Der Fahrer hielt das Steuer ganz oben.
»Sie dürfen sie nicht anlächeln, Sie dürfen sie nicht ansprechen«, befahl Jerry.
»Herrje«, sagte Keller. »Heiliger Gott.«
In ganz Asien, dachte Jerry, schrieben die Reporter ihre Lieblingsgeschichten über das, was die Roten Khmer einem antaten, und die meisten waren wahr. In diesem Fall wäre sogar Frost für sein vergleichsweise friedliches Ende dankbar gewesen. Jerry kannte Reporter, die immer Gift bei sich hatten, sogar eine versteckte Pistole, um sich eben diesen Fall zu ersparen. Wenn man gefangen wird, so ist die erste Nacht die einzige zum Fliehen, erinnerte er sich: ehe sie einem die Schuhe weggenommen haben, die Gesundheit und Gott weiß was noch alles. Die erste Nacht ist die einzige Chance, sagt der Volksmund. Er überlegte, ob er es dem Mädchen erzählen sollte, aber er wollte Keller nicht zu nahetreten. Sie pflügten sich im ersten Gang mit wimmerndem Motor voran. Der Regen flog über den Wagen hin, donnerte aufs Dach, klatschte auf die Kühlerhaube und peitschte durch die offenen Fenster. Wenn' wir steckenbleiben, sind wir erledigt, dachte er. Der Lastwagen vor ihnen hatte sich noch immer nicht bewegt, und er war jetzt nicht mehr als fünfzehn Yards entfernt, ein glänzendes Ungeheuer in der Sintflut. Im dunklen Führerstand des Lastwagens sahen sie magere Gesichter ihr Herannahen beobachten. In letzter Sekunde stieß der Laster ins Gebüsch zurück und machte gerade so viel Platz, daß sie durchkonnten. Der Mercedes schlingerte. Jerry mußte sich am Türholm festhalten, um nicht auf den Fahrer zu fallen. Die beiden Außenräder glitschten und winselten, die Kühlerhaube schaukelte und wäre um ein Haar mit der Stoßstange des Lastwagens zusammengestoßen. »Keine Nummernschilder«, flüsterte Keller. »Herrje.«
»Langsam«, warnte Jerry den Fahrer. »Toujours lentement. Keine Scheinwerfer.« Er ließ die Augen nicht vom Rückspiegel. »Und das waren die schwarzen Pyjamas?« sagte das Mädchen aufgeregt. »Und Sie haben mich nicht einmal ein Bild schießen lassen?«
Niemand sprach.
»Was wollen sie? Auf wen lauern sie?« wollte das Mädchen wissen.
»Auf jemand anderen«, sagte Jerry. »Nicht auf uns.«
»Irgend ein paar Strolche hinter uns« sagte Keller. »Wen interessiert's?«
»Sollten wir nicht jemanden warnen?«
»Haben nicht die Vorrichtung dazu«, sagte Keller.
Hinter sich hörten sie Schüsse, aber sie fuhren weiter.
»Scheißregen«, flüsterte Keller, mehr zu sich selber. »Warum zum Teufel muß es plötzlich regnen?«
Dabei hatte es fast aufgehört zu regnen.
»Aber Herrje, Max«, protestierte das Mädchen, »wenn sie uns schon so schön in der Zange haben, warum erledigen sie uns dann nicht?«
Ehe Keller antworten konnte, tat es der Fahrer, auf Französisch, sanft und höflich, - und nur Jerry verstand es. »Wenn sie kommen wollen, dann kommen sie«, sagte er und lächelte sie im Spiegel an. »Bei schlechtem Wetter. Während die Amerikaner nochmals fünf Meter Beton aufs Dach ihrer Botschaft pflanzen, und die Soldaten in Regenumhängen unter ihren Bäumen kauern, und die Journalisten Whisky trinken, und die Generale in der fumerie sind, werden die Roten Khmer aus dem Dschungel kommen und uns die Kehlen durchschneiden.«
»Was hat er gesagt?« fragte Keller. »Übersetzen Sie das, Westerby.«
»ja, was war das alles?« sagte das Mädchen. »Es hat sich ganz großartig angehört. Wie eine ganz tolle Idee oder sowas.«
»Hab's ehrlich gesagt nicht recht mitgekriegt, altes Haus. War ein bißchen zu schnell für mich.«
Alle brachen in Lachen aus, in viel zu lautes Lachen, auch der Fahrer.
Und während der ganzen Zeit, stellte Jerry fest, hatte er an nichts und an niemanden gedacht, außer an Lizzie. Nicht unter Ausschluß der Gefahr - ganz im Gegenteil. Wie der strahlende Sonnenschein, der jetzt alles überflutete, war sie sein Siegespreis.
Im Phnom verglommen auf der Pool-Seite die letzten Strahlen der Sonne. In der Stadt hatte es nicht geregnet. Eine feindliche Rakete, die nahe der Mädchenschule einschlug, hatte acht oder neun Kinder getötet. Der Gehilfe aus den Südstaaten war gerade zurückgekommen und hatte die Opfer gezählt.
»Wie hat sich Maxie beim päng-päng gehalten?« fragte er Jerry, als sie sich in der Halle begegneten. »Scheint mir, daß seine Nerven in letzter Zeit ein bißchen ausfransen.«
»Geh mir mit deiner feixenden Visage aus den Augen«, riet Jerry ihm, »sonst schlag ich sie dir ein.« Immer noch feixend entfernte sich der Südstaatler.
»Wir können uns morgen treffen«, sagte das Mädchen ZU Jerry.
»Morgen ist mein ganzer Tag frei. Vielleicht können wir uns ein paar Opiumhöhlen ansehen oder dergleichen?«
Hinter ihr stapfte Keller langsam die Treppen hoch, eine gebeugte Gestalt in einärmeligem Hemd, die sich am Geländer in die Höhe zog.
»Wir können uns sogar heute Abend treffen, wenn Sie mögen«, sagte Lorraine.
Eine Weile saß Jerry allein in seinem Zimmer und schrieb Postkarten an Cat. Dann machte er sich auf den Weg zu Max' Büro. Er hatte noch ein paar Fragen über Charlie Marshall. Außerdem konnte er sich vorstellen, daß Max seine Gesellschaft recht wäre. Nach getaner Pflicht nahm er eine Rikscha und fuhr nochmals hinaus zu Charlie Marshalls Haus, aber so viel er auch an die Tür bullerte und rief, er bekam wiederum nur die gleichen nackten braunen Beine zu sehen, die regungslos am Fuß der Treppe standen, diesmal bei Kerzenlicht. Aber die Seite, die er aus seinem Notizbuch gerissen und hinterlegt hatte, war verschwunden. Er kehrte in die Stadt zurück und ließ sich, da er noch immer eine Stunde totzuschlagen hatte, auf einem von etwa hundert leeren Stühlen eines Straßencafes nieder, trank einen langen Pernod und dachte daran, wie einst die Mädchen der Stadt auf ihren kleinen geflochtenen Wägelchen an ihm vorbeidefiliert waren und in französischem Singsang Klischees von Liebe geflüstert hatten. Heute Nacht erbebte die Luft von nichts Liebevollerem als dem dumpfen Dröhnen des gelegentlichen Geschützfeuers, während die Stadt sich duckte und auf den Einschlag wartete.
Und doch ging die größte Furcht nicht von den Schüssen aus, sondern von der Stille. Denn, wie der Dschungel selber, war diese Stille, nicht der Beschuß das natürliche Element des herannahenden Feindes.
Wenn ein Diplomat jemanden sprechen will, dann denkt er als erstes an eine Mahlzeit, und in diplomatischen Kreisen wurde wegen der nächtlichen Ausgangssperre früh gespeist. Nicht daß Diplomaten solchen Härten unterworfen gewesen wären, aber es gehört zu der reizenden Arroganz der Diplomaten in der ganzen Welt, daß sie mit gutem Beispiel voranzugehen glauben - wem oder was, das weiß der Teufel. Das Haus des Botschaftsrats lag in einer flachen, grünen Enklave, die an Lon Nols Palast grenzte. Als Jerry ankam entließ gerade eine offizielle Limousine ihre Insassen in die Auffahrt, bewacht von einem Jeep voller Milizsoldaten. Entweder gekrönte Häupter oder Kirchenfürsten, dachte Jerry, als er ausstieg; aber es waren nur ein amerikanischer Diplomat und seine Frau, die zum Essen kamen.
»Ah, Sie müssen Mr. Westerby sein«, sagte seine Gastgeberin. Sie war hochgewachsen, elegant und amüsierte sich darüber, daß jemand Journalist sein konnte, wie sie sich über jeden amüsierte, der nicht Diplomat war, und zwar im Rang eines Botschaftsrats. »John brennt darauf, Sie kennenzulernen«, erklärte sie strahlend, und Jerry nahm an, sie wolle ihm die Befangenheit nehmen. Er folgte dem Zug die Treppe hinauf. Sein Gastgeber stand oben, ein drahtiger gebeugter Mann mit Schnurrbärtchen und einer Jungenhaftigkeit, die Jerry üblicherweise eher bei der Geistlichkeit gesucht hätte.
»Ausgezeichnet! Fabelhaft. Sie sind das Krickett-As. Ausgezeichnet. Gemeinsame Freunde, stimmt's? Ich glaube, wir benutzen heute abend den Balkon besser nicht«, sagte er mit einem scheelen Blick zur amerikanischen Ecke. »Gute Männer sind zu rar, wie mir scheint. Sollten in Sicherheit bleiben. Ihren Platz gefunden?« Er stach mit befehlendem Finger nach einer ledergerahmten Tischordnung, auf der die Plätze eingetragen waren. »Lassen Sie sich mit ein paar Leuten bekannt machen. Moment.« Er zog ihn ein wenig abseits, aber nur ein wenig. »Es geht alles über mich, ja? Ich habe das eindeutig klargemacht. Lassen Sie sich nicht in eine Ecke drängen, ja? Kleine Balgerei im Gang, wenn Sie mich verstehen. Rein lokal. Nicht Ihr Problem.«
Der amerikanische Diplomat wirkte auf den ersten Blick klein, er war so dunkel und adrett, aber als er aufstand und Jerry die Hand schüttelte, waren beide fast gleich groß. Er trug ein kariertes rohseidenes Jackett und in der anderen Hand ein Walkie-Talkie in einem schwarzen Plastiketui. Die braunen Augen waren intelligent, aber übertrieben respektvoll, und während sie einander die Hände schüttelten, sagte eine Stimme in Jerry: »Vetter«. »Freut mich, Sie kennenzulernen, Mr. Westerby. Habe gehört, Sie kommen aus Hongkong. Ihr Gouverneur dort ist ein sehr guter Freund von mir. Beckie, das ist Mr. Westerby, ein Freund des Gouverneurs von Hongkong, und ein guter Bekannter von John, unserem Gastgeber.«
Dies zu einer fülligen Frau, die mit plumpen handgehämmertem Silberschmuck vom Markt behängt war. Ihre farbenfroh« Gewänder flossen in asiatischem Durcheinander an ihr herab. »Oh, Mr. Westerby«, sagte sie. »Aus Hongkong. Hallo.« Die übrigen Gäste waren eine gemischte Gesellschaft aus Geschäftsleuten der Stadt. Ihre Frauen waren Eurasierinnen, Französinnen und Korsinnen. Ein Hausboy schlug auf einen silbernen Gong. Der Plafond des Eßzimmers war aus Zement, aber als sie Einzug hielten, sah Jerry, wie mehrere Augen emporblickten, um sich zu vergewissern. Ein silberner Kartenhalter belehrte ihn, daß er der »Honourable G. Westerby« sei, ein silberner Speisenkartenhalter versprach ihm le roast beef á l'anglaise, in silbernen Leuchtern steckten lange Kerzen, die ein bißchen geweiht wirkten; kambodschanische Boys flitzten halb gebückt mit Tabletts voller Speisen herein und hinaus, Speisen, die schon am Vormittag gekocht worden waren, solange es Strom gab. Eine viel gereiste französische Schöne mit einem Spitzentaschentuch im Ausschnitt saß Jerry zur Rechten. Ein zweites Tüchlein hielt sie in der Hand, und sooft sie etwas gegessen oder getrunken hatte, tupfte sie sich das Mündchen. Die Tischkarte benannte sie als Gräfin Sylvia.
»Je suis tres, tres diplomee«, flüsterte sie Jerry zu, während sie pickte und tupfte. »J'ai fait la science politique, mecanique et l'electricite generale. Im Januar habe ich ein schlechtes Herz. Jetzt bin ich besser.«
»Ah, well, also ich, ich kann überhaupt nichts richtig«, behauptete Jerry, und es klang übertrieben witzig. »Hansdampf in allen Gassen, aber nirgends zu Hause.« Es dauerte eine ganze Weile, bis er das ins Französische übersetzt hatte, und er mühte sich noch immer damit ab, als plötzlich irgendwo ganz in der Nähe eine Maschinengewehrsalve abgefeuert wurde, viel zu lang, um dem Gewehr gutzutun. Es kamen keine Antwortschüsse. Die Unterhaltung erlahmte.
»Irgend so ein Blödmann schießt auf Gekkos, scheint mir«, sagte der Botschaftsrat, und seine Frau lachte ihn liebevoll über den Tisch hinweg an, als wäre der Krieg eine kleine Einlage, die sie sich zur Zerstreuung ihrer Gäste ausgedacht hatten. Das Schweigen kehrte zurück, tiefer und gefahrenträchtiger als zuvor. Die kleine Gräfin legte die Gabel auf den Teller, und es bimmelte wie eine Tramklingel in der Nacht. »Die««, sagte sie.
Sofort fingen alle wieder zu sprechen an. Die amerikanische Ehefrau fragte Jerry, wo er aufgezogen worden sei, und als sie damit durch waren, fragte sie ihn, wo sein Heim sei, und Jerry sagte Thurloe Square, Old Pet's Wohnung, weil ihm nicht danach war, über die Toskana zu sprechen.
»Wir besitzen Land in Vermont«, sagte sie energisch. »Aber wir haben noch nicht gebaut.«
Zwei Raketen schlugen gleichzeitig ein. Nach Jerrys Berechnung etwa eine halbe Meile weiter östlich. Als er ringsum blickte, ob die Fenster geschlossen seien, fing er die braunen Augen des amerikanischen Ehemanns ab, die mit rätselhafter Eindringlichkeit auf ihn geheftet waren.
»Haben Sie für morgen schon etwas vor, Mr. Westerby?«
»Nichts Besonderes.«
»Wenn wir irgend etwas für Sie tun können, lassen Sie es mich wissen. Wir sind immer für Sie da.«
»Vielen Dank«, sagte Jerry, aber er hatte das Gefühl, daß die Frage anders gemeint war.
Ein Schweizer Geschäftsmann mit klugem Gesicht wußte eine lustige Geschichte, und er nutzte Jerrys Anwesenheit, um sie zu wiederholen.
»Vor nicht langer Zeit war eines nachts die ganze Stadt hell vom Geschützfeuer, Mr. Westerby«, sagte er. »Wir werden alle sterben. Oh, zweifellos, in dieser Nacht müssen wir sterben! Alles mögliche: Granaten, Leuchtspurgeschosse überströmten den Himmel, für eine Million Dollar Munition, wie wir später erfuhren. Stunde um Stunde. Ein paar meiner Freunde gingen von Tür zu Tür und verabschiedeten sich voneinander.« Eine Armee von Ameisen kam unter dem Tisch hervor und begann in einer Heersäule über das blütenweiße Damasttischtuch zu marschieren, wobei sie die Kerzenleuchter und die von Hibiskusblüten überquellende Blumenschale sorgfältig umging. »Die Amerikaner funkten herum, wetzten hin und her, und jeder von uns bedachte sehr genau seinen Platz auf der Evakuierungsliste, aber eins war komisch, wissen Sie: die Telefone funktionierten und wir hatten sogar Strom. Und was war das Ziel des Beschusses gewesen, wie sich später herausstellte?« - Die Tischrunde lachte bereits hysterisch. - »Frösche! Ein paar sehr gefräßige Frösche!«
»Kröten«, berichtigte ihn jemand, aber das tat dem Gelächter keinen Abbruch.
Der amerikanische Diplomat, ein Muster höflicher Selbstkritik, lieferte den amüsanten Epilog.
»Die Kambodschaner haben einen alten Aberglauben, Mr. Westerby. Bei einer Mondfinsternis muß man viel Lärm machen. Man muß Feuerwerkskörper abbrennen, man muß auf Blechdosen schlagen, oder noch besser Munition für eine Million Dollar in die Luft jagen. Denn wenn man das nicht tut, dann werden die Frösche den Mond verschlingen. Wir hätten es wissen solle-, aber wir wußten es nicht, und folglich standen wir ausgesprochen albern da«, sagte er stolz.
»Ja, ich fürchte, da haben Sie sich ins Bockshorn jagen lassen, alter Freund«, sagte der Botschaftsrat selbstgefällig. Aber obgleich das Lächeln des Amerikaners offen und unvoreingenommen blieb, drückten die braunen Augen etwas weit Dringenderes aus - etwas wie eine Botschaft unter Fachleuten.
Jemand sprach über Dienstboten und deren erstaunlichen Fatalismus. Eine einzelne Detonation, laut und anscheinend sehr nahe, beendete die Vorstellung. Als Gräfin Sylvia nach Jerrys Hand griff, lächelte die Gastgeberin ihrem Mann fragend über den Tisch hinweg zu.
»John, darling«, fragte sie mit ihrer gastlichsten Stimme, »ging das herein oder hinaus?«
»Hinaus«, erwiderte er lachend. »Oh, entschieden hinaus. Frag unseren Freund, den Journalisten, wenn du mir nicht glaubst. Er hat schon einige Kriege hinter sich, nicht wahr, Westerby?« Worauf das Schweigen sie wiederum vereinte wie ein verbotenes Thema. Die amerikanische Dame klammerte sich an den Grundbesitz in Vermont: vielleicht sollten sie schließlich doch dort bauen. Vielleicht war es jetzt Zeit:
»Vielleicht sollten wir doch dem Architekten schreiben«, sagte sie. »Vielleicht sollten wir das«, pflichtete ihr Mann bei - und in diesem Augenblick gerieten sie in eine regelrechte Schlacht. Aus nächster Nähe erleuchtete eine langgezogene Flaksalve die Wäsche im Hof, und eine Gruppe MGs, mindestens zwanzig, knatterten anhaltend und verzweifelt. Im Aufblitzen der Schüsse sahen sie die Dienerschaft ins Haus eilen, und durch das Feuern hörten sie, wie Befehle gegeben und beantwortet wurden, beides schreiend, und das irre Bimmeln von Handgongs. Im Speisezimmer bewegte sich niemand, nur der amerikanische Diplomat hob das Walkie-Talkie an die Lippen, zog die Antenne aus und flüsterte etwas, ehe er das Gerät ans Ohr hielt. Jerry blickte auf seine Knie und sah die Hand der Gräfin sich vertrauensvoll um die seine schmiegen. Ihre Wange streifte seine Schulter. Der Geschützlärm ließ nach. Er hörte ganz in der Nähe eine kleine Bombe fallen. Keine Erschütterung, nur die Kerzenflammen neigten sich grüßend, und auf dem Kaminsims fielen ein paar schwere Einladungskarten klatschend um und blieben liegen, die einzigen sichtbaren Gefallenen. Dann hörten sie als letztes und einzelnes Geräusch das Heulen einer abfliegenden einmotorigen Maschine wie fernes Kinderweinen. Es wurde vom fröhlichen Gelächter des Botschaftsrats übertönt, der zu seiner Frau sagte: »Also, das war nicht die Mondfinsternis, fürchte ich, wie, Hills? Das war die Ehre und das Vergnügen, Lon Nol als Nachbarn zu haben. Einer von seinen Piloten wird dann und wann ungeduldig, weil er keinen Sold bekommt, und dann steigt er auf und bombardiert auf gut Glück den Palast. Darling, wie wär's, wenn du die Mädels mitnähmst, damit sie sich die Nase pudern können oder was immer ihr so macht?«
Es ist Zorn, dachte Jerry, als er wiederum den Blick des Amerikaners auffing. Er sieht aus wie ein Mann, der den Armen das Heil bringen möchte, und statt dessen seine Zeit mit den Reichen verplempern muß.
Drunten standen Jerry, der Botschaftsrat und der Amerikaner schweigend im Arbeitszimmer im Erdgeschoß. Der Botschaftsrat war jetzt von wölfischem Argwohn.
»Ja, weih, sagte er. »Ich habe Sie jetzt miteinander bekannt gemacht und laß Sie vielleicht am besten allein. Whisky ist in der Karaffe, recht so, Westerby?«
»Recht so, John«, sagte der Amerikaner, aber der Botschaftsrat schien nicht gehört zu haben.
»Und vergessen Sie nicht, Westerby: die Vollmacht liegt bei uns, ja? Wir halten das Bett warm. Ja?« Er wackelte warnend mit dem Finger und verschwand.
Das Arbeitszimmer war mit Kerzen erleuchtet, ein kleiner, männlich wirkender Raum ohne Spiegel oder Bilder, nur eine geriefte Teakholzdecke und ein grüner Metallschreibtisch, und der Eindruck, draußen in der Dunkelheit herrsche nun wieder tödliche Stille, obwohl die Gekkos und die Ochsenfrösche das raffinierteste Mikrophon außer Gefecht gesetzt hätten. »Heh, überlassen Sie das mir«, sagte der Amerikaner, als Jerry zur Anrichte gehen wollte, und machte eine Show daraus, die richtige Mischung für ihn herzustellen: »Wasser oder Soda, Vorsicht, daß ich ihn nicht ersäufe.«
»Scheint ein bißchen umständlich, auf diese Weise zwei Freunde zusammenzubringen«, sagte der Amerikaner in krampfhaftem Plauderton von der Anrichte her, während er die Drinks eingoß. »Könnte man sagen.«
»John ist ein feiner Kerl, aber er hat's mit dem Protokoll. Ihre Leute haben zur Zeit hier keine Stütze, aber sie haben gewisse Rechte, und John möchte alles tun, um zu verhindern, daß sieden Ball endgültig verlieren. Ich kann seinen Standpunkt verstehen. Ich respektiere ihn. Nur erfordern diese Dinge eben manchmal ein bißchen mehr Zeit.«
Er reichte Jerry einen länglichen braunen Umschlag, den er aus der Brusttasche des karierten Jacketts gezogen hatte, und sah mit der gleichen gewichtigen Intensität zu, wie Jerry das Siegel erbrach. Das Papier fühlte sich schmierig an, wie eine Fotokopie. Irgendwo greinte ein Kind und wurde beschwichtigt. Die Garage, dachte er: die Dienstboten haben Flüchtlinge in der Garage untergebracht, und der Botschaftsrat darf es nicht wissen. DROGENFAHNDUNG SAIGON meldet Charlie MARSHALL, wdh. MARSHALL planmäßig nach Battambang ETA 1930 morgen via Peilin . . . umgebaute DC 4 Carvair, Abzeichen Indocharter Frachtbrief gibt an gemischte Ladung . . . planmäßig Weiterflug Phnom Penh.
Dann las er Uhrzeit und Datum der Übermittlung, und Zorn fiel ihn an wie eine Sturmbö. Er erinnerte sich an sein gestriges Herumrennen in Bangkok und an die heutige hirnrissige Taxifahrt mit Keller und dem Mädchen, und er schleuderte die Mitteilung mit einem »Herrgott!« zwischen ihnen auf den Tisch. »Wie lange haben Sie schon darauf gesessen? Das ist nicht morgen, das ist heute abend!«
»Leider konnte unser Gastgeber die Hochzeit nicht früher arrangieren. Sein Einladungsprogramm ist außerordentlich gedrängt. Viel Glück.«
Er war genauso zornig wie Jerry, nahm wortlos das Fernschreiben wieder an sich, steckte es in die Tasche seines karierten Jacketts und verschwand nach oben zu seiner Gattin, die damit beschäftigt war, die mittelmäßige Sammlung geklauter Buddhas ihrer Gastgeberin zu bewundern.
Jerry blieb allein zurück. Eine Rakete fiel, und seine Zeit war bemessen. Die Kerzen erloschen, und am Nachthimmel schien endlich die ganze Spannung dieses illusorischen und grotesken Krieges zu platzen. Blindlings fielen die Maschinengewehre in den allgemeinen Krach ein. Der kleine kahle Raum mit seinem Fliesenfußboden ratterte und summte wie ein Tongenerator. Nur um ebenso unvermittelt wieder aufzuhören und die Stadt dem Schweigen zu überlassen.
»Stimmt was nicht, alter Junge?« erkundigte sich der Botschaftsrat herzlich von der Tür her. »Der Yankee hat Sie gegen den Strich gebürstet, was? Sieht aus, als wollten sie jetzt die ganze Welt allein regieren.«
»Ich muß eine Option für sechs Stunden haben«, sagte Jerry. Der Botschaftsrat begriff nicht ganz, was er meinte. Nachdem Jerry es ihm erklärt hatte, trat er rasch in die Nacht hinaus.
»Sie haben ein Gefährt, ja, alter Junge? Sehr gut. Andernfalls erschießen sie Sie. Passen Sie auf sich auf.«
Er schritt kräftig aus, Zorn und Abscheu beflügelten ihn. Der Zapfenstreich war längst vorbei. Er sah keine Straßenlampen, keine Sterne. Der Mond war verschwunden, und das Quietschen seiner Kreppsohlen begleitete ihn wie ein unerwünschter, unsichtbarer Weggenosse. Das einzige Licht kam aus dem Umkreis des Palasts auf der anderen Straßenseite, aber es reichte nicht bis zu ihm. Hohe Mauern schotteten den Innenbau ab, hohe Stacheldrahtzäune krönten die Mauern, die Rohre der Flugabwehrgeschütze schimmerten bronzen vor dem schwarzen und lautlosen Himmel. Junge Soldaten dösten in Gruppen, und als Jerry an ihnen vorrübertrabte, erscholl eine neue Runde von Gongschlägen: der Wachtmeister hielt die Posten wach. Es herrschte kein Verkehr, aber zwischen den einzelnen Wachtposten hatten die Flüchtlinge das ganze Pflaster entlang ihre nächtlichen Dörfer errichtet. Einige hatten sich mit Streifen brauner Zeltbahn umwickelt, einige hatten Bretterliegen und einige kochten auf winzigen Flammen, obwohl Gott allein wußte, was sie Eßbares gefunden hatten. Einige saßen in säuberlich getrennten Standesgruppen und blickten nur einander an. Auf einem Ochsenkarren lag ein Mädchen mit einem Jungen, Kinder, so alt wie Cat gewesen war, als er sie zum letztenmal in Fleisch und Blut gesehen hatte. Aber von diesen Hunderten von Menschen kam kein Laut, und nachdem er eine Strecke weit gegangen war, drehte er sich um und sah nach ihnen, ob sie wirklich dort waren. Wenn ja, dann verbarg sie das Dunkel und die Stille. Er dachte an die Dinnerparty. Sie hatte in einem anderen Land stattgefunden, in einer anderen Welt. Jerry war hier völlig unbedeutend, und doch hatte auch er zu diesem Debakel beigetragen, »lind vergessen Sie nicht, wir haben die Vollmacht, ja? Wir halten das Bett warm.«
Der Schweiß war. ihm ausgebrochen. Die Nachtluft hatte keine kühlende Wirkung. Das Dunkel war genauso heiß wie der Tag. Vor ihm in der Stadt schlug ziellos eine verirrte Rakete ein, dann folgten zwei. Sie kriechen über die Reisfelder, bis sie auf Schußweite heran sind, dachte er. Sie liegen in ihrem Versteck, ihr Stückchen Rohr und ihr Bömbchen fest an sich gepreßt, dann werfen sie und rasen wie irre in den Dschungel. Der Palast lag nun hinter ihm. Eine Batterie feuerte eine Salve ab, und ein paar Sekunden lang konnte er im Aufblitzen seinen Weg erkennen. Die Straße war breit, ein Boulevard, und er hielt sich möglichst in der Mitte der Fahrbahn. In regelmäßigen Abständen sah er die Öffnung der einmündenden Straßen. Wenn er sich bückte, konnte er sogar die Baumwipfel in den blassen Himmel entweichen sehen. Einmal kam eine Rikscha nervös aus der Kurve geschwankt, stieß an den Bordstein, fing sich wieder und klapperte vorüber. Er dachte schon daran, sie anzurufen, marschierte aber doch lieber zu Fuß weiter. Eine männliche Stimme grüßte ihn unschlüssig aus dem Dunkeln - ein Flüstern, nichts Aufdringliches: »Bon soir! Monsieur? Bon soir?«
Die Posten standen alle hundert Meter allein oder zu zweien und hielten ihre Karabiner in beiden Händen. Ihr Gemurmel erreichte ihn wie Aufforderungen, aber Jerry achtete stets darauf, die Hände weit weg von den Taschen zu halten, so daß die Posten sie sehen konnten. Manche lachten beim Anblick des riesigen schwitzenden Rundauges und winkten ihn weiter. Andere hielten ihn mit vorgehaltener Pistole an und blickten beim Schein von Fahrradlampen ernst zu ihm auf, während sie ihm Fragen stellten, um sich im Französischen zu üben. Einige forderten Zigaretten, und er gab sie ihnen. Er zerrte das durchweichte Jackett herunter und riß das Hemd bis zur Taille auf, aber noch immer wollte die Luft ihn nicht abkühlen und wieder dachte er, ob er vielleicht Fieber habe und ob er, wie letzte Nacht in Bangkok, in seinem Schlafzimmer erwachen und im Dunkeln kauernd darauf warten würde, jemandem mit einer Tischlampe den Schädel einzuschlagen.
Der Mond schien, vom Schaum der Regenwolken angeleckt. In seinem Licht glich das Hotel einer verrammelten Festung. Er kam zur Gartenmauer und folgte ihr nach links den Bäumen entlang, bis sie wiederum eine Biegung machte. Er warf sein Jackett über die Mauer und kletterte mühsam hinterher. Er überquerte den Rasen bis zur Treppe, drückte die Tür zur Halle auf und fuhr mit einem erstickten Ausruf des Ekels zurück. Die Halle war pechschwarz, nur ein einzelner Mondstrahl richtete sich wie ein Punktstrahler auf eine riesige helle Insektenpuppe, die sich um die nackte braune Larve eines menschlichen Körpers spann. » Vous desirez, monsieur?« fragte eine Stimme leise.
Es war der Nachtwächter, der in seiner Hängematte unter einem Moskitonetz schlief.
Der Junge übergab ihm einen Schlüssel und einen Zettel und nahm schweigend sein Trinkgeld entgegen. Jerry ließ sein Feuerzeug aufleuchten und las den Zettel: »Darling, ich bin in Zimmer achtundzwanzig und sehr einsam. Erwarte Sie. L.« Warum zum Teufel eigentlich nicht? dachte er: Vielleicht kommt dadurch alles wieder ins Lot. Er stieg die Treppe zum zweiten Stock hinauf, vergaß die furchtbare Banalität des Mädchens, dachte nur an ihre langen Beine und der schlanken Körper, als sie über die Wagenfurchen das Flußufer entlangbalanciert war; an ihre kornblumenblauen Augen und die typisch amerikanische Gelassenheit, als sie in dem Schützenloch gelegen hatte; dachte nur an sein Sehnen nach einer menschlichen Berührung. Wer schert sich einen Deut um Keller? dachte er. Einen anderen Körper an sich pressen, heißt, am Leben sein. Vielleicht hatte sie auch Angst? Er klopfte an die Tür, wartete, öffnete sie behutsam. »Lorraine? Ich bin's. Westerby.«
Nichts tat sich. Er tappte zum Bett, bemerkte das Fehlen eines jeden weiblichen Geruchs, sogar von Gesichtspuder und Deodorant. Auf halbem Weg zeigte ihm das gleiche Mondlicht den erschreckend vertrauten Anblick von Jeans, einem Paar schwerer Kommißstiefel und einer ramponierten Olivetti-Reiseschreibmaschine, nicht unähnlich seiner eigenen.
»Noch einen Schritt näher, und es ist versuchte Notzucht«, sagte Luke und entkorkte die Flasche auf seinem Nachttisch.
Charlie Marshalls Freunde
Jerry hatte die Nacht auf Lukes Fußboden verbracht und machte sich vor Tagesanbruch davon. Er nahm seine Schreibmaschine und die Schultertasche mit, obgleich er überzeugt war, keines von beidem zu benötigen. Er ließ einen Zettel zurück, auf dem er Keller bat, an Stubbs zu drahten, daß er die Story über den Belagerungszustand draußen in der Provinz weiter verfolge. Sein Rücken schmerzte vom Fußboden, und sein Kopf von der Flasche. Luke war wegen der Päng-Pängs, wie er sagte, gekommen, nachdem sein Büro ihm eine Pause von Big Moo eingeräumt hatte. Außerdem hatte Jake Chiu, sein erboster Hauswirt, ihn endgültig aus der Wohnung geworfen.
»Ich bin obdachlos, Westerby!« hatte er gerufen und angefangen, laut zu jammern: »Obdachlos!«, bis Jerry, um sich ein bißchen Schlaf zu erkaufen, und das Klopfen der Nachbarn zum Schweigen zu bringen, seinen zweiten Wohnungsschlüssel vom Ring nestelte und ihn Luke zuwarf.
»Bis ich wieder da bin«, warnte er. »Dann raus. Verstanden?« Jerry fragte nach dem Fall Frost. Luke hatte alles vergessen und mußte erst erinnert werden. Ach der, sagte er. Der. Tja, also, es gingen Gerüchte um, Frost habe sich mit den Triaden angelegt, und vielleicht stelle sich in hundert Jahren heraus, daß dem wirklich so war, aber wen kümmere das heute? Aber nicht einmal dann konnte er so ohne weiteres schlafen. Sie hatten die Pläne für den. heutigen Tag besprochen. Luke wollte alles tun, was Jerry tat. Allein sterben sei langweilig, behauptete er. Am besten würden sie sich betrinken und sich ein paar Huren suchen. Jerry hatte erwidert, Luke werde noch eine Weile warten müssen, ehe sie beide gemeinsam in ihr letztes Abendrot marschierten, denn er wolle den Tag über Fischen gehen, und zwar allein.
»Wonach fischen, zum Teufel? Wenn's eine Story ist, dann teilen Sie. Wer hat Ihnen Frost gegeben, gratis und franko? Wohin können Sie gehen, wo's nicht unendlich schöner wäre., wenn Bruder Luke dabei ist?«
So ziemlich überall hin, hatte Jerry unfreundlich erwidert, und war jetzt aus dem Zimmer geschlichen, ohne ihn aufzuwecken. Als erstes begab er sich zum Markt; schlürfte eine soupe chinoise und musterte eingehend die Verkaufsstände und Ladenfronten. Er entschloß sich für einen jungen Inder, der ausschließlich Plastikeimer, Wasserflaschen und Besen zu verkaufen hatte und dennoch dabei gute Geschäfte zu machen schien, nach seinem Aussehen zu schließen.
»Was verkaufen Sie sonst noch, altes Haus?«
»Sir, ich verkaufe alles, an alle Gentlemen.« Sie klopften beide eine Weile auf den Busch. Nein, sagte Jerry, er wolle nichts zu rauchen und nichts zu schlucken, nichts zu schnüffeln und auch nichts für die Handgelenke. Und nein, vielen Dank, bei allem Respekt vor den zahlreichen schönen Schwestern, Cousinen und jungen Männern seiner Kreise, auch für Jerrys sonstige Bedürfnisse sei gesorgt.
»Dann, Freude meines Herzens, Sir, sind Sie ein sehr glücklicher Mann.«
»Ich habe wirklich etwas gesucht, für einen Freund«, sagte Jerry. Der junge Inder blickte scharf die Straße auf und nieder und jetzt klopfte er nicht mehr auf den Busch. »Einen freundlichen Freund, Sir?«
»Nicht sehr.«
Sie nahmen gemeinsam eine Rikscha. Der Inder hatte einen Onkel, der auf dem Silbermarkt Buddhas verkaufte, und der Onkel hatte ein Hinterzimmer mit Schlössern und Riegel an der Tür. Für dreißig amerikanische Dollar kaufte Jerry eine niedliche braune Walther Automatic mit zwanzig Runden Munition. Die Bärentreiber in Sarratt, dachte er, als er wieder in die Rikscha kletterte, wären glatt in Ohnmacht gefallen. Erstens wegen der, wie sie es nannten, unpassenden Zutat, und zweitens weil sie den zählebigen Unsinn predigten, kleine Kanonen brächten mehr Verdruß als Nutzen. Aber wenn er seine Webley aus Hongkong durch den Zoll nach Bangkok und von dort aus nach Phnom Penh mitgenommen hätte, wären sie vermutlich überhaupt nicht mehr aus ihrer Ohnmacht erwacht, also konnten sie sich nach Jerrys Meinung noch glücklich schätzen, daß er nicht nackt und bloß in dieses Abenteuer zog, welche Parole auch immer sie in dieser Woche auf ihre Fahnen geschrieben hatten. Am Flugplatz war keine Maschine nach Battambang zu finden, aber dort war nie eine Maschine zu finden, egal wohin. Die silbernen Reis-Jets landeten und starteten heulend auf dem Rollfeld, und nachdem in der Nacht wiederum Raketen gefallen waren, wurden jetzt neue Futtermauern errichtet. Jerry sah zu, wie die Erde in Lastwagen ankam und die Kulis sie in rasender Eile in Munitionskisten füllten. Wenn ich wieder auf die Welt komme, beschloß er, handle ich mit Sand und karre ihn in belagerte Städte.
Im Wartesaal fand Jerry eine Gruppe Stewardessen, die Kaffee tranken und lachten, und er gesellte sich in seiner flotten Art zu ihnen. Ein großes Mädchen, das englisch sprach, zog eine zweifelnde Miene und verschwand mit seinem Paß und fünf Dollar.
»C'est impossible«, versicherten sie ihm alle, während sie auf die Rückkehr des Mädchens warteten. »C'est tout occupe.« Das Mädchen kehrte lächelnd zurück. »Der Pilot ist sehr schwierig«, sagte sie. »Wenn Sie ihm nicht gefallen, nimmt er Sie nicht mit. Aber ich zeige ihm Ihr Foto, und er will ausnahmsweise surcharger. Er darf nur einunddreißig personnes mitnehmen, aber er nimmt Sie mit, es ist ihm egal, er tut es aus Freundschaft, wenn Sie ihm tausendfünfhundert Riels geben.« Die Maschine war zu zwei Dritteln leer, und die Geschoßeinschläge in den Tragflächen tröpfelten wie blutende Wunden.
Zu diesem Zeitpunkt war Battambang noch die sicherste Stadt in Lon Nols dahinschwindendem Archipel, und Phnom Penhs letzte Farm. Eine Stunde lang trödelten sie über einem mutmaßlich von Roten Khmer überschwemmtem Gebiet, ohne daß eine Menschenseele sich zeigte. Während sie kreisten, schoß jemand müßig aus den Reisfeldern, und der Pilot beschrieb auf gut Glück ein paar Kurven, um den Schüssen auszuweichen, aber Jerry richtete seine ganze Aufmerksamkeit darauf, sich die Bodenanlagen einzuprägen, ehe sie aufsetzten: die Abstellplätze; welche Rollbahnen der Zivilluftfahrt und welche den Militärmaschinen vorbehalten waren; die drahtumzäunte Enklave, in der die Frachtschuppen standen. Sie landeten in einer ländlichen Idylle. Blumen wuchsen rings um die Geschützstellungen, fette braune Hühner scharrten in den Granattrichtern, Wasser und Strom gab es im Überfluß, und dennoch dauerte ein Telegramm nach Phnom Penh damals bereits eine Woche.
Jerry ging jetzt sehr behutsam vor. Instinktiv hielt er sich strikter an seine Legende als je zuvor. Der Honourable Gerald Westerby, unser ausgezeichneter Lohnschreiber, berichtet über die wirtschaftlichen Auswirkungen des Belagerungszustands. Wer so groß ist wie ich, der muß einen verdammt guten Grund haben für alles, was er tut. Also nebelte er sich ein, wie es in der Branche heißt. Am Informationsschalter, wo mehrere stille Männer ihn beobachteten, fragte er nach den Namen der besten Hotels in der Stadt und schrieb sich einige davon auf, während er nebenbei die Gruppierungen der Maschinen und der Gebäude studierte. Er unternahm eine Wanderung von Büro zu Büro und fragte, wie man am besten einen Zeitungsbericht per Luftfracht nach Phnom Penh schicken könne, und niemand hatte die geringste Ahnung. Er setzte seine diskrete Rekognoszierung fort, schwenkte überall seine Telegrammkarte und erkundigte sich, wie man zum Gouverneurspalast komme, um den Eindruck zu erwecken, er habe mit dem großen Mann persönlich etwas zu besprechen. Binnen kurzem war er der berühmteste Reporter, der jemals nach Battambang gekommen war. Inzwischen merkte er sich die Türen mit der Aufschrift »Besatzung« und die Türen mit der Aufschrift »Privat« und wo »Herren« war, damit er später, wenn er unverdächtig sein würde, eine Skizze der gesamten Anlage zeichnen könnte, mit besonderer Berücksichtigung der Ausgänge nach dem abgezäunten Teil des Flugfelds. Schließlich fragte er, wer von den Piloten zur Zeit in der Stadt sei. Er sei mit einigen von ihnen befreundet, sagte er, also sei es wohl das Einfachste - falls es nötig sein sollte -, einen von ihnen zu bitten, seine Reportage in seinem Fluggepäck mitzunehmen. Eine Stewardeß las ihm Namen von einer Liste vor, und während sie das tat, drehte Jerry die Liste sanft um und las den Rest selber herunter. Der Indocharter-Flug war aufgeführt, aber ohne den Namen des Piloten. »Fliegt Captain Andreas noch für Indocharter?« erkundigte er sich.
»Captain qui, Monsieur?«
»Andreas. Wir nannten ihn nur Andre. Kleiner Bursche, trug immer eine dunkle Brille. Flog die Strecke Kampong Cham.« Sie schüttelte den Kopf. Nur Captain Marshall und Captain Ricardo, sagte sie, flogen für Indocharter, aber Captain Ric sei einem Absturz zum Opfer gefallen. Jerry zeigte, weiter kein Interesse, stellte aber doch ganz nebenbei fest, daß Captain Marshalls Carvair am Nachmittag starten würde, wie gestern nacht gemeldet. Es werde aber keine Fracht mehr mitgenommen, alles sei ausgebucht, Indocharter sei immer voll ausgelastet. »Wissen Sie, wo ich ihn erreichen kann?«
»Captain Marshall fliegt nie am Vormittag, Monsieur.« Er fuhr mit einem Taxi in die Stadt. Das beste Hotel war eine Wanzenbude in der Hauptstraße. Die Straße war eng, stinkig und mit ohrenbetäubendem Lärm erfüllt, eine asiatische Konjunkturstadt im Entstehen, donnernd vom Lärm der Hondas und verstopft von den frustrierten Mercedes der über Nacht Reichgewordenen. Um seine Legende aufrechtzuerhalten nahm er ein Zimmer und bezahlte im voraus, nahm auch den special Service, was nichts Exotischeres bedeutete als frische Laken zum Unterschied von denen, die noch die Spuren früherer Schläfer trugen. Er wies den Fahrer an, in einer Stunde wiederzukommen. Aus alter Gewohnheit verschaffte er sich eine überhöhte Rechnung. Er duschte, zog sich um und hörte höflich zu, während der Hausboy ihm erklärte, wie man nach der Sperrstunde ins Haus gelangen könne, dann ging er aus und suchte sich ein Frühstück, denn es war noch immer erst neun Uhr morgens.
Er trug Schreibmaschine und Schultertasche mit sich. Er sah keine anderen Rundaugen. Er sah Korbflechter, Häute- und Obsthändler, und wieder einmal lagen die unvermeidlichen Flaschen mit dem gestohlenen Benzin am Gehsteig aufgereiht und warteten auf einen Angriff, der sie in die Luft jagen würde. In einem Spiegel, der in einem Baum hing, sah er zu, wie ein Zahnarzt einem in einen hohen Stuhl geschnallten Patienten Zähne zog und wie der Zahn mit der roten Wurzel zu den anderen feierlich an die Schnur gehängt wurde, an der das Tagessoll aufgefädelt war. Das alles hielt Jerry demonstrativ in seinem Notizbuch fest, wie es einem gewissenhaften Berichterstatter des Alltagslebens anstand. Und von einem Straßencafe aus, wo er kaltes Bier und frischen Fisch zu sich nahm, beobachtete er die schmutzigen, halbverglasten Räume mit der Aufschrift »Indocharter« jenseits der Straße und wartete, daß jemand kommen und die Tür aufschließen würde. Niemand kam. Captain Marshall fliegt nie am Vormittag, Monsieur. In einer Drogerie, die vor allem Kinderfahrräder feilbot, erstand er eine Rolle Heftpflaster, und als er wieder in seinem Hotelzimmer war, klebte er sich die Walther an die Rippen, damit sie nicht in seinem Hosenbund herumrutschte. Also ausgerüstet machte sich der furchtlose Journalist auf, um ein weiteres Stück seiner Legende zu leben - was zuweilen, in der Psychologie eines Außenagenten, nichts weiter ist als ein acte gratuit der Selbstbestätigung, wenn es anfängt, brenzlig zu werden. Der Wohnsitz des Gouverneurs lag am Stadtrand, hinter einer Veranda und einem Portal im französischen Kolonialstil. Ihm unterstand ein siebzigköpfiges Sekretariat. Die weite Zementhalle führte in einen nicht zu Ende gebauten Warteraum und dahinter zu bedeutend kleineren Büros. In eines davon wurde Jerry nach fünfzig Minuten Wartezeit eingelassen und sah sich einem, winzigen, sehr vorgesetzt wirkenden Kambodschaner im schwarzen Anzug gegenüber, der von Phnom Penh hierhergeschickt worden war, um lästige Korrespondenten abzufertigen. Es hieß, er sei der Sohn eines Generals und manage den Battambang-Abschnitt des Opiumhandels seiner Familie. Der Schreibtisch war viel zu groß für ihn. Mehrere Hofchargen lungerten herum und sahen sämtlich sehr ernst aus. Einer trug Uniform und eine Menge Ordensbänder. Jerry fragte nach eingehenden Hintergrundinformationen und stellte eine Liste mehrerer reizender Träume auf: daß der kommunistische Feind so gut wie geschlagen sei; daß die Wiedereröffnung des gesamten nationalen Verkehrsnetzes ernsthaft diskutiert werde; daß der Tourismus die Wachstumsindustrie der Provinz sei. Der Sohn des Generals sprach ein langsames, wunderschönes Französisch und hörte sich offensichtlich mit größtem Genuß reden, denn beim Sprechen hielt er die Augen geschlossen und lächelte, als lausche er seiner Lieblingsmelodie. »Ich darf zum Abschluß, Monsieur, ein warnendes Wort anfügen, das Ihrem Land gilt. Sind Sie Amerikaner?«
»Engländer.«
»Das kommt aufs gleiche hinaus. Sagen Sie Ihrer Regierung, Sir:
wenn Sie uns nicht helfen, den Kampf gegen die Kommunisten fortzuführen, dann gehen wir zu den Russen und bitten sie, Ihre Stelle in unserem Ringen einzunehmen.«
O Mutter, dachte Jerry. O Junge. O Gott.
»Ich werde Ihre Botschaft weitergeben«, versprach er und schickte sich an, zu gehen.
»Un instant, Monsieur«, sagte der höhere Beamte scharf, und seine dösenden Hofschranzen regten sich. Er zog eine Schublade auf und brachte einen imposanten Hefter zum Vorschein. Frosts Testament, dachte Jerry. Mein Todesurteil. Briefmarken für Cat. »Sie sind Schriftsteller?«
»Ja.«
Ko greift nach mir. Heute nacht Knast, und morgen wache ich mit durchgeschnittener Kehle auf.
»Waren Sie an der Sorbonne, Monsieur?« erkundigte sich der Beamte.
»Oxford.«
»Oxford in London?«
»Ja.«
»Dann haben Sie die großen französischen Dichter gelesen, Monsieur?«
»Mit allergrößtem Genuß«, erwiderte Jerry begeistert. Die Schranzen blickten strenger denn je.
»Dann werden Monsieur mich vielleicht mit seiner Meinung über die folgenden Verse beehren.« Mit seinem langsamen würdevollen Französisch begann der kleine Beamte laut zu lesen und skandierte die Verse mit der Hand. »Deux amants assis sur la terre Regardaient la mer«, begann er, und fuhr ungefähr zwanzig schweißtreibende Zeilen lang fort, während Jerry ratlos lauschte.
»Voilá«, sagte der Beamte schließlich und legte den Hefter beiseite. » Vous l'aimez?« wollte er wissen und richtete dabei den Blick auf eine neutrale Stelle im Raum.
»Superbe«, sagte Jerry enthusiastisch. »Merveilleux. Welche Sensibilität.«
»Von wem sind sie, Ihrer Meinung nach?«
Jerry nannte den nächstbesten Namen, der ihm einfiel: »Von Lamartine?«
Der höhere Beamte schüttelte den Kopf. Die Schranzen belauerten Jerry womöglich noch aufmerksamer. »Victor Hugo?« riet Jerry.
»Sie sind von mir«, sagte der Beamte und legte mit einem Seufzer sein Werk wieder in die Schublade. Die Schranzen entspannten sich. »Sorgen Sie dafür, daß dieser literarische Herr jede Hilfe erhält«, befahl er.
Jerry kehrte zum Flugplatz zurück und fand ein wirbelndes gefährliches Chaos. Mercedes schwirrten die Zufahrt auf und ab, als hätte jemand ihr Nest überfallen, der Vorplatz war ein Hexenkessel aus Warnlichtern, Motorrädern und Sirenen, und die Halle, wo er sich durch die Absperrung palaverte, war vollgestopft mit verängstigten Menschen, die sich drängten, um die Anschläge lesen, einander zubrüllen und die plärrenden Lautsprecher hören zu können, und das alles zur gleichen Zeit. Als Jerry sich gewaltsam einen Weg zum Informationsschalter gebahnt hatte, fand er ihn geschlossen. Er sprang auf den Tresen und konnte durch ein Loch in der Splitterschutzwand auf das Flugfeld sehen. Ein Zug bewaffneter Soldaten lief im Trab über die leere Rollbahn auf eine Gruppe weißer Masten zu, an denen schlaff die Nationalflaggen in der windstillen Luft hingen. Sie holten zwei der Flaggen auf halbmast nieder, und in der Halle unterbrachen die Lautsprecher ihre Durchsagen und plärrten ein paar Takte der Nationalhymne. Jerry suchte über die brodelnden Köpfe hinweg nach jemandem, mit dem er sprechen könnte. Er wählte einen schlanken Missionar mit kurzgeschorenem gelbem Haar, Brille und einem sechs Zoll großen silbernen Kreuz, das an die Tasche seines braunen Hemds geheftet war. Neben ihm standen kläglich zwei Kambodschaner mit gestärkten Priesterkragen. » Vous parlez francais?«
»Ja, aber ich spreche auch englisch!« Ein singender weicher Tonfall. Jerry tippte auf einen Dänen. »Presse. Was ist denn hier los?« Er brüllte, so laut er konnte. »Phnom Penh ist geschlossen«, schrie der Missionar zurück. »Keine Maschine darf starten oder landen.«
»Warum?«
»Die Roten Khmer haben das Munitionsdepot auf dem Flugplatz getroffen. Die Stadt ist mindestens bis morgen geschlossen.« Wieder begann der Lautsprecher zu schnattern. Die beiden Priester lauschten. Der Missionar beugte sich fast bis zum Boden, um die undeutliche Übersetzung zu verstehen. »Kann sein, daß sie großen Schaden angerichtet und bereits ein halbes Dutzend Flugzeuge zerstört haben. O ja! Der ganze Betrieb stockt. Die Behörden vermuten auch Sabotage. Vielleicht nehmen sie auch einige Gefangene. Hören Sie, warum wird überhaupt in einem Flughafen Munition gelagert? Das war höchst gefährlich. Was ist hierfür ein Grund?«
»Ausgezeichnete Frage«, pflichtete Jerry bei. Er bahnte sich einen Weg durch die Halle. Sein Plan Nummer eins war bereits gestorben, was seinen Plänen Nummer eins meist passierte. Vor der Tür »Nur für Besatzung« standen zwei furchterregende Gestalten Posten, und in dieser Atmosphäre sah Jerry keine Chance, sich mit einem Trick durchzumogeln. Die Menge schob in Richtung Fluggastausgang, wo das abgekämpfte Bodenpersonal sich weigerte, die Bord-Tickets anzuerkennen und abgekämpften Polizisten Passierscheine vorgewiesen wurden, die dem prominenten Inhaber den Kontakt mit der Polizei hätte ersparen sollen.
An den Rändern zeterte ein Team französischer Geschäftsleute nach Rückerstattung des Flugpreises, und die Älteren richteten sich bereits auf eine Übernachtung ein. Der Hauptstrom schob und spähte und tauschte immer neue Gerüchte aus, und in seinem Sog wurde Jerry stetig nach vorn getragen. Als er an der improvisierten Barriere angelangt war, zückte er seine Telegrammkarte und kletterte hinüber. Der schmucke Polizeioffizier wahrte Abstand und beobachtete Jerry geringschätzig, während seine Untergebenen sich abmühten. Jerry, der den Riemen der Schultertasche ums Handgelenk geschlungen hatte, schritt geradewegs auf ihn zu und hielt ihm die Telegrammkarte unter die Nase.
»Securite americaine«, donnerte er in grauenhaftem Französisch, kläffte den beiden Männern an den Schwingtüren irgend etwas zu, und schon war er draußen auf dem Flugfeld und marschierte unverwandt weiter, obwohl es in seinem Rücken prickelte und er die ganze Zeit über einen Anruf oder einen Warnschuß erwartete oder - in dieser scharfgeladenen Atmosphäre - einen Schuß, der keine Warnung mehr war. Er stapfte zornig, mit derber Bestimmtheit dahin und schwang, nach bester Sarratt-Manier, die Schultertasche zwecks Ablenkung. Vor ihm - sechzig Yards, bald fünfzig - stand eine Reihe einmotoriger Militär-Übungsmaschinen ohne Abzeichen. Dahinter befanden sich auf dem eingezäunten Platz die Lagerschuppen, numeriert von neun bis achtzehn, und hinter den Lagerschuppen sah Jerry Hangars, Abstellplätze und Verbotstafeln in praktisch jeder Sprache außer der chinesischen. Als Jerry bei den Übungsmaschinen angelangt war, schritt er die Front wie bei einer Parade ab. Sie waren mit Drahtseilen und Ziegelsteinen verankert. Er verhielt den Schritt, ohne jedoch stehenzubleiben, trat mit dem Wildlederstiefel unwillig gegen einen Ziegelstein, ruckte an einer Tragfläche und schüttelte den Kopf. Die Bedienung eines Flakgeschützes sah ihm von ihrer mit Sandsäcken umhegten Stellung aus gleichmütig zu. »Qu'est-ce que vous faites?«
Jerry wandte den Kopf und legte die Hände trichterförmig vor den Mund. »Dorf solltet ihr raufglotzen, verdammt nochmal!« schrie er zurück, wies erzürnt zum Himmel und ging weiter, bis er vor der hohen Umzäunung anlangte. Das Tor war offen, und die Schuppen lagen vor ihm. Sobald er an ihnen vorbei sein würde, könnte man ihn weder vom Flughafengebäude noch vom Kontrollturm aus mehr sehen. Er marschierte über geborstenen Beton, in dessen Sprüngen Queckengras wuchs. Kein Mensch weit und breit. Die Schuppen waren aus Teerpappe, dreißig Fuß lang, zehn hoch, mit Palmdächern. Er kam beim ersten an. Auf der Fensterverschalung stand: »Splitterbomben, ohne Zünder«. Ein Trampelpfad führte hinüber zu den Hangars. Durch den Zwischenraum erhaschte Jerry einen Blick auf die papageienbunten Transportmaschinen.
»Hab ich dich!« sagte Jerry laut vor sich hin, als er die sichere Seite der Schuppen erreicht hatte, und er kam sich vor, als hätte er nach monatelangem einsamen Marsch zum erstenmal den Feind erblickt: dort, genau vor ihm, kauerte fett wie eine Kröte eine verlotterte blau-graue DC 4 Carvair mit geöffnetem Einstieg auf der bröckeligen Piste. Dieselöl tröpfelte wie schwarzer Regen aus beiden Steuerbordmotoren, und ein spindeldürrer Chinese, auf dem Kopf eine Schiffermütze voll militärischer Abzeichen, stand rauchend unter der Ladeluke und kontrollierte die Ware anhand einer Liste. Zwei Kulis schleppten Säcke herbei und ein dritter bediente den altertümlichen Ladeaufzug. Zu seinen Füßen scharrten muntere Hühner. Und über den Rumpf liefen in flammendem Scharlach auf Drake Kos verblichenen Rennfarben die Buchstaben OCH ART- Der Rest war bei irgendeiner Reparatur verlorengegangen.
Oh, Charlie ist unverwüstlich, absolut unsterblich! Charlie Marshall, Mr. Tiu, ein phantastischer Halbchinese, nur Haut und Knochen, und ein ausgesprochen fabelhafter Pilot . . . Was er auch bitter nötig haben wird, dachte Jerry schaudernd, als die Kulis Sack um Sack durch die geöffnete Luke in den verbeulten Bauch des Flugzeugs luden.
Der getreue Sancho Pansa des edlen Don Ricardo, Ehrwürden, hatte Craw Lizzies Schilderung ergänzt.
Jerry machte keinen Versuch, sich zu verstecken, er blieb aufrecht stehen, ließ die Tasche vom Handgelenk baumeln und trug das reuige Grinsen eines Engländers auf Abwegen zur Schau. Nun schienen Kulis, eine ganze Menge, aus verschiedenen Richtungen gleichzeitig auf das Flugzeug zuzustreben. Jerry wandte ihnen den Rücken und wiederholte seinen alten Trick: er schlenderte an der Front der Lagerschuppen entlang, wie er die Front der Übungsmaschinen abgeschritten hatte oder durch den Korridor zu Frosts Büro marschiert war, linste durch Spalten in der Teerpappe und sah weiter nichts als dann und wann eine zerbrochene Versandkiste. Die Konzession, Battambang als Operationsbasis zu benutzen, kostet eine halbe Million US-Dollar und muß immer wieder erneuert werden, hatte Keller gesagt. Wer gibt bei solchen Preisen noch Geld fürs Neulackieren aus? Die Zeile der Lagerschuppen endete, und er kam zu vier Armeelastwagen, die mit Obst, Gemüse und unbeschrifteten Rupfensäcken hochbeladen waren. Die Laster standen mit der hinteren Ladeklappe zum Flugzeug und trugen Artillerie-Embleme. Auf jedem Lastwagen standen zwei Soldaten und reichten die Rupfensäcke den unten stehenden Kulis. Vernünftigerweise hätte man die Lastwagen direkt auf die Startpiste fahren müssen, aber hier ging es offenbar in erster Linie um Diskretion. Die Army mischt immer gern mit, hatte Keller gesagt. Die Navy kann aus einem einzigen Konvoi, der den Mekong hinabfährt, Millionen herausholen, die Air Force kommt auch nicht schlecht weg: Die Bomber fliegen Obst, und die Hubschrauber holen anstatt der Verwundeten die reichen Chinesen aus den belagerten Städten heraus, die Kampfflieger gehen ziemlich leer aus, weil sie wieder dort landen müssen, von wo aus sie aufgestiegen sind. Aber die Army muß wirklich alles zusammenkratzen, um sich durchzubringen. Jerry war jetzt näher an die Maschine herangekommen und hörte die quäkenden Laute, wenn Charlie Marshall den Kulis Befehle erteilte.
Dann kamen wieder Lagerschuppen. Nummer achtzehn hatte Doppeltüren, und der Name Indocharter war mit grüner Farbe senkrecht auf eine Holzstrebe gekleckst, so daß die Lettern aus einiger Entfernung wie chinesische Schriftzeichen aussahen. Drinnen, im Halbdunkel, kauerte ein chinesisches Bauernpaar auf der Erde. Ein Schwein, an einem Strick festgebunden, hatte den Kopf auf die Pantoffeln des Alten gelegt. An weiteren Besitztümern hatten sie nur ein längliches Bündel Binsen, das sorgfältig umwickelt war. Das Bündel hätte eine Leiche sein können. In einer Ecke stand ein Wasserkrug, daneben zwei Reisschalen. Sonst war die Hütte leer. »Willkommen im Indocharter-Wartesalon«, dachte Jerry. Während ihm der Schweiß über die Rippen rann, reihte er sich in den Zug der Kulis ein, bis er vor Charlie Marshall stand, der immer noch lauthals in der Khmer-Sprache quäkte, während er mit zitternder Hand jede Ladung auf seiner Liste abhakte.
Er trug ein ölverschmiertes, weißes kurzärmeliges Hemd und so viel goldene Streifen auf den Achselstücken, daß es in jeder Luftwaffe für einen Viersterne-General gereicht hätte. Zwei amerikanische Kampfabzeichen waren an die Hemdbrust geheftet, inmitten einer erstaunlichen Kollektion von Ordensbändern und kommunistischen roten Sternen. Auf einem der Abzeichen stand »Töte einen Kommi für Christus«, und auf dem anderen »Christus war im Herzen Kapitalist«. Er hielt den Kopf gebeugt und sein Gesicht wurde von seiner riesigen Schiffermütze beschattet, die über seinen Ohren hin und herschwappte. Jerry wartete, bis er aufblickte. Die Kulis schrien Jerry bereits zu, er solle abhauen, nur Charlie Marshall hielt den Kopf hartnäckig gesenkt, während er sein Verzeichnis ergänzte, abhakte und wütend zurückquäkte.
»Captain Marshall, ich schreibe eine Story über Ricardo für eine Londoner Zeitung«, sagte Jerry ruhig. »Ich möchte mit Ihnen bis Phnom Penh fliegen und Ihnen ein paar Fragen stellen.« Während er das sagte, legte er behutsam den Cai dide auf das Warenverzeichnis, und aus dem Buch lugten, diskret aufgefächert, drei Einhundertdollar-Banknoten hervor. Wenn man will, daß jemand in eine bestimmte Richtung schaut, sagt die Zauberlehrlingsschule in Sarratt, muß man ihn immer in die andere weisen.
»Ich habe gehört, Sie mögen Voltaire«, sagte er.
»Ich mag überhaupt niemand«, erwiderte Charlie Marshall in heiserem Falsett und beugte sich noch tiefer über sein Verzeichnis, so daß ihm die Mütze noch weiter ins Gesicht rutschte. »Ich hasse die ganze menschliche Rasse, hören Sie?« Trotz des chinesischen Tonfalls war seine Schmährede eindeutig frankoamerikanisch. »Herrgott, ich hasse die Menschheit so verdammt gründlich, daß sie sich endlich selber in die Luft sprengen muß, wenn ich mir nicht aus eigener Tasche ein paar Bomben anschaffe und es persönlich erledige!«
Er hatte sein Publikum verloren. Jerry war schon halbwegs die Eisenleiter hinauf, ehe Charlie Marshall seine Absichtserklärung beendet hatte.
»Voltaire hat keinen blauen Dunst begriffen!« plärrte er den nächsten Kuli an. »Er hat den ganz falschen Krieg ausgefochten, hörst du? Leg's dort drüben hin, du faules Stinktier und hol dir das nächste! Depeche-toi, cretin, oui?«
Aber er stopfte den Voltaire dennoch in die hintere Tasche seiner ausgebeulten Hose.
Im Inneren des Flugzeugs war es dunkel, geräumig und kühl wie in einer Kathedrale. Die Sitze waren ausgebaut worden. An den Wänden waren grüne Regale auf durchlöcherten Längsstangen wie aus einem Stabilbaukasten montiert. Von der Decke baumelten Schweinekadaver und tote Perlhühner. Die übrige Ladung war die Gangway entlang gestaut, angefangen vom Schwanzende - was Jerry ein mulmiges Gefühl bereitete, wenn er an den Start dachte -, und bestand aus Obst, Gemüse und jenen Rupfensäcken, die Jerry in den Armeelastwagen bereits gesehen hatte. Jetzt waren sie säuberlich mit »Getreide«, »Reis«, »Mehl« in so großen Buchstaben beschriftet, daß sie sogar der kurzsichtigste Drogenfahnder lesen konnte. Aber der süßliche Geruch nach Hefe und Sirup, der sich bereits im Laderaum ausgebreitet hatte, bedurfte keiner Etikettierung. Ein paar Säcke dienten als Sitze für Jerrys Mitreisende. Da waren vor allem zwei ernste Chinesen, sehr ärmlich in Grau gekleidet, aus deren Uniformität und strenger Überlegenheit Jerry sofort auf Fachleute irgendwelcher Art schloß. Er erinnerte sich an Sprengmeister und Entschärfervirtuosen, die er gelegentlich ins Kampfgebiet oder heraus befördert hatte, ohne ihren Dank zu ernten. Dann, in respektvollem Abstand, vier bis an die Zähne bewaffnete Bergbewohner, die rauchten und aus ihren Reisschalen spachtelten. Jerry tippte auf Miaos oder Leute aus den Shan-Staaten an der Nordgrenze, wo Charlie Marshalls Vater seine Armee hatte. Aus ihrer ungezwungenen Haltung schloß er, daß sie zur ständigen Mannschaft gehörten. Die VIPs saßen getrennt von den gewöhnlichen Passagieren: der Artillerieoberst höchstselbst, der so zuvorkommend Transport und Eskorte gestellt hatte, und sein Kompagnon, ein höherer Zollbeamter, ohne den das Ganze nicht geklappt hätte. Sie thronten auf eigens aufgestellten Sesseln königlich in der Gangway, sahen voll Stolz beim Beladen zu, das noch immer nicht beendet war, und trugen, wie es die festliche Gelegenheit erheischte, ihre beste Uniformen.
Und noch ein Mann war mit von der Partie. Er hockte allein im Heck hoch droben auf den Kisten, so daß sein Klbpf fast an die Decke stieß. Es war unmöglich, ihn im einzelnen auszumachen. Er trug eine Fidel-Castro-Kappe und einen Vollbart. An den dunklen Armen funkelten goldene Kettenglieder, damals bei jedermann (außer bei denen, die sie trugen) als CIA-Armbänder bekannt, da man optimistischerweise annahm, ein Mann, der in Feindesland in der Patsche saß, könne sich den Weg in die Sicherheit dadurch erkaufen, daß er jeweils ein Kettenglied herausrückte. Aber die Augen des Mannes, die Jerry über den wohlgeölten Lauf einer automatischen AK 47 hinweg fixierten, blickten starr und klar. »Er hat durch den Einstieg auf mich gezielt«, dachte Jerry. »Er hat mich schon aufs Korn genommen, als ich den Lagerschuppen verließ.«
Die beiden Chinesen waren Köche, befand er in einer plötzlichen Eingebung: Köche, wie man in der Unterwelt die Chemiker nennt. ; Keller hatte gesagt, die Air-Opium-Gesellschaften seien dazu übergegangen, die Rohsubstanz einzufliegen und in Phnom Penh aufbereiten zu lassen, aber sie müßten Himmel und Hölle in Bewegung setzen, damit die Köche sich bereit fänden, herzukommen und unter Belagerungsbedingungen zu arbeiten. »He, Sie, Voltaire!«
Jerry lief an die Ladeluke. Als er hinunterschaute, sah er die alten Bauersleute am Fuß der Leiter stehen, während Charlie Marshall versuchte, des Schweins habhaft zu werden und die alte Frau die eiserne Leiter hinaufzuschieben.
»Wenn sie raufkommt, dann langen Sie raus und packen sie, verstanden?« rief er und hielt das Schwein umarmt. »Sie fällt runter, bricht sich den Arsch, und wir haben noch mehr Scherereien mit diesen Niggern. Sind Sie vielleicht auch so ein verdammter Rauschgiftzwerg, Voltaire?«
»Nein.«
»Gut, also Sie packen die Alte richtig fest, verstanden?« Die alte Frau machte sich an den Aufstieg. Nach ein paar Sprossen fing sie an zu lamentieren, und Charlie Marshall klemmte sich das Schwein unter den Arm, versetzte ihr eins auf den Hintern und schrie sie auf chinesisch an. Ihr Mann kletterte hinter ihr her, und Jerry hievte beide sicher an Bord. Schließlich tauchte Charlie Marshalls Clownskopf im Einstieg auf, und obwohl die Mütze das Gesicht fast verdeckte, konnte Jerry doch einen ersten Blick darauf erhaschen: ausgemergelt und braun, mit schläfrigen chinesischen Augen und einem großen französischen Mund, der sich nach allen Seiten verzog, wenn er quakte. Charlie schob das Schwein durch die Luke, Jerry packte es und schleppte das quiekende und strampelnde Tier zu den alten Bauersleuten. Dana zog sich Charlies fleischloses Gestell an Bord wie eine Spinne, die aus einem Abfluß klettert. Sofort erhoben sich der Zollbeamte und der Artillerieoberst, staubten die Hosenböden ihrer Uniformen ab und begaben sich eiligen Schritts die Gangway entlang zu dem Mann mit der Castro-Kappe, der im Halbdunkel auf den Versandkisten hockte. Als sie bei ihm angelangt waren, warteten sie respektvoll, wie Kirchendiener, die den Klingelbeutel zum Altar zurücktragen.
Die Armbandkette blitzte auf, ein Arm griff nach Unten, einmal, zweimal, und frommes Schweigen senkte sich über die Gemeinde, während die beiden Männer sorgfältig eine große Menge Banknoten zählten und alle ihnen zusahen. Im Gleichschritt marschierten sie zur Leiter zurück, wo Charlie Marshall mit dem Frachtverzeichnis wartete. Der Zollbeamte unterschrieb es, der Artillerieoberst warf einen billigenden Blick darauf, dann salutierten beide und verschwanden die Leiter hinunter. Die Lukenklappe senkte sich, schloß nicht ganz, so daß Charlie Marshall ihr einen Tritt versetzte, eine Matte über den Spalt warf und behende über die Versandkisten hinweg zu einer Innentreppe kletterte, die zur Pilotenkanzel führte. Jerry kletterte hinterher, machte es sich auf dem Sitz des Copiloten bequem und rechnete sich insgeheim seine Überlebenschancen aus:
»Wir haben jede Menge Übergewicht. Wir verlieren Öl. Wir haben eine bewaffnete Leibgarde an Bord. Wir haben keine Landeerlaubnis, und auf dem Flugfeld von Phnom Penh dürfte ein Loch von der Größe ganz Buckinghamshires sein. Zwischen uns und dem rettenden Hafen liegen eineinhalb Stunden Rote Khmer, und wenn am anderen Ende jemand unsere Nase nicht gefällt, dann sitzt Staragent Westerby mit heruntergelassenen Hosen und ungefähr zweihundert Rupfensäcken voll Rohopium auf dem Buckel da.«
»Wissen Sie, wie man so eine Mühle fliegt?« schrie Charlie Marshall und riß an einer Reihe vergammelter Hebel. »Sind Sie vielleicht irgend großes fliegendes As, Voltaire?«
»Ich kann's nicht ausstehn.«
»Ich auch nicht.«
Charlie Marshall ergriff eine Patsche und stürzte sich damit auf einen riesigen Brummer, der um die Windschutzscheibe kurvte, dann startete er nacheinander die Motoren, bis der ganze gräßliche Vogel schlingerte und ratterte wie ein Londoner Bus auf seiner letzten Fahrt hinauf nach Clapham Hill. Das Funkgerät begann zu knacken, und Charlie Marshall nahm sich Zeit, eine obszöne Anweisung an den Kontrollturm durchzugeben, zuerst in Khmer und anschließend, nach bester Fliegertradition, in Englisch. Als sie auf das Ende der Startpiste zuhielten, rumpelten sie an einigen Geschützstellungen vorüber, und Jerry war sekundenlang darauf gefaßt, daß eine übereifrige Mannschaft den Flugzeugrumpf aufs Korn nehmen könnte, bis ihm voll Dankbarkeit der Oberst mit seinen Lastwagen und seinem Schmiergeld einfiel. Ein zweiter Brummer tauchte auf, und diesmal ergriff Jerry die Fliegenpatsche. Die Maschine schien überhaupt nicht Tempo zu gewinnen, aber die Hälfte der Instrumente war außer Betrieb, so daß es sich nicht genau feststellen ließ. Das Räderrollen auf der Piste übertönte die Motoren. Jerry mußte daran denken, wie Old Sambos Chauffeur ihn ins Internat zurückgefahren hatte: das langsame, unerbittliche Dahingleiten auf der West-Autobahn in Richtung Slough und schließlich nach Eton. Einige Bergbewohner waren nach vorn geeilt, um sich den Spaß anzusehen und lachten sich halbtot. Eine Palmengruppe hopste ihnen entgegen, aber immer noch behielt die Maschine die Füße fest auf dem Boden. Charlie Marshall riß zerstreut den Steuerknüppel zurück und zog das Fahrwerk ein. Jerry war keineswegs überzeugt, daß sich die Nase wirklich schon gehoben hatte, und wieder dachte er an die Schule und an die Wettkämpfe im Weitsprung und entsann sich des gleichen Gefühls, nicht ganz zu fliegen, dennoch nicht mehr auf dem Boden zu sein. Er fühlte den Ruck und hörte das Blätterrauschen, als der Bauch des Flugzeugs die Wipfel rasierte. Charlie Marshall brüllte der Maschine zu, sie solle sich gefälligst in die verdammte Luft raufschwingen, aber ungefähr ein Jahrhundert lang gewannen sie überhaupt nicht an Höhe, sondern hingen und schnauften wenige Fuß über einer kurvenreichen Straße, die unerbittlich auf eine Hügelkette zuhielt. Charlie Marshall zündete sich eine Zigarette an, während Jerry den Steuerknüppel umklammerte und ein energisches Rucken des Seitenruders verspürte. Charlie Marshall übernahm wieder das Steuer, ließ die Maschine langsam auf den niedrigsten Punkt der Hügelkette zu abkippen. Er kurvte weiter, überflog die Hügelkette und beschrieb einen kompletten Kreis. Als sie unter sich die braunen Dächer, den Fluß und den Flugplatz sahen, schätzte Jerry, daß sie eine Höhe von tausend Fuß haben müßten. Für Charlie Marshall war dies eine durchaus annehmbare Flughöhe, denn jetzt nahm er endlich die Mütze ab und genehmigte sich mit der Miene eines Mannes, der seine Sache gut gemacht hatte, ein großes Glas Whisky aus der Flasche zu seinen Füßen. Unter ihnen begann es zu dunkeln, und die braune Erde verfärbte sich sacht ins Violette.
»Danke«, sagte Jerry und nahm die Flasche entgegen. »Ja, könnte nicht schaden.«
Jerry leitete die Unterhaltung mit ein bißchen Geplauder ein - sofern man von Geplauder sprechen kann, wenn jemand aus vollem Hals brüllen muß.
»Die Roten Khmer haben das Munitionsdepot auf dem Flugplatz in die Luft gejagt!« schrie er. »Ist für alle Starts und Landungen geschlossen!«
»So?« Jerry sah Charlie Marshall zum erstenmal erfreut und beeindruckt.
»Es heißt, Sie und Ricardo waren dicke Freunde.«
»Wir bombardieren alles. Haben schon die halbe menschliche Rasse umgelegt. Wir sehen mehr Tote als Lebendige. Hochebene der Tonkrüge, DaNang, wir sind so große verdammte Helden, wenn wir sterben, kommt Jesus Christus persönlich im Hubschrauber und fischt uns aus dem Dschungel.«
»Ich hab' gehört, Ricardo war auch als Geschäftsmann ganz groß.«
»Klar! Der Größte! Wissen Sie, wieviel Firmen wir im Ausland haben, ich und Ricardo? Sechs. Unternehmen in Liechtenstein, Gesellschaften in Genf, einen Bankdirektor auf den Niederländischen Antillen, Rechtsanwälte, Herrje. Wissen Sie, wieviel Geld ich habe?« Er schlug auf die Gesäßtasche. »Dreihundert US ganz genau. Charlie Marshall und Ricardo haben mitsammen die halbe verdammte Menschheit umgelegt. Keiner gibt uns kein Geld nicht. Mein Vater hat die andere Hälfte umgelegt, und er hat jede Menge Geld. Ricardo hat diese blödsinnigen Einfälle immer gehabt. Patronenhülsen. Herrje. Wir zahlen die Eingeborenen, damit sie alle Patronenhülsen in Asien aufsammeln, dann verkaufen wir sie für den nächsten Krieg!« Die Nase der Maschine senkte sich, und er zog sie mit einem gemeinen französischen Fluch wieder hoch. »Latex! Wir wollen alles Latex von Kampong Cham stehlen! Wir fliegen nach Kampong Cham, wir haben große Hubschrauber, Rote Kreuze. Und was tun wir? Wir bringen die verdammten Verwundeten zurück. Halt doch still, du dummes Schwein, hörst du?« Er sprach wieder mit seinem Flugzeug. In der Kanzel sah Jerry eine lange Reihe von Einschlaglöchern, die recht unzulänglich repariert waren. Hier abtrennen, dachte er idiotisch. »Menschenhaar. Wir werden Millionäre mit Menschenhaar. Die ganzen Chinesenmädel in den Dörfern haben lange Haare. Wir schneiden sie ab und fliegen sie nach Bangkok für Perücken.«
»Wer hat Ricardos Schulden bezahlt, damit er für Indocharter fliegen konnte?«
»Niemand!«
»Jemand hat mir erzählt, es sei Drake Ko gewesen.«
»Nie von Drake Ko gehört. Auf dem Totenbett sage ich meiner Mutter, meinem Vater: Bastard Charlie, der Sohn des Generals, er hat nie in seinem Leben von Drake Ko gehört.«
»Was hat Ricardo so Besonderes für Ko getan, daß Ko alle seine Schulden bezahlt hat?«
Charlie Marshall nahm einen Schluck Whisky aus der Flasche, dann gab er sie Jerry. Seine fleischlosen Hände zitterten heftig, sobald er sie vom Steuerknüppel nahm, und seine Nase lief ständig. Jerry fragte sich, bei wie vielen Pfeifen pro Tag er wohl angelangt sein mochte. Er hatte einmal einen korsischen Hotelier in Luang Prabang gekannt, einen pied-noir, der sechzig nötig hatte, um sein Tagewerk ordentlich hinter sich zu bringen. Captain Marshall fliegt nie am Vormittag, dachte er.
»Die Amerikaner haben's immer eilig«, klagte Charlie Marshall kopfschüttelnd. »Wissen Sie, warum wir das Zeug da jetzt nach Phnom Penh bringen müssen? Jeder ungeduldig. Jeder will heutzutage Schnellschuß. Niemand hat Zeit zum Rauchen. Jeder will schnell antörnen. Wenn man die menschliche Rasse umlegen will, muß man sich Zeit lassen, hören Sie?« Jerry nahm einen neuen Anlauf. Einer der vier Motoren hatte den Geist aufgegeben. Ein zweiter hatte zu heulen angefangen, als wäre ein Auspuff kaputtgegangen, so daß man noch lauter brüllen mußte als vorher.
»Was hat Ricardo für soviel Geld getan?« wiederholte er. »Hören Sie zu, Voltaire, okay? Ich mag keine Politik, ich bin bloß ein einfacher Opiumschmuggler, okay? Sie mögen Politik, dann gehn Sie wieder runter und reden mit den verrückten Shans. »Politik kann man nicht essen. Politik kann man nicht vögeln. Politik kann man nicht rauchen.« Das sagt er zu meinem Vater.«
»Wer sagt das?«
»Drake Ko sagt meinem Vater, mein Vater sagt mir, und ich, ich sage der ganzen verdammten Menschheit! Drake Ko großer Philosoph, ja?«
Aus unerfindlichen Gründen verlor die Maschine stetig an Höhe, bis sie nur noch ein paar hundert Fuß über den Reisfeldern schwebte. Sie sahen ein Dorf, brennende Kochstellen und Gestalten, die wild auf die Bäume zurannten, und Jerry fragte sich ernstlich, ob Charlie Marshall etwas aufgefallen sei. Aber in letzter Sekunde lüpfte er den Hintern und beugte sich weit vor, wie ein geduldiger Jockey, und kriegte schließlich die Nase des alten Gauls wieder hoch, und dann genehmigten sie sich beide noch einen Whisky. »Kennen Sie ihn gut?«
»Wen?«
»Ko.«
»Hab' ihn nie im Leben gesehen, Voltaire. Sie wollen über Drake Ko sprechen, Sie fragen meinen Vater. Er schneidet Ihnen die Gurgel durch.«
»Und was ist mit Tiu? - Sagen Sie, wer sind die beiden mit dem Schwein?« schrie Jerry, um die Unterhaltung in Gang zu halten, während Charlie die Flasche wieder an sich nahm und einen weiteren Zug daraus tat.
»Haw-Leute, drunten aus Chiang Mai. Sorgen sich um ihren lausigen Sohn in Phnom Penh. Glauben, er ist am Verhungern, deshalb bringen sie ihm Schwein.«
»Also was ist mit Tiu?«
»Nie von Mr. Tiu gehört, verstanden?«
»Ricardo wurde vor drei Monaten droben in Chiang Mai gesehen«, brüllte Jerry.
»Ja, well, Ric ist komplett verrückt«, sagte Charlie Marshall inbrünstig. »Ric soll seinen Hintern aus Chiang Mai draußenhalten oder einer geht her und schießt ihn ihm glatt weg. Wenn sich einer tot stellen muß, soll er seine verdammte Klappe halten, ja?
Ich sage zu ihm: >Ric, du bist mein Partner. Halt deine verdammte Klappe und zieh die Rübe ein oder gewisse Leute könnten persönlich werden.<«
Die Maschine geriet in eine Regenwolke und verlor sofort rapide an Höhe. Regen rauschte über auf das blecherne Verdeck und drang durch die Fenster ein. Charlie Marshall riß ein paar Hebel nach oben und unten, man hörte einen Signalton, und am Instrumentenbrett leuchteten ein paar Lämpchen auf, die selbst durch noch so vieles Fluchen nicht zum Erlöschen gebracht werden konnten. Zu Jerrys Verwunderung begannen sie wieder zu steigen, wenngleich er inmitten der dahinrasenden Wolken den Steigungswinkel nur schwer schätzen konnte. Als er sich prüfend umblickte, sah er gerade noch, wie die bärtige dunkelhäutige Gestalt des Zahlmeisters mit der Fidel-Castro-Kappe die Kabinenleiter hinunterklomm und dabei die AK 47 am Lauf hielt. Sie stiegen immer höher, der Regen hörte auf, und die Nacht umgab sie wie eine Landschaft. Plötzlich brachen über ihnen die Sterne durch, dann etzten sie über die mondhellen Gletscherspalten der Wolkengipfel, stiegen abermals, die Wolken verschwanden endgültig, und Charlie Marshall setzte die Mütze wieder auf und verkündete, daß nunmehr beide Steuerbordmotoren jede Beteiligung an der festlichen Veranstaltung eingestellt hätten. In diesem Augenblick zwischen Himmel und Erde stellte Jerry seine kühnste Frage.
»Und wo ist Ricardo jetzt, altes Haus? Muß ihn finden, ja? Hab meiner Zeitung versprochen, daß ich mit ihm rede. Können sie doch nicht sitzenlassen, oder?«
Charlie Marshalls schläfrige Augen hatten sich fast völlig geschlossen. Er saß da wie in Trance, den Kopf zurückgelehnt; der Mützenrand bedeckte seine Nase.
»Was ist, Voltaire. Haben Sie was gesagt?«
»Wo ist Ricardo jetzt?«
»Ric?« wiederholte Charlie Marshall und sah Jerry wie verwundert an. »Wo Ricardo ist, Voltaire?«
»Genau, altes Haus. Wo ist er? Ich möchte mich mit ihm unterhalten. Dafür waren die dreihundert Piepen. Es gibt nochmals fünfhundert, wenn Sie Zeit finden könnten, uns beide zusammenzubringen.«
In jähem Erwachen fischte Charlie Marshall den Cadide heraus und schleuderte ihn Jerry in den Schoß, während er sich einem Zornausbruch überließ.
»Ich weiß überhaupt nie, wo Ricardo ist, verstanden? Ich will nie keinen Freund in meinem Leben. Wenn ich diesen blödsinnigen Ricardo sehe, schieß ich ihm auf offener Straße die Eier weg, verstanden? Er ist tot. Und er kann tot bleiben, bis er stirbt. Er sagt jedem, er ist ums Leben gekommen. Und vielleicht glaub ich diesem blöden Hund ausnahmsweise einmal!« Er steuerte die Maschine wütend in die Wolken und hielt dann im Sinkflug auf die langsamen Blitze der Artilleriestellungen vor Phnom Penh zu, um in der, wie es Jerry schien, stockfinsteren Nacht eine vollendete Dreipunktlandung zu machen. Jerry wartete auf den MG-Beschuß durch die Bodenabwehr, er wartete auf den gräßlichen Plumps, wenn sie kopfüber in einen Mammutkrater tauchen würden, aber er sah nur, und zwar ganz plötzlich, eine neuerrichtete Futtermauer aus den wohlbekannten erdgefüllten Munitionskisten, die mit offenen Armen und schwach erleuchtet darauf wartete, sie in Empfang zu nehmen. Als sie darauf zurollten, erschien vor ihnen ein brauner Jeep, an dessen Heck ein grünes Licht blinkte, als würde eine Signallampe von Hand an- und ausgeknipst. Das Flugzeug rumpelte über den Grasboden. Dicht neben der Futtermauer konnte Jerry ein paar grüne Lastwagen und ein dichtes Knäuel wartender Gestalten ausmachen, die ihnen gespannt entgegenblickten, und dahinter den dunklen Schatten einer zweimotorigen Sportmaschine. Sie kamen zum Stehen, und sogleich hörte Jerry, wie sich unterhalb ihrer Kabine die Laderaumluke kreischend öffnete, Schritte auf der Eisenleiter klapperten und Stimmen rasch Fragen und Antworten tauschten. Der Abmarsch ging so schnell vor sich, daß Jerry völlig überrumpelt war. Aber er hörte noch etwas anderes, er hörte etwas so Packendes, daß er in großen Sprüngen die Stufen in den Bauch der Maschine hinunterraste. »Ricardo!« schrie er. »Halt! Ricardo!«
Doch die einzigen verbliebenen Passagiere waren die beiden Alten, die Schwein und Paket fest umklammert hielten. Jerry packte die Eisenleiter und ließ sich im freien Fall hinunter, so daß er sich das Rückgrat prellte, als er auf die Piste schlug. Der Jeep mit den chinesischen Köchen und deren Leibgarde aus den Shans war bereits abgefahren. Im Dahinrennen sah Jerry, daß der Jeep auf ein offenes Tor am Rand des Flugfelds zuraste. Dann war er durch. Zwei Posten warfen das Tor zu und bezogen wieder davor Aufstellung. Hinter Jerry schwärmten bereits die behelmten Lastträger auf die Carvair zu. Mehrere Mannschaftswagen voller Polizisten sahen zu, und einen Augenblick lang war der törichte Europäer in Jerry versucht, anzunehmen, sie könnten den Fortgang der Handlung verzögern, bis ihm klar wurde, daß sie Phnom Penhs Empfangskommitee für eine Drei-Tonnen-Ladung Opium repräsentierten. Aber sein Hauptaugenmerk galt einem einzelnen, nämlich dem großen bärtigen Mann mit der Fidel-Castro-Kappe und der AK 47, dessen schweres Hinken wie synkopiertes Trommeln klang, als er in seinen Fliegerstiefeln die Eisenleiter hinuntergehumpelt war. Jerry sah ihn nur kurz. Die Tür der kleinen Beechcraft war schon für ihn geöffnet worden, und zwei Leute vom Bodenpersonal warteten, um ihm hineinzuhelfen. Sie streckten die Hände nach dem Gewehr aus, aber Ricardo wehrte ab. Er drehte sich um und hielt nach Jerry Ausschau. Eine Sekunde lang sahen sie einander. Jerry warf sich bereits zu Boden, Ricardo hob das Gewehr, und zwanzig Sekunden lang sah Jerry wieder sein ganzes Leben vor sich, von der Geburt bis zu diesem Augenblick, während ein paar weitere Kugeln über den kampfzerpflügten Flugplatz pfiffen. Als Jerry wieder aufblickte, hatte Ricardo das Feuer eingestellt und war bereits im Flugzeug verschwunden. Die Gehilfen zogen die Bremsklötze weg. Als die kleine Maschine sich ins Scheinwerferlicht schwang, rannte Jerry wie der Teufel auf die dunkelste Stelle des Feldes zu, ehe noch jemand zu der Ansicht gelangen könnte, seine Anwesenheit könne schlecht für's Geschäft sein.
War nur Theaterdonner, sagte er sich, als er im Taxi saß, die Hände über den Kopf hielt und versuchte, das wilde Poltern in seiner Brust zu beruhigen. Das kommt davon, schalt er sich, wenn man unbedingt mit einer alten Flamme von Lizzie Worthington Räuber und Gendarm spielen will.
Irgendwo schlug eine Rakete ein, aber er scherte sich den Teufel drum.
Er gab Charlie Marshall zwei Stunden, obwohl er schon eine einzige für reichlich hielt. Es war bereits Ausgangssperre, aber die Krisis des Tages war nicht mit Eintritt der Dunkelheit beendet, auf dem ganzen Weg zum Phnom waren Straßensperren errichtet und die Posten hielten ihre Maschinenpistolen im Anschlag. Auf dem Platz schrien zwei Männer beim Licht von Taschenlampen vor einer sich ansammelnden Menge aufeinander ein. Ein Stück weiter auf dem Boulevard hatten Soldaten ein angestrahltes Haus umzingelt, sie lehnten an der Mauer und fingerten an den Gewehren. Der Fahrer sagte, die Geheimpolizei habe hier jemanden festgenommen. Ein Oberst und seine Leute seien mit einem mutmaßlichen Agitator noch drinnen. Im Vorhof des Hotels standen Panzer, und in seinem Schlafzimmer fand Jerry Luke auf dem Bett liegend und stillvergnügt süffeln. »Läuft das Wasser?«
»Mhm.«
Er drehte den Hahn auf und fing an, sich auszuziehen. Dann fiel ihm die Walther ein.
»Etwas geschrieben?« fragte er.
»Mhm«, sagte Luke wieder. »Und Sie auch.«
»Ha Ha.«
»Ich ließ Keller in Ihrem Namen an Stubbsi kabeln.«
»Die Flugplatz-Story?«
Luke überreichte ihm den Belegbogen. »Hab' ein paar original Westerbyfarben zwischengemischt. Wie auf den Friedhöfen die Knospen sprießen. Stubbsi liebt Sie.«
»Vielen Dank.«
Im Badezimmer löste Jerry die Walther vom Heftpflaster und steckte sie in die Jackentasche, wo er sie leicht erreichen könnte. »Wo gehen wir heute abend hin?« rief Luke durch die geschlossene Tür. »Nirgends.«
»Soll 'n das heißen?«
»Ich hab' schon eine Verabredung.«
»'neFrau?«
»Ja.«
»Nehmen Sie Lukie mit. Drei in einem Bett.«
Jerry sank dankbar in das lauwarme Wasser. »Nein.«
»Rufen Sie sie an. Sie soll noch eine Hure für Lukie auftreiben.< Hören Sie, da ist dieser tolle Feger aus Santa Barbara hier im Hotel. Ich bin nicht stolz. Ich hol' sie.«
»Nein.«
»Herrgottnochmal«, schrie Luke jetzt ernstlich böse. »Warum zum Teufel denn nicht?« Er war nah an die verriegelte Tür gekommen, um seinen Protest vorzubringen.
»Altes Haus, rutschen Sie mir den Buckel runter«, riet ihm Jerry. »Ich mag Sie, aber Sie bedeuten mir nicht alles, ja? Also lassen Sie mich in Ruhe.«
»Wenn's dem Esel zu wohl ist . . . wie?« Langes Schweigen. »Na ja, aber lassen Sie sich bloß nicht die Rübe wegputzen, ist eine stürmische Nacht da draußen, Partner.«
Als Jerry ins Schlafzimmer zurückkam, lag Luke zusammengerollt auf dem Bett, starrte die Wand an und betrank sich mit System.
»Wissen Sie was, Sie sind schlimmer als so ein verdammtes Weibsbild«, sagte Jerry und hielt an der Tür inne, um sich nochmals nach ihm umzusehen.
Die ganze kindische Szene wäre ihm nie wieder eingefallen, wenn die Dinge sich später anders entwickelt hätten.
Diesmal hielt Jerry sich nicht mit der Glocke am Tor auf, sondern kletterte über die Mauer und zerschnitt sich die Hände an den Glasscherben, mit denen die Mauerkrone bestückt war. Er begab sich auch nicht zum Vordereingang, noch spähte er wie bisher nach den braunen Beinen, die auf der untersten Stufe warteten, Statt dessen blieb er im Garten stehen, bis die Folgen seiner harten Landung abgeklungen waren und seine Augen und Ohren ein Lebenszeichen aus der großen Villa auffangen würden, die vor dem hellen Mond dunkel vor ihm aufragte.
Ein unbeleuchteter Wagen fuhr vor, und zwei Gestalten stiegen aus, Kambodschaner, nach ihrer Größe und Lautlosigkeit zu ; schließen. Sie klingelten am Tor, an der Vordertür flüsterten sie ! das magische Losungswort durch den Spalt und wurden unverzüglich, wortlos eingelassen. Jerry versuchte sich die Anlage des Hauses vorzustellen. Es wunderte ihn, daß kein verräterischer » Duft zu bemerken war, weder von der Vorderseite her noch im Garten, wo er stand. Es war windstill. Er wußte, daß für einen großen Divar Geheimhaltung lebenswichtig war, nicht wegen der hohen Geldstrafen, sondern wegen der horrenden Bestechungssummen. Die Villa hatte einen Schornstein und einen Innenhof und zwei Stockwerke: ein Anwesen, in dem es sich als französischer colon mit einer kleinen Familie von Konkubinen und Mischlingskindern bequem leben ließ. Die Küche dürfte vermutlich dem Präparieren dienen. Der sicherste Ort zum Rauchen war zweifellos im Oberstock, in den Zimmern, die nach dem Innenhof zeigten. Und da aus der Vordertür kein Geruch drang, schloß Jerry, daß weder Seitenflügel noch Fronttrakt benutzt wurden, sondern die Rückseite des Hofes.
Er pirschte sich lautlos weiter, bis er zu dem Lattenzaun kam, der die rückwärtige Begrenzung des Grundstücks bildete. Ein vergittertes Fenster lieferte seinem Wildlederstiefel den ersten Halt, ein Überlaufrohr den zweiten, ein Entlüftungskasten den dritten, und als er von dort aus zum oberen Balkon weiterkletterte, stieg ihm der Geruch in die Nase, den er erwartet hatte: warm und süß und lockend. Auch auf dem Balkon war kein Licht, aber im Mondschein waren die beiden kambodschanischen Mädchen, die dort kauerten, deutlich zu sehen, und er sah auch die erschreckten Blicke, die sie auf ihn richteten, als er wie vom Himmel gefallen dort auftauchte. Er befahl ihnen aufzustehen, und trieb sie vor sich her, dem Geruch entgegen. Der Granatenbeschuß hatte aufgehört, die Nacht gehörte den Gekkos. Jerry erinnerte sich, daß den Kambodschanern die Zahl ihrer zirpenden Laute als Orakel diente: morgen ist ein guter Tag, es ist keiner; morgen werde ich eine Braut nehmen; nein, erst übermorgen. Die Mädchen waren sehr jung und mußten darauf gewartet haben, daß die Kunden sie holen ließen. An der Binsentür zögerten sie und drehten sich mit unglücklichen Mienen nach ihm um. Jerry machte ihnen ein Zeichen, und sie begannen, mehrere Schichten von Matten beiseitezuschieben, bis ein blasser Lichtschein auf den Balkon fiel, nicht stärker als das Licht einer Kerze. Er schob die Mädchen vor sich her und trat ein.
Der Raum mußte früher das Hauptschlafzimmer gewesen sein und führte in ein zweites, kleineres Gemach. Jerrys Hand lag auf der Schulter des einen Mädchens. Das andere folgte widerstandslos. Im ersten Zimmer lagen zwölf Kunden, lauter Männer. Zwischen ihnen lagen ein paar Mädchen und flüsterten leise.
Barfüßige Kulis bewegten sich behutsam zwischen den Ruhenden und bedienten sie, steckten ein Kügelchen auf die Nadel, zündeten es an und hielten es über den Pfeifenkopf, während der Kunde einen langen und stetigen Zug tat und das Kügelchen verbrannte. Die Gespräche waren träge, leise und intim, von sanften kleinen Wellen dankbaren Gelächters unterbrochen. Jerry erkannte den weisen Schweizer von der Dinner-Party des Botschaftsrats. Er plauderte mit einem fetten Kambodschaner. Niemand interessierte sich für Jerry. Die Mädchen wiesen ihn aus, so wie damals die Orchideen in Lizzie Worthingtons Apartmenthaus. »Charlie Marshall«, sagte Jerry ruhig. Ein Kuli wies ihn in den Nebenraum. Jerry entließ die beiden Mädchen, und sie schlüpften weg. Das zweite Zimmer war kleiner. Marshall lag in einer Ecke, ein Chinesenmädchen in einem kunstvoll gearbeiteten Cheongsam kauerte über ihm und bereitete ihm die Pfeife. Jerry nahm an, sie sei die Tochter des Hauses und Charlie Marshall genieße bevorzugte Behandlung, weil er sowohl Habitue wie Stofflieferant war. Er kniete an Marshalls anderer Seite nieder. Ein alter Mann sah von der Tür her zu. Auch das Mädchen sah zu, die Pfeife noch immer in der Hand.
»Was wollen Sie, Voltaire? Warum lassen Sie mich nicht in Ruhe?«
»Bloß ein kleiner Bummel, altes Haus. Dann können Sie wieder hierher zurück.«
Jerry faßte ihn am Arm und zog ihn vorsichtig in die Höhe, das Mädchen half.
»Wie viele hat er schon gehabt?« fragte er das Mädchen. Sie hielt drei Finger hoch.
»Und wie viele raucht er gewöhnlich?« fragte er. Sie senkte lächelnd den Kopf. Eine ganze Menge mehr, hieß das. Charlie Marshall ging zuerst schwankend, aber als sie am Balkon angelangt waren, konnte er sich schon wehren, und Jerry hob ihn hoch und trug ihn über der Schulter, wie aus einem brennenden Haus, die Holztreppe hinunter und über den Hof. Der alte Mann dienerte sie unterwürfig durch die Vordertür, ein grinsender Kuli hielt das Tor zur Straße auf, und beide waren Jerry deutlich dankbar dafür, daß er soviel Takt bewies. Nach etwa fünfzig Yards kamen ein paar Chinesenjungen auf dem Weg dahergerannt, sie brüllten und schwangen Stöcke wie kleine Paddel. Jerry setzte Charlie Marshall aufrecht an den Wegrand, hielt ihn aber mit der linken Hand fest, ließ den ersten Jungen zum Schlag ausholen, unterlief das Paddel und versetzte dem Jungen einen sehr harten Zwei-Knöchel-Schlag direkt unters Auge. Der Junge rannte davon, sein Freund hinterher. Jerry zog Charlie Marshall wieder hoch und marschierte mit ihm, bis sie den Fluß und eine pechdunkle Stelle erreichten, dann setzte er ihn wie eine Marionette auf das trockene Gras der Böschung. »Woll'n Sie mir jetzt das Hirn aus dem Kopf blasen, Voltaire?«
»Das werden wir wohl dem Opium überlassen müssen, altes Haus«, sagte Jerry.
Jerry mochte Charlie Marshall, und in einer heilen Welt hätte er mit Freuden einen Abend mit ihm in der fumerie verbracht und sich die Geschichte seines unseligen, aber außergewöhnlichen Lebens angehört. Jetzt aber hielt seine Faust Charlie Marshalls mageren Arm unbarmherzig umklammert, für den Fall, daß er ixt seinem hohlen Kopf Fluchtpläne hegte; denn es sah so aus, als könne Charlie unheimlich schnell rennen, wenn ihn die Verzweiflung packte. Also lag Jerry, ähnlich wie damals neben dem Zauberberg aus alten Schätzen in Old Pets Wohnung, auf der linken Hüfte und dem linken Ellbogen und hielt Charlie Marshalls Handgelenk im Schlamm fest, während Charlie Marshall flach auf dem Rücken lag. Vom Fluß, dreißig Fuß unter ihnen, kam das leise Singen der Sampans herauf, die wie lange Blätter auf dem goldenen Mondpfad dahinglitten. Vom Himmel her kamen - bald vor, bald hinter ihnen - die unregelmäßigen, gezackten Blitze des Mündungsfeuers der stadtauswärts gerichteten Geschütze, die sinnlos in den Dschungel ballerten, weil irgendein gelangweilter Geschützführer beschlossen hatte, seine Daseinsberechtigung zu beweisen. Dann und wann kam, aus weit geringerer Entfernung, das leichtere, schärfere Bellen, wenn die Roten Khmer das Feuer erwiderten, aber auch dies waren nur geringfügige Zwischenspiele inmitten des Lärmens der Gekkos vor der größeren Stille dahinter. Im Mondlicht sah Jerry auf seine Uhr und dann auf das irre Gesicht und versuchte, den Heftigkeitsgrad von Charlie Marshalls Gier zu berechnen. Wie wenn man ein Baby füttert, dachte er. Wenn Charlie ein Nachtraucher war und am Vormittag schlief, dann würde bald etwas fällig. Schon war sein Gesicht von Nässe bedeckt. Sie strömte aus den groben Poren, aus den langgezogenen Augen, aus der schnüffelnden Triefnase. Sie richtete ihren Verlauf gewissenhaft nach den tiefen Furchen und bildete in den Höhlungen kleine Stauseen.
»Herrje, Voltaire. Ricardo ist mein Freund. Hat eine Menge Philosophie, der Junge. Den sollten Sie reden hören, Voltaire. Dem seine Ideen sollten Sie hören.«
»Ja«, stimmte Jerry zu. »Das sollte ich.« Charlie Marshall faßte Jerrys Hand.
»Voltaire, das sind ordentliche Jungens, verstanden? Mr. Tiu . . . Drake Ko. Die wollen keinem nicht wehtun. Die wollen Geschäfte machen. Sie haben was zu verkaufen, sie haben Leute, die es kaufen! Ist ein Service! Keinem wird seine Reisschale zerbrochen. Warum wollen Sie das kaputtmachen? Sie sind doch selber auch ein netter Kerl. Hab' ich gesehen. Sie haben dem Alten sein Schwein getragen, okay? Wer hat schon mal gesehen, daß ein Rundauge dem Schlitzauge sein Schwein trägt? Aber, herrje, Voltaire, wenn Sie's aus mir rauspressen, dann bringen sie Sie ganz und gar um, weil dieser Mr. Tiu, der ist ein geschäftlicher und sehr philosophischer Gentleman, verstanden? Und sie bringen mich um und sie bringen Ricardo um und sie bringen Sie um, sie bringen die ganze verdammte Menschheit um!« Die Artillerie ließ eine Salve los, und diesmal antwortete der Dschungel mit einer kleinen Sendung Raketen, vielleicht sechs, die wie katapultierte Felsbrocken über ihre Köpfe wegpfiffen. Sekunden später hörten sie die Einschläge irgendwo in der Innenstadt. Danach nichts mehr. Nicht das Heulen der Feuerwehr, nicht die Sirene einer Ambulanz. »Warum sollten sie Ricardo umbringen?« fragte Jerry. »Voltaire! Ricardo ist mein Freund! Drake Ko ist der Freund meines Vaters! Diese zwei Alten sind big brothers, kämpfen gemeinsam in irgendeinem- lausigen Krieg in Schanghai vor ungefähr zweihundertfünfzig Jahren, okay? Ich gehe zu meinem Vater. Ich sag' zu ihm: >Vater, jetzt mußt du mich einmal lieben. Du mußt aufhören, mich deinen Spinnenbastard zu nennen und du mußt deinem guten Freund Drake Ko sagen, er soll Ricardo aus seinem Malheur helfen. Du mußt sagen: >Drake Ko, dieser Ricardo und mein Charlie, die sind wie Sie und ich, Mr. Ko. Sind Brüder, so wie wir. Lernen gemeinsam fliegen in Oklahoma, legen gemeinsam die menschliche Rasse um. Und sie sind sehr gute Freunde. Ja, so ist das.< Mein Vater haßt mich sehr, okay?«
»Okay.«
»Aber er schickt trotzdem einen verdammt langen persönlichen Brief an Drake Ko.«
Charlie Marshall holte so tief und so lang Atem, als könnte seine schmale Brust nicht genug Luft für ihn kriegen. »Diese Lizzie. Tolle Frau, Lizzie, sie geht selber persönlich zu Drake Ko. Auch auf sehr privater Basis. Und sie sagt zu ihm: >Mr. Ko, Sie müssen Ric aus seinem Malheur helfen.< Das hier ist eine sehr kitzlige Situation, Voltaire. Wir alle müssen fest zusammenhalten, oder wir fallen runter von dem blöden Berg, verstanden? Voltaire, lassen Sie mich los. Ich bitt' Sie! Ich fleh' Sie direkt an um Gottes willen, je m'abime, hören Sie? Das ist alles, was ich weiß!« Während Jerry ihn beobachtete, seinen gequälten Ausbrüchen lauschte, sah, wie er zusammenklappte, einen Anlauf nahm, wieder schlappmachte und der nächste Anlauf mäßiger ausfiel, hatte er das Gefühl, Zeuge der letzten Zuckungen eines gemarterten Freundes zu sein. Seine instinktive Regung war, Charlie langsam weiterzulotsen und ihn abschweifen zu lassen soviel er wollte. Sein Dilemma war, daß er nicht wußte, wieviel Zeit noch blieb, bis passierte, was immer mit einem Süchtigen passieren mochte. Er stellte Fragen, aber meist schien Charlie sie gar nicht zu hören. Dann wieder beantwortete er offenbar Fragen, die Jerry überhaupt nicht gestellt hatte. Und manchmal warf ein mit Verzögerung arbeitender Mechanismus die Antwort auf eine Frage aus, die Jerry längst abgeschrieben hatte. In Sarratt sagten sie, ein gebrochener Mann sei gefährlich, denn er zahle dir Geld, das er nicht habe, nur um deine Liebe zu erkaufen. Aber ganze kostbare Minuten hindurch konnte Charlie überhaupt nichts zahlen.
»Drake Ko war nie in seinem Leben in Vientiane!« schrie Charlie plötzlich. »Sie verrückter Voltaire! Ein großer Mann wie Ko und macht sich in einem asiatischen Drecknest zu schaffen? Drake Ko ist ein Philosoph, Voltaire! Den Jungen sollten Sie sich genau ansehn!« Wie es schien, war jeder ein Philosoph - oder jeder, außer Charlie Marshall. »In Vientiane hat niemand auch nur den Namen Ko gehört! Verstanden, Voltaire?« Dann weinte Charlie Marshall und ergriff Jerrys Hände und fragte unter Schluchzen, ob Jerry auch einen Vater gehabt habe. »Ja, altes Haus, hab' ich gehabt«, sagte Jerry geduldig. »Und er war auf seine Art auch ein General.«
Zwei weiße Leuchtkugeln ergossen jähes Tageslicht über den Fluß und lösten in Charlie Marshall die Erinnerung an die Mühsal ihrer gemeinsamen Anfänge in Vientiane aus. Er setzte sich kerzengerade aufrecht und zeichnete den Aufriß eines Hauses in den Dreck, Hier haben Lizzie und Ric und Charlie Marshall gewohnt, sagte er stolz: in einer stinkenden Flohhütte am Stadtrand, einer so lausigen Bude, daß sogar die Gekkos krank wurden. Ric und Lizzi hatten die Fürstensuite, will heißen, das einzige Zimmer, das die Flohhütte enthielt, und Charlies Aufgabe bestand darin, ihnen nicht in die Quere zu kommen und die Miete zu zahlen und den Schnaps zu besorgen. Aber die Rückschau auf ihre schrecklich wirtschaftliche Lage bewegte Charlie plötzlich zu einem erneuten Tränenausbruch.
»Und wovon habt ihr dann gelebt, altes Haus?« fragte Jerry, ohne sich von der Frage etwas zu erhofften. »Na los. Jetzt ist's vorbei. Wovon habt ihr gelebt?«
Noch mehr Tränen, während Charlie eine monatliche Zuwendung von seinem geliebten und verehrten Vater eingestand.
»Diese verrückte Lizzie«, sagte Charlie tief bekümmert, »diese verrückte Lizzie, die macht Trips nach Hongkong für Mellon.« Mit Mühe unterdrückte Jerry seine Erregung, um Charlie nicht aus dem Tritt zu bringen.
»Mellon. Wer ist dieser Mellon?« fragte er. Aber der sanfte Tonfall machte Charlie schläfrig und er fing an, mit dem Haus im Dreck zu spielen, zeichnete einen Kamin und Rauch hinzu.
»Los, verdammt nochmal! Mellon. Mellon!« schrie Jerry ihm 1 direkt ins Gesicht und versuchte, ihm durch den Schock die Antwort zu entringen. »Mellon, du ausgeflipptes Wrack! Trips nach Hongkong!« Er zog Charlie auf die Füße und schüttelte ihn wie eine Lumpenpuppe, aber er mußte sehr lang schütteln, bis die Antwort herauskam, und inzwischen beschwor Charlie Marshall ihn, doch zu begreifen, wie es sei, wenn man liebe, wirklich liebe, eine verrückte rundäugige Nummer, und dabei wisse, daß man sie nie kriegen würde, nicht mal für eine Nacht. Mellon sei ein schmieriger englischer Kaufmann gewesen, niemand habe gewußt, was er eigentlich tat. Ein bißchen dies, ein 1 bißchen das, sagte Charlie. Die Leute hatten Angst vor ihm. Mellon sagte, er könne Lizzie ins große Heroingeschäft bringen. »Mit Ihrem Paß und Ihrer Figur«, hatte Mellon offenbar zu ihr gesagt, »können Sie in Hongkong ein- und ausgehen wie eine Prinzessin.«
Erschöpft sank Charlie zu Boden und kauerte sich vor seinem Haus nieder. Jerry hockte sich neben ihn und packte Charlies Kragen, vorsichtig, um ihm nicht wehzutun.
»Das hat sie also für ihn getan, wie, Charlie? Lizzie hat für Mellon Stoff transportiert.« Mit der Handfläche drehte er behutsam Charlies Kopf herum, bis die blicklosen Augen direkt in die seinen starrten.
»Lizzie tut's nicht für Mellon, Voltaire«, verbesserte Charlie ihn. »Lizzie tut's für Ricardo. Lizzie liebt nicht Mellon. Sie liebt Ric und mich.«
Charlie starrte düster auf das Haus hinunter und brach unvermittelt in heiseres schmutziges Lachen aus, das er nach einiger Zeit kommentarlos wieder einstellte.
»Du hast es vermurkst, Lizzie!« rief Charlie tadelnd und stach mit dem Finger in die Haustür. »Du hast es vermurkst, wie üblich, Herzchen! Du redest zu viel. Warum sagst du allen, du bist die Königin von England? Warum sagst du jedem, du bist große Spionierdame? Mellon wird sehr sehr böse auf dich, Lizzie. Mellon wirft dich raus, glatt raus auf deinen Hintern. Ric wird auch ganz schön böse, weißt du noch? Ric verdrischt dich, und Charlie muß dich mitten in der verdammten Nacht zum Doktor bringen, weißt du noch? Du hast eine verteufelt große Klappe, Lizzie, hörst du? Du bist meine Schwester, aber du hast die verdammt größte Klappe von der Welt!« Bis Ricardo sie ihr geschlossen hat, dachte Jerry und sah die tiefen Narben an ihrem Kinn vor sich. Weil sie das Geschäft mit Mellon verpatzt hatte.
Während er noch immer neben Charlie hockte und ihn am Genick gepackt hielt, beobachtete Jerry, wie die Welt um ihn versank und an ihrer Stelle sah er Sam Collins unterhalb von Star Heights im Auto sitzen, mit freiem Ausblick auf die achte Etage, während er um elf Uhr nachts die Rennseite der Zeitung studierte. Nicht einmal das Aufplumpsen einer Rakete, die ziemlich nah niederging, konnte diese gespenstische Vision verscheuchen. Auch hörte er über das Donnern der Mörser hinweg Craws Stimme, die sich über das Thema von Lizzies Kriminalität ausließ. Wenn Ebbe in der Kasse war, hatte Craw gesagt, schickte Ricardo sie mit kleinen Päckchen über die Grenzen.
Und wie hat das die Stadt London erfahren, Ehrwürden - hätte er Old Craw gern gefragt -, wenn nicht von Sam ColJins, alias Mellon persönlich?
Ein dreißig Sekunden dauernder Wolkenbruch hatte Charlies in den Schmutz gekratztes Haus weggewaschen, und er war wütend darüber. Er patschte auf allen vieren herum und suchte es, schluchzte und fluchte wie ein Besessener. Der Anfall ging vorüber, und er fing wieder an, von seinem Vater zu sprechen und wie der alte Mann seinem unehelichen Sohn eine Anstellung bei einer angesehenen Luftfahrtgesellschaft in Vientiane verschafft hatte - obwohl Charlie damals die Fliegerei überhaupt hatte aufstecken wollen, weil seine Nerven nicht mehr mitmachten. Eines Tages hatte der General offenbar die Geduld mit seinem Charlie verloren. Er. trommelte seine Leibgarde zusammen und j stieg von seinem Horst in den Shangebirgen in eine kleine Opiumstadt namens Fang herab, unweit der Grenze innerhalb von Thailand. Dort blies der General Charlie den Marsch wegen seines verschwenderischen Wandels, wie es die Patriarchen auf der ganzen Welt tun.
Charlie bediente sich eines ganz speziellen Quäkens, wenn er den Vater sprechen ließ, und dazu blies er in militärischer Entrüstung die abgezehrten Backen auf:
»>Jetzt wirst du ausnahmsweise mal anständige Arbeit tun, verstanden du kweilo-Bastard! Jetzt ist Schluß mit den Pferdewetten und dem Suff und dem Opium, verstanden! Und nimm gefälligst diese Bolschewikensterne vom Kittel und schick deinen sauberen Freund Ricardo zum Teufel. Und sein Weibsbild wirst du ihm auch nicht mehr bezahlen, verstanden? Weil ich dich nämlich nicht einen Tag länger auf dem Hals haben will, nicht eine Stunde, du Spinnenbastard, und ich hasse dich so, daß ich dich eines Tags noch umbringe, weil du mich an diese korsische Hure, deine Mutter, erinnerst !<«
Dann beschrieb er seinen Job, und wiederum hatte Charlies Vater, der General, das Wort:
»»Gewisse sehr feine Chiu-Chow-Gentlemen, sehr gute Freunde von sehr guten Freunden von mir, haben zufällig an einer gewissen Fluggesellschaft eine Mehrheitsbeteiligung. Auch habe ich gewisse Aktien dieser Gesellschaft. Und diese Gesellschaft trägt zufällig den angesehenen Namen Indocharter Aviation. Was, du lachst, du kweilo-Aiie! Das soll dir bald vergehen! Diese guten Freunde also tun mir einen Gefallen und helfen mir mit meinem schändlichen dreibeinigen Spinnenbastardsohn, und ich bete aufrichtig, daß du vom Himmel runterfällst und dir dein Genick brichst.««
Also flog Charlie für Indocharter das väterliche Opium: anfangs ein, zwei Flüge pro Woche, aber regelmäßige, ehrliche Arbeit, und er tat sie gern. Sein Mumm kehrte zurück, seine Nerven beruhigten sich, und er empfand echte Dankbarkeit für seinen alten Herrn. Er versuchte natürlich, die Chiu-Chow-Jungens zu überreden, daß sie auch Ricardo nähmen, aber sie wollten nicht. Nach ein paar Monaten ließen sie sich herbei, Lizzie zwanzig Dollar pro Woche dafür zu zahlen, daß sie im Empfangsbüro saß und den Kunden schöne Augen machte. Das seien die goldenen Tage gewesen, ließ Charlie durchblicken. Charlie und Lizzie verdienten das Geld, Ricardo steckte es in immer blödsinnigere Projekte, alle waren glücklich, alle waren beschäftigt. Bis eines Abends Tiu erschien, gleich einer Nemesis, und ihnen den ganzen Spaß verdarb. Er kam herein, als sie gerade Büroschluß machten, einfach so von der Straße herein, ohne vorherige Anmeldung, fragte nach Charlie Marshall und bezeichnete sich selber als Angehörigen der Firmenleitung in Bangkok. Die Chiu-Chow-Boys kamen aus dem rückwärtigen Büro, warfen einen einzigen Blick auf Tiu, erklärten ihn für glaubwürdig und verkrümelten sich schleunigst.
Charlie unterbrach sich, um an Jerrys Schulter zu schluchzen. »Jetzt hören Sie mir mal gut zu, altes Haus«, beschwor Jerry ihn. »Hören Sie. Jetzt kommt das, was ich hören möchte. Sie erzählen es mir ganz genau, und dann bring' ich Sie nach Hause. Ehrenwort. Bitte.«
Aber Jerry schätzte die Lage falsch ein. Es ging nicht mehr darum, Charlie zum Sprechen zu bringen. Jerry war jetzt die Droge, von der Charlie Marshall abhing. Es ging auch nicht mehr darum, ihn festzuhalten. Charlie Marshall klammerte sich an Jerrys Brust, als wäre sie das letzte Rettungsfloß auf seinem einsamen Meer, und ihre Unterhaltung war zu einem verzweifelten Monolog geworden, aus dem Jerry sich seine Fakten herausfischte, während Charlie Marshall um die Aufmerksamkeit seines Peinigers bettelte und schmeichelte und heulte, Witze riß und unter Tränen über sie lachte. Flußab feuerte eines von Lon Nols Maschinengewehren, das noch nicht an die Roten Khmer verkauft war, beim Schein einer weiteren Leuchtkugel Leuchtspurmunition in den Dschungel. Lange goldene Pfeile flogen gebündelt über und unter dem Wasser dahin und brannten eine kleine Höhlung aus, wo sie in den Bäumen verschwanden.
Charlies schweißnasses Haar kitzelte Jerry am Kinn, und Charlie schnatterte und sabberte zugleich.
»Mr. Tiu will in keinem Büro nicht sprechen, Voltaire. O nein! Mr. Tiu ist auch nicht sehr gut angezogen. Mr. Tiu ganz und gar Chiu-Chow, er benutzt Thai-Paß wie Drake Ko, er benutztverrückten Namen und macht ganz ganz kleinen Mann, wenn er nach Vientiane kommt. >Captain Marshalh, sagt er zu mir, >wie gern möchten Sie eine Menge Extrageld verdienen mit eine interessanten und abwechslungsreichen Arbeit außerhalb Ihrer Tätigkeit bei der Firma? Möchten Sie für mich einmal außer der Reihe fliegen? Wie ich höre, sind Sie jetzt wieder ein ganz großartiger Pilot, sehr gute Nerven. Vielleicht möchten Sie sich sagen wir, vier- bis fünftausend Dollar an einem einzigen Tag verdienen, nicht einmal einem ganzen Tag? Wie würde Ihnen da persönlich zusagen, Captain Marshall?< >Mr. Tiu<, sage ich zu ihm« - Charlie schreit jetzt hysterisch -, »>mal ganz unverbindlich, Mr. Tiu, für fünftausend Dollar US würd ich, so wie ich mich zur Zeit in Form fühle, für Sie in die Hölle fliegen und Ihnen der Teufel seine Eier holen.< Tiu sagt, eines Tages kommt er wieder, und ich soll gefälligst meine verdammte Klappe halten.«
Plötzlich hatte Charlie wieder zur Stimme seines Vaters übergewechselt, und er nannte sich einen Spinnenbastard und den Sohn einer korsischen Hure: bis es Jerry allmählich dämmerte, daß er bereits die nächste Episode der Geschichte schilderte. Überraschenderweise hatte Charlie das Geheimnis von Tius ~ Angebot tatsächlich für sich behalten, bis er seinen Vater wiedersah, diesmal in Chiang Mai zur Feier des chinesischen Neujahrs. Er hatte Ric nichts erzählt, und er hatte es nicht einmal < Lizzie erzählt, vielleicht weil sie damals schon nicht mehr allzu gut miteinander auskamen und Ric eine Menge Frauen nebenbei , hatte.
Der Rat des Generals war nicht ermutigend: 1
»>Lass' du mir die Pfoten von diesem Pferd! Dieser Tiu, der hat ein paar dicke Verbindungen ganz hoch oben, und die sind nichts für 1 einen blöden kleinen Spinnenbastard wie dich, verstanden! I Herrgott, wer hat schon jemals gehört, daß ein Swatonese fünftausend Dollar zahlt, bloß für eine Bildungsreise!««
»Also haben Sie das Geschäft an Ric abgetreten, stimmt's?« sagte Jerry schnell. »Stimmt's, Charlie? Sie haben zu Tiu gesagt >Tut mir leid, aber probieren Sie's mit Ricardo.« War es so?« Aber Charlie Marshall war vermißt, wahrscheinlich gefallen. Er war von Jerrys Brust herabgeglitten und lag flach im Dreck, mit geschlossenen Augen und schnappte nur dann und wann nach Luft unter gierigen rasselnden Atemzügen, und als Jerry sein Handgelenk befühlte, gab der wie rasend hämmernde Puls Zeugnis vom Leben in diesem Gestell.
»Voltaire«, flüsterte Charlie. »Bei der Bibel, Voltaire. Sie sind ein guter Mensch. Bringen Sie mich heim. Herrje, bringen Sie mich heim, Voltaire.«
Betroffen starrte Jerry auf die hingestreckte und zerbrochene Gestalt, und er wußte, daß er noch eine bestimmte Frage stellen mußte, und wäre es die letzte in ihrer beider Leben. Jerry griff nach Charlie und zerrte ihn zum letztenmal auf die Füße. Und hier auf der dunklen Straße, während zielloses Sperrfeuer durch die Finsternis stach, zappelte und schrie Charlie Marshall eine volle Stunde lang unter Jerrys Griff, bettelte und schwor, er werde Jerry ewig lieben, wenn er es ihm nur erlasse, die Abkommen zu verraten, die sein Freund Ricardo um seines Überlebens im Verborgenen willen getroffen hatte. Aber Jerry erklärte, ohne diese Enthüllung wäre das Rätsel nicht einmal zur Hälfte gelöst. Und es mag sein, daß Charlie Marshall in seiner Verlorenheit und Verzweiflung, während er die verbotenen Geheimnisse hervorschluchzte, Jerrys Argument sogar begriff: daß es nämlich in einer Stadt, die dem Dschungel wiedergegeben werden sollte, keine Zerstörung gebe außer einer vollständigen Zerstörung.
So behutsam wie möglich trug Jerry Charlie Marshall den Weg zurück in die Villa und die Treppe hinauf, wo ihn die gleichen schweigenden Gesichter dankbar begrüßten. Ich hätte mehr herausholen müssen, dachte er. Ich hätte ihm auch mehr sagen müssen: ich habe das Geschäft auf Gegenseitigkeit nicht so abgewickelt, wie sie es befohlen haben. Ich habe mich zu lange bei der Sache mit Lizzie und Sam Collins aufgehalten. Ich hab' das Pferd am Schwanz aufgezäumt, die Tour vermasselt, ich hab' alles vermurkst, genau wie Lizzie. Er versuchte, Reue darüber zu empfinden, aber es gelang ihm nicht, und am deutlichsten erinnerte er sich an Dinge, die überhaupt nicht auf der Liste gestanden hatten, und eben diese Dinge ragten in seinem Denken auf wie Monumente, während er seine Botschaft an den lieben alten George tippte.
Er tippte hinter versperrter Tür und hatte die Pistole im Gürtel stecken. Von Luke war weit und breit nichts zu sehen, daher nahm Jerry an, er sei in seinem Dauersuff in ein Bordell gegangen. Er schrieb ein langes Telegramm, das längste seiner Laufbahn: »Das alles sollten Sie erfahren, falls Sie nie mehr von mir hören.« Er berichtete über seinen Kontakt mit dem Botschaftsrat, er gab seine nächste Telefonadresse an, er schrieb Ricardos Adresse und entwarf ein Porträt Charlie Marshalls und des Dreieckshaushalts in der Flohhütte, aber immer in sehr förmlichen Wendungen, und er erwähnte kein Wort über seine jüngsten Kenntnisse der Rolle, die der unerfreuliche Sam Collins spielte. Schließlich: wenn sie es bereits wußten, wozu es ihnen dann nochmals sagen? Er ließ die Ortsnamen und die Eigennamen weg und fertigte von ihnen einen besonderen Schlüssel an, dann verwendete er eine weitere Stunde darauf, beide Botschaften so primitiv zu codieren, daß ein Decodierer keine fünf Minuten benötigt hätte, um sie zu entschlüsseln, aber ein gewöhnlicher Sterblicher, auch ein Sterblicher wie sein Gastgeber, der britische Botschaftsrat, sie nicht hätten lesen können. Und er fügte eine Mahnung an die Housekeepers hinzu, man möge bitte nachprüfen, ob Blatt and Rodney die letzte Geldsendung an Cat überwiesen hätten. Er verbrannte die Klartexte, wickelte die codierten Versionen in eine Zeitung, dann legte er sich auf die Zeitung und döste, wobei die Pistole ihn in die Rippen drückte. Um sechs rasierte er sich, packte seine Telegramme in die Paperback-Ausgabe eines Romans um, von dem er glaubte, sich trennen zu können, und machte sich zu einem Spaziergang in der Morgenstille auf. Auf dem Platz parkte deutlich sichtbar der Wagen des Botschaftsrat. Der Botschaftsrat selbst parkte ebenso deutlich sichtbar auf der Terrasse eines hübschen bistro, er trug einen Strohhut im Riviera-Stil, der an Craw erinnerte, und labte sich an heißen croissants und cafe au lait. Als er Jerrys ansichtig wurde, winkte er elegant. Jerry schlenderte zu ihm hinüber: »Guten Morgen«, sagte Jerry.
»Ah, Sie haben's! Guter Mann!« rief der Botschaftsrat und sprang auf. »Kann's schon gar nicht mehr erwarten, es zu lesen, seit es erschienen ist!«
Als er sich von dem Telegramm trennte, dachte Jerry nur an all das, was nicht darin stand und hatte das gleiche Gefühl wie am Ende eines Schulsemesters. Vielleicht kam er wieder, vielleicht auch nicht, aber in jedem Fall würden die Dinge nie wieder ganz so s- in wie vorher.
Die genauen Umstände von Jerrys Abreise aus Phnom Penh sollten sich später als wichtig erweisen, Lukes wegen. Im ersten Teil des noch verbleibenden Vormittags setzte Jerry seine fanatische Suche nach Stories fort, vielleicht als natürliches Gegengift zu seinem wachsenden Gefühl des Nacktseins. Emsig machte er sich auf die Suche nach Geschichten von Flüchtlingen und Waisenkindern und expedierte sie um Mittag über Keller, zusammen mit einer recht ordentlichen und anschaulichen Schilderung seines Besuchs in Battambang, die zwar nie im Druck, dafür aber doch in seiner Personalakte erschien. Es gab damals zwei Flüchtlingslager, beide in vollem Schwang, das eine in einem riesigen Hotel am Bassac, Sihanuks privater und unvollendeter Traum vom Paradies; das andere auf einem Rangierbahnhof beim Flugplatz, wo jeweils zwei bis drei Familien in einem Waggon zusammengepfercht waren. Er besuchte beide Lager, und es war in beiden das gleiche: junge australische Helden, die sich mit dem Unmöglichen herumschlugen, das vorhandene Wasser stank, zweimal pro Woche Reisverteilung, und die Kinder zwitscherten »Hei« und »Bye-bye« hinter ihm her, während er seinen kambodschanischen Dolmetscher überall herumschleppte und jedermann mit Fragen belästigte, sich aufspielte und nach jenem besonderen Etwas Ausschau hielt, das Stubbsis Herz rühren würde.
In einem Reisebüro buchte er unter großem Getöse einen Flug nach Bangkok, ein schwacher Versuch, seine Spuren zu verwischen. Auf dem Weg zum Flugplatz überfiel ihn ein Gefühl des dejá vu. Als ich letztesmal hier war, gingen wir Wasserskifahren, dachte er. Die europäischen Geschäftsleute halten sich Hausboote, die am Mekong ankern. Und sekundenlang sah er sich - und die Stadt - in jenen Tagen, als dem kambodschanischen Krieg noch eine gewisse grausige Unschuld anhaftete: Staragent Westerby riskiert zum erstenmal Mono-Ski, hüpft wie ein ausgelassener Junge über die braunen Wasser des Mekong, gezogen von einem lustigen Holländer in einem Rennboot, das soviel Sprit verbrauchte, daß man davon eine ganze Familie eine Woche lang hätte ernähren können. Das Gefährlichste war die zwei Fuß hohe Flutwelle, so erinnerte er sich, die den Fluß hinabrollte, sooft die Wachen auf der Brücke eine Tiefenladung losließen, damit Taucher der Roten Khmer sie nicht sprengen könnten. Aber jetzt gehörte ihnen der Fluß und der Dschungel dazu. Und morgen oder übermorgen würde ihnen auch die Stadt gehören. Auf dem Flugplatz versenkte er die Walther in einem Abfallkorb und erschmierte sich in letzter Minute den Zugang zu einem Flugzeug nach Saigon, wohin er wirklich wollte. Beim Start fragte er sich, wer wohl die längere Lebenserwartung habe: er oder die Stadt.
Luke hingegen, in dessen Tasche vermutlich noch der Schlüssel zu Jerrys Wohnung in Hongkong nistete - oder genauer zur Wohnung Deathwishs des Hunnen -, flog nach Bangkok, und wie das Leben so spielt, flog er, ohne es zu wissen, unter Jerrys Namen, denn Jerry stand auf der Passagierliste und Luke nicht, und es war sonst kein Platz mehr frei. In Bangkok wohnte er einer hastigen Redaktionskonferenz bei, die den Zweck hatte, die Mitarbeiter der Zeitschrift zwischen den verschiedenen Abschnitten der zusammenbrechenden vietnamesischen Front aufzuteilen. Luke kriegte Hue und DaNang und flog daher anderntags nach Saigon und von dort mit der Anschlußmaschine am Mittag weiter nach Norden.
Entgegen späteren Gerüchten begegneten die beiden Männer einander in Saigon nicht.
Sie begegneten einander auch nicht im Verlauf des Rückzugs der Nordfront.
Sie hatten einander - im strengen Sinn des Wortes - zum letztenmal an ihrem letzten Abend in Phnom Penh gesehen, als Jerry mit Luke Krach gemacht und Luke geschmollt hatte, und das ist eine feststehende Tatsache - ein Artikel, der später erwiesenermaßen nur schwer erhältlich war.
Ricardo
Zu keinem anderen Zeitpunkt während dieses ganzen Falls hatte George Smiley sich so systematisch aus dem Spiel gehalten. Die Nerven der Circusleute waren bis zum Zerreißen gespannt. Die verdammte Warterei und der irre Rummel, vor denen Sarratt seit eh und je warnte, waren nicht mehr voneinander zu unterscheiden. Jeder Tag, der keine entscheidende Nachricht aus Hongkong brachte, war ein weiterer Unglückstag. Jerrys langes Telegramm wurde sorgfältig analysiert und zuerst als konfus, dann als neurotisch beurteilt. Warum hatte er Marshall nicht energischer in die Zange genommen? Warum hatte er das russische Phantom nicht wieder beschworen? Er hätte Charlie über die Goldader ausquetschen sollen, er hätte bei Tiu weitermachen müssen, wo er aufhörte. Hatte er vergessen, daß seine Aufgabe in erster Linie darin bestand, den Gegner in Unruhe zu versetzen, und erst in zweiter Linie im Sammeln von Informationen? Und was seine fixe Idee mit dieser unseligen Tochter betraf - Allmächtiger!, wußte der Mann nicht, was Telegramme kosten? (Der Circus schien vergessen zu haben, daß die Vettern für die Kosten aufkamen.) Und was sollte das heißen: er habe keinen Kontakt mehr zu den britischen Botschaftsangehörigen, die anstelle des abwesenden Circus-Residenten agierten? Sicher, es hatte einige Zeit gedauert, bis das Telegramm den Weg vom Vetternflügel bis hierher geschafft hatte. Und Jerry hatte Charlie Marshall doch wirklich aufgestöbert, wie? Es war schließlich nicht Sache eines Außenagenten, London zu sagen, was es zu tun und zu lassen habe. Nach Ansicht der Housekeepers, die den Kontakt arrangiert hatten, sollte ihm postwendend eine Zigarre verpaßt werden. Der Druck, der von außen her auf den Circus ausgeübt wurde, war sogar noch stärker. Wilbrahams Mannen aus dem Kolonialamt waren nicht müßig geblieben, und der Lenkungsausschuß beschloß in einer bestürzenden Hundertachtzig-Grad-Wendung, daß der Gouverneur nun doch eingeweiht werden solle, und zwar bald. Es wurde davon gesprochen, ihn unter einem Vorwand nach London zurückzubeordern. Die Panik war ausgebrochen, weil Ko erneut im Gouverneurspalast empfangen worden war, diesmal bei einem der Talk-in-Soupers, zu denen einflußreiche Chinesen geladen wurden, damit sie zwanglos ihre Meinung äußern könnten.
Saul Enderby und sein harter Kern hingegen zogen in die entgegengesetzte Richtung: »Zum Teufel mit dem Gouverneur. Was wir fordern, ist unverzügliche und volle Partnerschaft mit den Vettern!« George solle noch heute zu Martello gehen, sagte Enderby, alle seine Karten offen auf den Tisch legen und die Vettern auffordern, das letzte Entwicklungsstadium dieses Falles selbst zu übernehmen. Er solle seine aussichtslose Jagd nach Nelson aufstecken, er solle zugeben, daß er nichts Konkretes in Händen habe, er solle es ihnen überlassen, sich den nachrichtendienstlichen Erkenntnisgewinn selber auszurechnen, und wenn sie Glück haben würden, um so besser: sollten sie doch Lorbeeren vom Capitol einheimsen, sehr zum Unbehagen ihrer Feinde. Das Ergebnis, so argumentierte Enderby, dieser ebenso großzügigen wie zeitlich zupaß kommenden Geste - gerade jetzt, inmitten des Vietnam-Fiaskos - würde eine tragfähige nachrichtendienstliche Partnerschaft auf Jahre hinaus sein, eine Ansicht, die Lacon auf seine nebulose Art zu unterstützen schien. Im Kreuzfeuer dieser beiden Lager holte Smiley sich unversehends einen zweifach üblen Ruf. Der Wilbraham-Clan brandmarkte ihn als antikolonial und pro-amerikanisch, während Enderbys Mannschaft ihn des Ultra-Konservatismus bei der Handhabung der Besonderen Beziehung bezichtigte. Weitaus peinlicher indes war Smileys eigener Eindruck, wonach Martello auf irgendwelchen Wegen von der Auseinandersetzung Wind bekommen hatte und durchaus fähig sein würde, sie auszunutzen. So sprachen zum Beispiel Molly Meakins Quellen von einer knospenden Beziehung zwischen Enderby und Martello auf privater Ebene, und nicht nur, weil beider Kinder die gleiche Schule in South Kensington besuchten. Offenbar unternahmen die Herren seit einiger Zeit an den Wochenenden regelmäßige Angelausflüge nach Schottland, wo Enderby ein Fischwasser besaß. Wie später das Scherzwort sagte: Martello stellte das Flugzeug und Enderby die Fische. Etwa um die gleiche Zeit erfuhr Smiley ferner, was alle anderen von Anfang an gewußt und ihm nicht erzählt hatten, weil sie annahmen, es sei ihm ebenfalls bekannt. Enderbys dritte und derzeitige Ehefrau war Amerikanerin und obendrein reich. Vor ihrer jetzigen Ehe gehörte sie zu den namhaften Gastgeberinnen des Washingtoner Establishment, eine Rolle, die sie nun mit einigem Erfolg in London wiederholte.
Aber der tiefere Grund für die allgemeine Erregung war letztlich der gleiche. An der Ko-Front tat sich nichts. Schlimmer noch, es herrschte quälender Mangel an operativen Erkenntnissen. Jeden Tag punkt zehn Uhr stellten Smiley und Guillam sich jetzt im Annex ein, und jeden Tag verließen sie ihn mit längeren Gesichtern. Tius Privattelefon war angezapft, desgleichen Lizzie Worthingtons Anschluß. Die Tonbänder wurden am Ort abgehört und dann zwecks detaillierter Auswertung nach London geflogen. Jerry hatte Charlie Marshall an einem Mittwoch in der Zange gehabt. Am Freitag hatte Charlie sich so weit erholt, daß er Tiu aus Bangkok anrufen und ihm sein Herz ausschütten konnte. Doch Tiu hatte kaum dreißig Sekunden lang zugehört und ihn dann mit der»Anweisung unterbrochen, er solle »sich sofort mit Harry in Verbindung setzen«, womit niemand etwas anzufangen wußte: keiner hatte irgendwo einen Harry. Am Samstag wurde es dramatisch, weil der Lauscher an Kos Privatanschluß meldete, Ko habe seine regelmäßige Sonntagmorgen-Golfrunde mit Mr. Arpego abgesagt. Ko schützte eine dringende geschäftliche Verabredung vor. Das war's! Das war der Durchbruch! Am nächsten Tag setzten die Vettern in Hongkong mit Smileys Einverständnis einen Lieferwagen, zwei Autos und eine Honda auf Kos Rolls-Royce an, sobald er in die Stadt einfuhr. Welche geheimnisvolle Besorgung mochte für Ko so wichtig sein, daß er an einem Sonntagmorgen um halb sechs losfuhr und seine wöchentliche Golfpartie abblies? Antwort: ein Besuch bei seinem Wahrsager, einem verehrungswürdigen alten Swatonesen, der in einem verwahrlosten Tempel in einer Seitenstraße der Hollywood Road praktizierte. Ko verbrachte dort über eine Stunde, ehe er wieder heimfuhr, und obwohl ein strebsamer Knabe im Lieferwagen der Vettern während der ganzen Dauer der Sitzung ein verstecktes Richtmikrophon auf das Fenster des Tempels einstellte, konnte er, abgesehen vom Verkehrslärm, nur das Gegacker aus dem Hühnerstall des Alten auffangen. Zu Hause im Circus wurde di Salis konsultiert. Wozu in aller Welt ging jemand um sechs Uhr früh zum Wahrsager, und noch dazu ein Millionär? di Salis amüsierte sich so königlich über die allgemeine Ratlosigkeit, daß er entzückt an seinem Haarschopf riß. Ein Mann vom Range Kos würde darauf bestehen, bei seinem Wahrsager der erste Kunde des Tages zu sein, sagte er, solange der große Mann noch frischen Sinnes die Verkündigungen der Geister aufnehmen könnte.
Dann geschah zwei Wochen lang nichts. Gar nichts. Die Post- und Telefonüberwachung spuckte Stöße unverdaubaren Rohmaterials aus, das auch nach der Aufbereitung keinen einzigen Hinweis lieferte.
Inzwischen rückte der Ablauf der von der Rauschgiftfahndung gesetzten Frist unaufhaltsam näher und damit der Tag, an dem Ko Freiwild werden sollte für jeden, der ihm als Erster etwas anhängen könnte.
Aber Smiley behielt die Nerven. Er wies alle Anschuldigungen zurück, die gegen sein eigenes und gegen Jerrys Verhalten vorgebracht wurden. Der Baum sei geschüttelt, erklärte er immer wieder, Ko sei aufgescheucht worden, und die Zeit wende erweisen, daß man richtig gehandelt habe. Er wollte sich um keinen Preis zu einem Fußfall vor Martello drängen lassen und hielt sich entschlossen an die Bedingungen der Absprache, die er in seinem Brief, dessen Kopie jetzt bei Lacon lagerte, umrissen hatte. Auch ließ er sich, was ihm vertraglich zustand, weder von Gott noch von der Kraft der Logik oder von Kos möglichen Reaktionen dazu zwingen, irgendwelche operativen Details zu diskutieren, sofern nicht Protokollfragen oder koloniale Belange davon berührt wurden. Er wußte genau, daß hier die geringste Nachgiebigkeit nur den Zweiflern neue Munition für seinen Abschuß geliefert hätte.
Fünf Wochen lang hielt er das durch, und am sechsunddreißigsten Tag spielten Gott oder die Kraft der Logik oder Kos menschliche Reaktion George Smiley einen wertvollen, wenn auch geheimnisvollen Trost zu. Drake Ko ging unter die Seefahrer. Begleitet von Tiu und einem unbekannten Chinesen, der später als Erster Kapitän von Kos Dschunkenflotte identifiziert wurde, verbrachte er den größten Teil dreier Tage mit Rundreisen zu den Inseln vor Hongkong, von denen er allabendlich bei Einbruch der Dunkelheit zurückkehrte. Wohin sie genau gingen, war noch nicht festzustellen. Martello schlug eine Reihe von Hubschrauber-Überflügen vor, um ihre Spur zu verfolgen, aber Smiley lehnte den Vorschlag rundweg ab. Die statische Observierung vom Kai aus bestätigte, daß die Reisegesellschaft offenbar täglich auf einer anderen Route ausfuhr und wieder heimkehrte, das war auch alles. Und am letzten Tag, dem vierten, kam das Schiff überhaupt nicht zurück. Panik. Wo war es abgeblieben? Martellos Herren und Meister in Langley, Virginia, gerieten vollends aus dem Häuschen und folgerten, daß Ko und die »Admiral Nelson« mit voller Absicht in chinesische Hoheitsgewässer geraten seien. Oder sogar, daß man sie entführt habe. Ko würde nie mehr gesehen werden, und Enderby, der seine eigenen Schiffe davonschwimmen sah, rief persönlich bei Smiley an und sägte, es sei »verdammt nochmal Ihre Schuld, wenn Ko in Peking auftaucht und ein großes Geschrei von wegen Belästigung durch den Geheimdienst erhebt«. Einen qualvollen Tag hindurch überlegte sogar Smiley selber insgeheim, ob Ko nicht wider alle Vernunft tatsächlich zu seinem Bruder gereist sei.
Dann, am nächsten Morgen, lief die Yacht ruhig im Haupthafen ein, als kehre sie gerade von einer Regatta zurück, und ein vergnügter Ko ging hinter seiner schönen Liese mit dem langen, sonnenfunkelnden Goldhaar - das reinste Werbeplakat - über die Laufplanke an Land.
Diese Nachricht gab den Anstoß, daß Smiley nach sehr langem Nachdenken und neuerlichem eingehendem Studium von Kos Akte - ganz zu schweigen von spannungsreichen Besprechungen mit Connie und di Salis - zwei Entscheidungen gleichzeitig traf oder, wie die Glücksspieler sagen - seine letzten beiden Karten auszuspielen beschloß.
Erstens: Jerry sollte die »letzte Stufe« in Angriff nehmen, womit er Smiley Ricardo meinte. Dieser Schritt würde, so hoffte er, den Druck auf Ko verstärken und Ko nötigenfalls den letzten Beweis dafür liefern, daß er jetzt handeln müsse. Zweitens: Sam Collins sollte »aktiv werden«. Die zweite Entscheidung wurde in einer Beratung mit Connie Sachs allein gefällt. Sie findet keine Erwähnung in Jerrys Personalakte, nur in einem geheimen Anhang, der später mit gewissen Streichungen zu weiterer Prüfung freigegeben wurde. Die verheerende Wirkung, die alle diese Aufschübe und Verzögerungen auf Jerry ausübten, hätte auch der größte Geheimdienstchef der Welt nicht in seine Berechnungen einbeziehen können.
Diese Wirkung zu kennen, war eine Sache - und Smiley kannte sie zweifellos und unternahm sogar einiges, um ihr vorzubeugen. Sich von dieser Wirkung bestimmen zu lassen, ihr den gleichen Stellenwert einzuräumen wie den hochpolitischen Faktoren, mit denen er täglich bombardiert wurde, wäre eine ganz andere und völlig unverantwortlich gewesen. Ein General muß einfach Prioritäten setzen.
Saigon war entschieden der letzte Ort, an dem Jerry seinen Wartestand hätte verbringen dürfen. Als die Verzögerungen sich häuften, sprach man im Circus wiederholt davon, ihn in eine bekömmlichere Stadt zu schicken, zum Beispiel nach Singapur oder Kuala Lumpur, aber Gründe der Zweckdienlichkeit und der Tarnung gaben stets den Ausschlag dafür, daß er bleiben mußte, wo er war: und außerdem, schon morgen konnte sich alles ändern. Hinzu kam das Problem seiner persönlichen Sicherheit. Hongkong kam nicht in Betracht, und sowohl in Singapur wie in Bangkok hatte Ko sicherlich beträchtlichen Einfluß. Und nochmals die Tarnung: was war natürlicher, als daß ein Journalist sich in Saigon aufhielt, nun, da der Zusammenbruch unmittelbar bevorstand? Trotz allem lebte Jerry nur ein halbes Leben, und er lebte in einer halben Stadt. Rund vierzig Jahre lang war der Krieg Saigons Schlüsselindustrie gewesen, doch der amerikanische Rückzug von dreiundsiebzig hatte einen Konjunktureinbruch ausgelöst, von dem die Stadt sich bis zuletzt nie richtig erholte, so, daß sogar dieser lang erwartete Schlußakt mit seinem Millionenaufgebot von Darstellern vor fast leerem Haus spielte. Sogar wenn Jerry seine obligatorischen Fahrten in die unmittelbare Kampfzone unternahm, hatte er das Gefühl, einem verregneten Kricketmatch beizuwohnen, bei dem beide Parteien nur den Wunsch hatten, möglichst bald in die Umkleidekabinen zurückzukehren. Der Circus verbot ihm, Saigon zu verlassen, mit der Begründung, er könne jeden Augenblick irgendwo anders benötigt werden, aber die wörtliche Durchführung dieses Befehls hätte ihn lächerlich gemacht, also ignorierte er ihn. Xuan Loc war eine langweilige französische Kautschukstadt, fünfzig Meilen entfernt, an der derzeitigen Verteidigungslinie der Stadt. Denn dieser Krieg unterschied sich dramatisch vom Krieg in Phnom Penh, er war technischer und trug ein europäisches Gepräge. Während die Roten Khmer keine Panzerwaffe besaßen, hatten die Nordvietnamesen russische Tanks und 130er Artilleriegeschütze, die sie nach klassischem russischem Muster dicht an dicht auffahren ließen, als setzten sie unter Marschall Schukow zum Sturm auf Berlin an, und nichts rührte sich, ehe nicht die letzte Kanone geladen und aufs Ziel gerichtet war. Er fand die Stadt halb verlassen vor, die katholische Kirche war leer bis auf einen französischen Geistlichen.
»C'est termine«, erklärte der Priester ihm schlicht. Die Südvietnamesen würden tun, was sie immer taten, sagte er. Sie würden den Vormarsch stoppen, dann kehrt machen und davonlaufen. Sie tranken zusammen Wein und starrten auf den leeren Platz hinaus.
Jerry reichte seine Reportage ein, die besagte, daß dieses Fiasko das letzte sei, und Stubbsi lehnte sie prompt ab mit dem lakonischen Kommentar: »Porträts, nicht Prophezeiungen. Stubbs.«
Auf den Stufen des Hotels Caravelle in Saigon boten ihm bettelnde Kinder unnütze Blumengebinde zum Kauf an. Jerry gab ihnen Geld und nahm die Blumen, um ihr Gesicht zu wahren, dann warf er sie in seinem Zimmer in den Papierkorb. Als er unten in der Halle saß, klopften sie ans Fenster, an dem der Regen herabströmte, und verkauften ihm Stars and Stripes. In den leeren Lokalen, in denen er trank, scharten sich die Mädchen verzweifelt um ihn, als wäre er ihre letzte Chance vor dem Ende. Nur die Polizisten waren in ihrem Element. Sie standen mit weißen Helmen und frischgewaschenen weißen Handschuhen an jeder Ecke, als warteten sie bereits darauf, den anrollenden Fahrzeugstrom der Sieger zu dirigieren. In weißen Jeeps fuhren sie wie regierende Fürsten an den Flüchtlingen vorbei, die in ihren Vogelbauern auf dem Gehsteig hockten. Er kehrte in sein Hotelzimmer zurück, und bald darauf rief Hercule an, Jerrys Lieblings-Vietnamese, dem er aus Leibeskräften aus dem Weg gegangen war. Hercule, wie er selber sich nannte, war gegen das Establishment und gegen Thieu und verdiente nicht schlecht damit, daß er britische Journalisten mit Informationen über den Vietkong versorgte, mit der fragwürdigen Begründung, daß die Briten nicht in den Krieg verwickelt seien. »Die Briten sind meine Freunde!« flehte er ins Telefon. »Bringen Sie mich raus! Ich brauche Papiere, ich brauche Geld!« Jerry sagte: »Probieren Sie's bei den Amis«, und legte auf.
Das Büro der Agentur Reuter, wo Jerry seine totgeborene Reportage ablieferte, war ein Monument für vergessene Helden und die Romantik des Scheiterns. Unter den Glasplatten der Schreibtische lagen die fotografierten Köpfe zerzauster junger Männer, an den Wänden sah man berühmt gewordene Ablehnungen und Beispiele für das Wüten der Redakteure; die Luft war erfüllt vom Gestank alter Druckerschwärze und vom Hauch des Heimwehs nach Irgendwo-in-England, das jeder Korrespondent im Exil im Herzen trägt. Gleich um die Ecke war ein Reisebüro, und später stellte sich heraus, daß Jerry während jener Zeit zweimal Flüge nach Hongkong gebucht hatte und dann nicht am Flugplatz erschienen war. Er wurde von einem ernsten jungen Vettern namens Pike betreut, der offiziell an der Pressestelle arbeitete und ihm gelegentlich Telegramme in gelben Kuverts mit der Aufschrift EILIGE PRESSEINFORMATION ins Hotel brachte, damit alles authentisch wirken sollte. Aber die Botschaft, die darin stand, war immer die gleiche: keine Entscheidung, stillhalten, keine Entscheidung. Er las Ford Maddox Ford und einen wahrhaft gräßlichen Roman über das alte Hongkong. Er las Greene und Conrad und T. E. Lawrence, und noch immer kam nichts. Die Bombardierungen klangen bei Nacht am schlimmsten, und die Panik war überall wie eine um sich greifende Seuche. Auf der Suche nach Stubbsis Porträts, nicht Prophezeiungen, ging er hinüber zur Amerikanischen Botschaft, wo an die zehntausend Vietnamesen sich an den Türen drängten, um ihre amerikanische Staatsangehörigkeit nachweisen zu können. Er sah, wie ein südvietnamesischer Offizier in einem Jeep ankam, aus dem Wagen sprang und auf die Frauen einzubrüllen begann, sie Huren und Verräterinnen nannte - offenbar ließ er seine Wut an einer Gruppe amerikanischer Ehefrauen zur linken Hand aus. Wiederum lieferte Jerry einen Artikel, und wiederum verwarf Stubbs ihn, was Jerrys Depression zweifellos noch steigerte. Ein paar Tage später verloren die Planer im Circus die Nerven. Da die volle Auflösung anhielt und sich noch beschleunigte, wiesen sie Jerry an, sofort nach Vientiane zu fliegen und dort unterzutauchen, bis ein Postbote der Vettern ihm anderslautende Orders bringen würde. Also flog er hin und nahm ein Zimmer im Constellation, wo Lizzie sich so gern hatte bewundern lassen, und er trank an der Bar, wo Lizzie getrunken hatte, und gelegentlich plauderte er mit Maurice, dem Besitzer, und im übrigen wartete er. Die Bar war aus Beton und zwei Fuß unter Straßenniveau, so daß sie notfalls als Luftschutzkeller oder Geschützstellung dienen konnte. Nebenan, im trübseligen Speisesaal, saß Abend für Abend ein alter colon allein an einem Tisch, hatte die Serviette in den Kragen gestopft und tafelte ausgiebig. Jerry saß lesend an einem anderen Tisch. Sie waren und blieben die einzigen Gäste, und sie wechselten nie ein Wort. Auf den Straßen patrouillierten die Pathet Lao - die noch nicht lang von ihren Bergen herabgestiegen waren - in Siegerhaltung immer zwei und zwei, sie trugen Mao-Mützen und Mao-Röcke und mieden die Blicke der Mädchen. Sie hatten die Villen an den Straßenecken und die Villen entlang zum Flugplatz requiriert. Sie kampierten in tadellosen Zelten, deren Spitzen über die Mauern wuchernder Gärten lugten. »Wird die Koalition halten?« fragte Jerry einmal Maurice. Maurice war kein politischer Mensch.
»Wir müssen's nehmen, wie's kommt«, antwortete er in seinem Bühnenfranzösisch und schenkte Jerry zum Trost einen Kugel; Schreiber mit der Aufschrift »Löwenbräu«. Maurice hatte die Konzession für ganz Laos, er verkaufte dem Vernehmen nach alljährlich mehrere Flaschen. Jerry mied gewissenhaft die Straße, in der das Büro von Indocharter lag, und ebenso verbot er sich, aus reiner Neugier einen Blick auf die Flohhütte am Stadtrand zu werfen, die, nach Charlie Marshalls Aussage, die menage á trois beherbergt hatte. Auf Jerrys Frage erwiderte Maurice, es seien zur Zeit nur noch sehr wenige Chinesen in der Stadt. »Chinesen mögen sie nicht«, sagte er lächelnd und wies mit dem Kopf auf die Pathet Lao draußen auf dem Gehsteig.
Bleibt noch das Geheimnis der Aufzeichnungen der Telefongespräche. Rief Jerry Lizzie vom Constellation aus an oder rief er sie nicht an? Und wenn er sie anrief, wollte er dann mit ihr sprechen oder nur ihre Stimme hören? Und wenn er beabsichtigte, mit ihr zu sprechen, was hatte er sich vorgenommen, ihr zu sagen? Oder genügte schon das bloße Tätigen eines Anrufs - ähnlich dem bloßen Buchen seiner Hongkong-Flüge - als Katharsis, die ihn von der Wirklichkeit erlöste?
Fest steht auf jeden Fall, daß man weder Smiley noch Connie oder sonst jemandem, der die fraglichen Aufzeichnungen las, Pflichtversäumnis vorwerfen kann, denn der Text war bestenfalls als zweideutig zu bezeichnen:
»Eingehender Überseeruf, mit Voranmeldung für Teilnehmer. Vermittlung am Apparat. Teilnehmer nimmt den Anruf entgegen, sagt mehrmals >hallo<. Vermittlung: Anrufer, bitte sprechen! Teilnehmer: Hallo? Hallo?
Vermittlung: Können Sie mich hören, Anrufer? Bitte sprechen Sie!
Teilnehmer: Hallo? Hier Liese Worth. Wer ist dort, bitte? Gespräch wird durch Anrufer beendet.«
Die Aufzeichnung erwähnt an keiner Stelle Vientiane als Herkunftsort des Anrufs, und es ist sogar ungewiß, ob Smiley sie überhaupt zu sehen bekam, denn sein Zeichen erscheint nicht bei den Unterschriften.
Indes, ob nun Jerry der Anrufer gewesen war oder jemand anderer, am nächsten Tag brachten ihm zwei Vettern, nicht einer, einen Marschbefehl und endlich den willkommenen befreienden Einsatz. Die verdammte, endlose wochenlange Warterei war vorüber - und zwar für immer.
Er verbrachte den Nachmittag damit, sich Visa zu beschaffen und seine Reise zu buchen und am nächsten Morgen, bei Tagesanbruch, überquerte er mit Umhängetasche und Reiseschreibmaschine den Mekong nach Nordost-Thailand. Auf dem langen hölzernen Fährboot drängten sich Bauern und quiekende Schweine. In der Kontrollbaracke am Grenzübergang gab er an, daß er auf dem gleichen Weg wieder nach Laos zurückwolle. Andernfalls hätte man ihm die Einreise verweigern müssen, wie die Beamten streng erklärten. Vorausgesetzt, daß ich überhaupt zurückkomme, dachte er. Als er zur entschwindenden Küste von Laos zurückblickte, sah er auf dem Treidelpfad einen amerikanischen Wagen stehen und daneben zwei schlanke regungslose Gestalten, die Ausschau hielten. Die Vettern sind allezeit bei uns. Auf dem Thai-Ufer war sofort alles unmöglich: Jerrys Visum war ungenügend, sein Foto sah ihm nicht ähnlich, das ganze Gebiet war für farangs gesperrt. Zehn Dollar bewirkten einen Meinungswandel. Nach dem Visum kam der Wagen. Jerry hatte auf einem englischsprechenden Fahrer bestanden, der Preis war entsprechend festgesetzt worden, aber der alte Mann, der auf ihn wartete, sprach nur Thai und auch dies nur mangelhaft. Jerry bellte so lange englische Sätze in den Reisladen nebenan, bis er einen fetten trägen Jungen herauslockte, der über einige Englischkenntnisse verfügte und behauptete, chauffieren zu können. Umständlich wurde ein Vertrag aufgesetzt. Die Versicherung des alten Mannes deckte keinen anderen Fahrer und war ohnehin abgelaufen. Ein erschöpfter Commis stellte eine neue Police aus, während der Junge nach Hauseging, um sich reisefertig zu machen. Der Wagen war ein klapperiger roter Ford mit abgefahrenen Reifen. Von allen Todesarten, die Jerry in den nächsten paar Tagen nicht zu sterben gedachte, war dies die allerletzte. Sie feilschten, und Jerry rückte weitere zwanzig Dollar heraus. In einer Werkstatt voller Hühner ließ er kein Auge von den Mechanikern, bis die neuen Reifen aufmontiert waren.
Nachdem so eine Stunde vertan war, brausten sie mit halsbrecherischer Geschwindigkeit in südöstlicher Richtung über ebenes Ackerland. Der Junge ließ fünfmal »The lights are always out in Massachussetts« spielen, ehe Jerry ihn bat, aufzuhören.
Die Straße war geteert, aber unbefahren. Nur dann und wann kroch ein gelber Bus mit Schlagseite bergab auf sie zu, und sofort gab der Fahrer Gas und blieb auf der Mitte der Straße, bis der Bus um einen Fußbreit nachgegeben hatte und vorbeigedonnert war. Einmal nickte Jerry ein und schrak jäh durch das Krachen eines Bambuszauns auf, gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie eine Fontäne von Splittern genau vor ihnen ins Sonnenlicht hochschoß und ein Lastwagen langsam in den Straßengraben rollte. Er sah, wie die Tür hochflog wie ein Laubblatt, der Fahrer hinterher und durch den Zaun und in das hohe Gras. Der Junge hatte nicht einmal das Gas weggenommen, obwohl er so lachen mußte, daß sie im Zickzack über die Straße schlingerten. Jerry schrie »Stopp!«, aber der Junge wollte davon nichts wissen. »Wollen Sie Blut auf den Anzug kriegen? Lassen Sie das den Doktors«, verwies er ihn streng. »Ich kümmere mich um Sie, okay? Dies hier sehr schlimmes Land. Menge Kommis.«
»Wie heißen Sie?« sagte Jerry resigniert. Der Name war unaussprechlich, also einigten sie sich auf Mickey. Zwei weitere Stunden vergingen, bis sie an die erste Absperrung kamen. Jerry döste wieder vor sich hin und probte seinen Part. Immer kommt nochmals eine Tür, in die man den Fuß stellen muß, dachte er. Er fragte sich, ob der Tag kommen würde - für der Circus, für das Comic -, an dem der alte Alleinunterhalter mit seinen Spaßen auf der Strecke bleiben würde: an dem der bloße Kraftaufwand, sich über die Schwelle zu mogeln, ihn fertig machen und er mit schlotternden Knien dastehen würde, sein freundliches Vertreterlächeln zur Schau tragen, während ihm die Worte in der Kehle stecken blieben. Lieber Gott, nicht diesmal, bitte.
Sie hielten, und ein junger Mönch kam unter den Bäumen hervorgeschusselt und hielt eine Schale hin, und Jerry ließ einige baht hineinfallen. Mickey öffnete den Kofferraum. Ein Polizeiposten linste hinein, befahl Jerry sodann, auszusteigen, und führte ihn zu einem Captain, der allein in einer schattigen Hütte saß. Der Captain ließ sich lange Zeit, ehe er Jerry überhaupt zur Kenntnis nahm.
»Er fragt, Sie Amerikaner?« sagte Mickey. Jerry zeigte seine Papiere vor.
Jenseits der Schranke lief die tadellose Teerstraße schnurgerade über das flache Buschland.
»Er sagt, was Sie hier wollen?« sagte Mickey.
»Geschäfte mit dem Colonel.«
Auf der Weiterfahrt kamen sie an einem Dorf und einem Kino vorbei. Sogar die neuesten Streifen hier sind noch Stummfilme, erinnerte sich Jerry. Er hatte einmal darüber geschrieben. Einheimische Schauspieler lieferten die Stimme und erfanden irgendeinen Text, der ihnen gerade einfiel. Er erinnerte sich an John Wayne mit quäkender Thai-Stimme, das Publikum raste, und der Dolmetscher erläuterte ihm, es handle sich um eine Imitation des Bürgermeisters, der eine stadtbekannte Tunte sei. Sie durchfuhren Wälder, aber zu beiden Seiten der Straße waren Streifen von fünfzig Yards Breite gerodet worden, um die Gefahr eines Hinterhalts zu verringern. Manchmal fuhren sie an scharf gezogenen weißen Linien entlang, die nichts mit dem Straßenverkehr zu tun hatten. Die Straße war von den Amerikanern im Hinblick auf eventuelle Landemöglichkeiten angelegt worden. »Kennen Sie diesen Colonel?« fragte Mickey. »Nein«, sagte Jerry.
Mickey lachte entzückt. »Warum wollen Sie ihn?« Jerry gab keine Antwort.
Die zweite Straßensperre kam nach zwanzig Meilen, inmitten eines kleinen Dorfs, das für die Polizei geräumt worden war. Eine Gruppe grauer Lastwagen stand im Hof des wat, vier Jeeps waren neben der Schranke geparkt. Das Dorf lag an einer Kreuzung. Im rechten Winkel zu ihrer Straße lief ein Feldweg quer über die Ebene und wand sich zu beiden Seiten bergan. Diesmal ergriff Jerry die Initiative. Er sprang sofort aus dem Wagen und rief forsch: »Bringen Sie mich zu Ihrem Chef!« Als ihr Chef erwies sich ein nervöser junger Captain mit dem finsteren Gesichtsausdruck eines Mannes, der sich alles vom Hals halten möchte, was über seine Erfahrung hinausgeht. Er saß im Wachlokal und hatte die Pistole vor sich auf dem Schreibtisch liegen. Das Wachlokal war nur behelfsmäßig, wie Jerry feststellte. Durchs Fenster sah er die zerbombte Ruine, die vermutlich das frühere gewesen war. »Mein Colonel ist ein sehr beschäftigter Mann«, erklärte der Captain über Mickey, den Fahrer. »Er ist auch ein sehr tapferer Mann«, sagte Jerry. Es folgte eine längere Pantomime, bis sie das Wort »tapfer« ausgedeutet hatten.
»Er hat viele Kommunisten erschossen«, sagte Jerry. »Meine Zeitung möchte über diesen tapferen Thai-Colonel berichten.« Der Captain redete längere Zeit, und plötzlich begann Mickey, vor Lachen zu brüllen.
»Der Captain sagen, wir haben keine Kommis nicht. Wir haben bloß Bangkok. Arme Leute hier herum, wissen nichts, weil Bangkok keine Schulen, also kommen die Kommis bei Nacht zu ihnen, rechen mit ihnen, sagen, alle ihre Söhne gehen alle nach Moskau und lernen große Doktors, und so haben sie Polizeistation in die Luft gesprengt.«
»Wo kann ich den Colonel finden?«
»Captain sagen, wir bleiben hier.«
»Wird er den Colonel bitten, zu uns zu kommen?«
»Colonel sehr beschäftigter Mann.«
»Wo ist der Colonel?«
»Er nächstes Dorf.«
»Wie heißt das nächste Dorf?«
Wiederum brach der Fahrer vor Lachen fast zusammen.
»Es heißt gar nicht. Ganzes Dorf ganz tot.«
»Wie hat das Dorf geheißen, als es noch nicht tot war?«
Mickey nannte den Namen.
»Ist die Straße bis zu diesem toten Dorf frei?«
»Captain sagen, militärisches Geheimnis. Das heißt, er weiß es nicht.«
»Wird der Captain uns hinfahren lassen?« fragte Jerry. Ein langes Palaver folgte.
»Klar«, sagte Mickey endlich. »Er sagen, wir gehen.«
»Wird der Captain an den Colonel funken und ihm sagen, daß wir kommen?«
»Colonel sehr beschäftigter Mann.«
»Wird er ihm funken?«
»Klar«, sagte der Fahrer, als könne nur ein widerlicher farang von einer solchen selbstverständlichen Kleinigkeit soviel Wesens machen.
'Sie stiegen wieder ein. Der Schlagbaum ging hoch, und sie fuhren weiter auf der tadellosen Teerstraße mit den gerodeten Seitendämmen und den aufgemalten Landestreifen. Zwanzig Minuten lang fuhren sie, ohne auf irgend etwas Lebendiges zu stoßen, aber Jerry war die Leere nicht geheuer. Er hatte gehört, auf jeden bewaffneten kommunistischen Guerilla in den Bergen kämen fünf in den Ebenen, die den Reis und die Munition beschafften und den Nachschub sicherten, und dies hier war die Ebene. Sie kamen zur Einmündung einer Landstraße zu ihrer Rechten, und das Erdreich war über den Teer verstreut, also war die Landstraße erst kürzlich befahren worden. Mickey bog in den Weg ein, folgte den tiefen Reifenspuren und ließ trotz Jerrys Einspruch »The lights are always out in Massachussetts« in voller Lautstärke spielen. »Dann glauben die Kommis, wir viele Leute«, erklärte er unter lautem Lachen. Zu Jerrys Überraschung brachte er aus der Tasche unter seinem Sitz eine riesige langläufige 0.45er Pistole zum Vorschein. Jerry befahl ihm barsch, die Waffe wieder verschwinden zu lassen. Bald darauf kam der Brandgeruch, dann fuhren sie durch Holzrauch, dann erreichten sie, was von dem Dorf noch übriggeblieben war: Grüppchen verängstigter Menschen, ein paar Morgen verbrannter Teakbäume, die wie ein versteinerter Wald aussahen, drei Jeeps, einige zwanzig Polizisten und in ihrer Mitte einen untersetzten Lieutenant-Colonel. Dörfler wie Polizisten starrten auf einen sechzig Yards entfernten, schwelenden Aschenhaufen, aus dem einige verkohlte Balken die Umrisse der abgebrannten Häuser andeuteten. Der Colonel beobachtete, wie Jerry und der Fahrer ausstiegen und herüberkamen. Er war ein Kämpfer. Jerry sah das sofort. Er war vierschrötig und kräftig und blickte ihnen weder lächelnd noch drohend entgegen. Seine Gesichtshaut war dunkel, das Haar ergrauend, und wenn sein Körper weniger dick gewesen wäre, hätte er Malaye sein können. Er trug Fallschirmspringerabzeichen und Fliegerabzeichen und mehrere Reihen Ordensbänder, einen Kampfanzug und eine Automatic im Lederhalfter am rechten Schenkel. Die Verschlußlasche hing offen.
»Der Zeitungsmann?« fragte er Jerry in monotonem militärischem Amerikanisch. »Bin ich.«
Die Augen des Colonel richteten sich auf den Fahrer. Er sagte etwas, und Mickey ging schleunigst zum Wagen zurück, stieg ein und blieb drinnen. »Was wollen Sie?«
»Hier jemand gestorben?«
»Drei Leute. Habe sie gerade erschossen. Wir haben achtunddreißig Millionen.« Sein amtliches, nahezu perfektes amerikanisches Englisch war eine Überraschung. »Warum haben Sie die Leute erschossen?«
»In der Nacht hielten die KTs hier Schulung ab. Die Leute kamen aus der ganzen Umgebung, um den KTs zuzuhören.« Kommunistische Terroristen, dachte Jerry. Er glaubte sich zu erinnern, daß es ursprünglich eine britische Wendung sei. Eine Reihe Lastwagen kam langsam auf der Landstraße daher. Bei ihrem Anblick begannen die Dörfler, Bettzeug und Kinder zusammenzuraffen. Der Colonel bellte einen Befehl, und seine Männer stellten die Leute in einer Schlange auf, während die Lastwagen wendeten.
»Wir bringen sie an einen besseren Ort«, sagte der Colonel. »Sie fangen neu an.«
»Wen haben Sie erschossen?«
»Letzte Woche wurden zwei meiner Männer durch Bomben getötet. Die KTs operierten von diesem Dorf aus.« Er suchte eine mürrische Frau aus, die gerade auf den Lastwagen klettern wollte und rief sie zurück, damit Jerry sie ansehen konnte. Sie stand mit gesenktem Kopf da.
»In ihrem Haus hielten sie sich auf«, sagte er. »Diesmal habe ich ihren Mann erschossen. Nächstesmal erschieße ich sie.«
»Und die beiden anderen?« fragte Jerry.
Er fragte, weil fragen am Ball bleiben bedeutet, aber der Befragte war Jerry, nicht der Colonel. Die braunen Augen des Offiziers waren hart und abschätzend und hielten eine ganze Menge zurück. Sie blickten Jerry forschend, aber ohne Besorgnis an. »Einer der KTs schlief mit einem Mädchen hier«, sagte er einfach. »Wir sind nicht nur die Polizei. Wir sind auch Richter und Gerichtshof. Es gibt sonst niemanden. Bangkok liegt nichts an einer Menge Prozesse hier draußen. «Die Dörfler waren jetzt auf den Lastwagen. Sie fuhren weg, ohne zurückzublicken. Nur die Kinder winkten über die Rückplanke. Die Jeeps folgten den Lastwagen, zurück blieben die drei Männer und die beiden Autos und ein Junge von vielleicht fünfzehn Jahren. »Wer ist er?« sagte Jerry.
»Er kommt mit uns. Nächstes Jahr, vielleicht übernächstes, erschieße ich ihn auch.«
Jerry fuhr neben dem Colonel im Jeep, der Colonel chauffierte» Der Junge saß teilnahmslos hinter ihnen und murmelte nur ja und nein, während der Colonel ihm in festem, mechanischem Tonfall eine Ansprache hielt. Mickey folgte mit dem Taxi. Auf dem Boden des Jeeps, zwischen Sitz und Pedalen, hatte der Colonel vier Granaten in einer Pappschachtel liegen. Ein kleines Maschinengewehr lag quer über dem Rücksitz, und der Colonel geruhte nicht, es wegen des Jungen dort wegzunehmen. Über dem Rückspiegel hing neben den Heiligenbildern ein Postkartenfoto von John Kennedy mit dem Text »Frage nicht, was dein Land für dich tun kann, Frage lieber, was du für dein Land tun kannst.« Jerry hatte sein Notizbuch gezückt. Der Colonel redete noch immer auf den Jungen ein.
»Was sagen Sie zu ihm?«
»Ich erkläre ihm das Wesen der Demokratie.«
»Und das wäre?«
»Kein Kommunismus und keine Generale«, erwiderte er und lachte.
An der Hauptstraße bogen sie rechts ein, weiter ins Landesinnere, und Mickey folgte in seinem roten Ford. »Mit Bangkok verhandeln ist genauso, wie wenn man auf den hohen Baum da klettert«, sagte der Colonel zu Jerry und wies zum Wald hinüber. »Man klettert auf einen Ast, steigt weiter, auf den nächsten, der Ast bricht ab, man steigt wieder hinauf. Vielleicht kommt man eines Tages bis zum obersten General. Vielleicht auch nie.«
Zwei kleine Kinder winkten vom Straßenrand, und der Colonel hielt an, damit sie sich neben den Jungen quetschen konnten. »Ich tue das nicht sehr oft«, sagte er und lächelte wieder unvermittelt. »Ich tue das, damit Sie sehen, ich bin ein netter Mensch. Wenn die KTs spitzkriegen, daß man wegen der Kinder anhält, dann richten sie die Kinder dazu ab. Man muß ständig wechseln. Nur dann bleibt man am Leben.« Er war wieder in den Wald eingeschwenkt. Sie fuhren ein paar Meilen und ließen die kleinen Kinder aussteigen, nicht aber den mürrischen Jungen. Die Bäume wichen trostlosem Buschland. Der Himmel wurde weiß, nur die Umrisse der Berge ragten aus dem Nebel.
»Was hat er getan?« fragte Jerry.
»Der? Er ist ein KT«, sagte der Colonel. »Wir fangen ihn.« Im Wald sah Jerry etwas golden blitzen, aber es war nur ein wat. »Letzte Woche macht einer meiner Polizisten Spitzel für KT. Ich schicke ihn auf Patrouille, erschieße ihn, mache großen Helden aus ihm. Ich verschaffe der Frau eine Rente, ich kaufe große Fahne für den Sarg, mache großes Begräbnis, und das Dorf wird ein bißchen reicher. Der Bursche ist kein Spitzel mehr. Er ist ein Volksheld. Man muß die Bevölkerung für sich gewinnen.«
»Ganz recht«, bestätigte Jerry.
Sie kamen zu einem weiten trockenen Reisfeld, in dessen Mitte zwei Frauen den Boden bearbeiteten, sonst war nichts zu sehen außer einer entfernten Hecke und felsigem Dünenland, das sich in den weißen Himmel verlief. Mickey mußte im Ford sitzenbleiben, Jerry und der Colonel wanderten über das Feld, der mürrische Junge schlurfte hinterdrein. »Sie sind Brite?«
»Ja.«
»Ich war auf der Internationalen Polizeiakademie in Washington«, sagte der Colonel. »Sehr hübsch dort. Ich habe an der Michigan State Law Enforcement studiert. Ging uns nicht schlecht dort. Würden Sie bitte ein bißchen Abstand von mir halten?« fragte er höflich, als sie bedächtig über einen Sturzacker stapften. »Ich werde erschossen, nicht Sie. Wenn sie einen farang erschießen, kriegen sie hier zu viel Scherereien. Das wollen sie nicht. Niemand erschießt einen farang in meinem Bezirk.« Sie waren bei den Frauen angekommen. Der Colonel sagte etwas zu ihnen, ging ein Stück weiter, blieb stehen, schaute sich zu dem mürrischen Jungen um, kehrte zu den Frauen zurück und sagte nochmals etwas zu ihnen. »Worum geht's?« sagte Jerry.
»Ich frage sie, ob's in der Gegend KTs gibt. Sie sagen nein. Dann denke ich: vielleicht wollen die KTs den Jungen da wiederhaben. Also geh ich zurück und sage zu ihnen: >Wenn irgendwas passiert, erschießen wir euch Weiber zuerst<.« Jetzt waren sie an der Hecke. Vor ihnen lagen die Dünen, überwachsen von hohen Büschen und Palmen wie Schwertklingen. Der Colonel hielt die Hände trichterförmig vor den Mund und brüllte etwas, bis ein Antwortruf kam.
»Ich lernte das im Dschungel«, erklärte er und lächelte wieder. »Wenn man im Dschungel ist, immer zuerst rufen.«
»Was für ein Dschungel war das?« fragte Jerry. »Bleiben Sie jetzt bitte dicht bei mir. Lächeln Sie, wenn Sie mit mir sprechen. Man muß Sie sehr deutlich sehen können.« Sie hatten einen kleinen Fluß erreicht. Am Ufer hackten hundert oder mehr Männer, einige sogar noch jünger als der Junge, stumpfsinnig, mit Piken und Spaten auf die Felsen ein oder wuchteten Zementsäcke von einem hohen Haufen auf einen anderen, wobei eine Handvoll bewaffneter Polizisten lässig zusah. Der Colonel rief den Jungen herbei und sagte etwas zu ihm, und der Junge senkte den Kopf, und der Colonel versetzte ihm eine schallende Ohrfeige. Der Junge murmelte etwas, und der Colonel schlug nochmals zu, dann klopfte er ihm auf die Schulter, worauf der Junge wie ein freigelassener, aber verkrüppelter Vogel davonschusselte, um sich der Arbeitskolonne anzuschließen. »Wenn Sie über KTs schreiben, schreiben Sie auch über meinen Damm hier«, befahl der Colonel, während sie sich auf der Rückweg machten. »Wir machen hier schönes Weideland. Es wird nach mir benannt.«
»In welchem Dschungel haben Sie gekämpft?« wiederholte Jerry, als sie zurückgingen.
»Laos. Sehr schwere Kämpfe.«
»Als Freiwilliger?«
»Klar. Ich habe Kinder, brauche das Geld. Gehe zu PARU! Schon von PARU gehört? Haben die Amerikaner aufgezogen und befehligt. Ich schreibe einen Brief, daß ich aus der Thai-Polizei austrete. Liegt in einer Schublade bei ihnen. Wenn ich umkomme, holen sie den Brief heraus als Beweis, daß ich ausgetreten bin, bevor ich zu PARU ging.«
»Haben Sie dort auch Ricardo kennengelernt?«
»Klar. Ricardo mein Freund. Haben zusammen gekämpft, eine Menge Feinde erschossen.«
»Ich möchte ihn besuchen«, sagte Jerry. »Ich habe in Saigon eines seiner Mädchen getroffen. Sie sagte mir, er hat hier in der Gegend ein Haus. Ich möchte ihm ein Geschäft vorschlagen.« Sie kamen wieder an den Frauen vorüber. Der Colonel winkte ihnen zu, aber sie reagierten nicht. Jerry beobachtete seine Miene, aber er hätte ebensogut einen Felsblock hinten auf den Dünen beobachten können. Der Colonel stieg in den Jeep. Jerry sprang nach ihm hinein.
»Ich dachte, vielleicht könnten Sie mich zu ihm bringen. Ich könnte ihn sogar für ein paar Tage reich machen.«
»Ist es für Ihre Zeitung?«
»Es ist privat.«
»Sie wollen ihm ein privates Geschäft vorschlagen?« fragte der Colonel.
»Stimmt.«
Als sie zur Hauptstraße zurückfuhren, kamen ihnen zwei gelbe Zementmixerwagen entgegen, und der Colonel mußte zurücksetzen, um sie vorbeizulassen. Jerry las automatisch den Namen, der an die gelben Seitenwände aufgemalt war. Dabei bemerkte er, daß der Colonel ihn aus den Augenwinkeln beobachtete. Sie fuhren weiter ins Landesinnere, so schnell, wie der Jeep es schaffte, um allen üblen Absichten, die unterwegs auf sie lauern mochten, zuvorzukommen. Mickey folgte getreulich. »Ricardo ist mein Freund, und das hier ist mein Bezirk«, wiederholte der Colonel in tadellosem Amerikanisch. Die Feststellung war, obgleich bereits-bekannt, diesmal eine ausdrückliche Warnung. »Er lebt hier unter meinem Schutz, das haben wir vereinbart. Jeder hier weiß es. Die Dörfler wissen es, die KTs wissen es. Niemand tut Ricardo etwas, oder ich erschieße jeden KT auf dem Damm.«
Als sie von der Hauptstraße wieder auf den Feldweg einbogen, sah Jerry die leichten Rutschspuren eines kleines Flugzeugs auf dem Teer eingeprägt. »Landet er hier?«
»Nur in der Regenzeit«, fuhr der Colonel fort und blieb bei der Erläuterung seiner ethischen Position in dieser Angelegenheit. »Wenn Ricardo Sie tötet, ist das seine Sache. Ein farang erschießt einen anderen farang in meinem Bezirk, das ist natürlich.« Er sagte es, als erklärte er einem Kind das kleine Einmaleins. »Ricardo ist mein Freund«, wiederholte er ohne Verlegenheit. »Mein Kamerad.«
»Erwartet er mich?«
»Bitte seien Sie rücksichtsvoll. Captain Ricardo ist zeitweise ein kranker Mann.«
Tiu bringt ihn unter, hatte Charlie Marshall gesagt, an einem Ort, wo nur Verrückte hingehen. Tiu sagt zu ihm »Sie bleiben am Leben, Sie behalten das Flugzeug, Sie schmuggeln Waffen für Charlie Marshall, jederzeit, befördern Geld für ihn, sorgen dafür, daß ihm nichts passiert, wenn Charlie es so haben will. Das ist das Abkommen, und Drake Ko hat noch nie ein Abkommen gebrochen«, sagt er. Aber wenn Ric Geschichten macht oder wenn Ric pfuscht oder wenn Ric über gewisse Dinge seine große Klappe nicht halten kann, dann machen Tiu und seine Leute diesen blöden Kerl gründlich fertig, daß er nicht mehr weiß, wer er ist. »Warum setzt Ric sich nicht einfach ins Flugzeug und haut ab?« hatte Jerry gefragt.
» Tiu hat Ries Pass, Voltaire. Tiu zahlt Ries Schulden und seine geschäftlichen Unternehmungen und kauft seine Polizeiakte. Tiu hängt ihm ungefähr fünfzig Tonnen Opium an, und Tiu hat für die Rauschgifthelden alle Beweise parat, falls er sie mal brauchen kann. Ric kann ohne weiteres und jederzeit hin, wo er will. Überall auf der ganzen verdammten Welt wartet schon ein Gefängnis auf ihn.
Das Haus mit dem ringsum laufenden Balkon war auf Pfählen erbaut, ein Bach floß neben dem Haus und darunter hielten sich zwei Thai-Mädchen auf, von denen die eine ihr Baby stillte, während die andere in einem Kochtopf rührte. Dahinter erstreckte sich ein flaches braunes Feld, an dessen Ende man einen Schuppen sah, groß genug für ein kleines Flugzeug - zum Beispiel eine Beechcraft -, und eine silbrige Spur aus zerdrücktem Gras führte über das Feld, wo kürzlich jemand gelandet sein mochte. Das Haus stand in der Mitte eines breiten Feldwegs auf einer kleinen Erhebung, und in der Nähe gab es keine Bäume. Man hatte freien Ausblick nach allen Richtungen, und die breiten, aber nicht sehr hohen Fenster schienen Jerry eigens umgebaut worden zu sein, damit man von drinnen einen möglichst weiten Schußwinkel hätte. Kurz vor dem Haus ließ der Colonel Jerry aussteigen und ging mit ihm nach hinten zu Mickeys Wagen. Er sagte etwas zu Mickey, und Mickey sprang heraus und öffnete den Kofferraum. Der Colonel griff unter den Fahrersitz, zog die langläufige Pistole heraus und warf sie verächtlich in den Jeep. Er filzte Jerry, dann filzte er Mickey, dann durchsuchte er persönlich den Wagen, dann gebot er ihnen beiden, zu warten, und stieg die Treppe zum ersten Stock hinauf. Die Mädchen beachteten ihn nicht. »Er feiner Colonel«, sagte Mickey. Sie warteten.
»England reiches Land«, sagte Mickey.
»England ein sehr armes Land«, gab Jerry zurück, während sie zum Haus hinübersahen.
»Armes Land, reiche Leute«, sagte Mickey. Er schüttelte sich noch immer vor Lachen über seinen eigenen Witz, als der Colonel aus dem Haus kam, in den Jeep stieg und wegfuhr.
»Warte hier«, sagte Jerry. Er ging langsam bis zum Fuß der Treppe, dann hielt er die Hände vor den Mund und rief hinauf.
»Ich heiße Westerby. Vielleicht erinnern Sie sich, daß Sie vor ein paar Wochen in Phnom Penh auf mich geschossen haben. Ich bin ein armer Journalist mit teuren Einfällen.«
»Was wollen Sie, Voltaire? Jemand hat mir erzählt, Sie seien bereits tot.«
Eine südamerikanische Stimme, tief und samtig aus dem Dunkel über ihm.
»Ich möchte Drake Ko erpressen. Schätze, wir zwei beide könnten ihn um ein paar Millionen Dollar erleichtern, und Sie könnten sich Ihre Freiheit erkaufen.«
In der schwarzen Öffnung der Falltür sah Jerry einen Gewehrlauf, gleich einem Zyklopenauge, das ein paarmal blinzelte und dann den Blick wieder fest auf ihn richtete.
»Jeder«, rief Jerry. »Zwei für Sie, zwei für mich. Ich hab' den Plan fix und fertig. Mit meinem Verstand und Ihrem Wissen und Lizzies Worthingtons Figur kann gar nichts schiefgehen.« Er begann, langsam die Stufen hinaufzusteigen. Voltaire, dachte er: wenn es darum ging, Nachrichten zu verbreiten, fackelte Charlie Marshall nicht lange. Und was das andere anging, nämlich daß er bereits tot sei, das war nur eine Frage der Zeit, dachte er.
Als Jerry durch die Falltür kletterte, kam er vom Dunkeln ins Helle, und die südamerikanische Stimme sagte: »Bleiben Sie dort.« Jerry tat, wie ihm geheißen. Von seinem Standort aus konnte er den Raum überblicken, der eine Mischung aus einem kleinen Waffenmuseum und einem amerikanischen PX darstellte. Auf dem Mitteltisch stand auf einem Dreifuß eine AK 47, ähnlich der, aus der Ricardo ihn schon einmal beschossen hatte, und wie Jerry vermutet hatte, gaben die vier Fenster das Feuer nach allen Richtungen frei. Trotzdem waren für alle Fälle ein paar Reservewaffen bereit, und neben jeder lag ein hübscher Haufen Munition. Granaten lagen herum wie Obst, in Bündeln zu drei oder vier Stück, und auf der scheußlichen Walnuß-Hausbar unter einer Madonnenstatue aus Plastik lag ein Sortiment von Pistolen und Maschinenpistolen für jede Gelegenheit. Es war nur ein einziger Raum, aber er war groß und enthielt ein niedriges Bett in einem Rahmen mit japanischer Lackmalerei, und Jerry überlegte einen albernen Augenblick lang, wie zum Teufel Ricardo das Ding jemals in seine Beechcraft gebracht hatte. Er sah zwei Kühlschränke und eine Eismaschine, und er sah mühsam gepinselte Ölgemälde nackter Thai-Mädchen, gemalt mit jener Ungenauigkeit im erotischen Detail, die im allgemeinen eine mangelnde Vertrautheit mit dem Sujet verrät. Er sah einen Aktenschrank mit einer Luger obendrauf, und ein Regal mit Büchern über Gesellschaftsrecht, Internationales Steuerrecht und Sexualtechniken. An den Wänden hingen mehrere Heiligenfiguren aus einheimischer Schnitzarbeit, die Jungfrau Maria und das Jesuskind. Auf dem Fußboden stand ein Ruderapparat mit Gleitsitz zum Fitness-Training.
Inmitten all dieser Requisiten saß, in fast der gleichen Haltung wie damals, als Jerry ihn zum erstenmal gesehen hatte, Ricardo auf einem Direktorendrehsessel. Er trug seine CIA-Armbänder, einen Sarong und ein goldenes Kreuz auf der schönen bloßen Brust. Sein Bart war weit weniger üppig als beim letztenmal, und Jerry vermutete, daß die Mädchen ihn gestutzt hatten. Er trug keine Kopfbedeckung, und das krause schwarze Haar war im Nacken mit einem kleinen goldenen Ring zusammengefaßt. Er war breitschultrig und muskulös, und seine Haut war gebräunt und ölig, die Brust dicht behaart.
Neben seinem Ellbogen standen eine Flasche Whisky und ein Krug mit Wasser, aber kein Eis, denn es gab keinen Strom für die Kühlschränke.
»Bitte nehmen Sie das Jackett ab, Voltaire«, befahl Ricardo. Jerry gehorchte, und mit einem Seufzer stand Ricardo auf, nahm eine Automatic vom Tisch und umkreiste Jerry langsam, begutachtete seinen Körperbau genau, während er ihn sanft nach Waffen abtastete.
»Spielen Sie Tennis?« fragte er, während er hinter Jerry stand und ihm mit einer Hand sehr leicht den Rücken entlangfuhr. »Charlie sagt, Sie haben Muskeln wie ein Gorilla.« Aber Ricardo stellte Fragen eigentlich immer nur an sich selber. »Ich spiele sehr gern Tennis. Ich bin ein äußerst guter Spieler. Ich gewinne immer. Hier habe ich leider wenig Gelegenheit.« Er setzte sich wieder. »Manchmal muß man sich bei den Feinden verstecken, um vor den Freunden sicher zu sein. Ich reite, boxe, schieße, ich habe Preise gewonnen, ich fliege eine Maschine, ich weiß eine Menge vom Leben, ich bin hochintelligent, aber aufgrund unvorhergesehener Umstände lebe ich im Dschungel wie ein Affe.« Die Automatic lag lässig in seiner Linken. »Ist das, was Sie einen Paranoiker nennen würden, Voltaire? Jemand, der jeden für seinen Feind hält?«
»Das dürfte es wohl sein.«
Um den altbekannten Satz zu sprechen, legte Ricardo einen Finger auf die bronzebraune ölglänzende Brust: »Nun, dieser Paranoiker hier hat wirklich Feinde«, sagte er. »Mit zwei Millionen Dollar«, sagte Jerry, der noch immer dort stand, wo Ricardo ihn hatte stehenlassen, »könnte man vermutlich die meisten ausschalten.«
»Voltaire, ich muß Ihnen ehrlich sagen, ich betrachte Ihren geschäftlichen Vorschlag als Scheiß.«
Ricardo lachte. Das hieß, er stellte die prächtigen weißen Zähne hinter dem frischgestutzten Bart zur Schau, ließ die Bauchmuskeln ein bißchen spielen und hielt den Blick starr auf Jerrys Gesicht gerichtet, während er seinen Whisky trank. Er hat seine Instruktionen, dachte Jerry, genau wie ich. Wenn er auftaucht, dann horchst du ihn aus, hatte Tiu zweifellos gesagt. Und wenn Ricardo ihn ausgehorcht hatte - was dann? »Ich habe wirklich geglaubt, Sie hätten einen Unfall gehabt, Voltaire«, sagte Ricardo traurig und schüttelte den Kopf, als beklagte er die Unzuverlässigkeit seiner Information. »Möchten Sie was trinken?«
»Danke, ich bediene mich«, sagte Jerry. Die Gläser waren in einem Schränkchen, lauter verschiedene Farben und Formate. Jerry ging gemessenen Schritts hinüber und nahm sich einen hohen rosa Becher mit einem bekleideten Mädchen außen drauf und einem nackten Mädchen innen drin. Er goß ein paar Fingerbreit Whisky hinein, ein bißchen Wasser dazu und setzte sich Ricardo gegenüber an den Tisch, während Ricardo ihn interessiert beobachtete.
»Trainieren Sie, Gewichtheben oder sonstwas?« erkundigte er sich liebenswürdig.
»Nur Flaschenstemmen«, sagte Jerry.