schief ergrauen Morgenhimmel. Er trat in ein Kurzwarenlädchen, um au cours flexible Geld einzutauschen. Er liebte diesen Ausdruck. Die Geldwechsler waren meist Chinesen, erinnerte er sich. Dieser war Inder. Die Chinesen rücken beizeiten ab, aber die Inder bleiben, um das Gerippe vollends abzunagen. Rechts und links der Straße lag das Elendsviertel. Flüchtlinge kauerten überall, kochten, dösten in schweigenden Gruppen. Ein Kreis kleiner Kinder ließ eine Zigarette von Mund zu Mund gehen.
»Noms sommes un village aVec une population des millions«, sagte der Fahrer in seinem Schulfranzösisch. Ein Militärkonvoi kam ihnen entgegen, hielt sich mit aufgeblendeten Scheinwerfern in der Mitte der Straße. Der Taxichauffeur fuhr gehorsam in den Dreck. Das Schlußlicht bildete ein Krankenwagen, dessen beide Türen offenstanden. Die Leiber waren mit den Füßen nach draußen gestapelt, die Beine glichen Schweinspfoten, voll Striemen und Quetschungen. Ob tot oder lebendig war ziemlich egal. Sie kamen an einem von Raketen zerstörten Haufen Pfahlhäuser vorüber und fuhren auf einer Platz, der aussah wie in einer französischen Provinz: ein Restaurant, eine Epicerie, ein Charcutier, Werbeplakate für Byrrh und Coca-Cola. Auf dem Bordstein hockten Kinder und hüteten Weinflaschen voll gestohlenen Benzins. Auch hieran erinnerte Jerry sich: es war während der Bombardierungen gewesen. Die Granaten trafen das Benzin, und das Resultat war ein Blutbad gewesen. Es würde auch jetzt wieder passieren. Niemand lernte je etwas dazu, nichts änderte sich, am nächsten Morgen waren die Abfälle weggefegt.
»Stopp!« sagte Jerry und übergab dem Fahrer in einem momentanen Impuls den Zettel, auf dem er in der Buchhandlung in Bangkok Charlie Marshalls Adresse notiert hatte. Er hatte sich vorgestellt, daß er sich in tiefer Nacht dort anschleichen sollte, aber im hellen Sonnenlicht schien das jeden Sinn verloren zu haben.
»Y aller?« fragte der Fahrer und sah ihn erstaunt an. »Genau, altes Haus.«
»Voms connaissez cette maison?«
»Alter Kumpel.«
»A vous? Un ami á vous?«
»Presse«, sagte Jerry, was jeden Irrsinn erklärt. Der Fahrer zuckte die Achseln und lenkte den Wagen in einen langen Boulevard, an der französischen Kathedrale vorbei und auf eine ungepflasterte Straße zwischen zurückliegenden Villen, die rasch schäbiger wurden, als sie sich dem Stadtrand näherten. Jerry fragte den Fahrer zweimal, was an der Adresse so Besonderes sei, aber der Fahrer hatte seinen Charme verloren und wies die Fragen achselzuckend von sich. Als sie hielten, forderte er unverzüglich den Fahrpreis, dann raste er unter ruppigem Gängeschalten davon. Es war eine Villa wie alle anderen, von einer Mauer umzogen, die den unteren Teil des Hauses halb verbarg und durch ein schmiedeeisernes Tor unterbrochen wurde. Jerry drückte auf die Klingel und hörte nichts. Als er versuchte, das Tor aufzudrücken, rührte es sich nicht. Er hörte ein Fenster zuknallen und glaubte, als er rasch aufblickte, ein braunes Gesicht hinter dem Moskitodraht verschwinden zu sehen. Dann surrte das Tor und ließ sich öffnen, und er. stieg ein paar Stufen zu einer gefliesten Veranda und einer weiteren Tür hinauf, die aus massivem Teakholz bestand und ein winziges eingelassenes Gitter hatte, durch das man hinaus-, aber nicht hereinschauen konnte. Er wartete, dann betätigte er energisch den Türklopfer und hörte das Echo durchs ganze Haus hüpfen. Es war eine Flügeltür mit einer Fuge in der Mitte. Er preßte das Gesicht arj den Spalt und konnte einen Streifen Fliesenboden und zwei Stufen sehen, vermutlich die beiden untersten Stufen einer Treppe. Auf der letzten standen zwei glatte braune Füße, nackt, und zwei nackte Schienbeine, aber er konnte nur bis zu den Knien sehen.
»Hallo!« rief er durch den Türspalt. »Bonjour! Hallo!« Und als die Beine sich noch immer nicht bewegten: »Je suis un ami de Charlie Marshall! Madame, Monsieur, je suis un ami anglais de Charlie Marshall! Capitaine Marshall! Je veux lui parier.« Er nahm eine Fünfdollarnote und schob sie durch den Spalt, aber nichts biß an, also zog er sie wieder zurück und riß statt dessen ein Stück Papier aus seinem Notizbuch. Er richtete die Botschaft an »Captain C. Marshall« und stellte sich namentlich als »britischen Journalisten mit einem Angebot im beiderseitigen Interesse« vor, ferner gab er die Adresse seines Hotels an. Auch dieses Papier fädelte er durch den Spalt, hielt wiederum nach den braunen Beinen Ausschau, aber sie waren verschwunden, und so ging er, bis er ein cyclo fand, und fuhr damit, bis er ein Taxi erwischte: und, nein, vielen Dank, nein, vielen Dank, er wollte kein Mädchen - nur daß er, wie üblich, schon eines wollte. Das Hotel hieß früher Royal. Jetzt hieß es Phnom. Eine Fahne flatterte von der Mastspitze, aber mit der Großartigkeit war es nicht mehr weit her. Er trug sich ein, sah im Hof rings um den Swimmingpool eine Menge Fleisch in der Sonne schmoren und dachte wiederum an Lizzie. Für die Mädchen war dies die harte Schule, und wenn sie für Ricardo kleine Päckchen befördert hatte, dann war sie zehn zu eins durch diese Schule gegangen. Die hübschesten gehörten den Reichsten, und die Reichsten waren die kriminelle Elite von Phnom Penh: die Gold- und Gummischmuggler, die Polizeichefs, die korsischen Killertypen, die mit den Roten Khmer inmitten der Kämpfe säuberliche Schiebergeschäfte machten. Ein Brief war für ihn gekommen, unverschlossen. Der Empfangschef, der ihn bereits gelesen hatte, sah Jerry höflich zu, als er desgleichen tat. Eine goldgeränderte Einladungskarte mit einem Botschaftswappen lud ihn zum Dinner. Sein Gastgeber war jemand, von dem er noch nie etwas gehört hatte. Ratlos wendete er die Karte um. Auf der Rückseite war gekritzelt: »Kannte Ihren Freund George vom Guardian«, und Guardian war das Schlüsselwort. Dinner und tote Briefkästen, dachte er: was Sarratt vernichtend als die große Foreign-Office-Entbindung bezeichnete.
»Telephone?« erkundigte sich Jerry. »C'est foutu, monsieur.«
»Electricite?«
»Aussi foutue, monsieur, mais nous avons beaucoup de l'eau.«
»Monsieur Keller?« sagte Jerry und grinste. »Dans la cour, monsieur.«
Er ging in den Garten. Zwischen all dem Fleisch saß eine Gruppe 382 altgedienter Fleet-Street-Haudegen bei Whisky und harten Geschichten. Sie sahen aus wie junge Piloten in der Schlacht um England, die einen geborgten Krieg führten. Und sie beobachteten ihn mit kollektiver Verachtung ob seiner adligen Abkunft. Einer trug ein weißes Halstuch und das glatte Haar verwegen aus der Stirn geworfen.
»Herrje, ist das nicht der Herzog?« sagte er. »Wie sind Sie hierhergekommen? Auf dem Mekong gewandelt?« Aber Jerry war nicht an ihnen interessiert. Er war an Keller interessiert. Keller war ein Ständiger. Er war Presseagent, und er war Amerikaner, und Jerry kannte ihn aus anderen Kriegen. Kein ausländischer Reporter kam in die Stadt, ohne Keller seine Sache vorzutragen, und wenn Jerry sich Glaubwürdigkeit verschaffen wollte, so würde Kellers Siegel sie ihm sichern, und er legte immer mehr Wert auf Glaubwürdigkeit. Er fand Keller auf dem Parkplatz. Breite Schultern, grauer Kopf, ein Ärmel hinuntergerollt, Arm und Ärmel in die Tasche gestopft. So stand er da und sah zu, wie ein Fahrer das Innere eines Mercedes mit dem Schlauch ausspritzte. »Max. Super.«
»Famos«, sagte Keller nach einem Blick auf ihn, dann wandte er sich wieder dem Wagen zu. Neben ihm standen ein paar schlanke Khmerjungens, die mit ihren hochhackigen Stiefeln, Trompetenhosen und den Kameras über den glänzenden offenen Hemden wie Modefotografen aussahen. Nacrreiner Weile hörte der Fahrer mit dem Spritzen auf und begann, die Polster mit einem Packen Scharpie zu schrubben, der braun wurde, je mehr er rieb. Ein zweiter Amerikaner gesellte sich zu ihnen, und Jerry vermutete in ihm Kellers neuesten Gehilfen. Keller verschliß seine Gehilfen ziemlich schnell.
»Was ist passiert?« sagte Jerry, als der Fahrer wieder mit Spritzen anfing.
»Kleiner Held hat große Kugel abgekriegt«, sagte der Gehilfe. »Das ist passiert.« Er war ein blasser Südstaatler und sah belustigt aus, und Jerry konnte ihn auf den ersten Blick nicht leiden. »Stimmt das, Keller?« fragte Jerry. »Fotograf«, sagte Keller.
Kellers Telegrafenagentur hatte einen ganzen Stall voll. Wie alle großen Pressedienste: kambodschanische Jungens, wie die beiden hier. Sie bekamen zwei US-Dollar, wenn sie an die Front gingen, und zwanzig für jedes abgedruckte Foto. Jerry hatte gehört, daß Keller im Durchschnitt einen pro Woche verlor.
»Hat die Schulter durchschlagen, als er gebückt dahinrannte«, sagte der Gehilfe. »Kam durch den verlängerten Rücken wieder raus. Glatt durchgerutscht wie Gras durch eine Gans.« Er schien beeindruckt.
»Wo ist er?« sagte Jerry, nur um irgend etwas zu sagen, während der Fahrer immer noch wischte und spritzte und schrubbte. »Stirbt ein Stück weiter draußen an der Straße. Wissen Sie, das war so, vor ein paar Wochen haben diese Schweine im New Yorker Büro die ärztliche Versorgung umorganisiert. Früher haben wir die Verwundeten nach Bangkok transportiert. Jetzt nicht mehr. Mann, jetzt nicht mehr. Wissen Sie, wie's jetzt geht? Jetzt liegen sie droben an der Straße auf dem blanken Boden und müssen die Pflegerinnen bestechen, damit sie Wasser kriegen. Stimmt's, Jungens?«
Die beiden Kambodschaner lächelten höflich. »Wollen Sie was, Westerby?«
Kellers Gesicht war grau und zernarbt. Jerry hatte ihn in den sechziger Jahren im Kongo näher kennengelernt, wo Keller sich die Hand verbrannte, als er ein Kind aus einem Lastwagen zog. Jetzt waren die Finger zusammengeschweißt wie Schwimmflossen, aber sonst hatte er sich nicht verändert. Jerry konnte sich so genau an diesen Vorfall erinnern, weil er das andere Ende des Kindes gehalten hatte.
»Das Comic möchte, daß ich mich hier umsehe«, sagte Jerry. »Können Sie das denn noch?«
Jerry lachte, und Keller lachte, und sie tranken Whisky in der Bar, bis der Wagen fertig war, und plauderten über alte Zeiten. Am Haupteingang lasen sie ein Mädchen auf, das den ganzen Tag lang auf Keller gewartet hatte, eine hochgewachsene Kalifornierin mit zuviel Fotoausrüstung und langen unruhigen Beinen. Da die Telefone nicht funktionierten, wollte Jerry unbedingt an der britischen Botschaft aussteigen und die Einladung beantworten. Keller war nicht sehr höflich.
»Sind Sie eine Art Spion oder so geworden, Westerby, daß Sie Ihre Storys abstimmen und den Bonzen in den Hintern kriechen, damit Sie den rechten Background kriegen und eine Pension nebenbei oder was?« Es gab Leute, die sagten, genau dies sei Kellers Fall, aber es gibt immer Leute.
»Klar«, sagte Jerry. »Schon seit Jahren.« Die Sandsäcke am Eingang waren neu, und neue Granatabfanggitter glitzerten in der prallen Sonne. In der Halle empfahl ein großes mehrteiliges Plakat mit jener grenzenlosen Sachfremdheit, wie sie ausschließlich Diplomaten zustande bringen, »Britische Hochleistungswagen«, in einer Stadt ohne einen Tropfen Treibstoff, und zeigte fröhliche Fotos verschiedener unerreichbarer Modelle. »Ich will dem Herrn Botschaftsrat bestellen, daß Sie die Einladung angenommen haben«, sagte der Herr am Empfang feierlich. Der Mercedes roch noch immer ein bißchen warm vom Blut, aber der Chauffeur hatte die Klimaanlage eingeschaltet. »Was tun die denn da drinnen, Westerby?« fragte Keller. »Stricken oder was?«
»Oder was«, sagte Jerry, und sein Lächeln galt der Kalifornierin. Jerry saß vorn, Keller und das Mädchen hinten. »Okay. Also hören Sie zu«, sagte Keller. »Klar«, sagte Jerry.
Jerry hatte sein Notizbuch aufgeschlagen und kritzelte, während Keller sprach. Das Mädchen trug einen kurzen Rock, und Jerry und der Fahrer konnten ihre Schenkel im Spiegel sehen. Keller hatte die gute Hand auf ihrem Knie. Sie hieß ausgerechnet Lorraine und unternahm, genau wie Jerry, angeblich eine Tour durch die Kriegsgebiete im Auftrag ihres Mittelwest-Zeitungskartells. Bald waren sie das einzige Auto. Dann hörten auch die Rikschas auf, und sie sahen nur noch Bauern und Fahrräder und Büffel und die blühenden Büsche des nahenden Landes: »Schwere Kämpfe auf allen Hauptverbindungsstraßen«, leierte Keller etwa in Diktiertempo. »Raketenangriffe bei Nacht, Plastikbomben tagsüber, Lon Nol hält sich noch immer für einen Gott, und die US-Botschaft unterstützt ihn anfallsweise und versucht dann, ihn rauszuwerfen.« Er gab statistische Zahlen über Rüstungsstärke, Verluste, Höhe der US-Hilfe. Er nannte Generale, von denen man wußte, daß sie amerikanische Waffen an die Roten Khmer verkauften, und Generale, die Gespensterarmeen befehligten, um den Sold der Truppen einzusacken, und Generale, die beides taten. »Alles in bester Unordnung. Böse Buben sind zu schwach, um die Städte einzunehmen, brave Buben sind schon zu sehr auf dem Hund, um das flache Land einzunehmen, und niemand hat Lust zum Kämpfen außer den Korns. Die Studenten wollen die ganze Stadt anzünden, wenn sie nicht mehr vom Kriegsdienst befreit werden, Hungeraufstände gibt's jetzt täglich, Korruption, als gäbe es kein Morgen, niemand kann von seinem Gehalt leben, Vermögen werden gemacht, und das Land verblutet. Der Palast lebt nicht in der Wirklichkeit, und die Botschaft ist ein Irrenhaus, mehr Spione als anständige Kerle, und jeder behauptet, ein Geheimnis zu hüten. Möchten Sie noch mehr?«
»Wie lange geben Sie dem Krieg noch?«
»Eine Woche. Zehn Jahre.«
»Wie steht's mit den Fluglinien?«
»Die Fluglinien sind alles, was wir noch haben. Der Mekong ist praktisch tot, die Straßen dito. Die Fluglinien haben das ganze Feld für sich. Wir haben eine Story darüber gemacht. Haben Sie sie gesehen? Wurde total verrissen. Herrje«, sagte er zu dem Mädchen. »Warum muß ich das Ganze für die Insulaner nochmals durchpauken?«
»Weiter«, sagte Jerry und schrieb.
»Vor sechs Monaten hatte diese Stadt fünf eingetragene Luftfahrtgesellschaften. In den letzten drei Monaten wurden vierunddreißig neue Lizenzen ausgestellt, und noch ein weiteres Dutzend steckt in der Röhre. Übliche Taxe drei Millionen Riels an den Minister persönlich und zwei Millionen an seine Umgebung verteilt. Weniger, wenn man in Gold bezahlt, noch weniger in fremder Währung. Wir machen jetzt Route Nummer dreizehn«, sagte er zu dem Mädchen. »Vielleicht wollen Sie sich mal umsehen.«
»Großartig«, sagte das Mädchen und preßte die Knie zusammen, so daß Kellers gute Hand eingezwickt war.
Sie fuhren an einer Statue mit abgeschossenen Armen vorbei, und danach folgte die Straße den Windungen des Flusses.
»Das heißt, wenn's unser Westerby noch schafft«, fügte Kellerais Nachtrag hinzu.
»Ach, ich glaube, ich bin soweit in Form«, sagte Jerry, und das Mädchen lachte und schlug sich für den Moment auf seine Seite. »Die Roten Khmer haben draußen am anderen Ufer neue Stellungen bezogen, honey«, erklärte Keller, vorwiegend an das Mädchen gewandt. Jenseits des braunen, schnellen Wassers sah Jerry ein paar T 28 herumstochern, als suchten sie nach etwas zum Beschießen. Ein Feuer brannte, ein ziemlich großes, und die Rauchsäule stieg kerzengerade in den Himmel wie ein gottgefälliges Opfer.
»Welche Rolle spielen die Überseechinesen?« fragte Jerry. »In Hongkong hat kein Mensch von dieser Gegend gehört.«
»Die Chinesen kontrollieren achtzig Prozent unseres Handels, wozu auch die Fluggesellschaften gehören. Die alten oder neuen. Der Kambodschaner ist faul, wissen Sie, hon? Der Kambodschaner begnügt sich mit seinem Profit aus der amerikanischen Unterstützung. Der Chinese ist anders. Und wie, Sire. Chinese arbeitet gern, Chinese läßt sein Geld gern rollen. Sie bestimmen unseren Geldmarkt, unser Transportmonopol, unsere Inflationsrate, unsere Belagerungswirtschaft. Der Krieg ist allmählich hundertprozentig von Hongkong abhängig. He, Westerby, haben Sie noch die Frau, von der Sie mir erzählten, die Niedliche mit den Augen?«
»Ausgerückt«, sagte Jerry.
»Schade, hat sich großartig angehört. Er hat eine großartige Frau gehabt«, sagte Keller. »Und Sie?« fragte Jerry.
Keller schüttelte den Kopf und lächelte das Mädchen an. »Was dagegen, wenn ich rauche, hon?« fragte er munter. In Kellers zusammengeschweißter Pfote war ein Loch, das aussah wie eigens gebohrt, damit man eine Zigarette hineinstecken konnte, und der Rand war braun von Nikotin. Keller legte die gute Hand wieder auf ihren Schenkel. Die Straße wurde zur Wagenspur und wies tiefe Furchen auf, wo die Konvois darübergefahren waren. Sie kamen in einen kurzen Baumtunnel, und in diesem Moment brach zu ihrer Rechten Granatfeuer aus wie ein Gewitter, und die Bäume bogen sich wie Bäume in einem Taifun. »Toll«, schrie das Mädchen. »Können wir ein bißchen langsamer fahren?« Und schon zerrte sie an den Riemen ihrer Kamera. »Bedienen Sie sich. Mittelschwere Artillerie«, sagte Keller. »Unsere«, fügteer als Scherz hinzu. Das Mädchen ließ das Fenster herunter und schoß ihren Film ab. Das Sperrfeuer ging weiter, die Bäume tanzten, aber die Bauern im Reisfeld hoben nicht einmal die Köpfe. Als die Kanonade aufhörte, bimmelten die Glocken der Wasserbüffel wie ein Echo weiter. Sie setzten ihre Fahrt fort. Am diesseitigen Flußufer hatten zwei Kinder ein altes Rad, auf dem sie abwechselnd fuhren. Im Wasser tauchte ein Schwarm von Knirpsen in eine Kanalisationsröhre und wieder heraus, ihre braunen Körper glänzten. Das Mädchen fotografierte auch sie. »Sprechen Sie noch französisch, Westerby? Ich und Westerby haben früher mal einiges zusammen im Kongo erlebt, wissen Sie, honey«, erklärte er dem Mädchen. »Hab'6 gehört«, sagte sie bewandert.
»Die-Insulaner werden gebildet.« Jerry hatte ihn nicht so gesprächig in Erinnerung. »Sie werden kultiviert. Stimmt's, Westerby? Besonders die Lords, stimmt's? Westerby ist so eine Art Lord.«
»So sind wir, altes Haus, Gelehrte bis zum letzten Mann. Nicht wie ihr Hinterwäldler.«
»Dann sprechen Sie mit dem Fahrer, ja? Wir haben Anweisungen für ihn, Sie besorgen das Sprechen. Er hat noch keine Zeit gehabt, englisch zu lernen. Jetzt links.«
»A gauche«, sagte Jerry.
Der Fahrer war ein Junge, aber bereits so blasiert wie ein alter Fremdenführer.
Jerry sah im Spiegel, daß Kellers verbrannte Hand zitterte, wenn er an der Zigarette zog. Er fragte sich, ob das immer so war. Sie kamen durch einige Dörfer. Es war sehr still. Er dachte an Lizzie und die Krallenspuren an ihrem Kinn. Er sehnte sich danach, etwas Einfaches mit ihr zu unternehmen, wie einen Spaziergang durch englische Felder. Craw sagte, sie sei eine Vorstadtpflanze. Es rührte ihn, daß sie von Pferden träumte. »Westerby?«
»Ja, altes Haus?«
»Diese Sache da mit Ihren Fingern. Daß Sie dauernd trommeln. Könnten Sie's vielleicht lassen? Macht mich verrückt. Irgendwie bedrückend. Seit Jahren ballern sie auf diese Gegend ein, hon«, sagte Keller mitteilsam. »Seit Jahren.« Er stieß einen Schwall Zigarettenrauch aus.
»Was diese Fluglinien betrifft«, warf Jerry ein und hatte wieder den Stift gezückt. »Wie geht das rechnerisch auf?«
»Die meisten Gesellschaften übernehmen Charterflüge aus Vientiane. Wartung, Piloten, Wertminderung, alles inbegriffen, außer Treibstoff. Vielleicht wußten Sie das. Am besten ist es, wenn man sein eigenes Flugzeug hat. Dann hat man beides. Man holt das Letzte aus dem Belagerungsgebiet heraus und kann abhauen, wenn das Ende kommt. Halten Sie nach den Kindern Ausschau, hon«, belehrte er das Mädchen und zog wieder an seiner Zigarette. »Solange die Kinder um den Weg sind, ist alles in Ordnung. Wenn die Kinder verschwinden, wird's mulmig. Bedeutet, daß sie sie versteckt haben. Immer nach den Kindern Ausschau halten.«
Das Mädchen Lorraine fummelte wieder an der Kamera herum.
Sie waren zu einem rudimentären Checkpoint gekommen. Ein paar Posten linsten in den Wagen, als sie durchfuhren, aber der Chauffeur verlangsamte nicht einmal das Tempo. Dann kamen sie zu einer Gabelung, und der Fahrer hielt an.
»Den Fluß«, befahl Keller. »Sagen Sie ihm, er soll sich am Ufer halten.«
Jerry sagte es ihm. Der Junge schien erstaunt: schien sogar drauf und dran, einen Einwand zu machen, überlegte es sich aber anders. »Kinder in den Dörfern«, sagte Keller, »Kinder an der Front. Kein Unterschied. Kinder sind überall Wetterfahnen. Die Khmer-Soldaten nehmen ganz selbstverständlich ihre Familien mit in den Krieg. Wenn der Vater stirbt, hat die Familie ohnehin nichts mehr, also können sie ebensogut mit den Soldaten ziehen, wo es zu essen gibt. Und noch was, hon, noch was: die Witwen müssen an Ort und Stelle sein, damit sie den Tod des Ernährers bezeugen können. Das ist doch eine Sache von menschlichem Interesse für Sie, nicht wahr, Westerby? Wenn sie es nicht bezeugen können, wird der kommandierende Offizier es leugnen und sich den Sold des Mannes unter den Nagel reißen. Bedienen Sie sich«, sagte er, als sie schrieb. »Aber glauben Sie nicht, daß irgendwer es drucken wird. Dieser Krieg ist vorbei. Stimmt's, Westerby?«
»Finito«, bestätigte Jerry.
Sie würde Spaß haben, dachte er. Wenn Lizzie hier wäre, würde sie bestimmt etwas Lustiges sehen und darüber lachen. Irgendwo unter allen ihren Fälschungen, vermutete er, mußte ein Original versteckt sein, und es war seine feste Absicht, es aufzufinden. Der Fahrer hielt neben einer alten Frau an und fragte sie etwas in Khmer, aber sie barg das Gesicht in den Händen und wandte den Kopf ab.
»Warum hat sie das getan, um Gottes willen?« rief das Mädchen ärgerlich. »Wir wollten ihr nichts Böses. Herrje!«
»Scheu«, sagte Keller mit tonloser Stimme. Hinter ihnen feuerte die Artilleriesperre eine weitere Salve ab, und es war, als schlüge eine Tür zu und versperrte ihnen den Rückweg. Sie kamen an einem wat vorüber und auf einen von Holzhäusern umstandenen Marktplatz. Safrangelb gekleidete Mönche starrten sie an, aber die Mädchen an den Marktständen nahmen keine Notiz von ihnen, und die kleinen Kinder Spieker weiter mit den Zwerghühnern.
»Wozu war vorhin der Checkpoint?« fragte das Mädchen, während sie fotografierte. »Sind wir jetzt in einer Gefahrenzone?«
»Kommt bald, hon, kommt bald. Jetzt halt die Klappe.« Vor ihnen konnte Jerry den Klang automatischer Feuerwaffen hören, M16 und AK 47 gemischt. Aus den Bäumen raste ein Jeep auf sie zu und schwenkte in der letzten Sekunde so jäh ab, daß er über die Wegfurchen rumpelte und stolperte. Im gleichen Augenblick erlosch das Sonnenlicht. Bis jetzt hatten sie es als ihr gutes Recht angesehen, ein flüssiges lebhaftes Licht, das die Regenschauer reingewaschen hatten. Es war März, die Trockenzeit; und sie waren in Kambodscha, wo der Krieg, wie ein Kricketmatch, nur bei ordentlichem Wetter stattfand. Aber jetzt ballten sich schwarze Wolken, die Bäume schlossen sich ringsum wie im Winter, und die Holzhütten wichen ins Dunkel. »Wie kleiden sich die Roten Khmer?« fragte das Mädchen mit ruhigerer Stimme. »Haben sie Uniformen!«
»Federn und Lendenschurz«, brüllte Keller. »Manche sogar ohne Hinterteil.« Als er lachte, hörte Jerry, wie straff gespannt seine Stimme war, und er sah die Hand zittern, als Keller an der Zigarette zog. »Teufel, hon, sie sind angezogen wie Bauern, Herrgottnochmal. Sie haben einfach diese schwarzen Pyjamas an.«
.»Ist es immer so leer?«
»Wechselt«, sagte Keller.
»Und Ho-tschi-min-Sandalen«, warf Jerry zerstreut ein.
Ein Paar grüner Wasservögel flog über dem Fahrweg auf. Das Schießen wurde nicht lauter.
»Hatten Sie nicht eine Tochter oder so? Was ist damit los?« sagte Keller.
»Ist in Ordnung. Großartig«, sagte Jerry.
»Hieß wie?«
»Catherine.«
»Klingt, als würden wir uns davon entfernen«, sagte Lorraine enttäuscht. Sie kamen an einer alten Leiche ohne Arme vorbei. In den Gesichtswunden hatten sich die Fliegen wie schwarze Lava eingenistet.
»Tun sie das immer?« fragte das Mädchen neugierig. »Was tun sie, hon?«
»Die Stiefel ausziehen.«
»Manchmal ziehen sie ihnen die Stiefel aus, manchmal paßt die Größe nicht«, sagte Keller wiederum seltsam zornig. »Manche Kühe haben Hörner, manche Kühe haben keine, und manche Kühe sind Pferde. Jetzt reicht's, ja? Woher sind Sie?«
»Santa Barbara«, sagte das Mädchen. Plötzlich endeten die Bäume. Sie fuhren um eine Kurve und waren wieder auf dem flachen Land, der braune Fluß war direkt neben ihnen. Der Fahrer hielt ohne Aufforderung an und fuhr dann behutsam rückwärts unter die Bäume.
»Wo will er hin?« fragte das Mädchen. »Wer hat ihm das befohlen?«
»Ich glaube, er hat Angst um seine Reifen, altes Haus«, scherzte Jerry.
»Bei dreißig Dollar pro Tag?« sagte Keller, ebenfalls scherzend. Sie hatten endlich eine kleine Kampfhandlung gefunden. Vor ihnen, über der Flußbiegung, ruhte ein zerstörtes Dorf auf einer öden Anhöhe, ohne einen lebenden Baum im Umkreis. Die Ruinen waren weiß, die Bruchkanten der Mauern gelb. Durch das fast völlige Fehlen jeder Vegetation wirkte das Dorf wie ein verfallenes Fort der Fremdenlegion, und vielleicht war es das sogar. Innerhalb der Mauern drängten sich braune Lastwagen wie auf einem Bauplatz. Sie hörten ein paar Schüsse, ein leichtes Rattern. Es hätten Jäger sein können, die auf den Abendflug schießen. Leuchtspuren flammten auf, ein Trio von Mörsergeschossen schlug ein, der Boden bebte, der Wagen vibrierte, und der Fahrer kurbelte gelassen sein Fenster herunter, während Jerry es ihm nachtat. Aber das Mädchen hatte die Tür geöffnet und stieg aus, ein Klasse-Bein nach dem anderen. Sie wühlte eine Weile in einer schwarzen Flugtasche, brachte eine Telefoto-Linse zum Vorschein, schraubte sie an ihre Kamera und studierte das vergrößerte Bild.
»Ist das alles, was es zu sehen gibt?« fragte sie zweifelnd. »Sollten wir nicht auch den Feind sehen? Ich sehe nichts als unsere Jungens und eine Menge schmutzigen Rauch.«
»Ach, sie sind drüben auf der anderen Seite, hon«, begann Keller. »Können wir sie nicht sehen?« Kurze Zeit war es still; während die beiden Männer wortlos berieten.
»Hören Sie«, sagte Keller. »Das hier war nur eine Rundfahrt, okay, hon? Die Einzelheiten dieser Sache da können sehr verschieden sein. Okay?«
»Ich meine nur, es wäre großartig, den Feind zu sehen. Ich suche die Konfrontation, Max. Wirklich. Ich mag das.«
Sie machten sich auf den Weg.
Manchmal tut man es, um das Gesicht zu wahren, dachte Jerry, und manchmal einfach deshalb, weil man seine Arbeit nicht gemacht hat, wenn man nicht halbtot war vor Angst. Und gelegentlich geht man auch in, um sich ins Gedächtnis zu rufen, daß das Überleben reiner Zufall ist. Aber meistens geht man, weil die arideren gehen: Männlichkeitswahn und weil man mittun muß, wenn man dazugehören will. In früheren Zeiten war Jerry vielleicht aus erhabeneren Gründen gegangen. Um sich selber kennenzulernen: die Hemingway-Masche. Um seine Angstschwelle anzuheben. Denn im Kampf wie in der Liebe eskaliert der Geschmack. Wer einmal im MG-Feuer stand, dem erscheinen Einzelschüsse trivial. Wer einmal von Granaten aufs Korn genommen wurde, dem ist MG-Beschuß ein Kinderspiel, und wäre es nur, weil der Einschlag einer simplen Kugel das Hirn in seinem Kasten läßt, während die Granate es einem durch die Ohren herausbläst. Und es gibt auch einen Frieden: auch daran erinnerte er sich. In den schlimmen Zeiten seines Lebens - Geld, Kinder, Frauen, alles dahin - hatte er eine Art Frieden gekannt, weil ihm klar wurde, daß er nichts weiter zu tun hatte als am Leben zu bleiben. Aber diesmal - dachte er -, diesmal ist es der blödsinnigste Grund von allen, nämlich weil ich einen ausgeflippten Piloten suche, der einen Mann kennt, der Lizzie Worthington zur Geliebten hatte. Sie gingen langsam, weil das Mädchen des kurzen Rocks wegen Mühe hatte, über die glitschigen Radfurchen zu balancieren.
»Tolle Biene«, murmelte Keller.
»Dafür geschaffen«, bestätigte Jerry pflichtschuldigst.
Unbehaglich erinnerte Jerry sich, daß sie damals im Kongo Kameraden gewesen waren, einander ihre Lieben und Schwächen anvertraut hatten. Um sich auf dem durchfurchten Boden halten zu können, balancierte das Mädchen mit den Armen.
Nicht die Kamera in Anschlag bringen, dachte Jerry, um Gottes willen nicht. Auf diese Weise erwischt es die Fotografen immer.
»Immer weitergehen, hon«, sagte Keller scharf. »An gar nichts denken. Gehen. Möchten Sie zurück, Westerby?«
Sie wichen einem kleinen Jungen aus, der im Staub still vor sich hin mit Steinen spielte. Jerry überlegte, ob der Kleine schon geschütztaub sei. Er sah sich um. Der Mercedes stand noch unter den Bäumen. Vor ihnen konnte er im Gebüsch Männer in liegender Feuerposition ausmachen, mehr Männer, als er erwartet hatte. Plötzlich wuchs der Lärm. Am jenseitigen Ufer explodierten einige Bomben mitten im Feuer: die T 28 versuchten, die Flammen auszubreiten. Ein Querschläger klatschte in die Uferböschung unter ihnen und schleuderte Schlamm und Staub hoch. Ein Bauer radelte in heiterer Gelassenheit auf dem Fahrrad an ihnen vorbei ins Dorf, durchquerte es und fuhr wieder hinaus, langsam vorbei an den Ruinen und verschwand hinter den Bäumen auf der anderen Seite. Niemand schoß auf ihn, niemand rief ihn an. Er kann einer von ihnen oder einer von uns sein, dachte Jerry. Er ist gestern abend in die Stadt gefahren, hat eine Plastikbombe in ein Kino geworfen, und jetzt kehrt er zu den Seinen zurück, »Herrje«, rief das Mädchen lachend, »warum haben wir nicht an Fahrräder gedacht?«
Mit einem Krachen wie von herabfallenden Ziegeln klatschte eine Maschinengewehrsalve rings um sie ein. Unter ihnen, in der Flußböschung, verlief gottlob eine Reihe leerer Schützenlöcher, die in den Schlamm gegraben waren. Jerry hatte sie bereits gesehen. Er packte das Mädchen und zog es hinunter. Keller hatte sich schon hingeworfen. Als Jerry neben dem Mädchen lag, empfand er einen tiefen Mangel an Interesse. Besser hier ein paar Kugeln, als das, was Frosti abbekommen hatte. Die Geschosse warfen Dreckwände hoch und pfiffen über die Straße. Sie blieben liegen und warteten, daß der Beschuß aufhöre. Das Mädchen blickte erregt über den Fluß und lächelte. Sie war blauäugig, flachshaarig und nordisch. Eine Granate landete hinter ihnen in der Böschung, und zum zweitenmal zog Jerry das Mädchen zu Boden. Die Druckwelle fegte über sie hin, und als sie vorüber war, schwebten Erdfedern herab wie von einem Sühneopfer. Das Mädchen stand lächelnd auf. Wenn das Pentagon an Zivilisation denkt, dachte Jerry, denkt es an dich. Im Fort hatte der Kampf sich plötzlich verdichtet. Die Lastwagen waren verschwunden, eine dichte Wolke hatte sich zusammengezogen, ohne Pause blitzten und krachten Granatwerfer, leichtes Maschinengewehrfeuer forderte heraus und antwortete sich selber durch forcierte Geschwindigkeit. Kellers narbiges Gesicht erschien bleich wie der Tod über dem Rand seines Schützenlochs.
»Die Roten Khmer heizen ihnen ein«, schrie er. »Über dem Fluß, vorne, und jetzt von der anderen Flanke. Wir hätten die andere Straße nehmen sollen!«
Herrje, dachte Jerry, als ihm die übrigen Erinnerungen zurückkamen, Keller und ich haben auch einmal um ein Mädchen gekämpft. Er versuchte sich zu erinnern, wer sie gewesen war und wer gewonnen hatte.
Sie warteten. Das Feuer erstarb. Sie gingen zurück zum Wagen und kamen rechtzeitig zur Gabelung, um den abziehenden Konvoi zu treffen. Tote und Verwundete lagen am Straßenrand, zwischen ihnen kauerten Frauen und fächelten die betroffenen Gesichter mit Palmwedeln. Wieder stiegen sie aus. Flüchtlinge zerrten Büffel und Karren und einander die Straße entlang und schrien die Schweine und die Kinder an. Eine alte Frau kreischte beim Anblick der Kamera auf, weil sie das Objektiv für einen Gewehrlauf hielt. Geräusche schwirrten durch die Luft, die Jerry nicht lokalisieren konnte, ähnlich dem Klingeln von Fahrradglocken und einem Wimmern; und Geräusche, die er identifizieren konnte, so das trockene Schluchzen der Sterbenden und das Dröhnen näher kommenden Granatfeuers. Keller lief neben einem Lastwagen her und versuchte einen englischsprechenden Offizier zu finden; Jerry hastete neben Keller her und brüllte die gleichen Fragen auf französisch.
»Ach hol's der Teufel«, sagte Keller plötzlich gelangweilt. »Fahren wir heim.« Mit englischer Herrchenstimme näselte er »dieses Volk und dieser entsetzliche Lärm.« Sie kehrten zu ihrem Mercedes zurück.
Eine Weile steckten sie mitten in der Kolonne. Die Lastwagen drängten sie an den Wegrand, und Flüchtlinge klopften höflich ans Fenster und fragten, ob sie mitfahren dürften. Einmal glaubte Jerry, Deathwish den Hunnen auf dem Sozius eines Krads zu sehen. An der nächsten Gabelung befahl Keller dem Chauffeur, links abzubiegen.
»Ist privater«, sagte er und legte die gute Hand wieder auf das Knie des Mädchens. Aber Jerry dachte an Frost im Leichenschauhaus und an das Weiß seines schreienden Kiefers.
»Mein altes Mütterchen hat's mir immer gesagt«, erklärte Keller in volkstümelndem Knautschton: >Mein Sohn, geh im Dschungel nie den gleichen Weg zurück, den du gekommen bist.< Hon?«
»Ja?«
»Hon, jetzt ist Ihre Unschuld flöten. Entbiete meinen untertänigsten Glückwunsch.« Seine Hand rutschte noch ein bißchen höher. Nun stürzte Wasserrauschen über sie herein wie aus einer Unzahl geborstener Rohre, als ein Wolkenbruch niederging. Sie kamen durch eine Ansiedlung voller Hühner, die wild auseinanderstoben. Ein Barbiersessel stand leer im Regen. Jerry wandte sich zu Keller um.
»Diese Sache über die Wirtschaft im belagerten Land«, begann er von neuem, als sie ihr Interesse wieder einander widmeten. »Marktbeherrschende Kräfte und so weiter. Glauben Sie, diese Story könnte gehen?«
»Könnte schon«, sagte Keller leichthin. »Ist schon ein paarmal gegangen. Aber es gibt immer Varianten.«
»Wer sind die Hauptmacher?«
Keller nannte einige.
»Indocharter?«
»Indocharter gehört auch dazu«, sagte Keller. Jerry machte einen kühnen Vorstoß:
»Ein Clown namens Charlie Marshall fliegt für sie, Halbchinese.
Jemand hat gesagt, er würde reden. Kennen Sie ihn?«
»Nö.«
Er fand, daß er weit genug gegangen war. »Welche Maschinen verwenden sie vorwiegend?«
»Was sie kriegen können. DC 4 zum Beispiel. Eine genügt nicht. Man muß mindestens zwei haben, eine zum Fliegen, die andere zum Ausschlachten für Ersatzteile. Billiger, eine Maschine am Platz zu halten und auszuschlachten als den Zoll zu bestechen, damit man die Ersatzteile auslösen kann.«
»Wie hoch ist der Profit.«
»Nicht druckbar.«
»Viel Opium dabei?«
»Draußen am Bassac ist eine ganze verdammte Raffinerie. Sieht aus wie zu Zeiten der Prohibition. Ich kann eine Besichtigung arrangieren, wenn's das ist, was Sie interessiert.« Das Mädchen Lorraine hatte sich dem Fenster zugewandt und starrte in den Regen hinaus.
»Ich sehe keine Kinder, Max«, verkündete sie. »Sie sagten, ich soll Ausschau halten, ob Kinder da sind oder nicht. Ich habe also Ausschau gehalten, und sie sind verschwunden.« Der Fahrer hielt den Wagen an. »Es regnet, und ich habe mal gelesen, wenn es regnet, kommen die Kinder in Asien aus den Hütten zum Spielen. Also, wo sind die Kinder?« sagte sie. Aber Jerry interessierte sich nicht dafür, was sie mal gelesen hatte. Er duckte sich und lugte durch die Windschutzscheibe, alles zur gleichen Zeit, als er sah, was der Fahrer gesehen hatte, und seine Kehle wurde trocken. »Sie sind der Boß, altes Haus«, sagte er ruhig zu Keller. »Ihr Wagen, Ihr Krieg und Ihr Mädchen.«
Zu seinem Schmerz sah Jerry im Spiegel, wie sich in Kellers Bimssteingesicht Erfahrung und Unvermögen mischten.
»Fähren Sie langsam auf sie zu«, sagte Jerry, als er nicht länger warten konnte. »Lentement.«
»Ja, gut so«, sagte Keller. »Tun Sie das.«
Fünfzig Yards vor ihnen, in strömenden Regen gehüllt, hatte sich ein grauer Lastwagen quer über den Weg gestellt und ihn blockiert. Im Spiegel war ein zweiter Lastwagen hinter ihnen auszumachen, der den Rückweg versperrte.
»Besser, wir zeigen unsere Hände«, stieß Keller heiser hervor. Mit der guten Hand kurbelte er sein Fenster herunter. Das Mädchen und Jerry taten es ihm nach. Jerry wischte den Beschlag von der Windschutzscheibe und legte beide Hände auf das Ablagebrett.