»Nein«, sagte sie ins Telefon. »Ich bin früher weggegangen.« Er kniete neben ihr und versuchte mitzuhören, aber sie preßte den Hörer fest an ihr Ohr.
Warum fragte sie ihn nicht, wo er sei? Warum fragte sie nicht, wann sie ihn wiedersehen würde? Ob es ihm gut gehe? Warum er nicht angerufen habe? Warum sah sie Jerry so an, ohne ein Anzeichen von Erleichterung?
Er legte die Hand auf ihre Wange, drehte ihr den Kopf herum und flüsterte ihr ins andere Ohr.
»Sagen Sie, daß sie ihn unbedingt sehen müssen. Daß Sie zu ihm kommen. Egal wohin.«
»Ja«, sagte sie wieder ins Telefon. »All right. Ja.«
»Sagen Sie's ihm! Sagen Sie, daß Sie ihn sehen müssen!«
»Ich muß dich sehen«, sagte sie schließlich. »Ich komme zu dir, egal wo du bist.«
Sie hielt noch immer den Hörer in der Hand. Sie zuckte die Achseln, eine fragende Bewegung, und ihre Augen waren noch immer auf Jerry gerichtet - nicht auf ihren Sir Galahad, sondern auf einen Teil jener feindlichen Welt, die sie von allen Seiten bedrängte.
»Ich liebe dich!« flüsterte er. »Sprechen Sie mir nach!«
»Ich liebe dich«, sagte sie kurz mit geschlossenen Augen, und legte auf, ehe er sie daran hindern konnte.
»Er kommt hierher«, sagte sie. »Der Teufel soll Sie holen.«
Jerry kniete noch immer neben ihr. Sie stand auf und entfernte sich von ihm.
»Weiß er es?« fragte Jerry.
»Ob er was weiß?«
»Daß ich hier bin?«
»Vielleicht.« Sie zündete sich eine Zigarette an.
»Wo ist er jetzt?«
»Ich weiß nicht.«
»Wann kommt er?«
»Er sagt bald.«
»Ist er allein.«
»Das hat er nicht gesagt.«
»Ist er bewaffnet?«
Sie stand auf der anderen Seite des Zimmers. Die gespannten grauen Augen hielten ihn noch immer in ihrem zornig-ängstlichen Blick fest. Aber Jerry kümmerte sich nicht um ihre Stimmung. Ein fieberhafter Tatendrang hatte alle anderen Gefühle hinweggefegt.
»Drake Ko. Der liebenswerte Mann, der Sie hier einlogiert hat. Ist er bewaffnet. Wird er mich abknallen? Hat er Tiu bei sich? Ich frage nur.«
»Im Bett ist er unbewaffnet, wenn es das ist, was Sie wissen wollen.«
»Wo gehen Sie hin?«
»Ich dachte, die Herren wollen vielleicht unter sich sein.« Er führte sie zurück zum Sofa und setzte sie so hin, daß sie auf die Flügeltür am Ende des Zimmers blickte. Die Türfüllungen bestanden aus undurchsichtigem Glas, dahinter lagen die Diele und die Wohnungstür. Er öffnete beide Flügel, so daß sie freien Blick auf jeden Ankömmling hatte.
»Haben Sie bestimmte Regeln für das Aufmachen?« Sie begriff seine Frage nicht. »In der Tür ist ein Guckloch. Will er, daß Sie immer erst nachsehen, ehe Sie jemand einlassen?«
»Er ruft von unten über das Haustelefon an. Dann sperrt er mit seinem eigenen Schlüssel auf.«
Die Wohnungstür bestand aus furnierter Hartfaser, nicht sehr solide, aber solide genüg. In Sarratt sagten sie, wenn man einen einzelnen ahnungslosen Eindringling abpaßt, bloß nicht hinter die Tür stellen, sonst kommt man nie wieder raus. Jerry fand ausnahmsweise, daß sie recht, hätten. Nur, wenn er sich auf der offenen Seite hielte, so würde er eine ideale Zielscheibe für aggressive Charaktere bilden, und Jerry war keineswegs überzeugt, daß Ko ahnungslos oder allein sein würde. Er könnte vielleicht hinter dem Sofa warten, aber wenn es zu einer Schießerei käme, geriete das Mädchen womöglich in die Feuerlinie, und das wollte er auf keinen Fall. Ihre wiedergewonnene Passivität und ihr lethargisches Starren trugen nicht zu seiner Beruhigung bei. Sein Brandyglas stand neben dem ihren auf dem Tisch. Er stellte es ruhig hinter eine Vase mit künstlichen Orchideen, leerte den Aschenbecher und legte eine aufgeschlagene Nummer von Vogue vor ihr auf den Tisch. »Spielen Sie Platten, wenn Sie allein sind?«
»Manchmal.« Er wählte Ellington.. »Zu laut?«
»Lauter«, sagte sie. Argwöhnisch stellte er den Ton leiser und beobachtete sie. Da flötete das Haustelefon zweimal in der Diele. »Vorsicht«, warnte er sie und ging mit der Pistole in der Hand zur offenen Seite der Wohnungstür, in Zielscheiben-Position, einen Meter von der Tür entfernt, nah genug, um vorzuspringen, weit genug, um schießen und sich zu Boden werfen zu können, was er vorhatte, als er halb in die Hocke ging. Er hielt die Waffe in der linken Hand und nichts in der rechten, denn auf diese Entfernung würde er beidhändig treffen, doch falls er zuschlagen müßte, brauchte er die freie Rechte. Er erinnerte sich, wie Tiu die Finger gekrümmt hielt und ermahnte sich, nicht zu nahe heranzugehen. Alles, was er tun würde, aus gemessener Entfernung zu tun. Einen Tritt in die Leiste, aber sich danach nicht auf ihn werfen. Aus der Reichweite dieser Hände bleiben. »Sagen Sie >Komm rauf<«, befahl er.
»Komm rauf«, wiederholte Lizzie ins Telefon. Sie legte auf und hakte die Kette aus.
»Wenn er hereinkommt, lächeln sie in die Kamera. Nicht schreien.«
»Scheren Sie sich zum Teufel.«
Sein geschärftes Ohr hörte den Ruck, mit dem der Lift hielt und das klimpernde »Ping« der Glocke. Er hörte Schritte sich der Tür nähern, ein einziges Paar Füße, stetige Schritte, und er dachte an Drake Kos komische, leicht affenartige Gangart in Happy Valley, wie die Knie sich durch die graue Flanellhose abzeichneten. Ein Schlüssel glitt ins Schloß, eine Hand griff um die Türkante, der Rest folgte offenbar ohne böse Ahnung. Inzwischen hatte Jerry bereits sein ganzes Gewicht in den Sprung gelegt und den Körper, der keinen Widerstand leistete, gegen die Wand gedrückt. Eine Ansicht von Venedig fiel zu Boden, das Glas splitterte, er warf die Tür zu, alles auf einmal, er fand eine Kehle und preßte den Pistolenlauf direkt in das weiche Fleisch. Dann wurde die Tür ein zweitesmal von außen aufgesperrt, sehr schnell, alle Luft wich aus seinem Körper, seine Füße flogen nach oben, eine Welle wahnsinnigen Schmerzes brach aus seinen Nieren und schleuderte ihn auf den dicken Teppich, ein zweiter Schlag traf ihn in die Leisten, so daß er mit einem keuchenden Laut die Knie zum Kinn hochriß. Durch die strömenden Tränen sah er die kleine wütende Gestalt Fawns, des Babysitters, der über ihm stand und zu einem dritten Schlag ausholte, und das starre Grinsen Sam Collins', der gelassen über Fawns Schulter blickte, um festzustellen, wie groß der Schaden sei. Und unter der Tür stand noch immer, mit der Miene ernster Befürchtung, während er den Mantelkragen nach Jerrys grundlosem Angriff auf seine Person wieder in Ordnung brachte, die verdutzte Gestalt seines einstigen Führers und Mentors, Mr. George Smiley, der atemlos seine Bluthunde zurückpfiff.
Jerry konnte sitzen, aber nur, wenn er sich vorbeugte. Er hielt beide Hände vor sich hin und die Ellbogen in die Leisten gepreßt. Der Schmerz flutete durch seinen ganzen Körper wie ein Gift, das sich von einem zentralen Punkt ausbreitet. Lizzie beobachtete ihn von der Tür her. Fawn lauerte auf einen weiteren Anlaß, ihn zu schlagen. Sam Collins saß auf der anderen Seite des Zimmers in einem Lehnstuhl und hatte die Beine übergeschlagen. Smiley hatte Jerry einen strammen Brandy eingegossen, beugte sich über ihn und drückte ihm das Glas in die Hand. »Was tun Sie hier, Jerry?« sagte Smiley. »Ich verstehe das nicht.«
»Flirten«, sagte Jerry und schloß die Augen, als eine neue Woge des Schmerzes über ihm zusammenschlug. »Habe eine unprogrammgemäße Zuneigung zu unserer Gastgeberin gefaßt. Tut mir leid.«
»Sie haben da etwas Gefährliches getan, Jerry«, tadelte Smiley. »Sie hätten das ganze Unternehmen vereiteln können. Wenn es nun Ko gewesen wäre! Die Folgen wären nicht auszudenken.«
»Das glaube ich Ihnen gern.« Er trank einen Schluck Brandy. »Luke ist tot. Liegt in meiner Wohnung mit zerschossenem Schädel.«
»Wer ist Luke?« fragte Smiley, der vergessen hatte, daß er ihm einmal bei Craw begegnet war.
»Niemand. Nur ein Freund.« Er trank nochmals. »Amerikanischer Journalist: Säufer. Kein Verlust für die Menschheit.« Smiley warf einen Blick zu Sam Collins hinüber, aber Sam zuckte die Achseln.
»Niemand, den wir kennen«, sagte er.
»Läuten Sie trotzdem an«, sagte Smiley.
Sam nahm das tragbare Telefon und ging damit aus dem Zimmer.
Er kannte sich in der Wohnung aus.
»Ihr habt sie wohl erpreßt, wie?« sagte Jerry und wies mit dem Kopf auf Lizzie. »Ungefähr das einzige auf der Welt, was ihr bisher noch nicht angetan wurde, soviel ich weiß.« Er rief zu ihr hinüber: »Wie geht's immer, altes Haus? Bitte um Verzeihung wegen der Balgerei. Wir haben doch nichts kaputtgemacht, wie?«
»Nein«, sagte sie.
»Haben Ihnen die Daumenschrauben angesetzt wegen Ihrer gottlosen Vergangenheit, wie? Zuckerbrot und Peitsche? Haben versprochen, daß alles vergeben und vergessen ist? Dummes Mädel, Lizzie. In diesem Spiel darf man keine Vergangenheit haben. Und auch keine Zukunft. Verboten!« Er wandte sich wieder Smiley zu:
»Mehr war nicht dran, George. Keine Philosophie im Spiel. Lizzie hat mir's einfach angetan.«
Er kippte den Kopf zurück und studierte Smileys Gesicht durch die halbgeschlossenen Lider. Und mit der Klarsichtigkeit, die der Schmerz zuweilen bewirkt, begriff er, daß er durch sein Tun auch Smileys Existenz in Gefahr gebracht hatte.
»Keine Angst«, sagte er freundlich. »Wird Ihnen nicht passieren, soviel steht fest.«
»Jerry« sagte Smiley.
» Yessir«, sagte Jerry und tat, als wolle er im Sitzen strammstehen. »Jerry, Sie verstehen nicht, was vorgeht. Wie sehr Sie alles durcheinanderbringen können. Milliarden Dollar und Tausende von Menschen könnten nicht einen Bruchteil dessen erobern, was wir bei diesem einzigen Unternehmen zu gewinnen haben. Ein Heerführer würde sich schief lachen bei dem Gedanken an ein so winziges Opfer für sein so enormes Resultat.«
»Verlangen Sie bloß nicht von mir, daß ich Ihnen aus der Klemme helfe, alter Junge«, sagte Jerry und blickte wieder zu Smileys Gesicht auf. »Sie sind die Eule, erinnern Sie sich? Nicht ich.«
Sam Collins kam zurück. Smiley blickte ihn fragend an.
»Zu den anderen gehört er auch nicht«, sagte Sam.
»Sie hatten es auf mich abgesehen«, sagte Jerry. »Statt dessen haben sie Luke erwischt. Er ist ein Riesenkamel. Oder war es vielmehr.«
»Und er ist in Ihrer Wohnung?« fragte Smiley. »Tot. Erschossen. Und in Ihrer Wohnung?«
»Schon eine ganze Weile.«
Smiley zu Collins: »Wir werden die Spuren verwischen müssen, Sam. Wir können uns keinen Skandal leisten.«
»Dann geh ich jetzt wieder zu ihnen zurück«, sagte Collins.
»Und erkundigen Sie sich nach den Flügen«, rief Smiley ihm nach.
»Zwei Plätze, Erster Klasse.«
Collins nickte.
»Kann den Burschen um die Welt nicht leiden«, gestand Jerry. »Noch nie gekonnt. Muß das Schnurrbärtchen sein.« Er deutete mit dem Daumen auf Lizzie. »Was weiß sie denn, worauf Sie gar so scharf sind, George? Ko flüstert ihr nicht seine teuersten Geheimnisse ins Ohr. Sie ist ein Rundauge.« Er wandte sich zu Lizzie um. »Oder?« Sie schüttelte den Kopf.
»Und wenn, dann könnte sie sich's nicht merken«, fuhr er fort. »In diesem Punkt ist sie unheimlich blöd. Wahrscheinlich hat sie überhaupt nie von Nelson gehört.« Wieder wandte er sich an sie. »Heh. Wer ist Nelson. Los, wer ist er? Kos toter kleiner Sohn, wie? Stimmt. Hat sein Schiff nach ihm getauft, ja? Und sein Hoppepferdchen.« Er drehte sich wieder zu Smiley um. »Haben Sie's jetzt gesehen? Blöd. Lassen Sie Lizzie aus dem Spiel, wenn ich Ihnen einen Rat geben darf.«
Collins war mit einem Zettel zurückgekehrt, auf dem die Abflugzeiten standen. Smiley las stirnrunzelnd. »Wir müssen Sie sofort nach Hause schicken, Jerry«, sagte er. »Guillam wartet unten mit einem Wagen. Fawn kommt auch mit.«
»Ich möchte nur schnell mal kotzen, wenn's möglich wäre.« Jerry griff nach Smileys Arm, um sich an ihm aufzurichten, und Fawn sprang sofort vorwärts, aber Smiley beorderte ihn zurück. »Abstand halten, widerlicher Gnom«, knurrte Jerry und streckte warnend einen Finger aus. »Ein Streich genügt. Der nächste wird nicht so einfach sein.«
Er schleppte sich gebückt dahin, die Hände in die Leisten gepreßt. Vor dem Mädchen blieb er stehen.
»Haben sie hier oben Palaver abgehalten, Ko und seine reizenden Knaben, altes Haus? Hat Ko seine Freunde auf ein Plauderstündchen hier heraufgebracht?«
»Manchmal.«
»Und Sie sorgten für genügend Mikrophone, wie eine brave kleine Hausfrau? Haben die Guten hereingelassen, die Lampe gehalten? Klar haben Sie das.« Sie nickte.
»Genügt immer noch nicht«, nörgelte er, während er zum Badezimmer humpelte. »Beantwortet immer noch nicht meine Frage. Muß noch mehr dahinterstecken. Viel mehr.« Im Badezimmer hielt er das Gesicht unters kalte Wasser, trank einen Schluck und übergab sich prompt. Auf dem Rückweg hielt er wieder nach Lizzie Ausschau. Sie war im Wohnzimmer, und so, wie man sich manchmal bei großer Nervenanspannung irgendeine banale Beschäftigung sucht, sortierte sie die Schallplatten und steckte jede in die dazugehörige Plattentasche. In einer entfernten Ecke hielten Smiley und Collins leise Kriegsrat. In nächster Nähe wartete Fawn an der Tür.
»Bye, altes Haus«, sagte er zu ihr. Er legte ihr die Hand auf die Schulter und drehte sie herum, bis die grauen Augen direkt in die seinen blickten.
»Goodbye«, sagte sie und küßte ihn, nicht ausgesprochen leidenschaftlich, aber immerhin intensiver, als sie die Kellner küßte.
»Ich war eine Art Requisit zur Tatvorbereitung«, erklärte er ihr. »Tut mir leid. Sonst tut mir nichts leid. Und passen Sie auch auf diesen Schuft Ko auf. Denn wenn's die dort nicht fertigbringen, ihn umzulegen, dann tu's vielleicht ich.« Er berührte die Spuren an ihrem Kinn, dann schlurfte er zur Tür, wo Fawn stand, und drehte sich nochmals um, um sich von Smiley zu verabschieden, der wieder allein war. Collins war zum Telefonieren weggeschickt worden. Smiley stand in einer Haltung da, die Jerry so vertraut an ihm war, die kurzen Arme leicht angehoben, den Kopf ein bißchen zurückgebeugt und im Gesicht einen halb schuldbewußten, halb fragenden Ausdruck, als hätte er gerade seinen Regenschirm in der U-Bahn vergessen. Lizzie hatte sich von den beiden Männern abgewandt und sortierte immer noch automatisch ihre Schallplatten. »Also, Grüße an Ann«, sagte Jerry. »Danke.«
»Sie haben unrecht, altes Haus. Weiß nicht wie, weiß nicht warum, aber Sie haben unrecht. Na ja, vermutlich ist es jetzt schon zu spät.« Wieder wurde ihm übel und sein Schädel dröhnte von den Schmerzen in seinem Körper. »Bloß einen Fußbreit näher«, sagte er zu Fawn, »und ich brech dir endgültig dein verdammtes Genick, verstanden?« Er wandte sich wieder an Smiley, der noch in genau der gleichen Haltung dastand und durch nichts erkennen ließ, ob er etwas gehört hatte. »Also dann, alles Gute«, sagte Jerry.
Mit einem letzten Nicken, das jedoch nicht dem Mädchen galt, hinkte Jerry hinaus in den Korridor, Fawn hinterher. Als sie auf den Lift warteten, sah er den eleganten Amerikaner unter seiner offenen Wohnungstür stehen und seinen Abtransport beobachten.
»Ach ja, Sie hätte ich fast vergessen«, rief Jerry sehr laut. »Sie sorgen für die Wanzen in ihrer Wohnung, wie? Die Briten erpressen sie, und die Yankees belauschen sie, das Glückskind kriegt's von allen Seiten.«
Der Amerikaner verschwand und schloß rasch die Tür hinter sich. Der Lift kam und Fawn stieß ihn hinein.
»Hände weg«, warnte ihn Jerry. »Der Name dieses Herrn hier ist Fawn«, teilte er den übrigen Liftbenutzern in lauter Stimme mit. Die meisten trugen Smoking und Pailettenkleider. »Er arbeitet beim britischen Geheimdienst und hat mir gerade vorhin die Eier poliert. Die Russen kommen«, schrie er in die teigigen gleichgültigen Gesichter. »Sie werden euch euer ganzes verdammtes Geld wegnehmen.«
»Besoffen«, sagte Fawn angewidert.
In der Halle beäugte ihn Lawrence, der Portier, mit deutlichem Interesse. Vor der Tür wartete eine blaue Peugeot-Limousine. Peter Guillam saß am Steuer. »Einsteigen«, herrschte er Jerry an.
Die Tür zum Beifahrersitz war abgeschlossen. Jerry kletterte in den Fond, Fawn folgte.
»Was zum Teufel fällt Ihnen denn eigentlich ein?« fragte Guillam durch die zusammengebissenen Zähne. »Seit wann reißen lausige Tagelöhner mitten in der Operation das Steuer herum?«
»Vorsicht«, warnte Jerry Fawn. »Bloß ein falscher Blick, und es kracht. Mein voller Ernst. Ich warne Sie. Offiziell.« Der Bodennebel war wieder eingefallen und wallte über den Kühler. Die vorüberhuschende Stadt präsentierte sich wie Bildausschnitte aus einem Trödelmarkt: ein gemaltes Bild, ein Schaufenster, Kabelstränge, die von einer Neonlampe hingen, ein Büschel erstickten Laubwerks; die unvermeidliche Baustelle unter Flutlicht. Im Spiegel sah Jerry einen schwarzen Mercedes nachfolgen, männlicher Fahrgast, männlicher Fahrer. »Die Vettern bilden das dicke Ende«, verkündete er. Ein Schmerzanfall im Unterleib ließ ihn fast ohnmächtig werden, und einen Moment lang glaubte er tatsächlich, Fawn habe ihn wieder geschlagen, doch es war noch die Nachwirkung vom erstenmal. In der Central Street bat er Guillam, anzuhalten, und kotzte vor den Augen der Passanten in den Rinnstein. Während er den Kopf durchs Fenster streckte, kauerte Fawn über ihm. Der Mercedes hinter ihnen hielt ebenfalls.
»Geht nichts über ein bißchen Schmerz«, rief er und setzte sich wieder hin, »damit das alte Hirn ab und zu wieder in Schwung kommt. Was, Peter?«
Guillam, der vor Zorn kochte, gab eine obszöne Antwort. »Sie verstehen nicht, was vorgeht, hatte Smiley gesagt. Wie sehr Sie alles durcheinanderbringen können. Milliarden Dollar und Tausende von Menschen könnten nicht einen Bruchteil dessen erobern, was wir zu gewinnen haben . . . « Wie? fragte er sich immer wieder. Was zu gewinnen? Nelsons Stellung in China war ihm nur andeutungsweise bekannt. Craw hatte ihm nur gesagt, was er unbedingt wissen mußte: Nelson hat Zugang zu den Kronjuwelen von Peking, Ehrwürden. Wer Nelson zu fassen kriegt, hat sich selber und seinem edlen Geschlecht unsterbliches Verdienst erworben.
Sie umrundeten den Hafen und hielten auf den Tunnel zu. Von Seehöhe aus wirkte der amerikanische Flugzeugträger seltsam klein vor der fröhlichen Kulisse von Kaulun. »Wie wird Ko ihn übrigens rausholen?« fragte er Guillam beiläufig. »Mit dem Flugzeug wird er's nicht noch einmal versuchen, soviel steht fest. Dafür hat Ricardo gesorgt, wie?«
»Rauskitzeln«, fauchte Guillam. Das war dumm von ihm, dachte Jerry triumphierend, er hätte nichts sagen dürfen, hätte die Klappe halten müssen.
»Soll er vielleicht schwimmen?« fragte Jerry. »Nelson durchquert Miss Bay. Dos ist doch nicht Drakes Stil, wie? Und überhaupt ist Nelson zu alt dafür. Würde erfrieren, sogar wenn die Haifische das Beste an ihm dranließen. Wie wär's mit dem Schweinetreck; wie wär's, wenn er mit den Grunzern rauskäme? Tut mir leid, daß Sie den großen Augenblick verpassen müssen, altes Haus, alles meine Schuld.«
»Mir tut's auch leid, wenn Sie's genau wissen wollen. Am liebsten würde ich Ihnen die Zähne einschlagen.«
In Jerrys Hirn ertönte ein Triumphmarsch. Es stimmt! dachte er. Darum geht es! Drake holt Nelson raus, und die ganze Bande steht schon Schlange für's Finish!
Hinter Guillams Lapsus - nur ein ei ziges Wort, aber nach den Maßstäben von Sarratt ganz unverzeihlich, absolut regelwidrig - kam eine Enthüllung zum Vorschein, so verwirrend wie alles, was Jerry zur Zeit erlebte, und in mancher Hinsicht noch weit bitterer. Wenn es für das Verbrechen der Indiskretion überhaupt einen mildernden Umstand gab - nach den Maßstäben von Sarratt gab es keinen -, dann lieferten ihn Guillams Erlebnisse während der letzten Stunde, die er teils damit verbracht hatte, Smiley im Höllentempo durch den Verkehr der rush hour zu kutschieren, teils im Wagen vor dem Eingang von Star Heights, in verzweifeltem ungewissem Warten. Alles, was er in London befürchtet hatte, seine schaurigsten Ahnungen in bezug auf die Enderby-Martello-Verbindung und die Rollen, die Lacon und Collins dabei spielten, hatten sich in diesen sechzig Minuten als zweifelsfrei richtig, wahr und berechtigt erwiesen, allenfalls als leicht untertrieben.
Zuerst waren sie zur Bowen Road in den Midlevels gefahren, zu einem so anonymen und nichtssagenden, riesigen Häuserblock, daß sogar die Bewohner die Hausnummern zweimal ansehen mußten, um sich nicht in ihrer eigenen Tür zu irren. Smiley drückte auf eine Klingel neben dem Namensschild Mellon, und Guillam fragte idiotischerweise: »Wer ist Mellon?«, im gleichen Augenblick, als ihm einfiel, daß es Sam Collins' Arbeitsname war. Aber welcher Wahnsinnige - so fragte er sich, nicht Smiley, mit dem er inzwischen den Lift betreten hatte - konnte auf die Idee verfallen, nach allen Verwüstungen, die Haydon angerichtet hatte, wieder den gleichen Arbeitsnamen zu benutzen, den dieser vor dem Sündenfall gehabt hatte? Dann öffnete Collins ihnen die Tür: er trug einen Morgenrock aus Thai-Seide, hatte eine braune Zigarette in der Spitze stecken und sein waschbares, bügelfreies Lächeln aufgesetzt. Schon hatten sie in einem Wohnzimmer mit Bambussesseln Platz genommen und Sam hatte zwei Transistor-Radios auf verschiedene Programme eingestellt, eine Wortsendung und ein Konzert, um während ihrer Unterhaltung wenigstens eine primitive Lauschabwehr zu sichern. Sam hörte zu - von Guillam nahm er keinerlei Notiz -, dann rief er unverzüglich Martello auf der direkten Leitung an - Sam hatte einen direkter Draht zu Martello, bitte zu beachten, kein Wählen, nichts, bloß den Hörer abheben - und fragte in verschlüsselten Wendungen, »wie es mit Chummy stehe«. Chummy, so erfuhr Guillam später, war unter Zockern ein Slangwort für Gimpel. Martello erwiderte, der Observierungswagen habe sich soeben zurückgemeldet. Chummy und Tiu säßen zur Zeit in Causeway Bay an Bord der Admiral Nelson, sagten die Observanten, und die Richtmikrophone nähmen (wie üblich) soviel Wasserklatschen auf, daß die Techniker Tage, wenn nicht Wochen brauchen würden, um die Nebengeräusche herauszufiltern und festzustellen, ob die beiden Männer überhaupt irgend etwas Interessantes gesagt hatten. Inzwischen sei ein Mann am Kai als statischer Observierungsposten mit dem Befehl zurückgelassen worden, Martello unverzüglich zu benachrichtigen, falls das Schiff die Anker lichten oder einer der beiden Obengenannten an Land gehen sollte. »Dann müssen wir sofort hin«, sagte Smiley. Also drängten sie sich wieder in den Wagen, und während Guillam dickurze Strecke nach Star Heights fuhr, vor sich hinkochte und hilflos der knappen Unterhaltung zu folgen versuchte, festigte sich mit jeder Sekunde seine Überzeugung, daß er ein Spinnennetz vor sich habe und daß nur George Smiley, besessen von der Verheißung des Unternehmens und von Karlas Bild, so kurzsichtig und vertrauensselig, und, auf seine besondere bizarre Art, auch so unschuldsvoll sein konnte, geradewegs mittenhinein zu stolpern. Georges Alter, dachte Guillam. Enderbys politischer Ehrgeiz, seine Vorliebe für den pro-amerikanische Falken-Stil - ganz zu schweigen von der Kiste Champagner und seiner übertriebenen Beweihräucherung der hinten Etage. Lacons halbherzige Unterstützung Smileys, während er insgeheim das Auge schweifen ließ und einen Nachfolger suchte. Martellos Zwischenlandung in Langley. Enderbys Versuch, erst vor ein paar Tagen, Smiley aus dem Unternehmen auszubooten und es Martello auf dem Präsentierteller zu servieren. Und jetzt, und das war das Beredtste und Bezeichnendste von allem, das Wiederauftauchen von Sam Collins als Joker im Spiel, mit einem direkten Draht zu Martello! Und Martello, der Himmel sei uns gnädig!, stellte sich an, als wüßte er nicht, woher George seine Informationen bezog - als gäbe es keinen direkten Draht.
Für Guillam liefen alle diese Fäden in einem einzigen Punkt zusammen, und er konnte es kaum erwarten, bis er Smiley beiseite nehmen und ihn mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln genügend weit und wenigstens für einen Augenblick vor seinem Vorhaben abbringen könnte, nur damit er wissen würde, worauf er sich einließ. Bis er ihm die Sache mit dem Brief erzählen könnte. Von Sams Besuch bei Lacon und Enderby in Whitehall. Aber nein! Er sollte statt dessen zurück nach England! Und warum sollte er zurück nach England? Weil ein reizender, dickköpfiger Lohnschreiber namens Westerby die Dreistigkeit besessen hatte, sich von der Leine loszureißen.
Auch wenn Guillam die Katastrophe nicht so unerbittlich hätte nahen sehen, wäre allein die Enttäuschung für ihn fast unerträglich gewesen. Er hatte um dieses Augenblicks willen viel erduldet. Ungnade und Exil in Brighton unter Haydon, den Laufburschen spielen für Old George, anstatt wieder als Außenagent zu arbeiten, sich mit Georges krankhafter Heimlichtuerei abfinden, die Guillam bei sich demütigend und selbstzerstörerisch nannte - aber wenigstens diese Reise hatte ein Ziel gehabt, bis ausgerechnet der verdammte Westerby ihm sogar das gestohlen hatte. Aber daß er nun nach London zurückkehren sollte und Smiley und den Circus, zumindest für die nächsten zweiundzwanzig Stunden, einem Rudel Wölfen überlassen, ohne auch nur die Möglichkeit, ihn zu warnen - das war für Guillam die grausame Krönung eines verfehlten Lebens. Und sollte es ihm helfen, wenn er Jerry dafür verfluchte, dann würde er ihn verfluchen, Jerry oder irgend jemand sonst. »Schicken Sie Fawn!«
»Fawn ist kein Gentleman«, würde Smiley erwidert haben oder etwas anderes gleichen Sinns.
Auch das kann man wohl behaupten, dachte Guillam und erinnerte sich an die gebrochenen Arme.
Auch Jerry war überzeugt, irgendwen den Wölfen vorzuwerfen; in diesem Fall allerdings eher Lizzie Worthington als George Smiley. Als er durch das Rückfenster des Wagens blickte, schien es ihm, als sei auch diese ganze Welt, durch die er fuhr, dem Untergang geweiht. Die Straßenmärkte waren menschenleer, die Gehsteige, sogar die Türnischen. Über ihnen ragte wie sprungbereit der Peak, den Krokodilsrücken vom zerzausten Mondlicht gesprenkelt. Es ist der Jüngste Tag der Kolonie, dachte er. Peking hat den sprichwörtlichen Telefonanruf getätigt. »Raus jetzt, aus der Traum.« Das letzte Hotel schloß seine Pforten, er sah die leeren Rolls-Royces wie Schrott rings um den Hafen liegen und die letzte europäische Matrone mit blaugespültem Haar, schwankend unter der Last ihrer zollfreien Pelze und Juwelen die Laufplanken des letzten Linienschiffes passieren, den letzten China-Experten in rasender Hast seine letzten Fehlkalkulationen dem Reißwolf einfüttern, sah die geplünderten Läden, die leere Stadt, die wie ein Leichnam auf die fleddernden Horden wartete. Einen Augenblick lang war alles für ihn eine einzige versinkende Welt - dies hier, Phnom Penh, Saigon, London; eine geborgte i Welt, und jetzt klopften die Gläubiger an die Tür, und Jerry selber bildete aus unerklärlichen Gründen einen Teil der Schuld, die eingefordert wurde.
Ich war diesem Amt immer dankbar dafür, daß es mir Gelegenheit gab, abzuzahlen. Fühlst du dich auch so? jetzt? Als Überlebender, sozusagen?
Ja, George, dachte er. Leg mir die Worte in den Mund, alter Junge. Genauso fühle ich mich. Aber vielleicht nicht ganz in dem Sinn, wie du es gemeint hast, altes Haus. Er sah Frosts lustiges, lebensfrohes kleines Gesicht, als sie tranken und feierten. Er sah es ein zweitesmal, in diesem grauenvollen Schrei erstarrt. Er spürte Lukes Freundeshand auf seiner Schulter und sah die gleiche Hand auf dem Fußboden liegen, über den Kopf zurückgestreckt, wie um einen Ball zu fangen, der nie kommen würde, und er dachte: der Haken ist der, altes Haus, daß in Wirklichkeit die anderen armen Teufel zur Kasse gebeten werden. Wie zum Beispiel Lizzie.
Er würde das eines Tages George gegenüber zur Sprache bringen, falls sie jemals, bei einem Gläschen, auf die Gretchenfrage zurückkommen sollten, warum wir eigentlich den Berg erklimmen. Er würde dann - nicht aggressiv, nicht daß ich Ihnen zu nahe treten möchte, altes Haus - darauf hinweisen, wie selbstlos und bereitwillig wir andere Menschen opfern, wie zum Beispiel Luke und Frost und Lizzie. George würde natürlich eine gute Antwort parat haben, vernünftig, wohlerwogen, rechtfertigend. George sah das große Ganze. Begriff das Gebot der Stunde. War ganz natürlich. Er war eine Eule.
Der Hafentunnel kam näher, und er dachte an ihren bebenden letzten Kuß und erinnerte sich gleichzeitig an die Fahrt zum Leichenschauhaus, denn vor ihnen stieg das Gerüst eines Neubaus aus dem Nebel, und es war hell erleuchtet wie das Gerüst auf der Fahrt zum Leichenschauhaus, und schweißglänzende Kulis mit gelben Helmen krabbelten darauf herum. Tiu kann sie auch nicht leiden, dachte er. Kann keine Rundaugen leiden, die über die Geheimnisse des Großen Herren plaudern. Er zwang seine Gedanken in eine andere Richtung und versuchte, sich vorzustellen, was sie mit Nelson machen würden: staatenlos, heimatlos, ein Fisch, den man fressen oder wieder ins Meer zurückwerfen konnte, ganz wie's beliebte. Jerry hatte schon einige solcher Fische gesehen: er war dabeigewesen, als man sie fing; als sie einem Blitzverhör unterzogen wurden; er hatte schon mehr als einen wieder über die Grenze abgeschoben, die sie erst vor so kurzer Zeit überschritten hatten, damit sie schleunigst wieder in Umlauf gesetzt würden, wie der Sarratt-Jargon es so reizend ausdrückte - »schnell, bevor sie überhaupt merken, daß er weg gewesen war«. Und wenn sie ihn nicht zurückschickten? Wenn sie ihn behielten, diesen stolzen Siegespreis, nach dem sie alle gierten? Dann würde Nelson, nach den Jahren des Ausquetschens, nach zwei oder drei Jahren - er hatte gehört, manchmal dauerte es sogar fünf -, sich zur Schar der Ewigen Juden des Spionagegewerbes gesellen, versteckt werden und wieder in Bewegung gesetzt, aufs neue versteckt, und von keinem geliebt, nicht einmal von denen, an die er seinen Glauben verriet.
Und was wird Drake mit Lizzie anstellen, fragte er sich, während dieses kleine Drama seinen Lauf nimmt? Welchem Schlamassel geht sie diesmal entgegen?«
Sie hatten den Zugang zum Tunnel erreicht und waren fast zum Stehen gekommen. Der Mercedes war direkt hinter ihnen. Jerry ließ den Kopf nach vorne fallen. Er legte beide Hände an die Leisten, schwankte vor und zurück und keuchte vor Schmerz. Aus einem improvisierten Polizeiposten, der einem Schilderhäuschen glich, lugte ein chinesischer Schutzmann neugierig herüber. »Wenn er zu uns herkommt, sagen Sie, wir haben einen Betrunkenen im Wagen. Zeigen Sie ihm das Erbrochene auf dem Boden«, fauchte Guillam.
Sie krochen in den Tunnel. Wegen des schlechten Wetters waren die Wagen auf zwei Fahrspuren in nördlicher Richtung Nase an Heck aufgereiht. Guillam hatte die rechte Spur gewählt, der Mercedes hielt in gleicher Höhe auf der linken. Im Spiegel sah Jerry durch die halbgeschlossenen Lider einen braunen Lastwagen, der hinter ihnen langsam bergab zuckelte. »Geben Sie mir Kleingeld«, sagte Guillam »Ich brauche Kleingeld, wenn ich rausfahre.«
Fawn grub in seinen Taschen, wobei er nur eine Hand benutzte. Der Tunnel rüttelte vom Dröhnen der Motoren. Ein Hupkonzert setzte ein. Zum alles durchdringenden Nebel kam nun noch der Gestank der Auspuffgase. Fawn schloß sein Fenster. Der Lärm schwoll an und wurde von den Wänden zurückgeworfen, bis der Wagen im Takt bebte. Jerry hielt sich die Ohren zu. »Tut mir leid, altes Haus. Glaube, mir wird wieder schlecht.« Aber diesmal beugte er sich nach Fawns Seite, der mit einem unterdrückten »Dreckschwein« hastig sein Fenster wieder herunterkurbeln wollte, als Jerrys Kopf in seinen Kiefer krachte und Jerrys Ellbogen ihm in die Leisten fuhr. Für Guillam, der zugleich steuern und sich hätte wehren müssen, hatte Jerry einen Handkantenschlag auf die Stelle zwischen Schultergelenk und Schlüsselbein vorgesehen. Er fing mit völlig entspanntem Arm an und legte erst im allerletzten Moment seine ganze Kraft in den Hieb. Der Aufschlag hob Guillam vom Sitz, er schrie auf, und der Wagen schwang nach rechts. Fawn hatte einen Arm um Jerrys Hals geschlungen und versuchte mit der anderen Hand, Jerrys Kopf darüberzubiegen, womit er ihn zweifellos getötet hätte. Aber in Sarratt wird ein Spezialschlag auf engstem Raum gelehrt, die sogenannte Tigerpranke, wobei man den Handballen von unten nach oben gegen die Luftröhre des Gegners sausen läßt, den Arm angewinkelt und die Finger straff nach hinten gereckt. Diesen Schlag führte Jerry jetzt, und Fawns Kopf fuhr mit solchem Schwung ins Rückfenster, daß die Sicherheitsscheibe sternförmig barst. Die beiden Amerikaner im Mercedes hielten die Blicke starr nach vorn gerichtet, als führen sie zu einem Staatsbegräbnis. Jerry überlegte, ob er Fawns Luftröhre mit Finger und Daumen abpressen sollte, aber es schien nicht nötig zu sein. Er schnappte sich seine Waffe aus Fawns Hosenbund und öffnete die rechte Tür. Guillam warf sich verzweifelt auf ihn und riß den Ärmel seines getreuen, aber sehr alten blauen Anzugs bis zum Ellbogen auf. Jerry hieb ihn mit der Pistole auf den Arm und sah, wie sich sein Gesicht vor Schmerz verzerrte. Fawn kriegte ein Bein durch die Tür, aber Jerry schmetterte sie mit aller Kraft zu und hörte ihn nochmals »Dreckschwein«! schreien, und danach rannte er einfach zurück in Richtung Stadt, gegen den Strom der Fahrzeuge. Er sprang und schlängelte sich zwischen den eingepferchten Wagen hindurch, schoß aus dem Tunnel und den Hügel hinauf, bis er zu dem kleinen Schilderhäuschen kam. Er glaubte, Guillam schreien zu hören. Er glaubte, einen Schuß zu hören, aber es konnte auch eine Fehlzündung gewesen sein. Seine Leiste schmerzte unwahrscheinlich, aber es war, als beschleunigte der Schmerz sein Tempo. Ein Polizist schrie vom Straßenrand herüber, ein anderer breitete die Arme aus, aber Jerry fegte ihn beiseite, und sie gewährten ihm die Narrenfreiheit des Rundauges. Er rannte, bis er ein Taxi fand. Der Fahrer konnte nicht Englisch, und er mußte ihm den Weg weisen: »Genau, altes Haus. Dort rauf. Links, du verdammter Idiot. Genau . . .« Bis sie bei ihrem Häuserblock ankamen.
Er wußte nicht, ob Smiley und Collins noch in der Wohnung waren oder ob Ko inzwischen aufgekreuzt war, womöglich mit Tiu, aber zu Rätselspielen war sehr wenig Zeit. Er klingelte nicht an der Tür, denn er wußte, daß die Mikrophone das Klingeln aufnehmen würden. Statt dessen fischte er eine Karte aus der Brieftasche, kritzelte etwas darauf, schob sie durch den Briefschlitz und wartete kauernd, zitternd und schwitzend wie ein Karrengaul, während er auf ihre Schritte lauschte und die Hände auf die Leisten preßte. Er wartete eine Ewigkeit, dann öffnete sich endlich die Tür, und sie stand vor ihm und starrte ihn an, während er versuchte, sich aufzurichten.
»Mein Gott, Sir Galahad«, flüsterte sie. Sie trug kein Make-up, und Ricardos Krallenspuren waren tief und rot. Sie weinte nicht; er glaubte nicht, daß sie je weinte, aber ihr Gesicht wirkte älter als alles übrige an ihr. Ehe er etwas sagte, schob er sie in den Korridor, und sie leistete keinen Widerstand. Er wies zur Tür, die auf die Feuertreppe führte.
»Wir treffen uns draußen in genau fünf Sekunden, verstanden?
Keine Telefonanrufe, keinen Krach beim Weggehen, und keine blöden Fragen. Warm anziehen. Los jetzt, altes Haus. Nicht gefackelt. Bitte.«
Sie blickte ihn an, seinen zerfetzten Ärmel, das schweißnasse Jackett, die Haarsträhne, die ihm übers Auge hing. »Die Wahl heißt: mich oder gar nichts«, sagte er. »Und glaub mir, es ist ein riesengroßes Garnichts.«
Sie tastete allein in die Wohnung zurück und ließ die Tür offen, kam blitzschnell wieder und verschloß zur Sicherheit nicht einmal die Tür. Auf der Feuerleiter kletterte er voran. Sie hatte eine Schultertasche umgehängt und trug einen Ledermantel. Sie hatte ihm eine Strickweste mitgebracht, vermutlich Drakes Weste, denn sie war ihm viel zu klein, aber er zwängte sich trotzdem hinein. Er leerte den Inhalt seiner Jackentaschen in ihre Handtasche und stopfte die Jacke in den Müllschlucker. Sie folgte ihm so lautlos, daß er sich zweimal umsah, ob sie überhaupt noch da war. Als sie im Erdgeschoß angelangt waren, lugte er durch das Drahtglasfenster und zog seinen Kopf gerade noch rechtzeitig zurück, als er den Rocker höchstpersönlich, begleitet von einem bleichen Untergebenen, auf die Portiersloge zumarschieren und seinen Polizeiausweis vorzeigen sah. Jerry und das Mädchen stiegen weiter abwärts bis zur Tiefgarage, und Lizzie sagte: »Nehmen wir das rote Kanu.«
»Rede doch keinen Blödsinn, wir haben es in der Stadt stehenlassen.«
Köpf schüttelnd führte er sie an den Wagen vorbei in ein schmutziges, nicht überdachtes Gelände voller Abfall und Bauschutt, das dem Hinterhof des Circus glich. Von dort führte zwischen triefnassen Betonwänden eine steile Treppe hinab zur Stadt, von schwarzen Ästen überhangen und von der gewundenen Fahrstraße immer wieder unterbrochen. Die Erschütterung des Treppablaufens verursachte heftigen Schmerz in seinen Leisten. Als sie das erstemal an die Fahrstraße kamen, führte Jerry das Mädchen stracks hinüber. Beim zweitenmal sahen sie in der Ferne das blutrote Blitzen eines Warnlichts, und er zog sie unter die Bäume, aus dem Scheinwerferkegel eines Polizeiwagens, der mit Höchstgeschwindigkeit bergab heulte. An der Unterführung fanden sie einen pak-pai, und Jerry gab ihm die Adresse an. »Wo zum Teufel ist das?« fragte Lizzie.
»Irgendwo, wo man sich nicht eintragen muß«, sagte Jerry. »Halt den Mund und laß mich den Pascha spielen, ja? Wieviel Geld hast du dabei?«
Sie öffnete die Tasche und zählte den Inhalt einer dicken Geldbörse nach.
»Das habe ich Tiu beim Mah jong abgewonnen«, sagte sie, und aus irgendeinem Grund wußte er, daß sie wieder einmal schwindelte. Der Fahrer setzte sie am Ende der Gasse ab, und sie gingen den kurzen Weg bis zu dem niedrigen Gitter zu Fuß. Im Haus brannten keine Lichter. Als sie zur Tür kamen, flog sie auf und ein Pärchen flitzte an ihnen vorbei und verschwand im Dunkeln. Sie traten ein, die Tür schloß sich hinter ihnen, sie folgten einem Lämpchen, das vor ihnen hergetragen wurde, bis zu einer eleganten Halle, in der Flötenmusik ertönte. Auf dem geschwungenen Sofa in der Mitte thronte eine adrette chinesische Dame, einen Stift in der Hand und ein Notizbuch auf dem Schoß, für alle Welt das Muster einer Chatelaine. Sie sah Jerry und lächelte, sie sah Lizzie, und ihr Lächeln wurde breiter. »Für die ganze Nacht«, sagte Jerry. »Selbstverständlich« erwiderte sie.
Sie folgten ihr die Treppe hinauf zu einem schmalen Korridor. Durch die offenen Türen sah man seidene Bettdecken, gedämpftes Licht und Spiegel. Jerry wählte das am wenigsten wollüstige Zimmer, lehnte das Angebot eines zweiten Mädchens - aller guten Dinge seien drei - ab, gab der Frau Geld und bestellte eine Flasche Remy Martin. Lizzie trat hinter ihm ein, warf die Umhängetasche auf das Bett und brach, noch während die Tür offen war, in ein nervöses Lachen der Erleichterung aus.
»Lizzie Worthington«, verkündete sie, »genau hier, sagten sie, würdest du einmal enden, du schamloses Weibsstück, und ich will verdammt sein, wenn sie nicht recht hatten!« Das Zimmer enthielt eine Chaiselongue, und Jerry legte sich darauf, kreuzte die Beine, hielt das Brandyglas in der Hand und starrte an die Decke. Lizzie legte sich ins Bett, und eine Weile sprach keiner von ihnen. Das Haus war sehr still. Dann und wann hörten sie aus dem oberen Stockwerk einen Lustschrei oder unterdrücktes Lachen, einmal eine Klage. Lizzie ging zum Fenster und sah hinaus.
»Was ist da draußen?« fragte er.
»Eine Ziegelmauer, ungefähr drei Dutzend Katzen, und mehrere Stapel von leeren Kisten.«
»Neblig?«
»Gräßlich.«
Sie schlenderte ins Badezimmer, kramte herum und kam wieder herein.
»Altes Haus«, sagte Jerry ruhig.
Sie war sofort auf der Hut.
»Bist du nüchtern und zurechnungsfähig?«
»Warum?«
»Ich möchte, daß du mir alles erzählst, was du ihnen erzählt hast. Und danach möchte ich, daß du mir alles sagst, was sie dich gefragt haben, ob du es beantworten konntest oder nicht. Und wenn du damit fertig bist, dann wollen wir's mit einem kleinen Spielchen versuchen, das sich Rückpeilung nennt, und gemeinsam herausfinden, wo diese ganze Schweinebande ihre Plätze im Weltenplan hat.«
»Es ist die Wiederaufführung eines alten Stücks«, sagte sie schließlich. _ »Welches Stück?«
»Das weiß ich nicht. Es soll alles genauso ablaufen, wie es schon einmal war.«
»Und was war schon einmal?«
»Was immer es war«, sagte sie müde, »es wird sich genauso noch einmal abspielen.«
Nelson
Es war ein Uhr morgens. Sie hatte ein Bad genommen. Sie kam aus dem Badezimmer, in ein weißes Laken gehüllt, ein Handtuch ums Haar geschlungen und war barfuß, so daß ihre Proportionen plötzlich ganz anders wirkten.
»Sogar Papierbanderolen sind über dem Klodeckel«, sagte sie. »Und die Zahnputzbecher in Cellophan verpackt.« Sie döste auf dem Bett, er auf dem Sofa. Einmal sagte sie: »Ich möchte schon, aber es ist nichts zu machen«, und er antwortete, nach Fawns gezieltem Fußtritt sei auch seine eigene Libido ein wenig angeschlagen. Sie erzählte ihm von ihrem Schulmeister - Mr. Bloody Worthington, nannte sie ihn - und ihrem »einzigen Versuch, auf dem Pfad der Tugend zu wandeln«, und von dem Kind, das sie ihm aus Höflichkeit geboren habe. Sie sprach von ihren schrecklichen Eltern und von Ricardo und was für ein Schwein er gewesen sei und wie sie ihn geliebt habe und wie ein Mädchen in der Constellation Bar ihr geraten habe, ihn mit Cytisin zu vergiften und daß sie ihm eines Tages, nachdem er sie halbtot geprügelt hatte, eine »verdammt große Dosis in seinen Kaffee getan« habe. Aber vielleicht hatte sie nicht das richtige Mittel erwischt, sagte sie, denn es sei weiter nichts passiert, als daß er tagelang krank gewesen sei, und »wenn es etwas Schlimmeres gibt als den gesunden Ricardo, dann ist es ein Ricardo an der Schwelle des Todes«. Wie sie ihm ein anderesmal tatsächlich einen Messerstich beigebracht habe, als er in der Badewanne saß, aber er habe einfach ein Stück Heftpflaster drübergeklebt und sie aufs neue verdroschen.
Wie sie und Charlie Marshall nach Ricardos offiziellem Verschwinden nicht an seinen Tod hatten glauben wollen und eine, wie sie es nannten, »Ricardo-lebt-Campagne« gestartet hatten, und wie Charlie sich hinter seinen alten Herrn geklemmt habe, alles genau, wie er es Jerry geschildert hatte. Wie Lizzie ihren Rucksack gepackt und nach Bangkok gegangen sei, geradewegs in die Suite von China Airsea im Erawan, in der Absicht, sich Tiu vorzuknöpfen, und statt dessen an Ko geriet, den sie erst einmal und nur sehr kurz gesehen hatte: bei einer Teegesellschaft in Hongkong, die eine gewisse Sally Cale gegeben hatte, ein Mannweib mit blaugetöntem Haar, im Antiquitätenhandel und nebenbei im Heroingeschäft tätig. Und wie sie im Erawan ein richtiges Boulevardstück gespielt habe, das mit Kos barschem Befehl, sie solle sich rausscheren, anfing, und damit endete, daß, wie Lizzie fröhlich sagte, »die Natur ihren Lauf nahm«: »Wieder ein Schritt auf Lizzie Worthingtons unbeirrbarem Marsch ins Verderben.« Und wie sie langsam und umständlich, während »Charlie Marshalls alter Herr zog und Lizzie Worthington schob«, wie man sagen könnte, einen sehr chinesischen Vertrag zustande brachten, mit Ko und Charlies altem Herrn als Signatarmächten und als Gegenstand der Transaktion erstens Ricardo und zweitens dessen Lebensgefährtin a. D., Lizzie. Jerry erfuhr ohne große Überraschung, daß sowohl sie wie Ricardo dankbar in das Abkommen einwilligten. »Du hättest ihn verschimmeln lassen sollen«, sagte Jerry und dachte an die Zwillingsringe an Ricardos rechter Hand und an den in die Luft gesprengten Ford.
Aber Lizzie hatte die Sache ganz anders und gar nicht so gesehen und tat es auch heute noch nicht.
»Er gehörte zu uns«, sagte sie. »Auch wenn er ein Schwein war.« Aber nachdem sie ihm sein Leben erkauft hatte, fühlte sie sich nicht mehr an ihn gebunden.
»Die Chinesen arrangieren alle Tage Hochzeiten. Warum also nicht Drake und Liese?«
Was es mit diesem Liese auf sich habe? wollte Jerry wissen. Warum Liese anstatt Lizzie?
Sie wußte es nicht. Das sei etwas, worüber Drake nicht spreche, sagte sie. Er habe ihr nur erzählt, daß es einmal eine Liese in seinem Leben gegeben habe und daß sein Wahrsager ihm versprach, eines Tages werde er eine zweite finden, und er war der Meinung, Lizzie komme der Sache nahe genug, also halfen sie ein bißchen nach und nannten sie Liese, und weil sie schon einmal dabei war, stutzte sie ihren Familiennamen zu einem schlichten Worth.
»Blonde Biene«, sagte sie zerstreut.
Der Namenswechsel habe auch einen praktischen Zweck gehabt, sagte sie. Nachdem Ko ihr einen neuen Namen gegeben hatte, habe er dafür gesorgt, daß ihre auf den alten Namen lautende Polizeiakte vernichtet wurde.
»Bis dieses Schwein Mellon auftaucht und sagt, er läßt eine neue erstellen, und darin werde dann auch stehen, daß ich sein verdammtes Heroin befördert habe«, sagte sie. Was sie wieder darauf brachte, wo sie jetzt waren. Und warum. Sie redeten gelöst dahin, als ruhten sie von der Liebe aus. Jerry lag auf dem Diwan, er war hellwach, Lizzie hingegen schlief im Sprechen immer wieder ein und nahm danach ihre Erzählung dort wieder auf, wo sie eingeschlummert war, und er wußte, daß sie ihm die Wahrheit sagte, denn es kam nichts darin vor, was er nicht schon von ihr wußte und verstand. Er begriff auch, daß Ko für sie zum Lebensanker geworden war. Er wachte über ihrer Odyssee, ähnlich wie es der Schulmeister getan hatte. »Drake hat nie im Leben ein Versprechen gebrochen«, sagte sie einmal, drehte sich um und fiel wieder in unruhigen Schlummer. Jerry dachte an die Waise: lüg mich bloß nie an. Stunden, Ewigkeiten später erwachte sie durch einen ekstatischen Schrei aus dem Zimmer nebenan.
»Herrje«, erklärte sie anerkennend. »Die ist wirklich im siebenten Himmel!« Der Schrei wiederholte sich. »Ach! War nur Mache!« Stille.
»Bist du wach?« fragte sie.
»Ja.«
»Was willst du jetzt machen?
»Morgen?«
»Ja.«
»Ich weiß nicht«, sagte er.
»Herzlich willkommen im Club«, sagte sie.
Ich muß neue Instruktionen von Sarratt kriegen. Unbedingt, dachte er. Einen Kassiberanruf bei Old Craw, dachte er. Den lieben alten George um einen seiner philosophischen Winke bitten, die er in letzter Zeit so gern spendiert. Er muß in der Nähe sein.
Irgendwo.
Smiley war in der Nähe, aber zu diesem Zeitpunkt hätte er Jerry überhaupt keine Hilfe zuteil werden lassen können. Er würde sein ganzes Wissen für ein bißchen Verständnis eingetauscht haben.
Die Isolierstation kannte keine Nacht, sie lagen oder lungerten unter dem Tageslicht des durchbrochenen Plafonds, die drei Vettern und Sam auf der einen Seite des Raums, Smiley und Guillam auf der anderen, und Fawn schritt unermüdlich die Reihe der Kinositze ab, ein Gefangener, der vor Wut beinah platzte, und preßte in jeder der winzigen Fäuste etwas, das wie ein Tennisball aussah. Seine Lippen waren schwarz und verschwollen, ein Auge war geschlossen. Unter seiner Nase hielt sich hartnäckig ein Blutgerinsel. Guillam trug den rechten Arm bis zur Schulter bandagiert und ließ kein Auge von Smiley. Auch die Blicke aller anderen waren auf Smiley gerichtet, aller, außer Fawn. Ein Telefon klingelte, aber es war der Nachrichtenraum im Oberstock, der meldete, daß Jerrys Spur mit Sicherheit bis Vientiane verfolgt werden konnte.
»Sagen Sie ihnen, die Fährte ist kalt, Murphy«, befahl Martello und hielt dabei den Blick auf Smiley gerichtet. »Sagen Sie ihnen irgendwas. Aber schaffen Sie uns die Bande vom Hals. Recht so, George?« Smiley nickte.
»Recht so«, sagte Guillam energisch an seiner Stelle. »Die Fährte ist kalt, honey«, echote Murphy ins Telefon. Das honey war eine Überraschung. Murphy hatte bislang keinerlei Symptome menschlicher Wärme gezeigt. »Wollen Sie zurückdrahten, oder muß ich es erledigen? Wir sind nicht interessiert, ja? Abblasen.« Er legte auf.
»Rockhurst hat ihren Wagen gefunden«, sagte Guillam zum zweitenmal, während Smiley unentwegt vor sich hinstarrte. »In einer Tiefgarage in Central. Ein Mietwagen steht auch drunten. Westerby hat ihn gemietet. Heute. Auf seinen Arbeitsnamen. George?«
Smiley nickte so schwach, als hätte er nur einen Anfall von Schläfrigkeit verscheuchen wollen.
»Wenigstens unternimmt er etwas, George«, sagte Martello anzüglich aus seiner Ecke, die er mit Collins und den schweigsamen Männern teilte. »Es heißt, wenn ein Elefant ausbricht, dann gibt's nur eins: hingehen und ihn erschießen.«
»Zuerst muß man ihn finden«, schnauzte Guillam, dessen Nerven am Zerreißen waren.
»Ich bin nicht einmal ganz sicher, ob George das möchte, Peter«, Martello war wieder in seinen onkelhaften Ton verfallen, »ich glaube, George sollte sich doch entschließen, der ernsten Gefährdung unseres gemeinsamen Unternehmens einige Aufmerksamkeit zu schenken.«
»Was sollte George denn tun, Ihrer Meinung nach?« konterte Guillam schroff. »Durch die Straßen laufen, bis er ihn zu fassen hat? Rockhurst veranlassen, Namen und Personenbeschreibung in Umlauf zu setzen, damit jeder Journalist in der ganzen Stadt erfährt, daß nach ihm gefahndet wird?«
Neben Guillam hockte Smiley gebückt und kraftlos wie ein alter Mann.
»Westerby ist ein Profi«, fuhr Guillam fort. »Er ist kein geborener Außenmann, aber er ist gut. Er kann sich in einer Stadt wie dieser monatelang versteckt halten, ohne daß Rockhurst davon Wind bekommt.«
»Auch mit dem Mädchen im Schlepptau?« sagte Murphy. Trotz des bandagierten Arms beugte Guillam sich zu Smiley hinüber.
»Es ist Ihre Operation«, drängte er flüsternd. »Wenn Sie sagen, wir müssen warten, dann warten wir. Aber geben Sie den Befehl.
Diese Burschen da lauern doch nur auf einen Vorwand, das Steuer zu übernehmen. Alles, nur kein Vakuum. Alles.«
Fawn, der vor den Kinositzen auf und ab wanderte, ließ ein sarkastisches Murmeln hören.
»Reden, reden, reden. Mehr ist nicht drin.«
Martello probierte es nochmals.
»George. Ist diese Insel nun britisch oder nicht? Ihr könnt doch diese Stadt jederzeit um- und -umkehren.« Er wies auf eine fensterlose Wand. »Da draußen ist ein Mann - Ihr Mann -, der offenbar entschlossen ist, Amok zu laufen. Nelson Ko ist der größte Fisch, den Sie oder ich jemals an Land ziehen können. Der größte in meiner ganzen Laufbahn, und, da wette ich um meine Frau, meine Großmutter und meine Plantage, sogar auch in der Ihrigen.«
»Keine Gegenwetten«, sagte Sam Collins, der Spieler, und grinste. Martello ließ nicht locker.
»Sollen wir uns von ihm die Beute abjagen lassen, George, während wir hier herumsitzen und darüber brüten, wieso Christus an Weihnachten zur Welt kam und nicht am sechsundzwanzigsten oder siebenundzwanzigsten Dezember?«
Endlich linste Smiley hinüber zu Martello, dann zu Guillam hinauf, der stocksteif neben ihm stand und die Schultern zurücknahm, um die Armschlinge zu straffen, und schließlich blickte er hinab auf seine ineinander verkrampften Hände, und während einer Zeitspanne, die nicht meßbar war, prüfte er sich im Geist und überdachte seine Suche nach Karla, den Ann seinen schwarzen Gral nannte. Er dachte an Ann und wie sie ihn wiederholt betrogen hatte auf der Suche nach ihrem eigenen Gral, den sie Liebe nannte. Er entsann sich, wie er, wider besseres Wissen versucht hatte, ihren Glauben zu teilen, ihn wie ein wahrer Gläubiger' mit jedem Tag zu erneuern, trotz ihrer anarchischen Auslegung seiner Bedeutung. Er dachte an Haydon, den Karla auf Ann angesetzt hatte. Er dachte an Jerry und das Mädchen, und er dachte an Peter Worthington, den Ehemann, und an den Hundeblick der Zusammengehörigkeit, den Worthington auf ihn gerichtet hatte, als er ihn in seinem Reihenhaus in Islington aufsuchte: »Du und ich, wir gehören zu denen, die man zurückläßt«, lautete die Botschaft.
Er dachte an Jerrys andere Liebesversuche auf seinen ungeraden Pfaden, an die halbbezahlten Rechnungen, die der Circus für ihn beglichen hatte, und es wäre naheliegend gewesen, Lizzie als eine von vielen abzutun, aber das konnte er nicht. Er war nicht Sam Collins, und er zweifelte keine Sekunde daran, daß in diesem Augenblick Jerrys Gefühle für das Mädchen eine Sache seien, für die Ann wärmstens eingetreten wäre. Aber er war auch nicht Ann. Dennoch fragte er sich einen schmerzhaften Moment lang, während er noch immer dasaß, von Unentschlossenheit gelähmt, ob Ann nicht recht habe damit, daß sein eigenes Streben nichts anderes mehr sei als ein privates Abenteuer inmitten der Chimären und Schreckgestalten seiner eigenen Unzulänglichkeit, in das er schlichte Gemüter wie Jerry bedenkenlos hineinzog. Sie haben unrecht, altes Haus. Weiß nicht wie, weiß nicht warum, aber Sie haben unrecht.
Allein deshalb, weil ich unrecht habe, hatte er einmal im Verlauf eines ihrer endlosen Streitgespräche zu Ann gesagt, hast du noch lange nicht recht.
Wieder hörte er Martello sprechen, diesmal in der Gegenwartsform.
»George, einige Leute warten mit offenen Armen auf das, was wir ihnen geben können. Was Nelson ihnen geben kann.«
Ein Telefon klingelte. Murphy nahm den Anruf entgegen und gab die Botschaft an den schweigenden Raum weiter: »Funktelefon vom Flugzeugträger, Sir. Navy Int. meldet die Dschunken genau nach Zeitplan, Sir. Südwind günstig und auf der ganzen Strecke gute Fänge. Sir, ich glaube, Nelson fährt gar nicht mit ihnen. Ich sehe auch nicht ein, warum er das tun sollte.«
Die allgemeine Aufmerksamkeit wandte sich jäh Murphy zu, den man noch nie eine eigene Meinung hatte äußern hören.
»Was zum Teufel soll denn das heißen, Murphy?« fragte Martello baß erstaunt. »Waren Sie vielleicht auch beim Wahrsager, mein Junge?«
»Sir, ich war heute morgen drunten auf dem Schiff, und die Leute dort haben eine Menge Unterlagen. Sie können sich nicht vorstellen, warum jemand, der in Schanghai lebt, jemals von Swatow aus starten sollte. Sie würden es ganz anders machen, Sir. Zuerst per Flugzeug oder Bahn nach Kanton und von dort mit dem Bus zum Beispiel nach Waichow. Sie sagen, das sei bedeutend sicherer, Sir.«
. »Die Dschunkenfischer sind Nelsons Leute«, sagte Smiley, als die Köpfe wieder zu ihm herumschwangen. »Sie sind sein Clan. Er macht lieber mit ihnen die Seereise, auch wenn es ein Risiko ist. Er vertraut ihnen.« Er wandte sich an Guillam. »Wir machen folgendes«, sagte er. »Sagen Sie Rockhurst, er soll eine Beschreibung von Westerby und dem Mädchen zusammen in Umlauf setzen. Er hat den Wagen unter seinem Arbeitsnamen gemietet, sagen Sie? Hat seine Fluchtpapiere benutzt?«
»Ja.«
»Worrell?«
»Ja.«
»Die Polizei sucht demnach Mr. und Mrs. Worrell, britische Staatsangehörige. Keine Fotos, und sorgen Sie dafür, daß die Beschreibungen vage genug sind, um keinen Verdacht zu erregen. Marty.«
Martello war ganz Aufmerksamkeit.
»Ist Ko noch immer auf seiner Jacht?« fragte Smiley.
»Sitzt seelenruhig drinnen, zusammen mit Tiu, George.«
»Es wäre möglich, daß Westerby versucht, mit ihm Kontakt aufzunehmen. Sie haben einen statischen Observierungsposten am Kai. Schicken Sie noch mehr Männer hin. Sagen Sie ihnen, sie müssen auch im Hinterkopf Augen haben.«
»Wonach sollen sie Ausschau halten?«
»Anzeichen von Unruhe. Das gleiche gilt für die Observierung seines Hauses. Sagen Sie -« er versank einen Augenblick in Gedanken, aber Guillams Besorgnis war unbegründet, »- sagen Sie - können Sie eine technische Störung von Kos Privattelefon simulieren?«
Martello blickte Murphy an.
»Sir, wir verfügen nicht über die nötigen Vorrichtungen«, sagte Murphy, »aber ich nehme an, wir könnten . . . «
»Dann kappen Sie's«, sagte Smiley einfach. »Schneiden Sie das ganze Kabel durch, wenn nötig. Möglichst in der Nähe einer Straßenbaustelle.«
Martello erteilte seine Anweisungen, schritt dann leise durch den Raum und ließ sich an Smileys Seite nieder. »Äh, George, jetzt wegen morgen. Glauben Sie, wir sollten, äh, auch einiges an Hardware bereithalten?« Vom Schreibtisch aus, wo er mit Rockhurst telefonierte, verfolgte Guillam den Dialog mit gespannter Aufmerksamkeit. Desgleichen Sam Collins aus seiner Ecke. »Schließlich kann man nicht wissen, was Ihrem Westerby einfällt, George. Wir müssen für alle Eventualitäten gerüstet sein, nicht wahr?«
»Halten Sie auf jeden Fall alles bereit. Inzwischen wollen wir, wenn Sie nichts dagegen haben, unsere Einsatzpläne so belassen, wie sie sind. Und die Zuständigkeit bleibt bei mir.«
»Klar, George. Klar«, sagte Martello übertrieben eifrig und begab sich, wiederum auf Zehenspitzen, als wäre er in der Kirche, in sein eigenes Lager zurück.
»Was hat er gewollt?« fragte Collins flüsternd und kauerte sich neben Smiley nieder. »Zu welchem Zugeständnis will er Sie beschwatzen?«
»Lassen Sie das, Peter«, rügte Smiley, ebenfalls leise. Er war plötzlich sehr ärgerlich. »Ich will das nie wieder hören. Ich kann Ihre byzantinischen Ideen von einer Palastverschwörung nicht dulden. Diese Leute sind unsere Gastgeber und Verbündeten. Wir haben mit ihnen ein schriftliches Abkommen. Wir haben auch ohne solche Phantastereien schon genügend Sorgen und können auf, wenn ich ehrlich sein soll, paranoide Wahngespinste verzichten. Also bitte -«
»Ich muß Ihnen etwas sagen . . . « begann Guillam, aber Smiley ließ ihn nicht zu Wort kommen.
»Sehen Sie zu, daß Sie Craw erwischen. Suchen Sie ihn notfalls persönlich auf. Die Fahrt würde Ihnen vielleicht gut tun. Sagen Sie ihm, Westerby ist los. Er soll uns sofort Mitteilung machen, wenn er etwas von ihm hört. Er wird wissen, was zu tun ist.« Fawn, der noch immer die Sesselfront abschritt, sah dem abziehenden Guillam nach, und seine Fäuste kneteten ruhelos, was immer in ihnen verborgen sein mochte.
Auch bei Jerry war es jetzt drei Uhr früh, und die Madame hatte ihm einen Rasierapparat gebracht, aber kein frisches Hemd. Er hatte sich rasiert und gesäubert, so gut es ging, aber sein Körper schmerzte noch immer von Kopf bis zu den Zehen. Er trat an das Bett, auf dem Lizzie lag. Er versprach ihr, in ein paar Stunden wieder da zu sein, bezweifelte jedoch, ob sie ihn überhaupt gehört hatte. Mehr Zeitungen drucken hübsche Mädchen anstatt Politik, erinnerte er sich, und die Welt wird verdammt besser dransein, Mr. Westerby.
Er nahm pak-pais, da er wußte, daß auf sie die Polizei ein weniger scharfes Auge hatte. Zwischendurch ging er zu Fuß. Das Marschieren tat ihm gut und brachte auch den im Geiste durchgespielten Prozeß seiner Entscheidungsfindung wieder in Gang, der auf dem Diwan des Hotelzimmers plötzlich ins Stocken geraten war. Er brauchte Bewegung, um die Richtung zu finden. Er hielt auf die Deep Water Bay zu und wußte, daß er heißen Boden betreten würde. Seit seiner Fahnenflucht würden sie sich an diese Jacht heften wie die Blutegel. Er überlegte, wen sie angesetzt, was sie eingesetzt haben mochten. Wenn es die Vettern waren, so mußte er nach einem Überaufgebot an hardware und an Leuten Ausschau halten. Es fing an zu regnen, und er fürchtete, daß der Nebel sich langsam lichten würde. Während er lautlos bergab trabte, war der Mond bereits teilweise sichtbar geworden, und Jerry erkannte in seinem bleichen Licht die Maklerdschunken, die jetzt ächzend an ihrer Vertäuung zerrten. Südostwind, stellte er fest, auffrischend. Für einen statischen Beobachtungsposten würden sie eine hochgelegene Stelle wählen, dachte er, und auf dem Felsvorsprung zu seiner Rechten sah er tatsächlich, unter Bäumen halb versteckt, einen ramponierten Mercedes-Laster mit Antenne und chinesischen Wimpeln. Er wartete und blickte in den rollenden Nebel, bis ein Wagen mit voll aufgeblendeten Scheinwerfern bergab daherkam und vorüberfuhr, und in der nächsten Sekunde raste er über die Straße, denn er wußte, daß sie ihn hinter den grellen Scheinwerfern, die direkt auf sie zuhielten, auch mit Hilfe sämtlicher Hardware der Welt nicht sehen konnten. Auf Seehöhe war die Sicht nahe Null, und er mußte sich zu dem wackeligen hölzernen Steg vorantasten, an den er sich von seiner früheren Erkundungstour erinnerte. Dann hatte er gefunden, was er suchte. Die gleiche zahnlose Alte saß in ihrem Sampan und grinste durch den Nebel zu ihm herauf.
»Ko«, flüsterte er. »Admiral Nelson. Ko«
Das Echo ihres Gegackers sprang über das Wasser.
»Po Toi!« kreischte sie. »Tin Hau! Po Toi!«
»Heute?«
»Heute.«
»Morgen?«
»Morgen!«
Er warf ihr ein paar Dollar zu, und ihr Lachen folgte ihm, als er davonschlich.
Ich habe recht, Lizzie hat recht, wir haben recht, dachte er. Ko besucht das Fest. Jerry hoffte zu Gott, Lizzie habe sich nicht vom Fleck gerührt. Sollte sie aufgewacht sein, dann wäre es ihr zuzutrauen, daß sie sich auf die Socken gemacht hat. Durch kräftiges Aufstampfen versuchte er, den Schmerz in Leisten und Rücken zu vertreiben. Mach es Zug um Zug, dachte er. Nichts Großes. Einfach so, wie's kommt. Der Nebel war wie ein Korridor, der in verschiedene Zimmer führt. Einmal begegnete er einem altersschwachen Wagen, der hart am Gehsteig entlangkroch, während der Fahrer seinem Schäferhund einen Auslauf verschaffte. Einmal zwei alten Männern in Unterhemden, die ihr Morgentraining absolvierten. In einem öffentlichen Park starrten ihn kleine Kinder aus einem Rhododendronbusch an, in dem sie zu wohnen schienen, denn sie hatten ihre Kleider über die Zweige drapiert und waren nackt wie die Flüchtlingskinder in Phnom Penh.
Lizzie saß auf dem Bett und wartete auf ihn, als er zurückkam, und sie sah schrecklich aus.
»Tu das nicht nochmal«, warnte sie und hängte sich bei ihm ein, als sie sich auf den Weg machten, um ein Boot und ein Frühstück zu suchen. »Verschwinde bloß nicht nochmal, ohne mir ein Wort zu sagen.«
In Hongkong gab es zunächst an diesem Tag überhaupt keine Boote. Die großen Fährschiffe, die den Ausflugsverkehr zu den Inseln besorgten, konnte Jerry nicht in Betracht ziehen. Er wußte, daß der Rocker sie dort dingfest machen ließe. Er wollte auch nicht hinunter zu den Buchten und Erkundigungen einziehen. Es war zu verdächtig. Er rief bei den im Telefonbuch aufgeführten Wassertaxis an, aber was dort vorhanden war, war entweder bereits weg oder zu klein für die Fahrt. Dann fiel ihm Luigi Tan ein, der Makler für alles, der im Auslandskorrespondenten-Club einen sagenhaften Ruf genoß: Luigi konnte alles beschaffen, von einer koreanischen Tanzgruppe bis zum verbilligten Flugbillett, und das schneller als irgendein anderer Makler in der Stadt. Sie fuhren mit einem Taxi zur anderen Seite von Wanchai, wo Luigi hauste, dann gingen sie zu Fuß. Es war acht Uhr morgens, aber der heiße Nebel hatte sich nicht verzogen. Die unbeleuchteten Transparente hingen schlaff wie ermattete Liebespaare über den schmalen Gassen: Happy Boy, Lucky Place, Americana. Der Duft aus übervollen Lebensmittelläden mischte sich mit dem Gestank von Benzin und Ruß. Durch schmale Mauerlücken erblickten sie manchmal einen Kanal. »Jeder kann Ihnen sagen, wo ich zu finden bin«, rühmte sich Luigi Tan immer. »Fragen Sie nur nach dem Großen mit dem einen Bein.«
Sie fanden ihn hinter seinem Ladentisch. Luigi war gerade groß genug, um drüberwegzusehen, ein winziger wendiger Halb-Portugiese, der sich früher seinen Lebensunterhalt als Boxer in den schmuddeligen Jahrmarktbuden von Macao verdient hatte. Die Ladenfront war sechs Fuß breit. Das Warenangebot reichte von neuen Motorrädern zu Relikten aus der Kolonialzeit, die er als Antiquitäten bezeichnete: vergilbte Lichtbilder von behüteten Damen in Schildpattrahmen, eine ramponierte Schiffskiste, das Logbuch eines Opiumclippers. Luigi kannte Jerry bereits, aber Lizzie gefiel ihm bedeutend besser, und er bestand darauf, daß sie voranging, so daß er ihr Hinterteil bewundern konnte, als er seine Gäste unter einer Wäscheleine hindurch zu einer Hütte im Hof führte. An der Tür klebte ein Schild mit der Aufschrift »Privat«. Das Innere wies drei Stühle und ein Telefon auf dem Fußboden auf. Luigi kauerte sich nieder, bis er wie eine Kugel aufgerollt war, und sprach chinesisch ins Telefon und englisch Richtung Lizzie. Er sei Großvater, sagte er, aber sehr viril, und habe vier Söhne, alle wohlgeraten. Sogar der Sohn Nummer vier sei schon selbständig.
Alle gute Fahrer, gute Arbeiter und gute Ehemänner. Außerdem, sagte er zu Lizzie, habe er einen Mercedes, komplett mit Stereo. »Vielleicht nehme ich Sie einmal auf eine Fahrt mit«, sagte er. Jerry überlegte, ob sie begriffen habe, daß er ihr die Ehe anbot oder doch etwas kaum Geringeres. Und, ja, Luigi glaubte, er habe auch ein Boot. Nach zwei Telefonanrufen wußte er, daß er ein Boot hatte, das er nur an seine besten Freunde auslieh, zu einem rein symbolischen Preis. Er gab Lizzie sein Täschchen mit Kreditkarten, damit sie nachzähle, wie viele Karten darin seien, dann seine Brieftasche, damit sie die Familienfotos bewundern konnte. Eines zeigte einen Hummer, den der Sohn Nummer vier kürzlich an seinem Hochzeitstag gefangen hatte - der Sohn war allerdings nicht zu sehen.
»Po Toi ganz schlecht«, sagte Luigi Tan, der noch immer am Telefon hing, zu Lizzie. »Sehr schmutzig. Rauhe See, lausiges Fest, schlechtes Essen. Warum wollen Sie dorthin?«
Wegen Tin Hau natürlich, sagte Jerry geduldig an ihrer Stelle.
Wegen des berühmten Tempels und wegen des Fests.
Luigi Tan wandte sich auch weiterhin ausschließlich an Lizzie.
»Gehen Sie nach Lantau«, riet er. »Lantau gute Insel. Nettes Essen, guten Fisch, nette Leute. Ich sage Ihnen, Sie gehen nach Lantau, essen bei Charlie, Charlie mein Freund.«
»Po Toi«, sagte Jerry energisch.
»Po Toi riesige Menge Geld.«
»Wir haben eine riesige Menge Geld«, sagte Lizzie mit reizendem Lächeln, und Luigi Tan blickte sie wiederum lange sinnend an und musterte sie von Kopf bis Fuß.
»Vielleicht fahre ich mit Ihnen«, sagte er zu ihr.
»Nein«, sagte Jerry.
Luigi fuhr die beiden nach Causeway Bay und begleitete sie auf dem Sampan. Das Boot war vierzehn Fuß lang, ein Motorboot, nichts Besonderes, aber Jerry hielt es für tüchtig, und Luigi sagte, es habe einen tiefen Kiel. Ein Junge lungerte im Heck und ließ einen Fuß ins Wasser baumeln.
»Mein Neffe«, sagte Luigi stolz und zauste den Haarschopf des Jungen. »Er Mutter in Lantau. Er bringt Sie nach Lantau, essen bei Charlie, machen schönen Tag. Sie bezahlen später.«
»Alter Junge«, sagte Jerry geduldig. »Altes Haus. Wir wollen nicht nach Lantau. Wir wollen nach Po Toi-. Nur nach Po Toi. Po Toi oder gar nichts. Setzen Sie uns dort ab, und fahren Sie zurück.«
»Po Toi schlechtes Wetter, schlechtes Fest, schlechte Insel. Zu nah am Chinameer. Menge Kommis.«
»Po Toi oder gar nichts«, sagte Jerry.
»Boot zu klein«, sagte Luigi, wodurch er das Gesicht verloren hatte, und es bedurfte Lizzies ganzen Charmes, damit er es wiederfand.
Es dauerte eine weitere Stunde, bis die Jungens das Boot startbereit hatten, und inzwischen blieb Jerry und Lizzie nichts anderes übrig, als im Schutz der Überdachung einer offenen Kabine zu sitzen und in gemessenen Schlückchen Remy Martin zu trinken. Immer wieder versank der eine oder andere von ihnen in träumerisches Nachdenken. Lizzie schlug dabei die Arme eng um sich und wiegte langsam den Oberkörper. Jerry hingegen zerrte an der Haarsträhne, die ihm in die Stirn fiel, und einmal riß er so heftig daran, daß Lizzie seinen Arm festhielt, und er lachte. Beinah lässig legte das Boot vom Hafen ab. »Bleib im Schatten«, befahl Jerry und legte zur Sicherheit den Arm um sie, um sie im dürftigen Schutz der offenen Kabine festzuhalten.
Der amerikanische Flugzeugträger hatte seine Gala abgestreift und lag grau und drohend, wie ein gezogenes Messer auf dem Wasser. Zuerst herrschte weiterhin stickige Windstille. An der Küste drängten Nebelschwaden gegen die grauen Hochhäuser, und braune Rauchsäulen zogen in einen weißen, ausdruckslosen Himmel. Auf dem flachen Wasser schwebte das Boot wie ein Ballon. Aber als sie die Wellenbrecher passiert hatten und Kurs nach Osten nahmen, schlugen die Wellen so heftig an die Bordwand, daß das ganze Boot krängte und krachte und sie sich einstemmen mußten, um nicht zu fallen. Der kleine Bug bäumte sich und ruckte wie ein schlechtes Pferd. Sie torkelten an Kränen und Lagerhäusern und Fabriken und den Trümmerfeldern zerwühlter Hänge vorüber. Sie liefen direkt vor den Wind, und Gischt sprühte von allen Seiten. Der Rudergänger lachte und krähte seinem Gehilfen etwas zu, und Jerry vermutete, daß sie über die verrückten Rundaugen Witze rissen, die sich einen stampfenden Bottich als Liebesnest ausgesucht hatten. Ein riesiger Tanker glitt an ihnen vorüber. Er schien stillzustehen. Braune Dschunken tanzten in seinem Kielwasser. Von den Werften her, wo ein Frachter eingedockt lag, blinkten ihnen die weißen Blitze der Schweißbrenner über das Wasser hinweg zu. Das Gelächter der Jungen beruhigte sich, und sie redeten jetzt vernünftig, denn nun waren sie auf offener See. Jerry blickte zurück und sah zwischen den schaukelnden Bordwänden von Transportschiffen die Insel langsam entschwinden, von der Wolkenbank waagerecht abgeschnitten wie ein Tafelberg. Wieder einmal hörte Hongkong auf zu existieren.
Sie passierten ein weiteres Vorgebirge. Als der Seegang kräftiger wurde, hörte das Boot zu stampfen auf, die Wolke über ihnen sank herab, bis ihr Bauch fast den Mast berührte, und eine Weile verblieben sie in dieser unterirdischen, unwirklichen Welt, glitten unter der schützenden Decke dahin. Plötzlich lichtete sich der Nebel, und sie gerieten in tanzendes Sonnenlicht. Von den üppigen Hügeln im Süden schickte ein orangefarbenes Positionsfeuer seine Signale durch die klare Luft. »Was tun wir jetzt?«fragte Lizzie leise und spähte durch die Luke. »Lächeln und beten«, sagte Jerry. »Ich lächle, du betest«, sagte sie.
Ein Lotsenboot zog längsseits vorüber, und Jerry war darauf gefaßt, die häßliche Visage des Rockers auf sie herunterglotzen zu sehen, aber die Mannschaft nahm keinerlei Notiz von ihnen. »Wer sind sie?« flüsterte Lizzie. »Was haben die vor?«
»Reine Routine«, sagte Jerry. »Hat nichts zu bedeuten.« Das Lotsenboot drehte ab. Es ist soweit, dachte Jerry ohne besondere Erregung, sie haben uns ausgemacht. »Bist du sicher, daß es nur Routine war?« fragte sie. »Hunderte von Booten fahren heute zum Fest«, sagte er. Ihr Boot hatte jetzt angefangen, heftig zu bocken. Fabelhaft seetüchtig, dachte er und hielt Lizzie eisern fest. Großartiger Kiel. Wenn das so weitergeht, bleibt uns die Entscheidung erspart. Das Meer nimmt sie uns ab. Es war eine jener Fahrten, von denen niemand Notiz nimmt, wenn man sie überlebt, schafft man es aber nicht, dann heißt es, man habe sein Leben leichtfertig weggeworfen. Der Ostwind konnte jederzeit in jähen Wirbeln auffrischen, dachte er. In der Zeit zwischen den Westmonsunen mußte man mit allem rechnen. Er lauschte besorgt auf den sprunghaften Galopp des Motors. Wenn er stirbt, enden wir auf den Felsen, dachte Jerry.
Plötzlich steigerten sich seine Alpträume ins Ungemessene. Das Butan, dachte er. Herrgott, das Butanl Als die Jungen das Boot herrichteten, hatte er gesehen, wie sie zwei Gasflaschen im Bugraum neben den Wassertanks verstauten, wahrscheinlich, um Luigis Hummer zu kochen. Wahnsinn, daß ihm das nicht sofort aufgefallen war. Er überlegte. Butan ist schwerer als Luft. Alle Flaschen lecken. Fragt sich nur, wie stark. Wenn die Wellen so hart gegen den Bug donnern wie jetzt, dann lecken sie schneller, und das entwichene Gas dürfte sich nun in der Bilge ausbreiten ungefähr zwei Fuß vom Zündfunken des Motors entfernt, und die Oxygenbeimischung erhöht die Entzündbarkeit. Lizzie war aus seinem Arm geschlüpft und stand im Heck. Das Meer wimmelte plötzlich von Booten. Aus dem Nichts hatte sich eine Flotte von Fischerdschunken formiert, und Lizzie beobachtete sie aufmerksam. Jerry packte sie am Arm und zog sie wieder unter das schützende Kabinendeck.
»Was glaubst du, wo du bist?« schrie er. »Bei der Regatta in Cowes, wie?«
Eine Weile musterte sie ihn schweigend, dann küßte sie ihn sanft, küßte ihn ein zweitesmal.
»Ruhig«, sagte sie, »nur ruhig.« Sie küßte ihn ein drittesmal, murmelte: »Ja«, als sei die erwartete Wirkung eingetreten, dann saß sie eine Zeitlang still da und blickte aufs Deck, hielt aber seine Hand fest.
Jerry schätzte, daß sie fünf Knoten vor dem Wind machten. Über ihnen surrte ein kleines Flugzeug. Er schob Lizzie hinter sich und blickte hastig zum Himmel, aber es war schon zu spät, er konnte die Beschriftung nicht mehr lesen. »Zuviel der Ehre«, dachte er.
Sie umrundeten die letzte Landspitze, das Boot schleuderte und ächzte im Gischtregen. Einmal hob sich die Schraube aufbrüllend aus dem Wasser. Als sie wieder aufprallten, stockte der Motor, würgte, entschloß sich aber dann doch, am Leben zu bleiben. Jerry berührte Lizzies Schulter und wies nach vorn, wo die kahle steile Insel Po Toi sich wie ein Scherenschnitt vor dem wolkengepeitschten Himmel abhob: zwei Gipfel, senkrecht aus dem Meer aufragend, der größere im Süden, und dazwischen ein Sattel. Die See war jetzt stahlblau, der Wind raste darüber hin, riß ihnen den Atem vom Mund und schleuderte ihnen Gischt wie Hagel ins Gesicht. Backbord lag Beaufort Island: ein Leuchtturm, eine Mole, keine Bewohner. Der Wind legte sich so jäh, als hätte es ihn nie gegeben. Nicht eine Brise grüßte sie, als sie in das spiegelglatte Wasser an der Leeseite der Insel gelangten. Die Sonne knallte unerbittlich herab.
Etwa eine Meile vor ihnen lag die Einfahrt zur Hauptbucht von Po Toi, und dahinter lagerten die flachen braunen Schemen der chinesischen Inseln. Bald konnten sie eine ganze, bunt zusammengewürfelte Flotte von Dschunken und Vergnügungsbooten erkennen, mit denen die Bucht vollgestopft war, und zugleich wehten die ersten Klänge von Trommeln und Zimbeln und wirrem Gesang über das Wasser zu ihnen. Auf dem Hügel hinter der Bucht lag das elende Dorf mit seinen flimmernden Blechdächern, und auf einem gesonderten kleinen Felsvorsprung thronte ein einzelnes massives Bauwerk, der Tin-Hau-Tempel. Ringsum ein Bambusgerüst, das als improvisierte Tribüne diente, eine gewaltige Menschenmenge, über der eine Rauchwolke hing, dazwischen sah man goldenes Funkeln. »Auf welcher Seite war es?« fragte er sie. »Ich weiß nicht. Wir sind zu einem Haus hinaufgeklettert und von dort aus weitergegangen.«
Sooft er mit ihr sprach, sah er sie an, aber jetzt wich sie seinem Blick aus. Er tippte dem Rudergänger auf die Schulter und wies in die Richtung, die er einschlagen sollte. Der Junge begann sofort zu protestieren. Jerry balancierte breitbeinig zu ihm hin und zeigte ihm ein Bündel Geldscheine, so ziemlich alles, was er hatte. Unwirsch riß der Junge das Steuer herum und manövrierte das Boot zwischen den übrigen Fahrzeugen hindurch an der Hafeneinfahrt vorbei zu einem kleinen Granitvorsprung, wo ein halbverfallener Anlegesteg zum Risiko einer Landung einlud. Hier war der. Festlärm viel lauter. Es roch nach Holzkohle und Spanferkel, und sie hörten gewaltige Lachsalven, aber im Augenblick sahen sie weder die Menge, noch konnte die Menge sie sehen. »Hier!« schrie Jerry. »Hier anlegen. Jetzt! Jetzt!« Der Anlegesteg kippte wie betrunken zur Seite, als Jerry und Lizzie ihn betraten. Sie waren noch nicht an Land, als das Boot auch schon gewendet und Kurs auf seinen Heimathafen genommen hatte. Niemand grüßte zum Abschied. Hand in +land kletterten sie den Felsen hinauf und gerieten direkt in eine Münzenjagd, die von einer großen und lachenden Menge verfolgt wurde. In der Mitte stand ein alter Mann mit einem Beutel voller Geldstücke, die er einzeln den Felsen hinunterwarf, während barfüßige Buben hinterherjagten und einander im Eifer des Gefechts beinah über den Rand der Klippen stießen.
»Sie haben ein Boot genommen«, sagte Guillam. »Rockhurst hat sich bei dem Besitzer erkundigt. Der Besitzer ist ein Freund Westerbys, und, ja, es waren Westerby und ein schönes Mädchen und sie wollten zum Tin-Hau-Fest nach Po Toi.«
»Und wie hat Rockkurst sich verhalten?« fragte Smiley. »Sagte, das sei dann wohl doch nicht das Paar gewesen, nach dem er suche. Hat sich dankend empfohlen. Enttäuscht. Auch die Hafenpolizei hat, allerdings verspätet, gemeldet, daß sie das Boot mit Kurs zum Festplatz gesichtet habe.«
»Sollen wir ein Beobachtungsflugzeug raufschicken, George?« fragte Martello nervös. »Navy Int. hat jeden Typ auf Lager.«
Murphy machte einen genialen Vorschlag: »Gehen wir doch einfach mit Hubschraubern los und fischen uns Nelson aus dieser letzten Dschunke!« meinte er.
»Murphy, halten Sie den Mund«, sagte Martello.
»Sie fahren zur Insel«, sagte Smiley unbeirrbar. »Das wissen wir.
Ich glaube nicht, daß wir Luftbeobachtung nötig haben, um es zu beweisen.«
Martello gab sich nicht zufrieden. »Dann sollten wir vielleicht ein paar Leute zu dieser Insel rausschicken, George. Vielleicht sollten wir doch endlich ein bißchen eingreifen.« Fawn erstarrte zur Salzsäule. Sogar seine Fäuste hatten aufgehört zu kneten.
»Nein«, sagte Smiley.
Auf Martellos Seite wurde Sam Collins' Grinsen ein bißchen dünner. »Gründe?« fragte Martello.
»Ko hat bis zum allerletzten Moment eine Möglichkeit. Er kann seinem Bruder signalisieren, daß er nicht landen solle«, sagte Smiley. »Schon die geringfügigste ungewöhnliche Bewegung auf der Insel könnte ihn dazu veranlassen.«
Martello stieß einen nervösen, ärgerlichen Seufzer aus. Er hatte die Pfeife beiseitegelegt und bediente sich kräftig aus Sams Vorrat an braunen Zigaretten, der unerschöpflich zu sein schien. »George, was will dieser Mann eigentlich?« fragte er gereizt. »Handelt es sich um eine Erpressungsgeschichte? Einen Bruch? Ich sehe nicht, wie ich es einordnen soll.« Ein gräßlicher Gedanke durchzuckte ihn. Seine Stimme sank zu einem Flüstern, und er wies mit ausgestrecktem Arm quer durch den Raum. »Sagen Sie mir jetzt um Gottes willen nicht, daß er zu diesen ». euen gehört, die uns zur Zeit zu schaffen machen! Sagen Sie mir nicht, daß er zu dieser Spezies von Spätzündern gehört, die der Kalte Krieg bekehrt hat und daß er jetzt öffentlich Reue und Leid erwecken will. Denn wenn dem so ist, und wenn wir dann in der nächsten Woche die ungeschminkte Lebensgeschichte dieses Burschen in der Washington Post lesen, George, dann jage ich persönlich die gesamte fünfte Flotte zu dieser Insel, wenn das die einzige Möglichkeit sein sollte, ihn mundtot zu machen.« Er wandte sich an Murphy. »Ich habe doch die nötigen Befugnisse, ja?«
»Ja.«
»George, ich möchte eine Landeabteilung hinschicken. Ihr könnt mitkommen oder zu Hause bleiben. Ganz wie's beliebt.« Smiley starrte Martello an, dann Guillam mit seinem bandagierten und unbrauchbaren Arm, dann Fawn, der dastand wie ein Turmspringer an der Kante des Sprungbretts, die Augen halb geschlossen, Fersen zusammengenommen, und langsam auf den Zehenspitzen wippte.
»Fawn und Collins«, sagte Smiley schließlich.
»Ihr beiden Jungens bringt sie runter zum Flugzeugträger und übergebt sie den Leuten dort. Murphy kommt zurück.«
Eine Rauchwolke bezeichnete die Stelle, an der Collins gesessen hatte. Wo Fawn stand, rollten langsam zwei Tennisbälle ein Stück über den Fußboden, bis sie liegenblieben.
»Gott sei uns allen gnädig«, murmelte jemand inbrünstig. Es war Guillam, aber Smiley achtete nicht auf ihn.
Im Löwen steckten drei Männer, und die Menge lachte, weil er nach den Zuschauern schnappte und weil ein paar selbsternannte picadores mit Stöcken nach ihm stachen, während er zum Getöse von Trommeln und Zimbeln den schmalen Pfad bergab tänzelte. Als der Zug das Kap erreicht hatte, machte er langsam kehrt, um den gleichen Weg wieder zurückzugehen, und in diesem Moment zog Jerry Lizzie schnell in die Mitte des Menschenstroms. Er hielt sich gebückt, damit seine Größe nicht auffiel. Der Steig war schlammig und voller Pfützen. Alsbald führte der Tanz sie am Tempel vorüber, dann über Betonstufen zum Sandstrand hinab, wo die Spanferkel gebraten wurden. »Wohin jetzt?« fragte er sie.
Sie führte ihn rasch nach links, weg von den Tanzenden, hinter einem elenden Dorf vorbei und über eine Holzbrücke, die eine kleine Meerzunge überspannte. Unter Lizzies Führung kletterten sie am Saum eines Zypressenwäldchens entlang, bis sie wieder allein waren. Sie standen nun hoch über der hufeisenförmigen Bucht und blickten hinab auf Kos »Admiral Nelson«, die genau in der Mitte thronte wie eine große Dame, umgeben von Hunderten von Vergnügungsbooten und Dschunken. An Deck war niemand zu sehen, auch kein Mitglied der Besatzung. Ein Rudel grauer Polizeiboote, fünf oder sechs, ankerte weiter draußen auf dem Meer.
Warum auch nicht, dachte Jerry, schließlich findet hier ein Volksfest statt.
Sie hatte seine Hand losgelassen, und als er sich zu ihr umwandte, starrte sie noch immer hinunter auf Kos Jacht, und er sah den Schatten der Ratlosigkeit auf ihrem Gesicht. »Ist das wirklich der Weg, über den er dich hinaufgeführt hat?« fragte er.
Es sei der gleiche Weg, sagte sie, wandte sich wieder ihm zu, sah ihn an, besiegelte oder wägte irgend etwas in ihren Gedanken. Dann zeichnete sie mit dem Zeigefinger ernst seine Lippen nach, in der Mitte, wo sie ihn geküßt hatte. »Mein-Gott«, sagte sie und schüttelte mit dem gleichen Ernst den Kopf. Sie setzten ihren Aufstieg fort. Jerry blickte hoch und sah den braunen Gipfel der Insel täuschend nah und an den Hängen terrassenförmig angelegte, verkommene Reisfelder. Sie erreichten ein kleines Dorf, das nur noch von mißtrauischen Hunden bewohnt wurde, dann geriet die Bucht außer Sicht. Das Schulhaus war offen und leer. Durch die Tür sahen sie Wandbilder von kämpfenden Jagdflugzeugen. Auf der Schwelle standen Waschkrüge. Lizzie schöpfte mit den hohlen Händen und wusch sich das Gesicht. Die Hütten waren mit Draht und Ziegelsteinen gegen die Taifune verankert. Der Pfad wurde sandig, das Gehen mühsamer. »Immer noch richtig?« fragte er.
»Einfach rauf«, sagte sie, als sei sie es leid, immer wieder das gleiche zu sagen. »Einfach rauf, und dann kommt das Haus und basta. Herrgott, wofür hältst du mich denn? Für einen kompletten Idioten?«
»Ich habe kein Wort gesagt«, sagte Jerry. Er legte den Arm um sie, und sie schmiegte sich hinein, hingegeben, wie damals in der Tanzbar in Hongkong.
Drunten beim Tempel brüllte die Musik auf, als jemand die Lautsprecher ausprobierte, danach kam das Wimmern einer langsamen Melodie. Die Bucht war wieder in Sicht. Am Ufer hatte sich eine Menschenmenge angesammelt. Jerry sah noch mehr Rauchschwaden aufsteigen, und in der windstillen Hitze auf dieser Seite der Insel erhaschte er den Duft von Räucherwerk. Das Wasser war blau und klar und ruhig. Ringsum brannten an Pfählen weiße Lichter. Kos Jacht hatte sich nicht von der Stelle gerührt, die Polizeiboote auch nicht. »Siehst du ihn?« fragte er.
Sie blickte angestrengt in die Menge. Sie schüttelte den Kopf. »Macht wahrscheinlich ein Mittagsschläfchen«, sagte sie leichthin.
Die Sonnenglut war höllisch. Als sie in die Schattenzone kamen, war es, als sei plötzlich die Dämmerung eingefallen, und als sie wieder ins Sonnenlicht traten, schlug es ihnen wie Flammenhitze ins Gesicht. Die Luft war erfüllt von Libellen. Der Abhang war mit großen Felsbrocken bestreut, aber dort, wo Büsche wuchsen, rankten und wucherten sie überall und trieben üppige Blütentrichter, rote und weiße und gelbe. Leere Konservendosen von Picknicks lagen in Mengen herum. »Und das ist das Haus, von dem du gesprochen hast?«
»Hab' ich dir doch gesagt«, sagte sie.
Es war eine Ruine: eine verfallene, braune Stuckvilla mit klaffenden Mauern, aber einer hinreißenden Aussicht. Sie stand stolz über einem ausgetrockneten Flußbett und wurde durch einen Betonsteg mit dem Weg verbunden. Der Schlamm stank und summte von Insekten. Zwischen Palmen und Farnkraut boten die Überreste einer Veranda einen weiten Blick über das Meer und die Bucht. Als sie über den Steg schritten, nahm er ihren Arm. »Also, dann wollen wir mal«, sagte er. »Kein Verhör. Du erzählst einfach.«
»Wir gingen hier herauf, wie ich schon gesagt habe. Ich, Drake und der verdammte Tiu. Die Boys trugen einen Korb und die Getränke. Ich sagte: >Wohin gehen wir?<, und er sagte >Picknick<. Tiu wollte mich nicht dabeihaben, aber Drake sagte, ich könne mitkommen. >Du haßt doch das Zufußgehen<, sagte ich. >Ich habe noch nie gesehen, daß du auch nur die Straße überquert hättest !< >Heute gehen wir zu Fuß<, sagte er und macht wieder einmal auf Industriekapitän. Also trotte ich mit und halte den Mund.« Eine dicke Wolke verdunkelte bereits den Gipfel über ihnen und rollte langsam bergab. Die Sonne war verschwunden. Im Handumdrehen hatte die Wolke sie erreicht, und sie waren allein am Ende der Welt und sahen nicht einmal bis zu ihren eigenen Füßen. Sie tasteten sich ins Haus. Lizzie setzte sich ein Stück von ihm entfernt auf einen herabgefallenen Dachbalken. Chinesische Sprichwörter waren mit roter Farbe an den Türpfosten aufgemalt. Auf dem Fußboden lagen überall Picknickabfälle und längliche Knäuel Verpackungspapier herum.
»Er sagt zu den Boys, sie sollen abschwirren, also schwirren sie ab. Er und Tiu führen ein langes ernstes Gespräch über das Thema der Woche, und mitten im Lunch fängt er an, englisch zu sprechen und sagt zu mir, Po Toi sei seine Insel. Hier sei er zum erstenmal gelandet, nachdem er China verlassen hatte. Die Bootsleute setzten ihn hier ab. >Meine Leute<, nennt er sie. Deshalb kommt er jedes Jahr zum Volksfest her und stiftet Geld für den Tempel, und deshalb mußten wir uns den verdammten Berg raufschinden zum Picknick. Dann sprechen sie wieder chinesisch, und ich habe der Eindruck, Tiu macht ihm Vorwürfe, weil er zu viel redet, aber Drake ist ganz aus dem Häuschen, aufgeregt wie ein kleiner Junge und will nicht hören. Dann steigen sie weiter hinauf.«
»Hinauf?«
»Hinauf zum Gipfel. >Die alten Wege sind die besten<, sagt er zu mir. >Wir sollten uns an das Bewährte halten<. Dann sein Baptistenmasche: >Halte am Guten fest, Liese. Das ist Gott gefällig.«
Jerry blickte hinauf in die Nebelbank über ihnen, und er hätte schwören können, das Knattern eines kleinen Flugzeugs zu hören, aber in diesem Augenblick war es ihm ziemlich egal, ob es so war oder nicht, denn er hatte die beiden Dinge, die ihm am Nötigsten waren. Er hatte das Mädchen bei sich, und er hatte die Information: Denn jetzt verstand er endlich genau, was das Mädchen Smiley und Sam Collins wert gewesen war und daß sie ihnen unwissentlich den Schlüssel zu Kos Absichten verraten hatte.
»Sie gingen also weiter zum Gipfel. Bist du mit ihnen gegangen?«
»Nein.«
»Hast du gesehen, wohin sie gingen?«
»Zum Gipfel. Sagte ich schon.«
»Und was taten die beiden auf dem Gipfel?«
»Dann schauten sie auf der anderen Seite hinunter. Redeten.
Deuteten. Redeten und deuteten wieder, und dann kommen sie wieder runter, und Drake ist noch viel aufgeregter, so, wie wenn er einen großen Coup gelandet hat und Erste Gattin ist nicht da, um ihm die Freude zu vermasseln. Tiu schaut finster drein, wie immer, wenn Drake zeigt, daß er mich gern mag. Drake will, daß wir noch bleiben und ein paar Cognacs trinken, also kehrt Tiu ärgerlich, nach Hongkong zurück. Drake wird zärtlich und beschließt, daß wir auf dem Schiff übernachten und am anderen Morgen zurückfahren, und das tun wir auch.« v »Wo hat das Boot geankert? Hier? In der Bucht?«
»Nein.«
»Wo?«
»Vor Lantau.«
»Ihr seid auf dem kürzesten Weg dorthin, wie?« Sie schüttelte den Kopf. »Wir machten die Runde um die Insel.«
»Diese Insel?«
»Es gab da eine Stelle, die er sich im Dunkeln ansehen wollte. Einen Küstenstreifen auf der anderen Seite. Die'Boys mußte ihn mit Laternen ableuchten. >Dort landete ich im Jahr einundfünfzig<, sagte er. >Die Bootsleute fürchteten sich, in den Haupthafen einzulaufen. Sie fürchteten sich vor der Polizei und vor den Geistern und den Piraten und den Zöllnern. Sie sagen, die Inselbewohner würden ihnen die Hälse abschneiden.<«
»Und in der Nacht?« sagte Jerry leise. »Als ihr vor Lantau geankert habt?«
»Da erzählte er mir, er habe einen Bruder, den er sehr liebe.«
»Hat er dir das zum erstenmal erzählt?« Sie nickte.
»Und hat er auch gesagt, wo dieser Bruder jetzt ist?«
»Nein.«
»Aber du hast es gewußt?« Diesmal nickte sie nicht einmal.
Von drunten drang der Festlärm in Fetzen durch die Wolke herauf. Jerry zog Lizzie behutsam auf die Füße. »Verdammte Fragerei«, murmelte sie.
»Es ist fast vorüber«, versprach er. Er küßte sie, und sie ließ es zu, reagierte aber nicht.
»Wir wollen raufgehen und uns umsehen«, sagte er. Nach zehn Minuten schien die Sonne wieder, und über ihnen tat sich der blaue Himmel auf. Unter Lizzies Führung kletterten sie eilig über mehrere Vorgipfel hinweg bis zum Sattel. Die Geräusche aus der Bucht waren verstummt, nur kreisende Möwen erfüllten die kälter gewordene Luft mit ihrem Geschrei. Sie hatten den Kamm erreicht, der Weg wurde breiter, sie gingen nebeneinander. Noch ein paar Schritte, und der Wind stürzte sich mit einer Macht auf sie, daß sie atemlos zurücktaumelten. Sie standen an der Felsenkante und blickten hinunter in einen Abgrund. Direkt zu ihren Füßen fiel die Klippe senkrecht in die See ab, das Kap verschwand unter der schäumenden Brandung. Wolkenkissen zogen von Osten heran, und hinter ihnen war der Himmel schwarz. Etwa zweihundert Meter weiter unten lag eine kleine Bucht, die von den Brechern nicht überspült wurde. Fünfzig Yards davon entfernt brach ein Gewirr brauner, von weißen Schaumringen umzogener Felsen den Anprall der Wogen. »Ist es dort?« schrie er durch den Wind. »Ist er dort gelandet? An diesem Küstenstück?«
»Ja.«
»Und das hat er abgeleuchtet?«
»Ja.«
Er ließ sie stehen, wo sie stand, und kroch langsam, fast bis zum Boden gebückt die Felskante entlang, während der Wind ihm um die Ohren pfiff und sein Gesicht mit klebrigem Salzbeschlag überzog, und sein Magen schmerzte wie wahnsinnig, er vermutete einen Darmriß oder eine innere Blutung oder beides. An der eingezogensten Stelle, ehe die Klippe sich wieder scharf meerwärts wandte, blickte er nochmals hinunter, und jetzt glaubte er, einen schmalen Pfad ausmachen zu können, der stellenweise nur ein Felseneinschnitt war oder eine Grasfurche, und sich mühsam bis zur Bucht hinunterschlängelte. In der Bucht lag kein Sand, aber einige der Felsen sahen trocken aus. Jerry kehrte zu Lizzie zurück und führte sie von der Felskante weg. Der Wind legte sich. Sie hörten den Festlärm jetzt wieder viel lauter als vorher. Das Krachen von Feuerwerkskörpern veranstaltete einen Spielzeugkrieg.
»Es ist sein Bruder Nelson«, erklärte er. »Für den Fall, daß du es noch nicht erraten hast: Ko holt ihn aus China heraus. Heute ist die entscheidende Nacht. Schwierig, denn er ist eine sehr gesuchte Persönlichkeit. Eine Menge Leute würden gern ein Schwätzchen mit ihm halten. Hier kam Mellon ins Spiel.« Er holte tief Atem. »Meiner Meinung nach solltest du zusehen, daß du hier schleunigst wegkommst. Was meinst du dazu? Drake möchte dich jedenfalls nicht in der Nähe haben, soviel steht fest.«
»Möchte er dich in der Nähe haben?« fragte sie. »Ich glaube, das beste für dich wäre, wenn du schleunigst zurück zum Hafen gingest«, sagte er. »Hörst du mir zu?«
»Natürlich«, brachte sie hervor.
»Du suchst dir eine nette, freundlich wirkende europäische Familie. Wirf dein Auge ausnahmsweise nicht auf den Pappi, sondern auf die Frau. Sag ihr, du hättest dich mit deinem Freund verkracht, und ob sie dich in ihrem Boot mit zurücknehmen könnten. Wenn sie einverstanden sind, dann übernachte bei ihnen, andernfalls gehst du in ein Hotel. Tische ihnen eine von deinen Geschichten auf. Herrgott, das ist doch keine Kunst, oder?«
Ein Polizeihubschrauber knatterte in einer langen Kurve über sie hinweg, vermutlich, um das Fest zu beobachten. Instinktiv faßte Jerry nach Lizzies Schulter und zog sie unter die Felsen. »Erinnerst du dich noch an das zweite Lokal, in das wir damals gingen, das mit der Big Band? Die Bar?« Er hielt sie noch immer fest.
Sie sagte: »Ja.«
»Ich hole dich morgen abend dort ab.«
»Ich weiß nicht«, flüsterte sie.
»Sei auf jeden Fall um sieben dort. Um sieben, verstanden?« Sie schob ihn sanft von sich weg, als wollte sie unbedingt allein sein.
»Sag ihm, ich habe mein Wort gehalten«, sagte sie. »Das ist ihm das Wichtigste. Ich habe den Vertrag erfüllt. Wenn du ihn siehst, dann sag ihm, >Liese hat ihr Wort gehalten.««
»Klar.«
»Nicht klar, ja. Sag es ihm. Er hat alles getan, was er versprochen hat. Er hat gesagt, er sorgt für mich. Und das hat er getan. Er hat gesagt, er läßt Ric laufen. Auch das hat er getan. Er hat immer sein Wort gehalten.«
Er hob ihren Kopf, faßte ihn mit beiden Händen, aber sie ließ sich nicht beirren.
»Und sag ihm, und sag ihm - sag ihm, sie ließen mir keine Wahl.
Sie haben mich in die Enge getrieben.«
»Sei um sieben Uhr dort«, sagte er. »Und warte, auch wenn ich mich ein bißchen verspäten sollte. Also, los jetzt, so schwierig ist es doch gar nicht, wie? Man muß nicht studiert haben, damit man das hinkriegt.« Er redete ihr gut zu, kämpfte um ein Lächeln, sehnte sich nach einem letzten Zeichen des Zusammengehörens, ehe sie sich trennten. Sie nickte.
Sie wollte etwas sagen, aber es ging nicht. Sie machte ein paar Schritte, drehte sich um und blickte zu ihm zurück, und er winkte - ein ausholendes Armschwenken. Sie tat nochmals ein paar Schritte und ging dann weiter, bis sie unter dem Hügelrand verschwunden war, aber er hörte sie rufen: »Also, um sieben«, oder glaubte wenigstens, sie zu hören. Nachdem sie außer Sicht war, kehrte Jerry zur Felskante zurück, wo er sich hinsetzte, um vor seiner Tarzannummer ein bißchen zu verschnaufen. Ein paar Zeilen von John Donne fielen ihm ein, sie gehörten zu dem Wenigen, was von der Schule an ihm haften geblieben war, obwohl er Zitate nie so ganz wortgetreu wiedergeben konnte oder jedenfalls glaubte, er könne es nicht: Auf einem hohen Berg, zerklüftet und steil, steht die Wahrheit, und wer Zu ihr will, muß dort hinauf, der muß dort hinauf. Oder so ähnlich. Eine Stunde, zwei Stunden lang lag er in tiefem Nachdenken im Windschatten des Felsens und sah zu, wie der Tag draußen über den chinesischen Inseln verdämmerte. Dann zog er seine Wildlederstiefel aus und fädelte die Schnürsenkel zu einem Fischgrätmuster, wie er es bei seinen Krickettstiefeln gemacht hatte. Dann zog er sie wieder an und schnürte sie so fest es ging. Es könnte wieder die Toskana sein, dachte er, mit den fünf Hügeln, auf die er vom Hornissenfeld aus gestarrt hatte. Nur daß er diesmal nicht vorhatte, irgend jemanden im Stich zu lassen. Nicht das Mädchen. Nicht Luke. Nicht einmal sich selber. Auch wenn es eine Menge Anstrengung kosten würde.
»Navy Int. meldet, Dschunkenflotte macht ungefähr sechs Knoten und hält den Kurs«, verkündete Murphy. »Verließ die Fischgründe punkt elf Uhr, als hielte sie sich genau an unseren Plan.«
Er hatte irgendwo eine Handvoll Spielzeugboote aus Bakelit aufgetrieben, die er auf der Wandkarte befestigen konnte. Er stand davor und wies stolz auf die Säule, die der Insel Po Toi zustrebte, Murphy war zurückgekommen, sein Kollege war bei Sam Collin und Fawn geblieben, also waren sie vier.
»Und Rockhurst hat das Mädchen gefunden«, sagte Guillam ruhig und legte den Hörer des anderen Telefons auf. Seine Schulter schmerzte jetzt heftig, und er war sehr blaß. »Wo?« fragte Smiley.
Murphy, der noch immer vor der Karte stand, drehte sich um. Martello, der am Schreibtisch saß und ein Logbuch über die Ereignisse führte, legte die Feder weg.
»Hat sie im Hafen von Aberdeen geschnappt, als sie an Land ging«, fuhr Guillam fort. »Sie hatte sich von Po Toi von einem Angestellten der Hong Kong and Shanghai Bank und dessen Frau mitnehmen lassen.«
»Also was geht vor?« fragte Martello, ehe Smiley sprechen konnte. »Wo ist Westerby?«
»Sie weiß es nicht«, sagte Guillam. »Na, aber!« protestierte Martello.
»Sie sagt, sie hatten Krach und fuhren in verschiedenen Booten zurück. Rockhurst sagt, man soll sie ihm einfach noch eine Stunde lang überlassen.«
Smiley sprach. »Und Ko?« fragte er. »Wo ist er?«
»Seine Jacht liegt nach wie vor im Hafen von Po Toi«, erwiderte Guillam. »Die meisten anderen Boote sind bereits abgefahren. Aber Kos Schiff liegt noch an der gleichen Stelle wie heute vormittag. Rührt sich nicht vom Fleck, sagte Rockhurst, und alle Mann unter Deck.«
Smiley linste hinüber zur Seekarte, dann zu Guillam, dann auf die Karte von Po Toi.
»Wenn sie Westerby erzählt hat, was sie Collins erzählte«, sagte er, »dann ist er auf der Insel geblieben.«
»Und mit welcher Absicht?« fragte Martello sehr laut. »George, zu welchem Zweck bleibt dieser Mann auf dieser Insel?«
Alle hatten den Eindruck, als verginge ein Jahrhundert.
»Er wartet«, sagte Smiley.
»Und worauf, wenn ich fragen darf?« bohrte Martello im gleichen hartnäckigen Ton weiter.
Niemand sah Smileys Gesicht. Es lag im Schatten. Sie sahen seine Schultern einsinken, sie sahen seine Hand zur Brille tasten, als wolle er sie abnehmen, sahen sie leer, wie besiegt, wieder auf den Rosenholztisch fallen.
»Was immer wir tun, wir müssen Nelson landen lassen«, sagte er. »Und was immer tun wir?« fragte Martello, stand auf und kam um den Tisch herum. »Westerby ist nicht hier, George. Er hat die Kolonie nie betreten. Er kann sie auf dem gleichen verdammten Weg verlassen!«
»Bitte, schreien Sie mich nicht an«, sagte Smiley. Martello scherte sich nicht darum. »Welches von beiden wird es sein, nur das ist die Frage: Verrat oder Versagen?« Guillam stellte sich ihm in voller Größe in den Weg, und einen spannenden Augenblick lang schien es möglich, daß er, gebrochene Schulter hin oder her, Martello physisch daran hindern wollte, auch nur einen Schritt näher an Smileys Platz heranzukommen. »Peter«, sagte Smiley ruhig. »Wie ich sehe, steht hinter Ihnen ein Telefon. Würden Sie so freundlich sein, es mir herüberzureichen?«
Mit dem Vollmond hatte der Wind sich gelegt, und die See war ruhig geworden. Jerry war nicht ganz bis zur kleinen Bucht hinuntergestiegen, sondern hatte im Schutz eines Gebüschs, etwa dreißig Fuß oberhalb, ein letztes Lager aufgeschlagen. Seine Hände und Knie waren aufgerissen, ein Ast hatte ihm die Wange zerkratzt, aber er fühlte sich in Ordnung: hungrig und hellwach. In den Mühen und Gefahren des Abstiegs hatte er die Schmerzen vergessen. Die Bucht war größer, als er sie sich vom Gipfelpunkt vorgestellt hatte, und in den Granitklippen waren auf Meereshöhe zahlreiche Höhlen. Er versuchte, Drakes Plan zu erraten - wie Lizzie nannte er ihn nun in Gedanken Drake -, er hatte den ganzen Tag verschiedene Möglichkeiten durchgespielt. Was immer Drake tun mußte, es würde vom Meer aus geschehen, denn dem alptraumhaften Abstieg über die Klippe war er nicht gewachsen. Jerry hatte zuerst überlegt, ob Drake versuchen könne, Nelson vor der Landung abzufangen, aber er sah keine sichere Möglichkeit, wie Nelson sich heimlich von der Flotte entfernen und einen See-Treff mit seinem Bruder bewerkstelligen könnte. Der Himmel wurde dunkel, die Sterne erschienen, und der Mondstreif wurde heller. Und Westerby, dachte er: was tut A jetzt? A war eine Ewigkeit entfernt von den gemeinschaftlich erarbeiteten Lösungen Sarratts, das stand fest.
Drake mußte außerdem wahnsinnig sein, wenn er versuchen sollte, seine Jacht auf diese Seite der Insel zu bringen, fand er. Sie war schwer manövrierbar und hatte zuviel Tiefgang, um eine windseitige Küste anzulaufen. Ein kleines Boot wäre besser, am besten ein Sampan oder ein Schlauchboot. Jerry kletterte die Klippe noch weiter hinunter, bis seine Stiefel auf Kiesel stießen, dann drückte er sich eng an den Felsen und sah zu, wie die Brecher herandonnerten und Phosphorfunken in der Gischt ritten. »Jetzt muß sie zurück sein«, dachte er. Mit ein bißchen Glück hat sie jemanden überreden können, sie ins Haus aufzunehmen, sie scherzt mit den Kleinen und wärmt sich bei einer Tasse Bouillon auf. Sag ihm, ich habe mein Wort gehalten, hatte sie gesagt. Der Mond stieg höher, und Jerry wartete immer noch, heftete die Augen angestrengt auf die dunkelsten Stellen, um sein Sehvermögen zu schärfen. Dann glaubte er mit Sicherheit, durch das Brausen der See das plumpe Klatschen von Wasser gegen einen hölzernen Schiffsleib und das kurze Aufknurren eines an- und abgestellten Motors zu hören. Er sah kein Licht. Er kroch den im Schatten liegenden Felsen entlang so nah an den Rand des Wassers heran, wie er irgend wagte, und kauerte sich dann wieder wartend nieder. Als die Brandungswelle ihn bis zu den Schenkeln durchnäßte, sah er, worauf er gewartet hatte: Im Gegenlicht des Mondes, keine zwanzig Yards von ihm entfernt, schaukelten die bogenförmige Kabine und der geschweifte Bug eines Sampan vor Anker. Er hörte ein Platschen und einen undeutlichen Befehl, und als er sich so weit duckte, wie die Bodenschrägung es zuließ, erblickte er vor dem sternenübersäten Himmel die unverwechselbare Gestalt Drake Kos in der anglo-französischen Baskenmütze, die vorsichtig an Land watete, dahinter Tiu, der ein M-16-Maschinengewehr auf beiden Armen trug. Na, da wären wir also, dachte Jerry, und meinte damit mehr sich selber als Drake Ko. Ende der langen Verfolgungsjagd. Lukes Mörder, Frostis Mörder - ob durch fremde oder eigene Hand, spielte keine Rolle -, Lizzies Liebhaber, Nelsons Vater, Nelsons Bruder. Wir begrüßen den Mann, der nie in seinem Leben ein Versprechen gebrochen hat. Auch Drake trug etwas, aber es war weniger bedrohlich, und Jerry wußte bereits, ehe er es sehen konnte, daß es eine Lampe und eine Batterie waren, ziemlich die gleiche Sorte, die er selber bei den Wasserspielen des Circus im Helford Estuary benutzt hatte, nur daß der Circus ultraviolett und billige Brillen mit Drahtgestell bevorzugte, die bei Regen oder in der Gischt nutzlos waren. Auf dem Strand tappten die beiden Männer murrend über die groben Steine, bis sie den höchsten Punkt erreicht hatten, dann verschwanden sie, wie Jerry selber, im Schatten des schwarzen Felsens. Er schätzte, daß sie sechzig Fuß von ihm entfernt waren. Er hörte ein Brummen und sah die Flamme eines Feuerzeugs, dann die rote Glut von zwei Zigaretten, und daraufhin hörte er das Murmeln chinesischer Stimmen. Könnte auch eine vertragen, dachte Jerry. Er bückte sich, streckte eine große Hand aus, grabschte Steine zusammen, bis sie voll war, und pirschte sich dann so geräuschlos wie möglich am Fuß des Felsens entlang auf die beiden roten Pünktchen zu. Nach seiner Berechnung war er acht Schritte von ihnen entfernt. Er hatte die Pistole in der linken, die Kiesel in der rechten Hand und lauschte auf das dumpfe Geräusch der Wellen, wie sie sich sammelten, überschlugen und zusammenstürzten, und er überlegte, daß es sich mit Drake bedeutend leichter plaudern ließe, wenn Tiu aus dem Weg sein würde.
Sehr langsam lehnte er sich in der klassischen Position des Außenfeldspielers nach hinten, hob den linken Ellbogen nach vorn, krümmte den rechten Arm nach hinten und holte zum Wurf aus. Eine Brandungswelle überschlug sich, er hörte das Scharren der Gegenströmung, das Grollen, als sich die zweite Welle sammelte. Immer noch wartete er, den rechten Arm zurückgezogen, die Kiesel fest in der schwitzenden Hand. Dann, als die Welle ihren Höhepunkt erreichte, schleuderte er die Steine mit aller Kraft hoch die Klippe hinauf, ehe er sich tief zusammenkauerte und den Blick starr auf die beiden Zigaretten gerichtet hielt. Er wartete, hörte die Kiesel gegen den Felsen prasseln und dann wie einen Hagelschauer niederstürzen. Im nächsten Moment vernahm er Tius kurzen Fluch und sah eines der roten Pünktchen in die Luft fliegen, als Tiu aufsprang, das Maschinengewehr in den Händen, den Lauf zur Klippe gerichtet, den Rücken Jerry zugewandt. Drake kroch in Deckung.
Zuerst schlug Jerry Tiu die Pistole auf den Kopf, wobei er darauf achtete, die Finger am Abzug zu behalten, bann verpaßte er ihm mit aller Kraft der geballten Rechten einen Zwei-Knöchel-Schlag - Faust nach abwärts und dann drehen, wie sie in Sarratt sagten - und als Finale einen Schwinger. Als Tiu zu Boden ging, traf Jerry seinen Backenknochen mit dem vollen Schwung des nach vorn schießenden rechten Stiefels und hörte das Schnappen des Kiefers. Und als er sich bückte, um die M16 an sich zu reißen, hieb er den Kolben in Tius Nieren und dachte dabei zornerfüllt an Luke und an Frost, aber auch an Tius billigen Witz über Lizzie, daß sie nicht mehr wert sei als die Fahrt von Kaulun nach Hongkong. Herzliche Grüße vom Pferdeschreiber, dachte er.
Dann blickte er zu Drake hinüber, der ein paar Schritte nähergekommen war, aber noch immer nur einen schwarzen Schatten vor der See bildete: eine gebeugte Silhouette mit abstehenden Ohren, die unter dem Rand seiner komischen Baskenmütze hervorragten. Erneut war eine kräftige Brise aufgekommen, oder Jerry bemerkte sie erst jetzt. Sie rumorte in den Felsen hinter ihnen und ließ Drakes weite Hosen flattern. »Ist das Mr. Westerby, der englische Zeitungsmann?«fragte Ko in genau dem tiefen, barschen Tonfall wie in Happy Valley. »Eben dieser«, sagte Jerry.
»Sie sind ein sehr politischer Mann, Mr. Westerby. Was zum Teufel wollen Sie hier?«
Jerry mußte erst wieder zu Atem kommen und fühlte sich im Moment nicht sprechbereit.
»Mr. Ricardo erzählt meinen Leuten, Sie beabsichtigen, mich zu erpressen. Geht es Ihnen um Geld, Mr. Westerby?«
»Botschaft von Ihrem Mädchen«, sagte Jerry, weil er das Gefühl hatte, sich zuerst dieses Versprechen entledigen zu müssen. »Sie sagt, sie habe ihr Wort gehalten. Sie ist auf Ihrer Seite.«
»Ich habe keine Seite, Mr. Westerby. Ich bin eine Ein-Mann-Armee. Was wollen Sie? Mr. Marshall sagt meinen Leuten, Sie sind eine Art Held. Helden sind sehr politische Persönlichkeiten, Mr. Westerby. Ich habe nichts übrig für Helden.«
»Ich bin gekommen, um Sie zu warnen. Man hat es auf Nelson abgesehen. Sie dürfen ihn nicht nach Hongkong zurückbringen. Er ist von allen Seiten eingekreist. Die Pläne, die man mit ihm hat, werden ihm für den Rest seines Lebens reichen. Und Ihnen auch. Die Falle ist für Sie beide aufgestellt.«
»Was wollen Sie, Mr. Westerby?«
»Ein Abkommen.«
»Niemand will ein Abkommen. Jeder will nur eine Ware. Durch das Abkommen wollen sie die Ware kriegen. Was wollen Sie?« wiederholte Drake und hob befehlend die Stimme. »Bitte sagen Sie es mir.«
»Sie, Mr. Ko, haben sich für Ricardos Leben das Mädchen gekauft«, sagte Jerry. »Ich dachte, vielleicht könnte ich sie um den Preis von Nelsons Leben zurückkaufen. Ich werde an Ihrer Stelle mit den betreffenden Leuten sprechen. Ich weiß, was sie wollen. Es wird sich arrangieren lassen.«
Das ist der letzte Fuß, den ich in der letzten Tür habe, dachte er. »Ein politisches Arrangement, Mr. Westerby? Mit Ihren Leuten? Ich habe eine Menge politische Arrangements mit ihnen getroffen. Sie haben mir gesagt, Gott liebe die Kinder. Haben Sie schon einmal gesehen, daß Gott ein asiatisches Kind geliebt hätte, Mr. Westerby? Sie haben mir gesagt, Gott ist ein kweilo und seine Mutter hat gelbes Haar. Sie haben mir gesagt, Gott sei ein Mann des Friedens, aber ich habe einmal gelesen, daß es nirgends so viele Bürgerkriege gegeben hat wie im Reich Christi. Sie haben mir gesagt . . . «
»Ihr Bruder steht direkt hinter Ihnen, Mr. Ko.« Drake fuhr herum. Zu ihrer Linken, von Osten her, zuckelten ein Dutzend oder mehr Dschunken in ungeordneter Formation und unter vollen Segeln südwärts quer durch den Mondstreif. Ihre Lichter perlten im Wasser. Drake fiel auf die Knie und begann fieberhaft nach der Laterne zu tasten. Jerry fand den Dreifuß und klappte ihn auf. Drake stellte die Laterne darauf, aber seine Hände zitterten so heftig, daß Jerry ihm helfen mußte. Jerry ergriff die Kontaktschnüre, riß ein Streichholz an und befestigte die Kabel an den Batteriepolen. Sie standen nebeneinander und starrten beide hinaus aufs Meer. Drake ließ die Lampe einmal aufleuchten, dann nochmals, zuerst rot, dann grün.
»Warten Sie«, sagte Jerry leise. »Es ist noch zu früh. Ganz ruhig, oder Sie verpatzen alles.«
Er schob Ko sanft beiseite, bückte sich, um durch das Okular zu blicken und machte die eilige Reihe der Boote aus. »Welches?« fragte Jerry. »Das letzte«, sagte Ko.
Jerry behielt die letzte Dschunke im Blickfeld, obwohl sie noch immer nur ein Schatten war, und signalisierte aufs neue, einmal rot, einmal grün, und Sekunden später hörte er Drake einen Freudenruf ausstoßen, als ein Antwortzeichen über das Wasser herüberflammte.
»Kann er sich danach orientieren?« sagte Jerry.
»Klar«, sagte Ko und ließ den Blick nicht von der See. »Klar. Er wird sich danach orientieren.«
»Dann lassen wir's jetzt. Nicht mehr blinken.«
Ko drehte sich zu ihm um, und Jerry sah die Erregung in seinen Zügen und fühlte sein Vertrauen.
»Mr. Westerby. Ich gebe Ihnen einen aufrichtigen Rat. Wenn Sie mich und meinen Bruder Nelson hereinlegen, dann ist Ihre Christenhölle ein sehr angenehmer Aufenthaltsort verglichen mit der, die meine Leute Ihnen bereiten würden. Aber wenn Sie mir helfen, gebe ich Ihnen alles. Das ist mein Vertrag, und ich habe nie im Leben einen Vertrag gebrochen. Auch mein Bruder hat gewisse Verträge geschlossen.« Er blickte aufs Meer hinaus. Die vorderen Dschunken waren außer Sicht. Nur die letzten sah man noch. Von weither glaubte Jerry das unregelmäßige Poltern eines Motors zu hören, aber er wußte, daß sein Denken gestreut war und es ebensogut das Donnern der Wogen sein konnte. Der Mond glitt hinter die Felsspitze, und der Schatten des Berges fiel wie eine schwarze Messerspitze auf das Meer, nur in der Ferne blieb noch ein silbriges Leuchten. Drake hatte sich zur Lampe niedergebeugt und stieß einen zweiten Jubelruf aus. »Hier! Hier! Sehen Sie, Mr. Westerby!« Durch das Okular konnte Jerry eine einzelne Geisterdschunke ausmachen, die, unbeleuchtet bis auf drei schwache Lampen, zwei grüne am Mast, eine rote steuerbords, auf sie zuhielt. Sie glitt aus dem Silber in die Schwärze, und er verlor sie aus den Augen. Hinter sich hörte er einen Schmerzenslaut von Tiu. Drake achtete nicht darauf, er preßte das Auge ans Okular und hielt einen Arm ausgestreckt wie ein Fotograf aus viktorianischer Zeit, während er leise Worte in chinesischer Sprache rief. Jerry rannte über den steinigen Strand, zog die Pistole aus Tius Gürtel, packte sich die M 16 auf, trug beides bis ans Wasser und schleuderte die Waffen hinein. Drake versuchte, das Lichtsignal zu wiederholen, konnte jedoch glücklicherweise den Knopf nicht finden, und Jerry kam gerade noch recht, um ihn zurückzuhalten. Wieder glaubte Jerry, ein Poltern zu hören, aber nicht von einem Motor, sondern von zweien. Er rannte hinaus bis zum Kap, blickte nach Norden und Süden auf der Suche nach einem Patrouillenboot, sah aber auch diesmal nichts, und wiederum gab er der Brandung und seiner überreizten Phantasie die Schuld. Die Dschunke war näher gekommen, lavierte auf die Insel zu, ihr braunes Segel, wie Fledermausflügel ausgebreitet, ragte plötzlich groß und schrecklich auffällig vor dem Himmel auf. Drake war ans Wasser gerannt und winkte und schrie übers Meer. »Nicht so laut!« zischte Jerry neben ihm. Aber Jerry war für Drake nicht mehr vorhanden. Drakes ganzes Leben gehörte Nelson. Aus dem Schutz des nahen Kaps taumelte Drakes Sampan hinüber zur schaukelnden Dschunke. Der Mond kam aus seinem Versteck, und einen Augenblick lang vergaß Jerry alle Ängste, als eine kleine graugekleidete Gestalt, kurz und stämmig, der Statur nach Drakes genaues Gegenteil, mit Kapokmantel und proletarischer Ballonmütze, sich über die Bordwand hinunterließ und in die wartenden Arme der Sampan-Besatzung sprang. Drake schrie wieder auf, die Dschunke blähte die Segel und glitt hinter das Kap, bis über den Felsen nur noch die grünen Lichter an den Toppen zu sehen waren, und dann verschwanden. Der Sampan steuerte auf die Bucht zu, und Jerry erkannte Nelsons gedrungene Erscheinung, als er im Bug stand und mit beiden Händen winkte, und Drake Ko, der mit seiner Baskenmütze wie ein Irrer am Ufer herumtanzte, winkte zurück. Das Motorengeräusch wurde ständig lauter, aber noch immer konnte Jerry seinen Ursprung nicht ausmachen. Das Meer war leer, und als er nach oben blickte, sah er nur die Hammerkopfklippe und ihren Gipfel schwarz vor den Sternen. Die Brüder hatten sich gefunden, sie stürzten einander in die Arme und verharrten engumschlungen, ohne sich zu bewegen. Jerry packte beide, versetzte jedem einen Stoß und schrie aus Leibeskräften: »Zurück ins Boot. Schnell!«
Aber sie sahen nur einander. Jerry rannte zum Wasser, zog den Bug des Sampan heran und hielt ihn fest. Er rief noch nach der beiden, als er den Himmel hinter dem Gipfel schon gelb und dann rasch immer heller werden sah, während das Motorengeräusch zu einem Brüllen anschwoll und drei gleißende Scheinwerfer aus schwarzbemalten Hubschraubern auf den Strand zielten. Die Felsen tanzten im Wirbel der Landescheinwerfer, das Meer furchte sich, Kiesel spritzten und flogen wie ein Schauer herum. Den Bruchteil einer Sekunde lang sah Jerry Drakes Gesicht sich hilfeflehend ihm zuwenden, als hätte er, viel zu spät, erkannt, wo die Hilfe lag. Er sagte etwas, aber der Lärm verschluckte seine Worte. Jerry stürzte vor. Nicht um Nelsons und noch weniger um Kos willen; sondern um dessentwillen, was die beiden miteinander verband und was ihn mit Lizzie verband. Aber lang ehe er sie erreichte, hatte sich ein dunkler Schwarm um die beiden Männer geschlossen, riß sie auseinander und schob Nelsons formlose Gestalt blitzschnell in den Frachtraum des Hubschraubers. Während des Überfalls hatte Jerry seine Waffe gezogen und hielt sie in der Hand. Er brüllte, konnte jedoch in den Hurrikanen des Kampfes nicht einmal seine eigene Stimme hören. Der Hubschrauber hob ab. Eine einzelne Gestalt blieb in der offenen Luke stehen und blickte hinunter, und vielleicht war es Fawn, denn er sah dunkel und irre aus. Dann fuhr ein orangefarbener Blitz aus der Lukenöffnung, dann ein zweiter und ein dritter, und danach hörte Jerry auf, mitzuzählen. In flammendem Zorn warf er die Hände in die Luft, sein offener Mund schrie noch immer, noch immer flehte schweigend sein Gesicht. Dann stürzte er und blieb liegen, bis kein Laut mehr zu hören war außer der Brandung, die an den Strand schlug, und Drake Kos hoffnungsloser, erstickter Klage gegen die siegreichen Armadas des Westens, die ihm seinen Bruder gestohlen haften und ihren hartbedrängten Krieger tot zu seinen Füßen liegen ließen.
Die Wiedergeburt
Der Circus geriet in einen wahren Siegestaumel, als von den Vettern die frohe Botschaft durchgegeben wurde. Nelson an Land gezogen, Nelson geschnappt, ohne daß ihm ein Haar gekrümmt wurde! Zwei Tage lang gingen wilde Spekulationen über Orden, Adelstitel und Beförderungen um. Jetzt müßten sie endlich irgendetwas für George tun, sie müßten einfach! Weit gefehlt, sagte Connie ätzend aus dem Abseits. Sie würden es George nie verzeihen, daß er die Scharte Bill Haydon ausgewetzt hatte. Auf die Euphorie folgte eine Zeit verwirrender Gerüchte. Connie und Doc di Salis zum Beispiel, die im »sicheren Haus« von Maresfield, jetzt mit dem Spitznamen »Delphinarium« belegt, wie auf glühenden Kohlen saßen, warteten eine volle Woche auf das Eintreffen ihres Opfers, und warteten vergebens. Vergebens warteten auch die Dolmetscher, Aufzeichner, Inquisitoren, Babysitter und Angehörigen zugeordneter Berufe, aus denen das Empfangs- und Befragungskomitee bestand. Das Treffen sei ins Wasser gefallen, sagten die Housekeepers. Es werde ein neues Datum festgesetzt. Nur Geduld, sagten sie. Aber bald darauf meldete eine Quelle bei der Immobilienfirma in der benachbarten Stadt Uckfield, daß die Housekeepers versuchten, aus dem Pachtvertrag auszusteigen. Und tatsächlich wurde das Team eine Woche später »bis auf weiteres« aufgelöst. Es trat nie wieder zusammen.
Als nächstes sickerte durch, daß Enderby und Martello gemeinsam - allein schon die Kombination schien befremdlich - einem anglo-amerikanischen Arbeitsausschuß vorstehen sollten. Der Ausschuß würde abwechselnd in Washington und London tagen und für die paritätische Verteilung des Delphin-Produktes, Codename CA VI AR, auf beide Seiten des Atlantik sorgen. Rein zufällig kam heraus, daß Nelson in die Vereinigten Staaten verbracht worden sei, in einen befestigten Bau in Philadelphia, den man schon vor einiger Zeit für ihn vorbereitet habe. Die Erklärung hierfür ließ sogar noch länger auf sich warten. Man habe das Gefühl - man war vermutlich eine bestimmte Person, aber Gefühle sind durch so viele Korridore schwer zu verfolgen -, Nelson werde dort sicherer aufgehoben sein. Körperlich sicherer. Denkt nur an die Russen. Denkt an die Chinesen. Außerdem, betonten die Housekeepers, hätten die Verarbeitungs- und Auswertungsstellen der Vettern weit günstigere Voraussetzungen, um den erwarteten, noch nie dagewesenen Materialanfall zu bewältigen. Außerdem, sagten sie, könnten sich die Vettern die horrenden Ausgaben leisten. Außerdem -
»Alles kalter Kaffee,« wetterte Connie, als sie davon erfuhr. Sie und di Salis warteten bedrückt auf die Einladung zur Mitarbeit im Team der Vettern. Connie ließ sich sogar Injektionen verabreichen, um in Form zu sein, aber die Einladung erging nicht. Weitere Erklärungen. Die Vettern hätten einen neuen Mann in Harvard, sagten die Housekeepers, als Connie im Rollstuhl bei ihnen anrauschte. »Wer?« fragte sie zornig.
Ein Professor Soundso, jung, Moskau-Spezialist. Er habe sich die Beobachtung der dunklen Seite der Moskauer Zentrale zur Lebensaufgabe gemacht, sagten sie und erst unlängst eine Arbeit fertiggestellt - nur zur Verbreitung im Dienstbereich -, basierend auf geheimdienstlichen Archivstudien, worin er auf das Maulwurfprinzip und sogar, in verschleierten Wendungen, auf Karlas Privatarmee zu sprechen gekommen sei. »Klar ist er das, dieser elende Wurm!« entfuhr es Connie unter bitteren Tränen der Enttäuschung. »Und er hat es alles aus Connies verdammten Berichten zusammengeklaut, oder? Und der Kerl heißt Culpepper, und er weiß über Karla genausoviel wie mein großer Zeh!«
Die Housekeepers vermochte indes nicht einmal der Gedanke an Connies großen Zeh aus dem Tritt zu bringen. Der neue Ausschuß hatte sich für Culpepper entschieden, nicht für Sachs. »Wartet nur, bis George zurückkommt!« drohte Connie ihnen mit Donnerstimme. Die Drohung machte erstaunlich wenig Eindruck.
di Salis kam nicht besser weg. China-Spezialisten gingen in Langley zwölfe auf ein Dutzend, wurde ihm erklärt. Eine wahre Schwemme, alter Junge. Tut uns leid, aber es ist ein Befehl von Enderby, sagten die Housekeepers. »Von Enderby?« echote di Salis.
Vom Ausschuß, sagten sie vage. Ein Mehrheitsbeschluß. Also wandte sich di Salis an Lacon, der in solchen Fällen gern als Ombudsman der kleinen Leute auftrat, und Lacon ging mit di Salis zum Lunch, und danach teilten sie sich die Rechnung, denn Lacon war nicht dafür, daß Staatsdiener sich gegenseitig auf Kosten der Steuerzahler zum Essen einluden.
»Übrigens, was haben Sie alle für ein Gefühl in bezug auf Enderby«, fragte er einmal während der Mahlzeit, und unterbrach damit di Salis' Jereminade über seine Vertrautheit mit den Chiu-Chow- und Hakka-Dialekten. Gefühl spielte im Moment eine große Rolle. »Macht er sich gut dort drüben? Ich hätte gedacht, die Art, wie er die Dinge sieht, sage Ihnen zu. Ist er nicht ziemlich realistisch? Was würden Sie sagen?« Realistisch bedeutete in Whitehall in jenen Tagen: auf der Seite der Falken.
di Salis eilte zum Circus zurück und berichtete Connie Sachs getreulich von dieser erstaunlichen Frage - was Lacon natürlich beabsichtigt hatte -, und danach wurde Connie nur noch selten gesehen. Sie verbrachte die Zeit damit, still »ihr Bündel zu schnüren«, wie sie es nannte: will heißen, ihr Archiv über die Moskauer Zentrale für die Nachwelt zu ordnen. Es gab im Haus einen jungen Wühlmäuserich, der sich ihrer Gunst erfreute, einen linkischen, aber liebenswürdigen jungen Mann namens Doolittle. Dieser Doolittle durfte zu ihren Füßen sitzen, während sie ihm weise Lehren zuteil werden ließ.
»Die alte Ordnung wird aus dem Haus gejagt«, prophezeite sie jedem, der es hören wollte. »Dieser Arschkriecher Enderby schlängelt sich durch die Hintertür rein. Ein Pogrom.« Zunächst begegnete man ihr mit dem gleichen Spott, dem Noah sich ausgesetzt sah, als er anfing, seine Arche zu bauen. Inzwischen nahm Connie, die auch die neue Lage richtig beurteilte, Molly Meakin beiseite und überredete sie, um ihre Entlassung einzugeben. »Sagen Sie den Housekeepers, Sie wollten sich um etwas Befriedigenderes umsehen, meine Liebe«, riet sie unter vielem Zwinkern und Zwicken. »Zumindest werden Sie eine Gehaltserhöhung herausholen.«
Molly befürchtete, beim Wort genommen zu werden, aber Connie kannte das Spiel zu gut. Also schrieb Molly ihr Entlassungsgesuch und erhielt sofort Anweisung, nach Dienstschluß vorzusprechen. Gewisse Veränderungen lägen in der Luft, vertrauten ihr die Housekeepers unter dem Siegel der Verschwiegenheit an. Man beabsichtige, eine jüngere und energischere Dienststelle aufzubauen und sie enger an Whitehall zu binden. Molly versprach feierlich, ihre Entscheidung nochmals zu überdenken, und Connie Sachs machte sich mit noch größerer Entschlossenheit ans Packen. Und wo war George Smiley nun während dieser ganzen Zeit? Im Fernen Osten? Nein. In Washington? Unsinn! Er war wieder in der Heimat und drückte sich irgendwo auf dem Land herum - Cornwall gefiel ihm besonders -, wo er der wohlverdienten Ruhe pflegte und seine Versöhnung mit Ann betrieb! Dann entschlüpfte einem der Housekeeper die Äußerung, George könnte an einer kleinen Überanstrengung leiden, und dieses Wort jagte allen einen Schauder über den Rücken, denn sogar das kleinste Würstchen in der Bankabteilung weiß, daß Überanstrengung, genau wie Altsein, eine Krankheit ist, für die es nur eine Therapie gibt, und Heilung ist von ihr schwerlich zu erwarten. Guillam kam eines Tages zurück, aber nur, um Molly in einen Urlaub zu entführen. Er weigerte sich, überhaupt etwas zu sagen. Wer ihn bei seinem Blitzbesuch in der fünften Etage gesehen hatte, sagte, er wirkt angeschlagen und habe offensichtlich eine kleine Pause nötig. Außerdem schien er sich das Schlüsselbein gebrochen zu haben: seine rechte Schulter war schwer bandagiert. Über die Housekeepers wurde bekannt, daß er ein paar Tage in der Privatklinik des Circusarztes am Manchester Square verbracht hatte. Aber noch immer war kein Smiley zu sehen, und die Housekeepers zeigten lediglich stahlharte Liebenswürdigkeit, wenn sie gefragt wurden, wann er zurückkommen werde. Die Housekeepers wurden in diesen Wochen zu einer Art Sternkammer, gefürchtet, aber unentbehrlich. Eines schönen Tages war auch Karlas Porträt verschwunden; es sei in der Reinigung, sagten die Spaßvögel.
Es war seltsam und einigermaßen erschreckend, daß niemand auf die Idee kam, das kleine Haus an der Bywater Street aufzusuchen und einfach auf die Türklingel zu drücken. Wer das getan hätte, der hätte Smiley dort angetroffen, höchstwahrscheinlich im Morgenrock, entweder beim Abwaschen oder mit der Zubereitung von Speisen beschäftigt, die er dann doch nicht aß. Manchmal, gewöhnlich in der Abenddämmerung, unternahm er einen einsamen Spaziergang im Park und starrte Leute an, als erkenne er sie halb und halb, so daß diese Leute ihn ebenfalls anstarrten und dann den Blick senkten. Oder er setzte sich in eines der billigeren Cafes an der King's Road, mit einem Buch zum Zeitvertreib und gezuckertem Tee zur Labung, denn er hatte seine guten Vorsätze aufgegeben, der schlanken Linie zuliebe nur noch Süßstoff zu nehmen. Ein Beobachter hätte feststellen können, daß er viel Zeit damit zubrachte, auf seine Hände zu blicken und die Brille am Krawattenende zu putzen, oder zum soundsovielten Mal den Brief zu lesen, den Ann ihm hinterlassen hatte, und der sehr lang war, aber nur wegen der vielen Wiederholungen. Lacon machte ihm einen Besuch, desgleichen Enderby, und einmal kam Martello, der jetzt wieder als Londoner auftrat, gemeinsam mit den beiden. Denn man war einhellig der Meinung, die niemand aufrichtiger teilte als Smiley selber, daß die Übergabe im dienstlichen Interesse so kurz und schmerzlos wie möglich vor sich gehen sollte. Smiley äußerte gewisse Wünsche bezüglich der Mitarbeiter, und sie wurden von Lacon gewissenhaft notiert. Zudem ließ Lacon durchblicken, daß das Schatzamt, allerdings nur, was den Circus betreffe, zur Zeit in Geberlaune sei. Zumindest in der Geheimwelt war der Sterlingkurs im Steigen. Diesen Sinneswandel habe nicht nur der Erfolg von »Unternehmen Delphin« herbeigeführt, sagte Lacon. Die Begeisterung der Amerikaner über Enderbys Ernennung sei überwältigend. Man habe sie sogar auf höchster diplomatischer Ebene gefühlt. Spontaner Beifall, so drückte Lacon sich aus. »Saul weiß wirklich, wie man mit ihnen reden muß«, sagte er, »Ja? Ah, gut. Well, gut«, sagte Smiley und nickte heftig Zustimmung, wie es Schwerhörige tun.
Auch als Enderby Smiley anvertraute, daß er Sam Collins als Leiter von London Station vorschlagen wolle, zeigte Smiley ausschließlich höfliches Interesse. Sam sei ungemein rührig, erklärte Enderby, und Rührigkeit sei im Moment in Langley hoch im Kurs. Mit vornehmer Zurückhaltung sei kein Blumentopf mehr zu gewinnen. »Bestimmt nicht«, sagte Smiley.
Bade Männer stimmten darin überein, daß Roddy Martindale trotz seines enormen Unterhaltungswerts nicht für diesen Posten geeignet sei. Der alte Roddy sei einfach zu schwul, sagte Enderby, und der Minister habe einen wahren Horror vor ihm. Auch kam er nicht gerade glänzend bei den Amerikanern an, nicht einmal bei denen, die zufällig seine Neigungen teilten. Überdies hegte Enderby leise Bedenken, noch mehr ehemalige Eton-Schüler zu berufen. Könnte einen falschen Eindruck machen. Eine Woche später schlossen die Housekeepers Sams altes Büro in der fünften Etage wieder auf und entfernten das Mobiliar. Collins' Geist habe endlich seine Rühe gefunden, sagten gewisse vorlaute Stimmen genüßlich. Am Montag indes trafen ein imposanter Schreibtisch mit rotem Lederbezug sowie mehrere Imitationen von Jagdstichen ein, die einst die Wände von Sams Club geziert hatten. Was den Club selbst betraf, so war bereits seine Übernahme durch eines der größeren Glücksspielsyndikate in die Wege geleitet, zur Zufriedenheit sämtlicher Parteien. Der kleine Fawn wurde nie wieder gesehen. Auch dann nicht, als mehrere der mehr muskelbetonten Londoner Außenstellen wieder zum Leben erweckt wurden, einschließlich der Skalpjäger in Brixton, denen Fawn dereinst angehört hatte, und der Pfadfinder in Acton unter Toby Esterhase. Aber niemand vermißte ihn. Ähnlich wie Sam Collins war er über die Bühne gegeistert, ohne eigentlich eine Rolle im Spiel zu haben. Aber zum Unterschied von Sam verschwand er in den Kulissen, um nie mehr aufzutauchen.
So fiel Sam Collins also an seinem ersten Tag im neuen Amt die Aufgabe zu, die traurige Nachricht von Jerrys Tod bekanntzugeben. Er tat es in der Rumpelkammer, in Form einer kurzen unsentimentalen Rede, und alle fanden, er habe es gut gemacht. Sie hätten es ihm gar nicht zugetraut.
»Nur für die Ohren der fünften Etage«, hatte er gesagt. Seine Zuhörer waren tief betroffen, dann stolz. Connie weinte und versuchte, Jerry als eines von Karlas zahlreichen Opfern hinzustellen, was jedoch schwerhielt, denn es war nicht zu erfahren, wer oder was ihn getötet hatte. Es sei im Zuge des Einsatzes gewesen, hieß es, und ehrenvoll.
Drüben in Hongkong zeigte der »Auslandskorrespondenten-Club« sich zunächst sehr besorgt um die Geschicke seiner vermißten Kinder Luke und Westerby. Dank unermüdlicher Vorsprachen seiner Mitglieder wurde eine regelrechte geheime Sonderkommission unter Vorsitz des umsichtigen Superintendent Rockhurst eingesetzt, die das Doppelrätsel ihres Verschwindens klären sollte. Die Behörden sagten vollständige Veröffentlichung aller Resultate zu, und der Generalkonsul der Vereinigten Staaten von Amerika setzte eine Belohnung von fünftausend Dollar aus seiner eigenen Schatulle für jeden aus, der brauchbare Informationen liefern würde. Als ritterliche Geste gegenüber der Kolonie schloß er Jerry Westerbys Namen in dieses Anerbieten ein. Die beiden Männer wurden als Die Vermißten Reporter bekannt, und alsbald verbreiteten sich Andeutungen einer schimpflichen Verbindung zwischen ihnen. Lukes Büro legte nochmals fünftausend Dollar zu, und der Zwerg, obzwar untröstlich, bewarb sich allen Ernstes um die Gesamtsumme. Schließlich hatte er, dank unermüdlicher Zweifronten-Arbeit, von Deathwish erfahren, daß die Wohnung an der Cloudview Road, die Luke zuletzt benutzt hatte, vom Fußboden bis zur Decke renoviert wurde, ehe die scharfäugigen Fahnder des Rocker dazu kamen, sie zu durchsuchen. Wer hatte das angeordnet? Wer hatte das bezahlt? Niemand wußte es. Der Zwerg hatte auch aus erster Hand Berichte gesammelt, wonach Jerry am Flugplatz von Kai Tak einen japanischen Touristenschwarm interviewt hatte. Aber die Sonderkommission des Superintendent sah sich gezwungen, diese Informationen zurückzuweisen. Die besagten Japaner seien willige, aber unzuverlässige Zeugen gewesen, als es darauf ankam, einen Europäer zu identifizieren, der nach einer langen Reise so einfach über sie hergefallen sei. Und was Luke anging: nun ja, so wie er es getrieben habe, hieß es, habe es mit ihm auf jeden Fall ein übles Ende nehmen müssen. Die Wissenden sprachen von Gedächtnisverlust, verursacht vom Alkohol und Ausschweifung. Nach einer Weile wurden auch die besten Storys kalt. Gerüchte gingen um, die beiden Männer seien während des Falls von Hue - oder war es Da Nang? - in Saigon gesehen worden, wo sie gemeinsam gejagt und getrunken hätten. Dann wieder hätten sie angeblich Seite an Seite am Strand von Manila gesessen. »Und Händchen gehalten?« fragte der Zwerg. »Schlimmeres«, lautete die Antwort.
Der Name des Rocker war außerdem in aller Munde, dank seines Erfolges bei einem spektakulären Rauschgiftprozeß, der mit Hilfe des amerikanischen Drogenbekämpfung unlängst über die Bühne gegangen war. Mehrere Chinesen und eine betörend schöne englische Abenteurerin, Heroinschmugglerin, waren die Hauptangeklagten. Der große Boß konnte zwar, wie üblich, nicht vor Gericht gestellt werden, jedoch wäre es dem Rocker, wie es hieß, um Haaresbreite gelungen, ihn festzunageln. »Unser rauher, aber redlicher Retter in der Not«, schrieb die South China Morning Post in einem Leitartikel zum Lobe seiner Tüchtigkeit. »Hongkong könnte mehr Männer seines Schlages gebrauchen.« Weitere Zerstreuungen konnte der Club aus der dramatischen Wiedereröffnung von High Haven beziehen. Das Haus wurde jetzt von einem zwanzig Fuß hohen Drahtzaun umzogen, mit Flutlicht angestrahlt und durch Wachhunde gesichert. Aber es gab keine Einladungen zum Lunch mehr, und so hatte die Sache bald ihren Reiz verlören.
Was Old Craw anging, so wurde er monatelang nicht gesehen, und niemand sprach von ihm, bis er eines Abends wieder erschien, sehr gealtert und nüchtern gekleidet, sich in seine angestammte Ecke setzte und ins Leere starrte. Ein paar Leute waren noch da, die ihn kannten. Der kanadische Cowboy schlug eine Runde »Shanghai Bowling« vor, aber Craw lehnte ab. Darin geschah etwas Seltsames. Es kam zum Streit über einen albernen Punkt der Clubsatzung. Durchaus nichts Ernstes: nur ob man im Interesse des Clubs unbedingt die traditionelle Form der Bons für Speisen und Getränke beibehalten müsse. Eine Kleinigkeit. Aber aus irgendeinem Grund brachte sie den alten Knaben völlig aus dem Häuschen. Er stand auf, stapfte zu den Lifts, und die Tränen liefe i ihm übers Gesicht, während er die Clubmitglieder mit Beleidigungen überhäufte.
»Daß ihr mir nichts ändert!« drohte er und schüttelte wütend seinen Stock. »Du sollst nichts ändern an der alten Ordnung, laßt alles weiterlaufen, wie es ist. Ihr werdet das Rad nicht anhalten, nicht gemeinsam und nicht einzeln, ihr rotznäsigen, verschissenen Grünschnäbel! Sonst sägt ihr den Ast ab, auf dem ihr mit euern fetten Ärschen sitzt!«
Durchgedreht, entschieden sie, als die Türen sich hinter ihm geschlossen hatten. Armer Kerl. Peinlich.
War wirklich eine Verschwörung gegen Smiley von der Größenordnung im Gang, wie Guillam vermutete? Und wenn ja, wie wirkte sich Westerbys Alleingang darauf aus? Es ist keine einschlägige Information verfügbar, und sogar Leute, die einander durchaus vertrauen, sind nicht geneigt, die Frage zu diskutieren.
Ganz sicher bestand eine geheime Absprache zwischen Enderby und Martello, wonach die Vettern den ersten Happen von Nelson kriegen und sich in den Ruhm teilen sollten, ihn herbeigeschafft zu haben - als Gegenleistung für ihr Votum zugunsten Enderbys. Ganz sicher waren Lacon und Collins, in ihren weit auseinanderliegenden Bereichen, daran beteiligt. Aber wann genau sie den Plan faßten, sich Nelson selber unter den Nagel zu reißen und mit welchen Mitteln - zum Beispiel über das bewährte Verfahren einer konzertierten demarche auf ministerieller Ebene in London -, wird man vermutlich nie erfahren. Es kann indes, wie sich ja herausstellt, kein Zweifel darüber bestehen, daß Westerby sich für sie als Glück im Unglück erwies: er lieferte ihnen den Vorwand, nach dem sie gesucht hatten.
Und hatte Smiley nun, tief im Innern, von der Verschwörung gewußt! War er sich klar darüber, und hatte er diese Lösung insgeheim sogar begrüßt? Peter Guillam, der inzwischen bereits gut drei Jahre in seinem Exil in Brixton Zeit gehabt hat, sich seine Meinung zu bilden, behauptet, die Antwort auf beide Fragen sei ein entschiedenes Ja. Es gibt einen Brief, den George auf dem Höhepunkt der Krisis an Ann Smiley schrieb, sagt Guillam, vermutlich während einer der langen Warteperioden in der Isolierstation. Guillam stützte seine Theorie hauptsächlich auf diesen Brief. Ann hat ihn ihm gezeigt, als er sie in Wiltshire aufsuchte, in der Hoffnung, eine Versöhnung herbeiführen zu können, und im Lauf des Gesprächs, dem allerdings kein Erfolg beschieden war, förderte Ann ihn aus ihrer Handtasche zutage. Guillam behauptet, er habe einen Teil davon im Gedächtnis behalten und sofort aufgeschrieben, als er wieder im Wagen saß. Und es steht fest, daß der Stil des Schreibens bedeutend anspruchsvoller ist als alles, was Guillam je hätte verfassen können.
Ich frage mich allen Ernstes und hoffentlich ohne jedes Selbstmitleid, wie ich in diesen gegenwärtigen Engpaß geraten konnte. Soweit ich mich zurückerinnere, wählte ich die geheime Straße, denn sie schien sich mir am direktesten und am weitesten dem Ziel meines Landes zu nähern. In jenen Tagen war der Feind jemand, auf den man hinzeigen, über den man in den Zeitungen lesen konnte. Heute weiß ich nur noch, daß ich gelernt habe, das ganze Leben als eine Verschwörung zu verstehen. Dies ist das Schwert, durch das ich gelebt habe, und nun, da ich Umschau halte, sehe ich, daß ich auch durch dieses Schwert umkommen werde. Wenn ich den Todesstoß empfangen soll, so falle ich doch wenigstens von den Händen meiner Peers.
Wie Guillam erläutert, ist dieser Brief typisch für Smileys Blaue Periode.
Heute, sagt er, ist George fast wieder der alte. Dann und wann treffen er und Ann sich zum Lunch, und Guillam persönlich ist überzeugt, daß sie eines Tages einfach wieder zusammenkommen und beisammen bleiben. George spricht nie von Westerby. Und Guillam tut es auch nicht, George zuliebe.