»Lauter Stumpfsinn«, sagte Mrs. Pelling vergnügt.

»Sie hat sich umgesehen«, sagte ihr Mann leichthin. »Wollte den Puls fühlen, ehe sie sich festlegte. Hab' ich sie gelehrt, wie, Cess?

Alle hätten sie gern behalten, aber ich war nicht dafür.« Er wies mit ausgestrecktem Arm auf sie. »Und sag' bloß nicht, es hätte sich schließlich nicht doch gelohnt!« keifte er. »Auch wenn wir nicht darüber sprechen dürfen!«

»Das Ballett war ihr am liebsten«, sagte Mrs. Pelling. »Der Unterricht der Kinder. Sie hat Kinder wahnsinnig gern. Wahnsinnig.«

Was Mr. Pelling sehr erzürnte. »Sie baut sich eine Karriere auf, Cess«, schrie er und klatschte sich mit dem Formular aufs Knie. »Allmächtiger, du blöde Kuh, möchtest du vielleicht, daß sie zu ihm zurückgeht?«

»Was hat sie nun genau im Nahen Osten gemacht?« fragte Smiley.

»Kurse genommen. Handelsschulen. Arabisch gelernt«, sagte Mr. Pelling und wurde plötzlich weitherziger in seinen Ansichten. Zu Smileys Überraschung stand er sogar auf und wanderte herrisch gestikulierend durchs Zimmer. »Was sie ursprünglich dorthin trieb, war, offengesagt, eine unglückliche Ehe.«

»Mein Gott«, sagte Mrs. Pelling.

Im Stehen zeigte sich seine ganze Bulligkeit und machte ihn furchteinflößend. »Aber wir haben sie da wieder rausgeholt. O ja. Ihr Zimmer ist jederzeit für sie bereit, wenn sie heimkommen will. Neben dem meinen. Sie kann mich jederzeit hier finden. O ja. Wir haben ihr über diese Hürde geholfen, nicht wahr, Cess? Dann habe ich eines Tages zu ihr gesagt -«

»Sie hat einen reizenden Englischlehrer mit lockigem Haar mitgebracht«, unterbrach ihn seine Frau. »Andrew.«

»Schotte«, korrigierte Mr. Pelling sie automatisch. »Andrew war ein netter Junge, aber nicht nach Nuncs Maßstäben, wie, darling?«

»Er war nicht gut genug für sie. Dieser ganze Yoga-Quatsch. Sich am eigenen Schwanz aufhängen, nenn ich das. Dann sag' ich eines Tages zu ihr: >Lizzie: Araber. Dort ist deine Zukunft.<« Er schnalzte mit den Fingern und wies auf seine imaginäre Tochter: »>Öl. Geld. Macht. Ab mit dir. Eingepackt. Kauf dein Billett. Los.<«

»Ein Nachtclub hat ihr die Reise bezahlt«, sagte Mrs. Pelling. »Hat sie auch ordentlich reingelegt.«

»Papperlapapp!« grollte Mr. Pelling und schob die breiten Schultern vor, um sie anzubrüllen, aber Mrs. Pelling redete weiter, als wäre er gar nicht vorhanden.

»Sie hat auf diese Annonce geantwortet, wissen Sie. Eine Frau in Bradford, redete honigsüß. Kupplerin. >Hostessen gesucht, aber nicht das, was Sie denken<, hatte sie gesagt. Sie zahlten ihr den Flug, und sofort nach der Landung in Bahrein mußte sie einen Vertrag unterschreiben, daß ihr ganzes Gehalt für ihre Wohnungsmiete einbehalten werde. Damit hatten sie sie, oder? Sie konnte sich nirgendwohin wenden, oder? Die Botschaft konnte ihr nicht helfen, niemand konnte ihr helfen. Sie ist sehr schön, müssen Sie wissen.«

»Du dämliche alte Hexe. Wir sprechen hier über eine Karriere. Liebst du sie denn nicht? Deine eigene Tochter? Du Rabenmutter! Herrgott!«

»Sie hatte ihre Karriere«, sagte Mrs. Pelling. »Die schönste auf der Welt.«

Er gab es auf und wandte sich wieder Smiley zu. »Schreiben Sie >Arbeit als Empfangsdame und Erlernung der Sprache< und schreiben Sie -«

»Vielleicht könnten Sie mir sagen«, warf Smiley vorsichtig dazwischen, während er seinen Daumen ableckte und die Seite umwandte, »so kommen wir wohl am besten weiter: hat Ihre Tochter bereits Erfahrung im Transportwesen?«

»Und schreiben Sie« - Mr. Pelling ballte die Fäuste, starrte zuerst Smiley an, dann seine Frau, und schien unschlüssig, ob er weiter machen solle oder nicht -, »schreiben Sie qualifizierte Tätigkeit für den britischen Secret Service«. Unter Legende. Los, schreiben Sie's hin. So. Jetzt ist es raus.« Er fuhr wieder zu seiner Frau herum. »Der da ist auch in einem Sicherheitsdienst, er hat es gesagt, Er hat ein Recht darauf, es zu wissen, und sie hat ein Recht darauf, daß man es weiß. Meine Tochter will keine unbesungene Heldin sein. Auch keine unbezahlte! Sie wird den Georgsorden kriegen, noch eh sie abdankt, das sag ich Ihnen!«

»Ach Scheiße«, sagte Mrs. Pelling müde. »Das war doch auch nur eine von ihren Geschichten. Du weißt es doch.«

»Könnten wir vielleicht eines nach dem anderen durchnehmen?«

fragte Smiley in nachsichtigem Ton. »Wir sprachen zuletzt, glaube ich, über Erfahrung im Transportwesen.«

Mr. Pelling legte Daumen und Zeigefinger in Denkerpose ans Kinn.

»Ihre erste kaufmännische Erfahrung«, begann er sinnend, »als sie sich völlig auf eigene Füße stellte, verstehen Sie - als alles zusammen und zum Klappen kam und sich endlich bezahlt machte, abgesehen von der Geheimdienstsache, von der ich sprach -, und sie Angestellte unter sich hatte und mit großen Barbeträgen umging und die Verantwortung ausübte, die ihren Fähigkeiten entspricht - das war in, wie spricht man das aus?«

»Vi-e-n-zi-a-n e« buchstabierte seine Frau.

»Hauptstadt von Laos«, sagte Mr. Pelling, und es reimte sich auf Chaos.

»Und wie war der Name der Firma, bitte?« erkundigte sich Smiley und hielt den Bleistift über der entsprechenden Spalte gezückt. »Eine Großbrennerei«, sagte Mr. Pelling hochtrabend. »Meine Tochter Elizabeth besaß und leitete Brennereiunternehmen in diesem krieggeplagten Land.«

»Und der Name?«

»Sie verkaufte ungelagerten Whisky in Fässern an dort stationierte Amerikaner«, erzählte Mrs. Pelling dem Fenster. »Auf Provisionsbasis, zwanzig Prozent. Sie kauften die Fässer und ließen sie in Schottland reifen, als Investition für später.«

»Sie, das wären in diesem Fall . . .?« fragte Smiley. »Dann ist ihr Liebhaber mit dem Geld abgehauen«, sagte Mrs. Pelling. »Es war ein Schiebergeschäft. Ein ziemlich gutes.«

»Pures, haltloses Geschwätz!« schrie Mr. Pelling. »Diese Frau weiß nicht, was sie sagt. Hören Sie nicht darauf.«

»Und wie lautete ihre damalige Adresse, bitte?« fragte Smiley. »Schreiben Sie Generalvertretung««, sagte Mr. Pelling und schüttelte den Kopf, als wäre die Sache völlig aus dem Konzept geraten. »Generalvertretung einer Großbrennerei und Geheimagentin.«

»Sie lebte mit einem Piloten zusammen«, sagte Mrs. Pelling. »Tiny nannte sie ihn. Ohne Tiny wäre sie verhungert. Er war fabelhaft, aber der Krieg hat ihn völlig aus der Bahn geworfen. . War schließlich nur natürlich! Ging unseren Jungs genauso, wie? Einsätze fliegen, Nacht für Nacht, Tag für Tag.« Sie legte den Kopf zurück und kreischte lauthals: »Alarm!«

»Sie spinnt«, erklärte Mr. Pelling.

»Nervenbündel mit achtzehn, die Hälfte von ihnen. Aber sie haben's ausgehalten. Sie liebten Churchill, wissen Sie. Sie liebten seinen Mumm.«

»Spinnt komplett« wiederholte Mr. Pelling. »Durchgedreht. Total übergeschnappt.«

»Tut mir leid«, sagte Smiley und schrieb emsig. »Tiny und wie noch? Der Pilot? Wie hieß er?«

»Ricardo. Tiny Ricardo. Ein Opferlamm. Er starb, wie du weißt«, sagte sie zu ihrem Mann gewandt. »Lizzie war untröstlich, nicht wahr, Nunc? Trotzdem, es war vielleicht besser so.«

»Lizzie lebte mit niemandem zusammen, du Affenweib! Es war nur ein Vorwand. Lizzie arbeitete für den britischen Geheimdienst!«

»Mein Gott!« sagte Mrs. Pelling resigniert. »Nicht dein Gott. Mein Mellon. Schreiben Sie das hin, Oates. Ich will sehen, daß Sie es hinschreiben. Mellon. Der Name ihres vorgesetzten Offiziers im britischen Geheimdienst war M-e-l-l-o-n. Gab sich als schlichten Handelsmann aus. Und war auch darin nicht schlecht. Für einen intelligenten Menschen ganz natürlich. Aber darunter -« Mr. Pelling hieb mit der Faust in die flache Hand, was ein erstaunlich lautes Geräusch verursachte -, »aber unter dem höflichen und liebenswürdigen Äußeren eines britischen Geschäftsmanns kämpfte dieser gleiche Mellon einen geheimen und einsamen Krieg gegen die Feinde Ihrer Majestät, und meine Lizzie half ihm dabei. Drogenhändler, Chinesen, Homosexuelle, alle diese fremden Elemente, die sich zusammenrotteten, um unsere Inselheimat ins Verderben zu stürzen - meine tapfere Tochter Lizzie und ihr Freund, Colonel Mellon, fochten Seite an Seite, um diesen schnöden Machenschaften Einhalt zu gebieten! Und das ist die reine Wahrheit!«

»Jetzt fragen Sie mich, woher sie es hat«, sagte Mrs. Pelling, ließ die Tür hinter sich offen und schlurfte vor sich hinbrummelnd den Korridor entlang. Smiley, der ihr nachblickte, sah, wie sie stehenblieb, den Kopf wandte und ihm aus dem dämmrigen Gang zuzunicken schien. Man hörte eine weit entfernte Tür knallen. »Es stimmt«, sagte Pelling hartnäckig, aber ruhiger. »Ja, ja und nochmals ja. Meine Tochter war eine höhere und geschätzte Kraft unseres britischen Nachrichtendienstes.«

Smiley antwortete zunächst nicht, er war viel zu sehr ins Schreiben vertieft. Eine ganze Weile hörte man nichts als das langsame Kratzen seiner Feder über das Papier, und das Rascheln, als er die Seite umwendete.

(»Gut. Also, dann notiere ich diese Details auch noch, wenn Sie gestatten. Streng vertraulich, versteht sich. Bei unserer Arbeit kommt uns allerhand unter, das sage ich Ihnen ganz ehrlich.«

»Also«, sagte Mr.. Pelling, ließ sich nachdrücklich auf einen plastikbezogenen Hocker nieder, zog ein einzelnes Blatt Papier aus der Tasche und drückte es Smiley in die Hand. Es war ein Brief, handgeschrieben, eineinhalb Seiten lang; die Schriftzüge waren zugleich pompös und kindlich, die Ichs für die erste Person Singular schwungvoll, während die übrigen Buchstaben zurückhaltender wirkten. Der Brief begann mit »Mein lieber geliebter Pops« und endete »Deine Einzige Treue Tochter Elizabeth«, und die Botschaft dazwischen, die Smiley im wesentlichen seinem Gedächtnis anvertraute, lautete so: »Ich bin in Vientiane angekommen, das eine uninteressante Stadt ist, ein bißchen französisch und wild, aber sorg Dich nicht, ich habe wichtige Nachricht für Dich, die ich Dir sofort mitteilen muß. Es ist möglich, daß Du eine Zeitlang nichts von mir hörst, aber sorg Dich nicht, auch nicht, wenn Du Schlimme Dinge hörst. Mir gehts prima und ich bin in guten Händen und tue es für eine Gute Sache, auf die Du stolz wärst. Gleich nach meiner Ankunft habe ich mich beim britischen Handelsattache Mister Mackervoor, einem Engländer gemeldet, und er hat mich wegen eines Postens zu Mellon geschickt. Ich darf Dir nichts sagen, Du mußt also Vertrauen zu mir haben, aber er heißt Mellon und er ist ein wohlhabender englischer Kaufmann in dieser Stadt, aber das ist nur die halbe Geschichte. Mellon beordert mich jetzt nach Hongkong und ich> soll Barrengold und Drogen ermitteln, aber nach außen hin etwas anderes, und er hat überall seine Leute, die auf mich aufpassen, und er heißt in Wirklichkeit nicht Mellon. Mackervoor gehört nur heimlich dazu. Wenn mir etwas passiert, dann war es das wert, denn Du und ich wir wissen, daß es um das Vaterland geht und was ist ein Menschenleben unter sovielen in Asien, wo das Leben ohnehin nichts gilt? Es ist eine Gute Tat, Dad, etwas wovon Du und ich immer geträumt haben und besonders Du, wo Du im Krieg für Deine Familie und Deine Lieben gekämpft hast. Bete für mich und sei gut zu Mam. Ich werde Dich immer lieben, auch im Gefängnis.«

Smiley gab den Brief zurück. »Er ist nicht datiert«, bemerkte er beiläufig. »Können Sie mir das Datum angeben, Mr. Pelling? Wenigstens annähernd?«

Pelling gab es nicht annähernd an, sondern genau. Nicht umsonst hatte er sein ganzes berufliches Leben bei der Königlichen Post gearbeitet.

»Seitdem hat sie mir nie mehr geschrieben«, sagte Mr. Pelling stolz, faltete den Brief wieder und steckte ihn in die Brieftasche. »Kein Wort, keinen Pieps hab' ich seit damals bis auf den heutigen Tag von ihr gehört. Völlig überflüssig. Wir sind eins. Es war ausgesprochen, ich machte nie eine Bemerkung darüber, sie auch nicht. Sie hat mir den Wink gegeben. Ich wußte. Sie wußte, daß ich wußte. Ein besseres Verstehen zwischen Tochter und Vater als das unsrige gibt es nicht. Alles, was danach kam: Ricardo oder wie er hieß, lebendig, tot, was tut's? Irgendein Chinese, mit dem sie was hat, egal. Freunde, Freundinnen, Geschäfte, kümmern Sie sich um nichts, was Sie hören. Das Ganze gehört zu ihrer Legende. Lizzie ist ihr Eigentum, sie haben sie völlig in der Hand. Sie arbeitet für Mellon, und sie liebt ihren Vater. Ende.«

»Sie waren sehr freundlich«, sagte Smiley und packte seine Papiere zusammen. »Bitte bemühen Sie sich nicht, ich finde den Weg schon.«

»Meinetwegen können Sie ihn auch verlieren«, sagte Mr. Pelling mit einem Anflug seiner früheren Laune. Als Smiley die Tür schloß, hatte er wieder seinen Platz im Lehnstuhl eingenommen und suchte verbissen die Stelle im Daily Telegraph, wo er stehengeblieben war.

Im dunklen Korridor war der Schnapsgeruch stärker. Smiley hatte neun Schritte gezählt, ehe die Tür zugeknallt war, also mußte es die letzte Tür links sein, die am weitesten von Mr. Pelling entfernte. Es hätte die Klotür sein können, aber das Klo war durch ein Schild mit der Aufschrift »Buckingham Palace, Hintereingang« bezeichnet, also klopfte er sehr leise an und hörte sie plärren »Raus da«. Er trat ein und fand sich in ihrem Schlafzimmer und Mrs. Pelling auf dem Bett liegen, ein Glas in der Hand und einen Haufen Ansichtspostkarten vor sich, in dem sie herumsuchte. Das ganze Zimmer war, genau wie das ihres Mannes, für ein unabhängiges Leben eingerichtet, mit Kocher und Waschbecken und einem Stapel schmutzigen Geschirrs. An allen Wänden hingen Schnappschüsse eines sehr schönen Mädchens, manchmal mit einem Freund, manchmal allein, meist vor einem exotischen Hintergrund. Es roch nach Gin und Katze. »Er läßt sie nicht in Ruh«, sagte Mrs. Pelling. »Nunc, meine ich. Hat er nie gekonnt. Hat's versucht, aber nicht gekonnt. Sie ist sehr schön, wissen Sie«, erklärte sie zum zweitenmal und rollte sich auf den Rücken, hielt eine Postkarte über ihren Kopf und las sie. »Wird er hier hereinkommen?«

»Nicht für viel Geld, darling.«

Smiley schloß die Tür, setzte sich auf einen Stuhl und zückte wiederum sein Notizbuch.

»Sie hat einen lieben süßen Chinesen«, sagte sie und starrte weiter auf die verkehrt herum gehaltene Postkarte. »Sie ist zu ihm gegangen, um Ricardo zu retten, und dann hat sie sich in ihn verliebt. Er ist ein wirklicher Vater für sie, der erste, den sie hat. Alles ist am Ende doch noch gut geworden. Alle die schlimmen Dinge. Sie sind jetzt vorbei. Er nennt sie Liese«, sagte sie. »Er findet es hübscher für sie. Wirklich komisch. Wir mögen die Deutschen nicht. Wir sind Patrioten. Und jetzt schanzt er ihr den prima Job zu, wie?«

»Soviel ich weiß nennt sie sich jetzt Worth, nicht mehr Worthington. Wissen Sie, warum sie das tun könnte?«

»Will wohl diesem langweiligen Schulmeister den Schwanz stutzen.«

»Als Sie sagten, sie habe es getan, um Ricardo zu retten, meinten Sie natürlich . . . «

Mrs. Pelling stieß einen bühnenreifen Wehlaut aus. »Oh, ihr Männer. Wann? Wer? Warum? Wie? Im Gebüsch, lieber Herr. In einer Telefonzelle, lieber Herr. Sie hat Ricardos Leben erkauft, darling, mit der einzigen Währung, die sie hat. Hat alles für ihn getan und ihn dann verlassen. Hol's der Teufel, war ein Nichtsnutz.« Sie nahm eine andere Postkarte zur Hand und studierte die Ansicht eines leeren Strands mit Palmen. »Meine kleine Lizzi ist mit halb Asien hinter die Hecke gegangen, eh sie ihren Drake fand. Aber sie fand ihn.« Als hätte sie ein Geräusch gehört, richtete sie sich jäh auf und starrte Smiley durchdringend an, während sie ihr Haar glättete. »Ich glaube, Sie sollten jetzt gehen, mein Lieber«, sagte sie so leise wie bisher und wandte sich zum Spiegel um. »Solange Sie da sind, krieg ich die Gänsehaut nicht los, Ehrenwort. Mit vertrauenerweckenden Gesichtern kann ich nichts anfangen. Tut mir leid, darling, wissen Sie, wie ich's meine?«

Im Circus verwendete Smiley ein paar Minuten auf die Nachprüfung dessen, was er bereits wußte: nämlich daß Mellon einer der in den Akten eingetragenen Decknamen von Sam Collins gewesen war.

Schanghai-Express

Der Sachverhalt, wie er sich jetzt im bequemen Rückblick darstellt, weist zum damaligen Zeitpunkt eine trügerische Ballung von Ereignissen auf. Für Jerry kam und verging das Weihnachtsfest in einer Abfolge zielloser Saufereien im Korrespondenten-Club und mit dem Abschicken verspäteter, unbeholfen in Weihnachtspapier gewickelter Päckchen an Cat, zu den unmöglichsten Nachtstunden. Ein überarbeiteter Suchantrag über Ricardo wurde den Vettern in aller Form vorgelegt, und Smiley brachte ihn persönlich zum Annex, um Martello noch weitere Erklärungen zu liefern. Aber der Antrag geriet mitten in den Weihnachtsrummel - ganz zu schweigen vom unmittelbar bevorstehenden Zusammenbruch Vietnams und Kambodschas - und schloß seine Rundreise bei den amerikanischen Dienststellen erst eine ganze Weile nach Neujahr ab, wie die Daten in der Akte Delphin zeigen. Und das entscheidende Treffen mit Martello und seinen Freunden vom Rauschgiftdezernat fand sogar erst Anfang Februar statt. Was diese weitere Verzögerung für Jerrys Nerven bedeutete, wurde im Circus durchaus richtig eingeschätzt, löste jedoch während dieser anhaltenden Krisenstimmung weder Mitgefühl noch irgendwelches Handeln aus. Auch hierfür könnte man Smiley tadeln, je nachdem, wo man steht, aber es ist schwer zu sehen, was er hätte unternehmen können, außer vielleicht Jerry zurückzubeordern: besonders da Craw sich nach wie vor enthusiastisch über Jerrys Moral äußerte. Die fünfte Etage arbeitete rund um die Uhr, Weihnachten wurde kaum zur Kenntnis genommen, nur daß am Mittag des fünfundzwanzigsten eine recht dürftige Sherry-Party stattfand und später nochmals eine Pause eingelegt wurde, während der Connie und die Mütter die Ansprache der Queen auf voller Lautstärke laufen ließen, um Ketzer wie Guillam und Molly Meakin zu beschämen, die das Ganze vergnüglich fanden und in den Korridoren schlechte Imitationen der königlichen Festrede zum besten gaben.

Die offizielle Eingliederung Sam Collins' in die gelichteten Reihen des Circus fand an einem wirklich eiskalten Januartag statt, und sie hatte eine lustige und eine traurige Seite. Die lustige Seite war Sams Einkerkerung. Er kam an einem Montagvormittag Punkt zehn Uhr an, nicht im Smoking, sondern in einem flotten grauen Überzieher mit einer Rose im Knopfloch, und sah in der Kälte wundersam jugendlich aus. Aber Smiley und Guillam waren außer Haus, in Klausur mit den Vettern, und weder die Portiers noch die Housekeepers hatten irgendeine Anweisung, ihn einzulassen, also sperrten sie ihn drei Stunden lang in ein Kellerloch, wo Sam bibberte und kochte, bis Smiley kam und die Einstellung bestätigte. Wegen Sams Büro gab es nochmals ein Theater. Smiley hatte ihn auf der vierten Etage neben Connie und di Salis untergebracht, aber Sam paßte das nicht, er wollte in die fünfte. Er fand das seinem Rang als amtierendem Koordinator angemessener. Die armen Portiers wuchteten Möbelstücke treppauf, treppab, wie Kulis.

Die traurige Seite war schwieriger zu beschreiben, obwohl mehrere Leute dies versuchten. Connie sagte, Sam sei frigide, eine verwirrende Wahl des Adjektivs. Für Guillam war er hungrig, für die Mütter fragwürdig und für die Wühlmäuse viel zu glatt. Eigentümlich erschien allen, die nicht über die Hintergründe orientiert waren, seine Passivität: er forderte keine Akten an, er suchte nicht um diese oder jene Genehmigung nach, er benutzte kaum das Telefon, außer um Rennpferde zu plazieren und zu überwachen, was in seinem Club vorging. Aber sein Lächeln begleitete ihn auf Schritt und Tritt. Die Tippmädchen erklärten, er schlafe darin und wasche es am Wochenende von Hand durch. Smileys Gespräche mit ihm fanden hinter verschlossenen Türen statt, und die Ergebnisse wurde dem Team nur nach und nach mitgeteilt.

Ja, das Mädchen war mit einigen Hippies in Vientiane gelandet, die den Katmandu-Treck überholt hatten. Ja, als sie von den anderen kaltgestellt wurde, hatte sie Mackelvore gebeten, ihr einen Job zu verschaffen. Und ja, Mackelvore hatte sie an Sam weitergereicht, weil er dachte, allein schon ihr Aussehen mache sie brauchbar: alles, wenn man zwischen den Zeilen lesen konnte, ziemlich genau so, wie das Mädchen es in dem Brief an den Vater beschrieben hatte. Sam hatte ein paar müde Drogengeschichten laufen und im übrigen herrschte, dank Haydon, absolute Windstille, also dachte er, er könnte sie ja mal den Jungs vom fliegenden Personal unterjubeln und zusehen, was dabei herauskäme. Er sagte London nichts davon, denn London würgte damals alles ab. Er nahm sie einfach auf Probe und bezahlte sie aus seiner Spesenkasse. Was dabei herauskam, war Ricardo. Er ließ sie außerdem eine alte Spur verfolgen, die zu den Goldschiebern nach Hongkong führte, aber das alles noch zu einer Zeit, bevor ihm klar wurde, daß sie ein komplettes Stück Malheur war. Er sei ausgesprochen erleichtert gewesen, sagte Sam, als Ricardo sie ihm abgenommen und ihr einen Job bei Indocharter verschafft habe. »Und was weiß er sonst noch?« fragte Guillam entrüstet. »Für diesen Spottpreis darf er die Hackordnung durcheinanderbringen und unsere Sitzungen stören?«

»Er kennt sie«, sagte Smiley geduldig und widmete sich wieder dem Studium von Jerry Westerbys Akte, die in letzter Zeit seine Lieblingslektüre bildete. »Wir sind selber dann und wann nicht über eine kleine Erpressung erhaben«, fügte er mit aufreizender Duldsamkeit hinzu, »und es ist nur recht und billig, daß wir's uns auch einmal gefallen lassen müssen.« Während Connie jeden durch ungewohnte Ruppigkeit erschreckte, indem sie Präsident Johnsons - angeblichen - Ausspruch über J. Edgar Hoover zitierte: »George ist es eben lieber, daß Sam Collins in unserem Zelt ist und rauspinkelt, als daß er draußen steht und reinpinkelt«, erklärte sie und kicherte über ihre Keckheit wie ein Schulmädchen.

Und vor allem dauerte es bis Mitte Januar, ehe Doc di Salis im Zuge seiner weiteren Ausflüge in die Einzelheiten von Kos Background seine phantastische Entdeckung kundtat: ein gewisser Mr. Hibbert, China-Missionar in Diensten der Baptisten, den Ko in seinem Antrag auf Zulassung zum Jura-Studium in London als Bürgen angegeben hatte, war noch am Leben. Alles war also viel verzweigter, als es die heutige Erinnerung wohlweislich wahrhaben will: und der Druck, unter dem Jerry stand, war dementsprechend stärker.

»Es besteht die Möglichkeit, daß er geadelt wird«, sagte Connie Sachs. Sie hatten es schon am Telefon gesagt. Es war eine sehr nüchterne Szene. Connie hatte sich die Haare schneiden lassen. Sie trug einen dunkelbraunen Hut und ein dunkelbraunes Kostüm, dazu eine dunkelbraune Handtasche, die das Mikrophon barg. Draußen auf dem kleinen Fahrweg tat Toby Esterhase - der ungarische Pflasterkünstler, der mit einer Schirmmütze auf dem Kopf in einem blauen Taxi saß und Motor und Heizung laufen ließ -, als döste er, während er die Unterhaltung mit Hilfe der Geräte unter dem Sitz empfing und aufnahm. Connies ausgefallene Erscheinung hatte sich zu steifer Korrektheit gewandelt. Sie hielt ein Notizheft aus der Königlichen Kanzlei bereit, einen Bleistift gleicher Herkunft zwischen den Gichtfingern. Den absonderlichen di Salis ein wenig zu modernisieren, hatte einiger Kunst bedurft. Unter Protest trug er eines von Guillams gestreiften Hemden und eine dazu passende dunkle Krawatte. Das Ergebnis war überraschenderweise einigermaßen überzeugend.

»Es ist äußerst vertraulich«, sagte Connie zu Mr. Hibbert mit lauter und deutlicher Stimme. Auch das hatte sie bereits am Telefon gesagt.

»Enorm«, brabbelte di Salis bekräftigend und schwang die Arme, bis ein Ellbogen in einer unmöglichen Stellung auf seinem knubbeligen Knie zur Ruhe kam; eine fahrige Hand umschloß sein Kinn und kratzte es.

Der Gouverneur habe einen Mann empfohlen, sagte sie, und jetzt sei es Sache des Amts, zu entscheiden, ob die Empfehlung an den Palast weiterzuleiten sei. Und bei dem Wort Palast warf sie einen verhaltenen Blick hinüber zu di Salis, der strahlend, aber bescheiden lächelte, wie eine Berühmtheit bei einer Talkshow. Seine grauen Haarsträhnen waren mit Pomade geglättet und sahen aus (so sagte Connie später), als wären sie für den Bratofen eingefettet.

»Sie werden also verstehen«, sagte Connie mit der präzisen Aussprache einer weiblichen Nachrichtensprecherin, »daß sehr eingehende Erkundigungen nötig sind, um unseren allerhöchsten Stellen Peinlichkeiten zu ersparen.«

»Der Palast«, echote Mr. Hibbert und blinzelte in di Salis' Richtung. »Das darf nicht wahr sein. Der Palast, hast du das gehört, Doris?« Er war sehr alt. In den Unterlagen stand einundachtzig, aber seine Züge hatten ein Alter erreicht, das sie wieder glättete. Er trug einen runden Ornatskragen, eine dunkle Strickweste mit aufgenähtem Leder an den Ellbogen, und einen Schal um die Schultern. Die graue See im Hintergrund bildete einen Hof um sein weißes Haar. »Sir Drake Ko«, sagte er. »Daran hätte ich nie gedacht, nie im Leben.« Sein Nordlandakzent war so rein, daß er, wie sein schneeiges Haar, hätte aufgesetzt sein können. »Sir Drake«, wiederholte er. »Das darf nicht wahr sein. Was, Doris?«

Eine Tochter saß bei ihnen, blond, zwischen dreißig und fünfundvierzig. Sie trug ein gelbes Kleid und hatte Puder aufgelegt, aber keinen Lippenstift. Ihr Gesicht schien seit den Mädchentagen nichts erlebt zu haben außer dem steten Schwinden aller Hoffnungen. Beim Sprechen errötete sie. Sie sprach selten. Sie hatte Plätzchen gebacken und papierdünne Sandwiches bereitet. Auf einem Spitzendeckchen lag ein Gewürzkuchen, und als Teesieb benutzte sie ein Musselintüchlein, um dessen Rand zur Versteifung Perlen genäht waren. Von der Decke hing ein gezackter Pergamentschirm in Form eines Sterns. An einer Wand stand ein Klavier, auf dem Notenhalter war die Partitur von »Lead Kindly Light« aufgeschlagen. Eine Stickerei mit Motiven aus Kiplings »If« hing über dem leeren Kamin, und die Samtvorhänge zu beiden Seiten des Fensters, das aufs Meer hinausging, waren so schwer, daß dahinter ein unbenutztes Stück Leben verborgen sein konnte. Es waren keine Bücher zu sehen, auch keine Bibel. Ein sehr großes Farbfernsehgerät stand da, und eine lange Girlande von Weihnachtskarten hing quer durchs Zimmer. Sie baumelten von der Schnur wie getroffene Vögel auf halbem Weg zum Boden. Nichts erinnerte an die chinesische Küste, höchstens der Schatten der winterlichen See. Es war ein Tag ohne Wetter und ohne Wind. Im Garten hockten Stauden und Kakteen trübsinnig in der Kälte herum. Spaziergänger hasteten über die Promenade. Sie würden sich gern ein paar Notizen machen, sagte Connie: denn es gehört zur Circus-Folkore, daß neben dem Abhören auch Notizen zu machen sind, für alle Fälle und zur Tarnung. »Ja, schreiben Sie nur«, sagte Mr. Hibbert aufmunternd. »Wir sind schließlich nicht lauter Elefanten, wie, Doris? Doris hat nämlich, also sie hat ein fabelhaftes Gedächtnis, genau wie ihre Mutter.«

»Also, worauf es uns zunächst ankommt«, sagte Connie - sie achtete sorgfältig darauf, sich dem Tempo des alten Mannes anzupassen -,' »wir würden gern, wie wir das bei allen Leumundsbezeugern machen, wie wir sie nennen, genau feststellen, wie' lange Sie Mr. Ko kannten und welcher Art Ihre Verbindung zu ihm ist oder gewesen ist.«

Beschreiben Sie Ihren Zugang zu »Delphin«, sagte sie, nur mit anderen Worten.

Wenn alte Menschen von anderen Menschen sprechen, dann reden sie über sich selber und betrachten ihr eigenes Bild in unsichtbaren Spiegeln.

»Ich hatte die Berufung von Kindheit an«, sagte Mr. Hibbert. »Mein Großvater hatte sie. Mein Vater hatte eine große Pfarrei in Macclesfield. Mein Onkel starb mit zwölf Jahren, aber er hatte sich schon damals der Berufung versprochen, nicht wahr, Doris? Ich kam mit zwanzig in die Vorbereitungsschule für Missionare. Mit vierundzwanzig nahm ich im Auftrag der >Lord's Life Mission< Kurs auf Schanghai. Die >Empire Queen< hat sie geheißen. Wir hatten mehr Kellner als Passagiere an Bord, soviel ich mich noch erinnere. Ach ja.«

Er habe vorgehabt, ein paar Jahre in Schanghai zu bleiben, Unterricht zu geben und die Sprache zu erlernen, sagte er, und dann, wenn er Glück hätte, zur chinesischen Binnenmission zu kommen und weit ins Innere vorzustoßen. »Das hätte mir gefallen. Die Herausforderung hätte mir gefallen. Ich habe die Chinesen immer gemocht. Die >Lord's Life Mission< war nichts Großartiges, aber sie leistete etwas. Diese römischen Schulen, also, die waren mehr wie die Klöster und mit allem, was das so mit sich bringt«, sagte Mr. Hibbert. di Salis, der einstige Jesuit, lächelte dünn. »Wir holten uns die Kinder von der Straße«, fuhr Mr. Hibbert fort. »Schanghai war ein fürchterlicher Mischmasch, kann ich Ihnen sagen. Nichts, was es nicht gab. Banden, Korruption, Prostitution die Menge, Politik, Geld und Gier und Elend. Alles Menschliche war dort beisammen, was, Doris? Nein, sie kann sich nicht daran erinnern. Nach dem Krieg fuhren wir heim, aber sie schickten uns bald wieder raus. Damals war sie auch erst elf, wie? Es war nichts mehr von früher da, also, nichts mehr wie Schanghai, und wir kamen wieder hierher zurück. Aber es gefällt uns hier, nicht wahr, Doris?« sagte Mr. Hibbert, der sehr darauf achtete, immer für sie beide zu sprechen. »Die Luft gefällt uns.«

»Sehr«, sagte Doris und räusperte sich laut in ihre große Faust. »Wir behalfen uns also mit dem, was wir kriegen konnten, darauf lief's hinaus«, fuhr er fort. »Wir hatten die alte Miss Fong. Kannst du dich an Daisy Fong erinnern, Doris? Klar - Daisy und ihre Glocke. Nein, sie kann's natürlich nicht. Mein Gott, wie die Zeit vergeht. Ein richtiger Rattenfänger war unsere Daisy, mit Ausnahme dieser Glocke statt einer Flöte und daß sie eben kein Mann war, und sie arbeitete im Dienste des Herrn, auch wenn sie später zu Fall kam. Beste Konvertitin, die ich je hatte, bis die Japsen kamen. Sie ging durch die Straßen, unsere Daisy, und schwang ihre Glocke was das Zeug hielt. Manchmal begleitete sie der alte Charlie Wan, manchmal ging ich mit ihr. Wir suchten die Docks auf und die Vergnügungsviertel hinter dem >Bund< zum Beispiel - Höllengasse nannten wir die Straße, kannst du dich noch erinnern, Doris? Nein, sie kann es natürlich nicht. Und die alte Daisy bimmelte ihre Glocke, kling, kling!« Bei der Erinnerung brach er in Lachen aus: er sah sie ganz deutlich vor sich, denn seine Hand vollzog unbewußt die energischen Bewegungen der Glocke nach, di Salis und Connie lachten höflich mit, aber Doris runzelte nur die Stirn. »Rue de Jaffe, das war die übelste Gegend. Kein Wunder, daß die Häuser der Sünde unter französischer Konzession standen. Nun ja, eigentlich waren sie überall, in Schanghai wimmelte es nur so davon. Sündenstadt nannten sie es. Und sie hatten recht. Dann sammelten sich ein paar Kinder an, und Daisy fragte sie: >Hat einer von euch seine Mutter verloren?< Und da kriegte man immer ein paar. Nicht alle auf einmal, hier eins, dort eins. Einige wollten es bloß probieren, aßen unsere Reismahlzeit und wurden dann mit einem Klaps heimgeschickt. Aber wir fanden immer ein paar richtige, wie, Doris?, und schön langsam hatten wir eine Schule beisammen, vierundvierzig waren es am Schluß, wie? Einige wohnten bei uns, nicht alle. Bibelunterricht, Lesen, Schreiben, Rechnen, ein bißchen Geographie und Geschichte. Das war wirklich alles, was wir schaffen konnten.« Der ruhelose di Salis, der nur mit Mühe seine Ungeduld bezähmte, richtete den Blick starr auf die graue See und ließ ihn dort ruhen. Aber Connie hatte ein eisernes Lächeln der Bewunderung aufgesetzt, und ihre Augen wichen keine Sekunde lang vom Gesicht des Alten.

»Und so fand Daisy auch die Kos«, fuhr er fort - seine Abschweifung hatte er schon wieder vergessen. »Drunten bei den Docks, nicht wahr, Doris, wo sie ihre Mutter suchten. Sie waren beide von Swatow heraufgekommen. Wann war das? Ich glaube neunzehnhundertsechsunddreißig. Der kleine Drake war zehn oder elf, und sein Bruder Nelson acht, beide zaundürr; hatten seit Wochen nichts Ordentliches im Bauch. Über Nacht wurden sie Reis-Christen, das dürfen Sie glauben! Wissen Sie, sie hatten damals keine Namen, ich meine, keine englischen. Sie stammten von den Bootsbewohnern, den Chiu Chow. Über die Mutter haben wir nie etwas rausgekriegt, wie, Doris? >Tot von Gewehren<, sagten sie. >Tot von Gewehren<. Konnten japanische Gewehre gewesen sein, konnten Kuomintang-Gewehre gewesen sein. Wir sind der Sache nie auf den Grund gekommen, warum auch? Der Herr hatte sie zu sich genommen, Amen. Konnten die ganze Fragerei genausogut bleiben lassen und weitermachen. Klein Nelsons Arm sah gräßlich aus. Ganz furchtbar. Der gebrochene Knochen stak durch den Ärmel, wahrscheinlich haben das auch die Gewehre angerichtet. Drake, der hielt Nelsons heile Hand und hätte sie zuerst weder für Geld noch für gute Worte losgelassen, nicht einmal, damit der Kleine essen konnte. Wir sagten immer, sie teilten sich in die gesunde Hand, weißt du noch, Doris? Drake saß am Tisch und hielt ihn fest gepackt und schaufelte Reis in den Kleinen, was hineinging. Wir haben den Arzt kommen lassen: er konnte sie auch nicht trennen. Wir mußten uns damit abfinden. >Du sollst Drake heißen<, sagte ich, >und du Nelson, weil ihr beide tapfere Seeleute seid, was sagt ihr dazu?< Deine Mutter war auf diese Idee gekommen, wie, Doris? Sie hätte immer ein paar Jungen gewollt.«

Doris sah ihren Vateran, wollte etwas sagen, überlegte es sich aber anders.

»Sie haben immer ihr Haar gestreichelt«, sagte der alte Mann mit leicht erstaunter Stimme. »Das Haar deiner Mutter streicheln und Daisys Glocke schwingen, das taten sie gern. Sie hatten noch nie blondes Haar gesehen. Heh, Doris, wie wär's noch mit ein bißchen saw. Der meine ist schon ganz kalt, und der ihre bestimmt auch. Saw ist schanghainesisch und heißt Tee«, erklärte er. »In Kanton sagen sie cha. Wir haben ein paar von den alten Wörtern beibehalten, ich weiß nicht, warum.«

Mit einem erbitterten Zischlaut schnellte Doris aus dem Zimmer, und Connie ergriff die Gelegenheit zum Sprechen. »Mr. Hibbert, wir wußten bis jetzt nicht, daß er einen Bruder hatte«, sagte sie in leicht vorwurfsvollem Ton. »Er war jünger, sagten Sie. Zwei Jahre jünger? Drei?«

»Sie wußten nichts von Nelson?« Der Alte wunderte sich. »Und dabei liebte er ihn doch so sehr! Nelson war Drakes ganzes Leben. Hat alles für ihn getan. Wissen nichts von Nelson, Doris!« Aber Doris war in der Küche und bereitete saw. Connie überprüfte ihre Notizen und lächelte verlegen.

»Ich fürchte, das ist unsere Schuld, Mr. Hibbert. Ich sehe hier, daß die Gouvernementskanzlei die Spalte Geschwister leer gelassen hat. Das wird in Kürze einigen Herrschaften in Hongkong ziemlich peinlich sein, das sage ich Ihnen. Sie erinnern sich wohl nicht zufällig an Nelsons Geburtsdatum? Bloß um das Verfahren abzukürzen?«

»Nein, bei Gott nicht! Daisy Fong würde sich natürlich erinnern, aber sie ist längst von hinnen geschieden. Hat jedem einen Geburtstag gegeben, unsere Daisy, auch wenn sie ihn selbst nicht wußten.«

di Salis zerrte an seinem Ohrläppchen und zog seinen Kopf nach unten: »Oder seine chinesischen Vornamen?« platzte er mit seiner hohen Stimme heraus. »Die könnten von Nutzen sein, wenn man nachprüfen will.«

Mr. Hibbert schüttelte den Kopf. »Wissen nichts von Nelson! Du lieber Himmel! Man kann sich Drake gar nicht vorstellen ohne den kleinen Nelson an seiner Seite. Gehörten zusammen wie Brot und Käse, sagten wir immer. Weil sie Waisen waren, natürlich.« Von der Diele her hörten sie ein Telefon klingeln und, zur heimlichen Verwunderung Connies und di Salis', ein deutliches »Zum Teufel!«, als Doris aus der Küche preschte, um abzunehmen. Sie hörten Fetzen ärgerlicher Reden neben dem Gezisch des Teekessels. »Und warum nicht? Wenn's die verdammten Bremsen sind, warum sagen Sie dann, es ist die Kupplung? Nein, wir wollen kein neues Auto. Wir wollen das alte repariert kriegen, Herrgottnochmal.« Mit einem lauten »Mist« legte sie auf und kehrte in die Küche zu ihrem pfeifenden Teekessel zurück. »Nelsons chinesische Vornamen«, erinnerte Connie sanft durch ein Lächeln hindurch, aber der alte Mann schüttelte den Kopf. »Da müßten Sie die alte Daisy fragen«, sagte er. »Und die ist schon lang im Himmel, Friede sei mit ihr.« di Salis schien drauf und dran, die vorgebliche Unwissenheit des Alten zu bezweifeln; aber Connie brachte ihn mit einem Blick zum Schweigen. Laß ihn weitermachen, flehte ihr Blick, wenn Sie ihn drängen, verlieren wir das ganze Spiel.

Der alte Mann saß auf einem Drehstuhl. Unbewußt hatte er sich 278 im Uhrzeigersinn langsam herumgeschwenkt und redete jetzt in Richtung Meer.

»Sie waren unzertrennlich«, sagte Mr. Hibbert. »Ich habe nie zwei Brüder gesehen, die so verschieden waren, und auch nie zwei, die so zueinander hielten.«

»Verschieden inwiefern?« fragte Connie lockend. »Also, der kleine Nelson fürchtete sich vor Kakerlaken. So ging's an. Wir hatten natürlich nicht die modernen sanitären Einrichtungen. Wir mußten sie rausschicken zum Häuschen, und du liebe' Güte, um das Häuschen, da schwirrten die Kakerlaken nur so rum, wie Kugeln! Nelson wollte nicht mal in die Nähe gehen. Sein Arm heilte recht ordentlich, er aß wie ein Scheunendrescher, aber der Junge hielt es lieber tagelang zurück, als daß er in das Häuschen gegangen wäre. Deine Mutter versprach ihm sonstwas, wenn er ginge. Daisy Fong probierte es mit dem Rohrstock, und ich sehe seine Augen noch heute, manchmal konnte er einen ansehen und die gesunde Faust ballen, und man dachte, er würde einen zu Stein verwandeln, dieser Nelson war der geborene Rebell. Dann sahen wir eines Tages aus dem Fenster, und dort waren sie. Drake hatte den Arm um Klein Nelsons Schulter gelegt und führte ihn den Weg entlang, um ihm Gesellschaft zu leisten, während er sein Geschäft verrichtete. Haben Sie mal bemerkt, wie anders die Kinder gehen, die auf Booten leben?« fragte er strahlend, als sähe er sie in diesem Augenblick. »Krummbeinig vor Muskelkrampf.« Die Tür krachte auf und Doris kam mit einem Tablett und frischem Tee herein und setzte es klappernd ab. »Mit dem Singen war's genauso«, sagte er, verstummte wieder und blickte aufs Meer.

»Hymnen singen?« soufflierte Connie strahlend und warf einen Blick auf das polierte Klavier mit den leeren Kerzenhaltern. »Drake, der sang drauf los, solange nur deine Mutter am Klavier saß. Kirchenlieder. There's a Green Hill. Hätte sich die Kehle durchgeschnitten für deine Mutter, dieser Drake. Aber der kleine Nelson, den habe ich nie eine einzige Note singen hören.«

»Später hast du ihn zur Genüge gehört«, erinnerte Doris ihn rücksichtslos, aber er geruhte nicht, davon Kenntnis zu nehmen. »Man konnte ihm den Lunch wegnehmen, sogar das Abendessen, aber sein Tischgebet sagte er trotzdem nicht auf. Er haderte mit Gott von Anbeginn.« Mit plötzlicher Munterkeit lachte der Alte auf. »Aber das sind die wirklich Gläubigen, sage ich immer. Die anderen sind nur höflich. Es gibt keine wahre Bekehrung ohne diesen Hader.«

»Verdammte Werkstatt«, brummte Doris, noch immer erbittert über den Telefonanruf, während sie auf den Gewürzkuchen einhackte.

»Hören Sie! Was ist mit Ihrem Fahrer?« rief Mr. Hibbert. »Soll Doris zu ihm rausgehen? Er erfriert ja da draußen! Hol ihn rein, los!« Doch noch ehe einer von ihnen antworten konnte, hatte Mr. Hibbert angefangen, von seinem Krieg zu erzählen. Nicht von Drakes oder Nelsons Krieg, sondern von seinem eigenen, in losen Bruchstücken einer bildhaften Erinnerung. »Das Komische war, eine Menge Leute glaubten, die Japse seien genau das Richtige. Würden diesen frechen chinesischen Nationalisten zeigen, wo der Zimmermann das Loch gelassen hat. Ganz zu schweigen von den Kommunisten, versteht sich. Ja, es hat eine ganze Weile gedauert, bis ihnen die Schuppen von den Augen fielen, das kann ich Ihnen sagen. Sogar noch, nachdem die Bombardierungen anfingen. Die europäischen Läden wurden geschlossen. Die Taipans evakuierten ihre Familien, der Country Club wurde Lazaretr. Aber immer noch konnte man hören >keine Sorge<. Dann, eines schönen Tages, peng, wurden wir eingesperrt, wie, Doris? Und deine Mutter brachten sie obendrein noch um. Hatte nicht genug Widerstandskraft, nach ihrer Tuberkulose. Trotzdem kamen die Brüder Ko immer noch besser weg als die meisten.«

»Oh. Und warum?« erkundigte Connie sich höchlichst interessiert.

»Sie hatten Jesus als Trost und Führer, nicht wahr?«

»Gewiß«, sagte Connie.

»Natürlich«, pflichtete di Salis bei, flocht die Finger ineinander und zerrte an ihnen. »In der Tat«, sagte er salbungsvoll. Die Japse, wie er sie nannte, schlossen also die Mission, und Daisy Fong mit ihrer Handglocke geleitete die Kinder in den Treck der Flüchtlinge, die per Karren, Bus oder Eisenbahn, meist jedoch per pedes unterwegs nach Schanghai waren und schließlich nach Tschungking, wo Tschiangs Nationalisten ihre vorläufige Hauptstadt aufgeschlagen hatten.

»Er darf nicht zu lang weitermachen«, flüsterte Doris einmal Connie zu. »Er wird plemplem.«

»O doch, ich darf und ich kann, mein Kind«, korrigierte Mr. Hibbert sie mit liebevollem Lächeln. »Ich habe mein Leben hinter mich gebracht. Ich kann tun, was ich will.«

Sie tranken den Tee und redeten über den Garten, der ihnen immer wieder zu schaffen machte, seit sie hier lebten. »Man hat uns geraten: Nehmen Sie die mit den silbernen Blättern, die vertragen das Salz. Ich weiß nicht, wie, Doris? Sie scheinen nicht anzuwachsen, oder?«

Mit dem Tod seiner Frau, so brachte Mr. Hibbert zum Ausdruck, endete auch sein eigenes Leben: er trat nur noch auf der Stelle, bis er zu ihr könnte. Eine Weile hatte er eine Anstellung in Nordengland innegehabt, danach in London ein bißchen Bibelarbeit geleistet.

»Dann sind wir nach Süden gezogen, wie, Doris? Ich weiß nicht, weswegen.«

»Wegen der Luft«, sagte sie.

»Es wird bestimmt eine Party stattfinden, wie, im Palast?« fragte Mr. Hibbert. »Ich könnte mir vorstellen, daß Drake uns sogar auf die Gästeliste setzt. Stell dir das vor, Doris. Das würde dir Spaß machen. Eine königliche Gartenparty. Hüte.«

»Aber Sie sind doch wieder nach Schanghai gegangen«, erinnerte Connie ihn beiläufig und raschelte mit ihren Notizen, um ihn zurückzurufen. »Die Japaner waren geschlagen, Schanghai war wieder offen, und schon sind Sie auch wieder da. Ohne Ihre Frau natürlich, aber trotzdem, Sie sind wieder da.«

»O ja, wir gingen hin.«

»Dann sahen Sie die Kos wieder. Sie trafen sie, und ich bin sicher, daß die schönste Kabbelei losging. War's nicht so, Mr. Hibbert?« Es schien schon beinah, als hätte er die Frage nicht mitbekommen, aber plötzlich fing er mit einigem Verzug herzhaft an zu lachen: »Beim Himmel, und waren sie nicht inzwischen richtige kleine Männer geworden, die beiden! Pfiffige Kerle! Und hinter den Mädchen her, mit Verlaub gesagt, Doris. Ich behaupte immer noch, Drake hätte dich geheiratet, wenn du ihm nur ein bißchen Hoffnung gemacht hättest.«

»Also bitte, Dad«, murmelte Doris und starrte finster zu Boden. »Und Nelson? Du meine Güte, ein ausgewachsener Rebell!« Er schlürfte den Tee vom Löffel und so vorsichtig, als fütterte er einen Vogel. »Wo 's Missie?« Das wollte Drake als erstes wissen. Er hatte sein ganzes Englisch vergessen, Nelson ebenfalls. Ich mußte ihnen später Stunden geben. Also sagte ich es ihm. Er hatte inzwischen einiges vom Tod gesehen, das stand fest. War nicht, als ob er es mir nicht glaubte. >Missie tot<, sagte ich. Mehr gab's nicht zu sagen. >Sie ist tot, Drake, und sie ist bei Gott.< Ich habe ihn weder vorher noch später wieder jemals weinen sehen, aber damals weinte er, und ich liebte ihn dafür. >Ich verliere zwei Mutter<, sagt er zu mir. >Mutter tot, jetzt Missie tot.< Wir beteten für sie, was kann man sonst machen? Aber unser kleiner Nelson, der weinte nicht und betete nicht. Der nicht. Hat nie so an ihr gehangen wie Drake. Nichts Persönliches. Sie war ein Feind. Wir alle waren Feinde.«

»Wir, wer ist das genau gesagt, Mr. Hibbert?« fragte di Salis gewinnend.

»Europäer, Kapitalisten, Missionare: wir Ausbeuter allesamt, die es auf ihre Seelen abgesehen hatten oder auf ihre Arbeitskraft oder auf ihr Silber. Wir alle«, wiederholte Mr. Hibbert ohne die geringste Spur von nachträglichem Groll. »Sah in uns allen bloß Ausbeuter. Hat schon was für sich.« Eine Weile stockte das Gespräch, bis Connie es behutsam wieder in Gang brachte: »Na, sei's drum, Sie eröffneten also die Mission wieder und Sie blieben bis zum Sieg der Kommunisten neunundvierzig, ja, und während dieser vier Jahre wenigstens konnten Sie ein väterliches Auge auf Drake und Nelson haben. Stimmt das so, Mr. Hibbert?« fragte sie mit gezückter Feder.

»Oh, wir hängten die Lampe wieder über die Tür, ja. Fünfundvierzig frohlockten wir, wie alle Leute. Der Kampf war vorbei, die Japse waren geschlagen, die Flüchtlinge konnten wieder nach Hause. Umarmungen auf offener Straße, das Übliche eben. Wir hatten Geld, Wiedergutmachung glaube ich, einen Zuschuß. Daisy Fong kam zurück, aber nicht für lange. Die ersten paar Jahre ging es nach außen hin gut, aber auch nicht wirklich. Wir blieben, solange Tschiang Kaischek sich an der Regierung halten konnte - na ja, darin war er nie besonders groß gewesen, wie? Siebenundvierzig machte sich der Kommunismus schon überall bemerkbar - und neunundvierzig war er endgültig da. Die internationale Kolonie war natürlich längst verschwunden, die Konzessionen auch, nicht schade drum. Der Rest ging langsam dahin. Wie üblich gab es Leute, die nichts sehen wollten, die sagten, das alte Schanghai werde ewig leben, genau wie sie es mit den Japsen machten. Schanghai habe die Mandschus verdorben, sagten sie; die warlords, die Kuomintang, die Japaner, die Briten.

Jetzt werde es die Kommunisten verderben. Natürlich hatten sie unrecht. Doris und ich - wir glaubten nicht ans Verderben, wie, nicht als Lösung für die Probleme Chinas, deine Mutter auch nicht. Also kamen wir wieder heim.«

»Und die Kos?« erinnerte Connie ihn, während Doris geräuschvoll ein Strickzeug aus einer braunen Papiertüte zog. Der alte Mann zögerte, und diesmal hemmte vielleicht nicht die Senilität den Fluß seiner Erzählung, sondern der Zweifel. »Nun ja«, gab er schließlich nach einer verlegenen Pause zu. »Ja, seltene Abenteuer hatten sie, diese beiden, das kann ich Ihnen sagen.«

»Abenteuer«, echote Doris zornig und klapperte mit den Stricknadeln. »Exzesse würde ich sagen.«

Das letzte Tageslicht heftete sich noch ans Meer, im Zimmer jedoch wurde es dunkel, und das Gasfeuer tuckerte wie fernes Motorengeräusch.

Auf der Flucht aus Schanghai wurden Drake und Nelson mehrmals getrennt, sagte der alte Mann. Wenn sie einander nicht finden konnten, verzehrten sie sich vor Gram, bis sie wieder beisammen waren. Nelson, der Junge, gelangte bis nach Tschung-king, überlebte Hunger, Erschöpfung und höllische Luftangriffe, denen Tausende von Zivilisten zum Opfer fielen. Aber Drake, der ältere, wurde zu Tschiangs Armee eingezogen, obwohl Tschiang nichts tat als auszukneifen, in der Hoffnung, Kommunisten und Japaner würden sich gegenseitig umbringen. »Ist in der ganzen Landschaft rumgebraust, unser Drake, um die Front zu finden, und hat sich um Nelson halb totgesorgt. Und Nelson natürlich, der drehte in Tschungking die Daumen, ja, und büffelte in seinen ideologischen Büchern. Sie hatten dort sogar die New China Daily, erzählte er mir später, mit Tschiangs Genehmigung gedruckt! Stellen Sie sich das vor! Es waren noch ein paar von seinen Gesinnungsgenossen in der Gegend, und in Tschungking steckten sie die Köpfe zusammen und bauten eine neue Welt für die Zeit nach Kriegsende, und eines Tages kam es denn auch, Gott sei Dank.«

Neunzehnhundertfünfundvierzig, sagte Mr. Hibbert schlicht, endete die Trennung durch ein Wunder: »Eine Möglichkeit unter Tausenden, ach was, unter Millionen. Die Straße in die Heimat wimmelte von Lastwagen, Karren, Truppen, Geschützen, alles strömte zur Küste, und Drake rannte die Kolonnen auf und ab wie ein Irrer: >Habt ihr meinen Bruder gesehen?<«

Das Drama jenes Augenblicks weckte plötzlich den Prediger in ihm, und seine Stimme wurde lauter.

»Und ein kleiner schmutziger Bursche faßte Drakes Ellbogen. >Da. Du. Ko.< Als bäte er ihn um Feuer. >Dein Bruder ist hinten im übernächsten Lastwagen und schwatzt ein paar Hakka-Kommunisten Löcher in die Bäuche.< Und schon liegen sie sich in den Armen, und Drake läßt Nelson nicht mehr aus den Augen, bis sie wieder in Schanghai sind, und danach auch nicht!«

»Und so kamen sie und machten Ihnen einen Besuch«, fiel Connie traulich ein.

»Als Drake wieder da war, hatte er nur eins im Sinn, und sonst gar nichts. Nelson sollte eine richtige Schulbildung bekommen. Nichts auf Gottes weiter Welt interessierte Drake, nur Nelsons Ausbildung. Nichts. Nelson mußte zur Schule gehen.« Die Hand des alten Mannes hämmerte auf die Sessellehne. »Wenigstens einer der Brüder mußte einen Abschluß haben. Oh, Drake war eisern! Und er schaffte es«, sagte der alte Mann schlicht. »Drake hat es geschaukelt. Das hat er. Er war ein richtiger Starrkopf geworden. Drake war neunzehn, als er aus dem Krieg zurückkam. Nelson war fast siebzehn, und er arbeitete gleichfalls Tag und Nacht - an seinen Studien natürlich. So wie Drake, nur daß Drake mit seinen Muskeln arbeitete.«

»Er wurde kriminell«, sagte Doris leise. »Er hat sich einer Bande angeschlossen und gestohlen. Wenn er nicht um mich herumstrich.«

Ob Mr. Hibbert sie gehört hatte oder ob er nur einen ihrer gängigen Vorwürfe beantwortete, wurde nicht klar. »Aber Doris, du mußt diese Triaden im Licht der Zeit sehen«, tadelte er sie. »Schanghai war ein Stadtstaat. Es wurde von einer Handvoll Wirtschaftskapitänen regiert, Hyänen und schlimmerem. Es gab keine Gewerkschaften, weder Gesetz noch Ordnung, das Leben war wenig wert und hart, und ich bezweifle, daß das Hongkong von heute sehr viel anders ist, wenn man bloß ein bißchen am Firnis kratzte. Neben einigen dieser sogenannten englischen Gentlemen wäre dieser berüchtigte Fabrikbesitzer von Lancashire ein leuchtendes Beispiel christlicher Nächstenliebe geworden.« Nachdem er diesen milden Vorwurf geäußert hatte, kehrte er zu Connie und seiner Erzählung zurück. Connie war ihm vertraut: der Archetypus der Dame auf der vordersten Kirchenbank: wuchtig, aufmerksam, mit Hut, und sie lauschte fromm einem jeden Wort des alten Mannes.

»Sie kamen immer gegen fünf Uhr zum Tee, wissen Sie, die beiden Brüder. Ich mußte alles bereit haben, das Essen auf dem Tisch, Limonade hatten sie gern, nannten sie Soda. Drake kam von den Docks, Nelson von seinen Büchern, und sie aßen fast schweigend, und dann ging's wieder an die Arbeit, nicht wahr, Doris? Sie hatten irgendeinen legendären Helden ausgegraben, den gelehrten Che Yin. Che Yin war so arm, daß er sich selber das Lesen und Schreiben beim Licht der Leuchtkäfer beibringen mußte. Sie redeten gern darüber, wie Nelson ihm nacheifern werde. >Los, Che Yin<, sagte ich immer. >Iß noch ein Brot, damit du bei Kräften bleibst.« Dann lachten sie ein bißchen, und schon waren sie wieder weg. >Bye-bye, Che Yin, weiter geht's.< Dann und wann, wenn er nicht gerade den Mund zu voll hatte, traktierte Nelson mich mit seiner Politik. Meine Güte, der Junge hatte vielleicht Ideen! Und von uns hat er sie nicht gelernt, das dürfen Sie mir glauben, wir wußten nicht genug. Geld sei die Wurzel allen Übels. Nun, das will ich nicht bestreiten! Habe es selber jahrelang gepredigt! Brüderlichkeit, Kameradschaft, aber: Religion ist Opium fürs Volk, also, da kam ich nicht mehr mit, aber Klerikalismus, Hochkirchenklimbim, Papistentum, Götzendienst - also, damit hatte er so unrecht nicht, so wie ich es sah. Er hatte auch harte Worte für uns Briten, und wir haben sie verdient, würde ich sagen.«

»Hat ihn nicht gehindert, bei uns zu essen, wie?« bemerkte Doris wiederum in die Kulissen. »Oder seinen alten Glauben zu verleugnen. Oder die Mission kurz und klein zu schlagen.« Aber der alte Mann lächelte nur geduldig. »Doris, mein Kind, ich habe es dir schon oft gesagt und ich sage es dir nochmals: Die Wege des Herrn sind unerforschlich. Solange gute Menschen bereit sind, hinzugehen und nach der Wahrheit zu suchen und nach der Gerechtigkeit und Brüderlichkeit, wird er nicht lange vor der Türe warten müssen.«

Doris senkte errötend den Kopf über ihr Strickzeug. »Natürlich hat sie recht. Nelson hat tatsächlich die Mission zertrümmert. Und auch seinen Glauben verleugnet.« Eine Wolke des Kummers hing sekundenlang über seinem alten Gesicht, bis das Lachen plötzlich den Sieg davontrug. »Und du liebe Güte, hat Drake den Jungen ins Gebet genommen! Hat der ihm vielleicht die Leviten gelesen! Ach Gott, ach Gott! >Politik<, sagt Drake, >kannst du nicht essen, nicht verkaufen und, mit Verlaub, Doris, du kannst nicht mit ihr schlafen! Alles was du mit ihr tun kannst, ist die Tempel kaputtschlagen und die Unschuldigen töten !< Ich hab' ihn noch nie so zornig gesehen. Und er hat Nelson eine Tracht Prügel verabreicht, jawohl! Drake hat einiges gelernt, drunten in den Docks, das kann ich Ihnen sagen!«

»Und Sie müssen es uns sagen«, zischte di Salis wie eine Schlange ins Dämmerlicht. »Sie müssen uns alles sagen. Es ist Ihre Pflicht.«

»Ein Studentenaufmarsch«, fuhr Mr. Hibbert fort. »Fackelzug nach der Sperrstunde, Gruppen von Kommunisten draußen auf den Straßen, wollen Krawall machen. Anfang neunundvierzig, muß im Frühling gewesen sein, die Lage fing gerade an, brenzlig zu werden.« Im Gegensatz zu seiner früheren Weitschweifigkeit war Mr. Hibberts Erzählstil überraschend bündig geworden: »Wir saßen am Feuer, wie, Doris? Vierzehn war Doris damals, oder war's fünfzehn? Wir hatten gern ein Feuer, auch wenn's nicht nötig war, erinnerte uns an zu Hause, an Macclesfield. Und wir hören draußen den Klamauk und das Grölen. Becken, Pfeifen, Gongs, Glocken, Trommeln, ein gräßlicher Krach. Ich hatte schon eine Ahnung, daß so etwas passieren könnte. Nelson hat mich die ganze Zeit in der Englischstunde gewarnt: »Sie gehen heim, Mr. Hibbert. Sie sind ein guter Mensch«, sagte er, >Sie sind ein guter Mensch, aber wenn die Dämme brechen, ertrinken die Guten und die Schlechten in den Fluten.< Er konnte sich so hübsch ausdrücken, wenn er wollte, dieser Nelson. Kam von seiner Überzeugung. Nicht erfunden, empfunden. >Daisy<, sagte ich, >Daisy Fong, du und Doris, ihr geht in den Hinterhof, ich glaube, wir kriegen bald Besuch.< Im nächsten Moment, päng, flog ein Stein durchs Fenster. Wir hörten natürlich Stimmen, Gebrüll, und sogar hier konnte ich unseren Nelson herauskennen, nur an der Stimme. Er sprach natürlich Chiu Chow und schanghainesisch, aber bei diesem Haufen redete er selbstverständlich schanghainesisch. >Tod den Imperialistenknechten!<, brüllt er! »Nieder mit den Tempelhyänen!« Ach, die Slogans, die sie sich ausgedacht haben! In Chinesisch klingen sie noch einigermaßen, aber sagen Sie's auf englisch, und es ist schierer Blödsinn. Dann geht die Tür auf, und sie kommen rein.«

»Sie haben das Kreuz zerschlagen«, sagte Doris, hörte auf zu stricken und starrte auf ihr Muster.

Diesmal erstaunte Mr. Hibbert, nicht seine Tochter, die Zuhörer durch handfeste Ausdrücke.

»Sie haben noch verflixt mehr zerschlagen, Doris!« erwiderte Mr. Hibbert fidel. »Sie haben den ganzen Laden kaputtgeschlagen. Kirchenbänke, den Altar, das Klavier, Stühle, Lampen, Gesangbücher, Bibeln. Oh, sie haben richtig losgelegt, das kann ich Ihnen sagen. Richtige kleine Schweine waren das. >Nur zu<, sag ich. »Bedient euch. Was der Mensch geschaffen hat, ist vergänglich, aber das Wort Gottes werdet ihr nicht aus der Welt schaffen, und wenn ihr sein Haus zu Kleinholz schlagt.« Nelson, der wollte mich gar nicht ansehen, der arme Kerl. Ich hätte für ihn weinen können. Wie sie fort waren, sah ich mich um, und da stand die alte Daisy Fong unter der Tür und Doris hinter ihr. Sie hatte sich alles angesehen, unsere Daisy. Hatte es genossen. Ich hab es aus ihren Augen gelesen. Sie war im Herzen auch eine von denen. Glücklich. >Daisy<, sagte ich. >Raus mit dir. Pack deine Sachen und ab. In diesem Leben kannst du mittun oder dich draushalten, ganz wie du willst. Aber du darfst dich nicht verdingen. Sonst bist du schlimmer als ein Spion.<«

Während Connie ihn zustimmend anstrahlte, gab di Salis ein durchdringendes empörtes Krächzen von sich, aber der alte Mann genoß seine Erzählung.

»Also, wir beide setzten uns hin, ich und Doris, und wir weinten ein bißchen zusammen, das gebe ich ohne weiteres zu, wie, Doris? Ich schäme mich der Tränen nicht, hab' ich nie getan. Wir vermißten deine Mutter bitterlich. Knieten nieder und beteten. Dann machten wir uns ans Aufräumen. Wußten wahrhaftig kaum, wo wir anfangen sollten. Und dann kommt Drake herein!« Er schüttelte verwundert den Kopf. »>Guten Abend, Mr. Hibbert<, sagt er mit seiner tiefen Stimme und einem kleinen bißchen von meinem Nordengland-Akzent, über den wir immer lachen mußten. Und hinter ihm steht der kleine Nelson mit Besen und Schaufel. Er hatte noch immer den krummen Arm, hat ihn wahrscheinlich noch, zerschossen, als er klein war, aber am Aufkehren hat er ihn nicht gehindert, kann ich Ihnen sagen. Damals ist Drake über ihn hergefallen, hat geflucht wie ein Seebär! Ich hab' ihn noch nie so gehört. Nun ja, er war ja eine Art Seebär, wie?« Er lächelte seine Tochter gelassen an. »Ein Glück, daß er Chiu Chow sprach, wie, Doris? Hab' selber nur die Hälfte davon verstanden, nicht mal das, aber, na, ich danke! Fluchte wie ein Fuhrknecht, der Junge!«

Er hielt inne und schloß kurz die Augen, im Gebet oder vor Müdigkeit.

»Es war natürlich nicht Nelsons Schuld. Das wußten wir bereits. Er war ein Anführer. Es ging um sein Gesicht. Sie waren einfach losmarschiert, ohne besonderes Ziel, und dann sagt einer zu ihm: >Heh! Missionskind! Zeig uns, wohin du jetzt gehörst!< Und er zeigt es ihnen. Muß er. Hat Drake aber nicht davon abgehalten, auf ihn einzudreschen. Sie räumten auf, wir gingen ins Bett, und die beiden schliefen in der Kapelle auf dem Boden, für den Fall, daß der Mob zurückkäme. Ich komme am nächsten Morgen runter, und da sind die Gesangbücher alle säuberlich aufgestapelt, soviel wie eben noch da waren, die Bibeln desgleichen. Sie hatten ein Kreuz aufgestellt, selber fabriziert. Sogar das Klavier zusammengeflickt, wenn auch nicht gestimmt natürlich.« di Salis schlang sich in einen neuen Knoten und stellte eine Frage. Wie Connie hatte er ein aufgeschlagenes Notizbuch vor sich, aber noch nichts hineingeschrieben.

»Was war damals Nelsons Disziplin?« fragte er in seiner näselnden unwilligen Art, und hielt den Stift schreibbereit.

Mr. Hibbert runzelte ratlos die Stirn:

»Nun, die Kommunistische Partei, natürlich.«

Als Doris »O Daddy« in ihr Strickzeug flüsterte, übersetzte Connie hastig. »Was hat Nelson studiert, Mr. Hibbert, und wo?«

»Ah, Disziplin. Diese Art Disziplin!« Mr. Hibbert verfiel wieder in seinen nüchternen Stil.

Er kannte die Antwort genau. Worüber hätten er und Nelson in ihren Englischstunden sonst sprechen können - abgesehen vom kommunistischen Evangelium, fragte er -, als über Nelsons Zukunftspläne? Nelsons Leidenschaft war der Ingenieurberuf. Nelson war überzeugt, daß die Technologie, nicht die Bibel, China aus dem Feudalismus führen könnte.

»Schiffsbau, Straßen, Eisenbahnen, Fabriken: das war Nelson. Der Erzengel Gabriel mit Rechenschieber, weißem Kragen und einem akademischen Grad. Das war er, nach seiner Vorstellung.« Mr. Hibbert blieb nicht lange genug in Schanghai, um Nelson diesen Glückszustand erreichen zu sehen, sagte er, denn Nelson machte sein Abschlußexamen erst im Jahr einundfünfzig -. di Salis' Feder kratzte wild über die Seiten des Notizbuchs.

» Aber Drake, der sich sechs Jahre lang für ihn abgerackert hatte«, sagte Mr. Hibbert - über Doris' neuerliche Bezugnahme auf die Triaden hinweg -, »Drake hielt durch, und er sah sich belohnt, genau wie Nelson. Er sah, wie dieses lebenswichtige Stück Papier in Nelsons Hand gelegt wurde, und er wußte, daß seine Arbeit jetzt getan war und er seiner eigenen Wege gehen konnte, wie er es immer geplant hatte.«

di Salis wurde vor Erregung ausgesprochen hemmungslos. In seinem häßlichen Gesicht waren noch mehr Farbflecke aufgesprungen, und er rutschte verzweifelt auf seinem Stuhl herum. »Und nach dem Examen - was kam dann?« drängte er. »Was tat er? Was wurde aus ihm? Erzählen Sie bitte weiter. Bitte, erzählen Sie weiter.«

Mr. Hibbert lächelte amüsiert über soviel Enthusiasmus. Also, sagte er, laut Drake habe Nelson sich zunächst als Zeichner in der Schiffswerft verdingt, an Blaupausen und Bauplänen gearbeitet und wie verrückt alles gelernt, was er den russischen Technikern abgucken konnte, die seit Maos Sieg ins Land strömten. Dann wurde Nelson, im Jahr dreiundfünfzig, wenn Mr. Hibbert sich richtig erinnerte, die Auszeichnung einer weiteren Studiengenehmigung an der Universität Leningrad in Rußland zuteil, und er blieb dort, bis, nun, auf jeden Fall bis Ende der fünfziger Jahre. »Oh, er war glücklich wie ein Hund mit zwei Schwänzen, unser Drake, wenn man ihn hörte.« Mr. Hibbert hätte nicht stolzer aussehen können, wenn er von seinem eigenen Sohn gesprochen hätte.

di Salis beugte sich plötzlich vor und ging sogar so weit, trotz Connies mahnender Blicke, mit seinem Stift auf den alten Mann zu deuten: »Und nach Leningrad, was haben sie dann mit ihm gemacht?«

»Wieso? Er kam natürlich zurück nach Schanghai«, sagte Mr. Hibbert lachend. »Und er wurde befördert, klar, nach diesem langen Studium, war jetzt ein angesehener Mann: Schiffsbauer, Ausbildung in Rußland, Technologe, Manager: Ach, er war ganz begeistert von den Russen! Besonders nach Korea. Sie hatten Maschinen, Macht, Ideen, Philosophie. Rußland war sein Gelobtes Land. Er blickte zu ihm auf, wie . . . « Seine Stimme und sein Eifer erstarben gleichzeitig. »Ach ja«, murmelte er und schwieg, zum zweitenmal, seit sie ihm zuhörten, seiner selbst unsicher geworden. »Trotzdem, es konnte nicht ewig dauern, wie? Rußland bewundern: wie lange war das modern in Maos Neuem Wunderland? Doris, Kind, hol mir einen Schal.«

»Du trägst ihn schon«, sagte Doris.

di Salis bohrte rücksichtslos, mit schriller Stimme weiter. Nichts interessierte ihn mehr, außer den Antworten. Auch das Notizbuch nicht, das aufgeschlagen auf seinen Knien lag: »Er kam zurück«, piepste er. »Sehr schön. Er brachte es zu etwas. Er war in Rußland ausgebildet, nach Rußland hin orientiert. Sehr schön. Was kommt dann?«

Mr. Hibbert sah di Salis lange an. Ohne Arglist in Gesicht und Augen. Er sah ihn an, wie ihn vielleicht ein kluges Kind angesehen hätte, ohne hemmende Spitzfindigkeit. Und es wurde plötzlich klar, daß Mr. Hibbert di Salis nicht mehr traute, ja, daß er ihn nicht mochte.

»Er ist tot, junger Mann«, sagte er endlich und starrte wieder hinaus aufs Meer. Im Zimmer war es jetzt fast dunkel, das meiste Licht kam vom Gasfeuer. Der graue Strand war leer. Auf dem Weidenzaun thronte eine einzelne Möwe, schwarz und groß vor den letzten Streifen des Abendhimmels. »Aber Sie sagten, er habe noch immer diesen krummen Arm«, fuhr di Salis auf ihn los. »Sie sagten, vermutlich habe er ihn noch immer. Und um ein Haar hätten Sie es jetzt nochmals gesagt, ich hörte es Ihrer Stimme an!«

»Also ich finde, daß wir Mr. Hibbert lang genug belästigt haben«, sagte Connie strahlend, warf di Salis einen scharfen Blick zu und bückte sich nach ihrer Handtasche. Aber di Salis ging nicht darauf ein.

»Ich glaube ihm nicht!« rief er mit seiner schrillen Stimme. »Wie und wann starb Nelson? Geben Sie uns genaue Daten!« Aber der alte Mann zog nur den Schal enger um die Schultern und wandte die Augen nicht vom Meer.

»Wir waren in Durham«, sagte Doris und blickte noch immer auf ihre Strickarbeit, obwohl man bei diesem Licht nicht mehr stricken konnte, »Drake kam in seinem dicken Wagen mit Chauffeur vorgefahren und besuchte uns. Er hatte seinen Trabanten bei sich, Tiu nennt er ihn. Sie waren in Schanghai Kumpane gewesen. Wollte eine Schau abziehen. Brachte mir ein Platinfeuerzeug und tausend Pfund für Dads Kirche und hielt uns seinen O. B. E. im Etui unter die Nase; zog mich in eine Ecke und sagte, ich solle nach Hongkong kommen und seine Mätresse werden, direkt vor Dads Augen. Krampf mit Sauce! Er wollte Dads Unterschrift für irgend etwas. Eine Bürgschaft. Sagte, er wolle in Gray's Inn Jura studieren. In seinem Alter, nun sagen Sie mal! Zweiundvierzig! Späte Berufung! Hat es natürlich nie vorgehabt. War alles nur Unverfrorenheit und Geschwätz, wie üblich. Dad sagte zu ihm: >Was macht Nelson?<, und -«

»Moment bitte«, unterbrach di Salis wiederum höchst unklug. »Das Datum? Wann hat sich das alles ereignet, bitte. Ich muß Daten haben.«

»Siebenundsechzig. Dad war kurz vor der Pensionierung, nicht wahr, Dad?«

Der alte Mann bewegte sich nicht.

»Gut, siebenundsechzig. In welchem Monat? Bitte ganz genaue Angaben!«

Es hätte nur noch gefehlt, daß er »Ganz genaue Angaben, Weib«, gesagt hätte. Er machte Connie ernstlich besorgt. Aber als sie wiederum versuchte, ihn zurückzuhalten, ignorierte er sie wie zuvor.

»April«, sagte Doris nach einigem Nachdenken. »Wir hatten kurz vorher Dads Geburtstag gefeiert. Deshalb brachte er die tausend Lappen für die Kirche. Er wußte, daß Dad sie nicht für sich annehmen würde, denn Dad hatte immer mißbilligt, auf welche Weise Drake zu seinem Geld kam.«

»In Ordnung. Gut. Sehr schön. April. Nelson starb also vor dem April siebenundsechzig. Was hat Drake über die näheren Umstände berichtet. Wissen Sie das noch?«

»Nichts. Keine Einzelheiten. Sagte ich schon. Dad fragte, und er sagte nur >tot<, als wäre Nelson ein Hund. Soviel für die brüderliche Liebe. Dad wußte gar nicht, wohin er sehen sollte. Es brach ihm fast das Herz, und Drake stand da und tat keinen Pieps. >Ich habe keinen Bruder. Nelson ist tot.< Und Dad betete noch immer für Nelson, das stimmt doch, Dad?« Jetzt sprach der Alte. Mit der Dunkelheit hatte seine Stimme beträchtlich an Kraft gewonnen.

»Ich betete für Nelson, und ich bete noch heute für ihn«, sagte er offen. »Solange er lebte, betete ich, er möge auf die eine oder andere Art Gottes Werk in der Welt tun. Ich glaubte daran, daß er das Zeug für große Dinge hatte. Drake würde sich immer durchschlagen. Er ist zäh. Aber das Licht über der Tür von >Lord's Life Mission« hätte nicht vergebens gebrannt, so dachte ich immer, wenn es Nelson Ko gelänge, in China die Grundlagen für eine gerechte Gesellschaft zu schaffen. Nelson mochte es Kommunismus nennen. Konnte es nennen, wie er wollte. Aber drei lange Jahre hindurch schenkten deine Mutter und ich ihm unsere christliche Liebe, und ich erlaube niemandem zu sagen, Doris, dir nicht und auch sonst niemandem, daß man das Licht der göttlichen Liebe für immer auslöschen kann. Sei es durch die Politik, sei es durch das Schwert.« Er holte tief Atem. »Und jetzt ist er tot, und ich bete für seine Seele, so wie ich für die Seele deiner Mutter bete«, sagte er, und es klang seltsamerweise weit weniger überzeugt. »Wenn das Papismus ist, ist es mir auch egal.« Connie war jetzt tatsächlich aufgestanden. Sie kannte die Grenzen, sie hatte das Auge, und sie befürchtete das Schlimmste von di Salis' Unbeherrschtheit. Aber wenn di Salis Witterung aufgenommen hatte, war er nicht mehr zu halten. »Es war also ein gewaltsamer Tod, nicht wahr? Politik und Schwert, sagten sie. Welche Politik? Hat Drake Ihnen das gesagt! Wirkliche Morde waren relativ selten, wie Sie wissen. Ich glaube, daß Sie uns etwas vorenthalten!«

di Salis hatte sich ebenfalls erhoben, stand dicht neben Mr. Hibbert und kläffte seine Fragen auf das weiße Haupt des alten Mannes hinunter, als wäre er bei einem Planspiel über Verhörtechnik in Sarratt.

»Sie waren sehr freundlich«, sagte Connie überschwenglich zu Doris. »Wir haben wirklich alles, was wir irgend benötigen könnten, und noch mehr. Ich bin überzeugt, mit der Adelsverleihung wird alles glatt gehen«, sagte sie, und ihre Stimme triefte von Warnungen zur Vorsicht an di Salis' Adresse. »Jetzt gehen wir aber, und tausend Dank Ihnen beiden.« Aber diesmal machte der Alte selber ihr Bemühen zunichte: »Und ein Jahr danach verlor er auch seinen zweiten Nelson, Gott tröste ihn, seinen kleinen Jungen«, sagte er. »Er wird ein einsamer Mann sein, unser Drake. Das war sein letzter Brief an uns, wie, Doris? >Beten Sie für meinen kleinen Nelson, Mr. Hibbert<, schrieb er. Und das taten wir. Wollte, daß ich rüberfliege, um das Begräbnis zu übernehmen. Aber ich konnte nicht, ich weiß nicht warum. Ehrlich gesagt, hab' ich nie viel dafür übriggehabt, daß man Geld für Begräbnisse ausgibt.«

Hier stürzte di Salis sich buchstäblich auf seine Beute, und dies mit wahrhaft furchterregender Jagdlust. Er beugte sich über den alten Mann und war so in Fahrt, daß er mit seiner fiebrigen kleinen Hand ein Stück des Schals packte:

»Ah! Aha! Aber hat er Sie jemals gebeten, für Nelson senior zu beten? Antworten Sie.«

»Nein«, sagte der Alte nur. »Nein, hat er nicht.«

»Warum nicht? Natürlich weil er nicht wirklich tot war! In China kann man auf vielerlei Weise sterben, nicht wahr, und nicht jede ist unbedingt tödlich! In Ungnade gefallen: ist das nicht das bessere Wort?«

Seine Quäklaute flogen im Zimmer herum wie häßliche böse Geister.

»Doris, sie sollen gehen«, sagte der alte Mann ruhig zum Meer. »Sieh nach dem Fahrer, ja, mein Kind? Bestimmt hätten wir ihn reinholen sollen, aber es macht nichts.«

Sie standen in der Diele, um sich zu verabschieden. Der alte Mann war in seinem Lehnstuhl sitzengeblieben, und Doris hatte die Zimmertür geschlossen. Manchmal war Connies sechster Sinn erschreckend.

»Der Name Liese sagt Ihnen wahrscheinlich nichts, wie, Miss Hibbert?« fragte sie, während sie ihr Kostüm glattstrich. »In Mr. Kos Lebenslauf wird eine gewisse Liese erwähnt.« Doris verzog ärgerlich das ungeschminkte Gesicht. »Das ist Mutters Name«, sagte sie. »Sie war deutsch-lutherisch. Der Schuft hat sogar ihren Namen gestohlen, wie?« Mit Toby Esterhase am Steuer rasten Connie Sachs und Doc di Salis mit ihren erstaunlichen Neuigkeiten zurück zu George. Unterwegs jedoch kabbelten sie sich zunächst über di Salis' Mangel an Zurückhaltung. Besonders Toby Esterhase war empört, und Connie fürchtete ernstlich, daß der alte Mann an Ko schreiben könnte. Aber bald siegte das Gewicht ihrer Entdeckung über alle Ängste, und sie langten triumphierend vor den Toren ihrer geheimen Stadt an.

In seiner sicheren Burg feierte nun di Salis die Stunde seines Ruhms. Wieder einmal trommelte er die bleiche Schar seiner Gelben Gefahren zusammen und setzte sie auf eine ganze Palette von Erkundigungen an, so daß sie unter dem einen oder anderen Vorwand ganz London heimsuchten und Cambridge dazu. Im Herzen war di Salis ein Einsiedler. Niemand kannte ihn, außer vielleicht Connie, und wie Connie ihn nicht mochte, so mochte ihn auch niemand sonst. Er war ein schlechter Gesellschafter und manchmal lächerlich. Aber an seiner Jagdleidenschaft hatte niemand je gezweifelt.

Er durchschnüffelte alte Berichte der »Shanghai University of Communications«, chinesisch Chiao Tung genannt, deren Studenten nach dem Krieg von neununddreißig bis fünfundvierzig als militante Kommunisten bekannt waren, und konzentrierte sein Interesse auf das »Department of Marine Studies«, das in seinem Lehrplan sowohl Verwaltung wie Schiffsbau hatte. Aus beiden Sparten sortierte er Listen von führenden Parteimitgliedern vor und nach neunundvierzig heraus und schwitzte über den spärlichen Angaben zur Person jener, die mit der Leitung großer Unternehmen betraut wurden, Projekten, die technologisches Know-how erforderten: vor allem der Werft von Kiangnan, einer großen Sache, aus der die Kuomintang-Anhänger zu wiederholten Malen hatten ausgemerzt werden müssen. Nachdem er Listen mit mehreren tausend Namen beisammen hatte, legte er Akten über alle jene an, von denen man wußte, daß sie ihre Ausbildung an der Universität von Leningrad vervollkommnet hatten und danach in höheren Positionen wieder in der Werft aufgetaucht waren. Das Studium des Schiffsbaus dauerte in Leningrad drei Jahre. Nach di Salis' Berechnungen hätte Nelson sich mutmaßlich von dreiundfünfzig bis sechsundfünfzig dort aufgehalten und war danach offiziell dem Schanghaier städtischen Marinebauamt zugewiesen worden, das ihn dann an Kiangnan zurückgab. Ausgehend von der Annahme, daß Nelson nicht nur chinesische Vornamen hatte, die noch immer unbekannt waren, sondern sich höchstwahrscheinlich obendrein noch einen neuen Familiennamen zugelegt hatte, machte di Salis seine Gehilfen darauf aufmerksam, daß Nelsons Biographie aus zwei Teilen bestehen mochte, jeder unter einem anderen Namen. Sie sollten auf Abzweigungen achten. Er verschaffte sich auf Umwegen Listen von promovierten und eingeschriebenen Studenten sowohl an der Chiao Tung wie an der Leningrader Universität und brachte sie zur Deckung. Die Chinaspezialisten sind eine Rasse für sich, und ihre gemeinsamen Interessen überwinden Protokoll und nationale Unterschiede, di Salis hatte Verbindungen nicht nur in Cambridge und zu jedem Orient-Archiv, sondern auch nach Rom, Tokio und München. Er schrieb an sie alle, versteckte jedoch sein Anliegen unter einer Unmenge anderer Fragen. Sogar die Vettern hatten ihm, wie sich später herausstellte, unwissentlich ihre Akten zugänglich gemacht. Er stellte noch weitere und sogar noch geheimnisvollere Erkundigungen an. Er schickte Wühlmäuse zu den Baptisten, wo sie in den Berichten über ehemalige Zöglinge der Missionsschulen herumgruben, auf die geringe Chance hin, daß Nelsons chinesische Namen doch irgendwo aufgeschrieben und abgelegt sein könnten. Er ging allen Berichten über Todesfälle unter den mittleren Beamten der Schanghaier Schiffsbau-Industrie nach, deren er habhaft wurde.

Das war die erste Etappe seiner Mühen. Die zweite begann mit der, wie Connie sie nannte, Großen Barbarischen Kulturrevolution Mitte der sechziger Jahre und den Namen jener Beamten aus Schanghai, die aufgrund krimineller prorussischer Neigungen entfernt wurden, gedemütigt oder in die Schule des 7. Mai geschickt, wo sie die heilsame Wirkung der Landarbeit wiedererfahren konnten. Er konsultierte sogar die Listen der Leute, die in Umerziehungslager gesteckt worden waren - aber ohne viel Erfolg. Er prüfte, ob sich in den Ansprachen an die Roten Garden irgendwelche Anspielungen auf den verderblichen Einfluß einer baptistischen Erziehung auf diesen oder jenen in Ungnade gefallenen Beamten fänden, und er spielte komplizierte Spiele mit dem Namen Ko. Der Gedanke ließ ihn nicht los, daß Nelson bei seinem Namenswechsel auf ein anderes Schriftzeichen verfallen sein könnte, das den gleichen Laut- oder Bedeutungswert hatte wie das ursprüngliche. Aber als er Connie das erklären wollte, fand er kein Gehör.

Connie Sachs verfolgte eine ganz andere Linie. Sie konzentrierte ihr Interesse auf die Aktivitäten unbekannter, von Karla ausgebildeter Talentsucher, die in den fünfziger Jahren unter den ausländischen Studenten der Universität Leningrad zugange waren; und auf - nie bewiesene - Gerüchte, wonach Karla als junger Komintern-Agent nach dem Krieg an den kommunistischen Untergrund von Schanghai ausgeliehen worden sein sollte, um dort den illegalen Apparat aufbauen zu helfen. Mitten in all das neuerliche Wühlen platzte eine kleine Bombe aus Grosvenor Square. Mr. Hibberts Enthüllungen waren noch ofenfrisch, und die Rechercheure beider Familien werkten noch wie die Rasenden, als Peter Guillam mit einer dringenden Meldung bei Smiley aufkreuzte. Smiley war wie immer in seine eigene Lektüre vertieft, und als Guillam eintrat, schob er eine Akte in die Schreibtischlade und schloß sie.

»Die Vettern haben angerufen«, sagte Guillam sanft. »Wegen Bruder Ricardo, Ihrem Lieblingspiloten. Sie möchten Sie so bald wie möglich im Annex sehen. Ich soll spätestens gestern zurückrufen.«

»Sie möchten was«

» Möchten Sie sehen.«

»Ach nein? Wirklich? Du lieber Gott.« Und er tappte in sein Badezimmer, um sich zu rasieren.

Als Guillam in sein eigenes Büro zurückkam, sah er Sam Collins im Polstersessel sitzen, eine seiner barbarischen braunen Zigaretten rauchen und sein waschbares Lächeln lächeln. »Irgendwas los?« fragte Sam sehr beiläufig. »Scheren Sie sich raus hier«, fauchte Guillam. Sam schnüffelte für Guillams Geschmack ohnehin viel zu viel herum, aber an diesem Tag hatte er einen konkreten Grund, ihm zu mißtrauen. Als Guillam zu Lacon ins Cabinet Office gegangen war, um ihm die monatliche Vorschußaufstellung des Circus zur Begutachtung vorzulegen, hatte er zu seiner Überraschung Sam Collins aus Lacons Privatbüro auftauchen und lässig mit Lacon und Saul Enderby vom Foreign Office schäkern sehen.

Ricardos Auferstehung

Vor dem Sündenfall hatten bemüht informelle Besprechungen zwischen den Geheimdienstpartnern im Rahmen der Besonderen Beziehungen allmonatlich stattgefunden, und anschließend hatte man sich zu einem, wie Smileys Vorgänger Alleline gern sagte, »Humpen« zusammengesetzt. Wenn die Amerikaner als Gastgeber an der Reihe waren, dann wurden Alleline und seine Kohorten, unter ihnen der allseits beliebte Bill Haydon, in eine weitläufige Dachterrassenbar gelotst, im Circus das Planetarium genannt; und mit trockenen Martinis und einer Aussicht auf West London gelabt, die sie sich sonst nie hätten leisten können. Waren die Briten dran, dann wurde in der Rumpelkammer ein Tisch aufgeschlagen, mit einem geflickten Damasttuch bedeckt und die amerikanische Abordnung durfte der letzten Bastion der Saint-James-Spione, die übrigens auch die Wiege ihrer eigenen Dienststelle gewesen war, ihre Aufwartung machen und dazu südafrikanischen Sherry schlürfen, den man diskret in geschliffenen Karaffen getarnt hatte mit der Begründung, sie merkten den Unterschied doch nicht. Für die Diskussionen gab es keine Tagesordnung, und traditionsgemäß wurden keine Notizen gemacht. Alte Freunde hatten solche Mittel nicht nötig, zumal die versteckten Mikrophone nüchtern blieben und bessere Arbeit leisteten.

Seit dem Sündenfall war es mit diesen kleinen Feinheiten für eine Weile Schluß gewesen. Auf Anweisung von Martellos Hauptquartier in Langley, Virginia, wurde die »Britische Verbindung«, als die der Circus dort bekannt war, auf die Liste derer gesetzt, die man auf Armlänge fernhielt, also zusammen mit Jugoslawien und dem Libanon, und eine Zeitlang benutzte man nicht einmal mehr die gleiche Straßenseite und hob bei einer Begegnung kaum den Blick. Die beiden Dienste glichen einem entfremdeten Ehepaar während des anhängigen Scheidungsverfahrens. Aber schließlich dämmerte jener graue Wintermorgen, an dem Smiley und Guillam sich in gelinder Eile am Vordereingang des Legal Advisor's Annex am Grosvenor Square einstellten, wo bereits deutliches Tauwetter herrschte, sogar in den starren Mienen der beiden Marineinfanteristen, die ihnen die Taschen durchsuchten. Es waren übrigens Doppeltüren, schwarze Gitter über schwarzem Eisen, und auf den Gitterstäben vergoldete Federn. Was allein sie gekostet hatten, hätte den ganzen Circus mindestens ein paar Tage lang am Leben erhalten. Drinnen überkam sie das Gefühl, als wären sie von einem Weiler in die Hauptstadt versetzt. Maitellos Büro war sehr groß. Es gab keine Fenster, und es hätte ebensogut Mitternacht sein können. Über einem leeren Schreibtisch entfaltete sich, in halber Länge der Stirnwand, eine amerikanische Fahne, als wehte sie im Wind. In der Mitte des Raums war, um einen Rosenholztisch, ein Kreis aus Flugzeugsesseln arrangiert, und in einem davon saß Martello selber, ein stämmiger, fröhlich aussehender Yale-Mann im Tweedanzug, der zu keiner Jahreszeit saisongemäß wirkte. Rechts und links von ihm zwei schweigende Männer, einer so bleich und bieder wie der andere. »George, das ist freundlich von Ihnen«, sagte Martello munter mit seiner dunklen, anheimelnden Stimme, während er ihnen rasch entgegenschritt. »Das muß ich Ihnen nicht erst sagen. Ich weiß, wie beschäftigt Sie sind. Ich weiß. Sol«, er wandte sich an zwei Unbekannte, die auf der anderen Seite des Büros saßen, der eine ebenso jung wie Martellos schweigende Männer, wenn auch weniger glatt; der andere vierschrötig und hart und sehr viel älter, mit Narben im Gesicht und Bürstenhaarschnitt, ehemaliger Teilnehmer irgendeines Krieges. »Sol«, wiederholte Martello, »ich möchte Sie mit einer der wahren Legenden unseres Metiers bekanntmachen, Sol: Mr. George Smiley. George, das ist Sol Eckland, ein großer Mann in unserem Drogenbekämpfungsdezernat, früher >Bureau of Narcotics and Dangerous Drugs< genannt und jetzt umgetauft, stimmt's, Sol? Sol, und das hier ist Pete Guillam.«

Der ältere der beiden Männer streckte eine Hand aus, Smiley und Guillam schüttelten sie, und sie fühlte sich an wie trockene Baumrinde.

»So«, sagte Martello und sah so zufrieden drein wie ein erfolgreicher Heiratsvermittler. »George, äh, erinnern Sie sich an Ed Ristow, ebenfalls beim Rauschgift, George? Hat Sie vor einpaar Monaten einmal drüben telefonisch begrüßt? Nun, Sol ist Ristows Nachfolger. Zuständig für Südostasten. Und Cy hier arbeitet mit ihm.«

Niemand kann sich Namen so gut merken wie die Amerikaner, dachte Guillam.

Cy war der jüngere der beiden. Er hatte Koteletten und eine goldene Uhr und sah aus wie ein Mormonen-Missionar: fromm, aber streitbar. Er lächelte, als hätte er es in der Schule gelernt, und Guillam lächelte zurück.

»Was ist mit Ristow?« fragte Smiley, als sie sich setzten. »Infarkt«, knurrte Sol, der Veteran, mit einer Stimme, so trocken wie seine Hand. Sein Haar war wie Stahlwolle, in schmale Streifen zerteilt. Wenn er sich am Kopf kratzte, was er häufig tat, raschelte es.

»Das tut mir leid«, sagte Smiley.

»Könnte für immer sein«, sagte Sol, sah Smiley dabei nicht an und zog an seiner Zigarette.

Hier dämmerte es Guillam zum erstenmal, daß irgend etwas Bedeutsames in der Luft lag. Er entdeckte die Spur einer regelrechten Spannung zwischen den beiden amerikanischen Lagern. Nach Guillams Kenntnis der amerikanischen Szene wurden sang- und klanglose Ämterwechsel selten durch etwas so Banales wie Krankheit verursacht. Er ging so weit, sich zu fragen, auf welche Weise Sols Vorgänger seine weiße Weste bekleckst haben mochte.

»Die Kollegen vom Rauschgift haben, äh, natürlich gewaltiges Interesse an unserem kleinen Hasch-Spielchen, George«, sagte Martello, und dieser verhaltene Fanfarenstoß verkündete indirekt, daß die Jagd auf Ricardo angeblasen war, obwohl Guillam feststellte, daß die amerikanische Seite sich offenbar noch immer seltsam gedrängt fühlte, einen anderen Grund für die Zusammenkunft vorzuschieben - wie Martellos nichtssagende Eröffnungsworte bewiesen:

»George, unsere Leute in Langley arbeiten wirklich gern sehr eng mit ihren guten Freunden vom Rauschgift zusammen«, erklärte er mit aller Wärme einer diplomatischen note verbale. »Beruht auf Gegenseitigkeit«, grollte Sol, der Veteran, zustimmend und stieß weiteren Zigarettenrauch aus, während er sich in den Haaren kratzte. Er schien Guillam ein eher verschlossener Mann zu sein und sich hier keineswegs behaglich zu fühlen. Cy, sein junger Gefährte, war bedeutend gewandter:

»Frage der Parameter, Mr. Smiley, Sir. Bei einer solchen Sache kann es vorkommen, daß die Kompetenzen sich überschneiden.«

Cys Stimme war ein bißchen zu hoch für seine Größe.

»Cy und Sol haben schon früher mit uns gejagt, George«, sagte Martello, was als weitere Beruhigungsspritze gedacht war. »Cy und Sol gehören zur Familie, dafür garantiere ich. Langley bezieht Rauschgift ein, Rauschgift bezieht Langley ein. So geht das.

Stimmt's, Sol?«

»Stimmt«, sagte Sol.

Wenn sie jetzt nicht bald miteinander ins Bett gehen, dachte Guillam, dann könnten sie sich statt dessen gegenseitig die Augen auskratzen. Er warf einen Blick zu Smiley hinüber, der sich unsichtbar machen zu wollen schien, während diese ganzen Erklärungen ihm zuliebe vonstatten gingen. »Vielleicht sollten wir uns erst einmal über den neuesten Stand der Dinge informieren«, schlug Martello nun vor, als forderte er die Anwesenden auf, sich zu waschen. Ehe wir was tun? überlegte Guillam.

Einer der schweigenden Männer hörte auf den Arbeitsnamen Murphy. Murphy war so hell, daß er fast ein Albino hätte sein können. Murphy nahm eine Akte vom Rosenholztisch und las mit großem Respekt in der Stimme daraus vor. Er hielt jede Seite extra zwischen seinen sauberen Fingern.

»Sir, Observierter flog Montag mit >Cathay Pacific Airlines< nach Bangkok, Einzelheiten des Fluges angegeben, und wurde am Flugplatz von Tan Shaw - unser Report liegt vor - in seiner Privatlimousine abgeholt. Sie fuhren direkt zur ständigen Suite von Airsea im Hotel Erawan.« Er blickte zu Sol hinüber. »Tan ist geschäftsführender Direktor von >Asian Rice and General<, Sir, das ist die >Airsea<-Tochter in Bangkok, alle Auskünfte liegen zu den Akten. Sie verbrachten drei Stunden in der Hotelsuite und -«

»Äh, Murphy«, unterbrach ihn Martello. »Sir?«

»Das »Report liegt von und >Auskünfte liegen zu den Akten« lassen Sie dann aus, ja? Wir alle wissen, daß wir über diese Burschen Akten haben. In Ordnung?«

»In Ordnung, Sir.«

»Ko allein?« fragte Sol.

»Sir, Ko hatte seinen Manager, einen gewissen Tiu bei sich. Tiu begleitet ihn praktisch überall hin.«

Als Guillam hier wiederum riskierte, Smiley anzusehen, fing er einen fragenden Blick Smileys an Martello auf. Guillam vermutete, daß er an das Mädchen dachte - war sie auch dabeigewesen? -, aber Martellos mildes Lächeln zeigte keine Regung, und nach einem Moment schien Smiley sich damit abgefunden zu haben und nahm seine abwartende Haltung wieder ein. Sol hatte sich inzwischen seinem Assistenten zugewandt, es kam zu einem kurzen privaten Wortwechsel:

»Warum zum Teufel zapft nicht jemand diese verdammte Hotelsuite an, Cy? Was fürchten sie denn alle?«

»Wir schlugen das Bangkok bereits vor, Sol, aber sie haben Schwierigkeiten mit den Trennwänden, fanden keine geeigneten Vertiefungen oder so.«

»Diese Clowns in Bangkok sind arschlastige Schlafmützen. Ist das der gleiche Tan, den wir voriges Jahr wegen Heroin festnageln wollten?«

»Also das war Tan Ho, Sol. Dieser da ist Tan Lee. Es gibt unheimlich viele Tans dort drüben. Tan Lee ist nur ein Strohmann. Er besorgt den Kontakt zu Fatty Hong in Chiang Mai. Hong hinwiederum hat die Verbindungen zu den Anbauern und den Großhändlern.«

»Jemand sollte hingehen und das Schwein abknallen«, sagte Sol. Welches Schwein wurde nicht ganz klar. Martello nickte dem bleichen Murphy zu, er solle weitermachen. »Sir, die drei Männer fuhren dann hinunter zum Hafen - also Ko und Tan Lee und Tiu, Sir -, und sie sahen sich zwanzig oder dreißig kleine Küstenfahrzeuge an, die an der Pier entlang vertäut waren. Dann fuhren sie zurück zum Flugplatz von Bangkok, und der Observierte flog nach Manila, Philippinen, zu einer Zementkonferenz im Hotel Eden and Bali.«

»Tiu flog nicht nach Manila?« fragte Martello in hinhaltender Absicht.

»Nein, Sir. Flog nach Hause«, antwortete Murphy, und wiederum warf Smiley einen Blick zu Martello hinüber.

»Von wegen Zement«, rief Sol. »Waren das die Boote, die den Transport hinauf nach Hongkong besorgen, Murphy?«

»Ja, Sir.«

»Wir kennen diese Boote«, erklärte Sol vorwurfsvoll. »Wir sind seit Jahren hinter diesen Booten her. Stimmt's, Cy?«

»Stimmt«, bestätigte Cy prompt.

Sol war zu Martello herumgefahren, als wäre er persönlich daran schuld: »Sie verlassen den Hafen sauber. Nehmen den Stoff erst an Bord, wenn sie auf See sind. Niemand weiß, welches Boot die Fracht bekommt, auch nicht der Kapitän des betreffenden Schiffes, bis die Barkasse längsseits anlegt und ihnen den Stoff gibt. Sobald sie die Gewässer von Hongkong erreichen, werfen sie den Stoff über Bord, mit Bojen dran, und die Dschunken gabeln ihn auf.« Er sprach langsam, als tue das Sprechen ihm weh, jedes Wort quälte sich heiser heraus. »Wir liegen den Briten seit Jahren in den Ohren, daß sie diese Dschunken hopsgehen lassen, aber diese Schweine sind alle geschmiert.«

»Das ist alles, was wir haben, Sir«, sagte Murphy und legte seinen Bericht wieder auf den Tisch.

Wieder flogen Engel durch den Raum. Dann verschaffte ihnen ein hübsches Mädchen mit einem Tablett voll Kaffee und Keksen eine kurze Gnadenfrist. Aber als das Mädchen wieder draußen war, wurde das Schweigen noch peinlicher.

»Warum sagen Sie's ihm nicht einfach?« knurrte Sol endlich. »Sonst könnte sein, daß ich es tue.«

Womit sie, wie Martello gesagt haben würde, endlich zum Kern der Sache kamen.

Martello gab sich von nun an zugleich ernst und vertraulich: der Familienanwalt, der den Erben einen Letzten Willen vorliest. »George, äh, auf unsere Bitte hin hat Rauschgift nochmals einen Blick auf den Background und die Personalakte des vermißten Piloten Ricardo geworfen, und sie haben, wie wir beinah vermuteten, eine stattliche Menge Material ausgegraben, das bis dato nicht ans Licht gekommen war, aber hätte kommen sollen, dies aufgrund verschiedener Faktoren. Es führt meiner Ansicht nach zu nichts, jetzt auf irgendwen mit dem Finger zu deuten, und außerdem ist Ed Ristow ein kranker Mann. Sagen wir also, daß die Sache Ricardo, wie immer es auch passierte, in eine kleine Lücke zwischen Rauschgift und uns hineinfiel. Diese Lücke wurde inzwischen geschlossen, und wir möchten gern Ihre Informationen richtigstellen.«

»Vielen Dank, Marty«, sagte Smiley geduldig.

»Scheint, daß Ricardo doch noch lebt«, erklärte Sol. »Scheint, wir haben da ein erstklassiges Snafu.«

»Ein was?« fragte Smiley scharf, vielleicht ehe die volle Bedeutung von Sols Äußerung eingesickert war. Martello übersetzte flugs: »Völlige Verwirrung, George, menschliches Versagen. Passiert jedem von uns. Snafu. Auch Ihnen, okay?«

Guillam betrachtete Cys Schuhe, die einen gummiartigen Glanz und dicke Wülste hatten. Smileys Blick hatte sich zur Längswand gehoben, von wo Präsident Nixons wohlwollende Züge ermutigend auf den Dreibund herniederblickten. Nixon war vor einem guten halben Jahr zurückgetreten, aber Martello schien rührenderweise entschlossen zu sein, ihm die Treue zu halten. Murphy und sein stummer Begleiter saßen still wie Konfirmanden in Gegenwart des Bischofs. Nur Sol war in ständiger Bewegung, kratzte sich den krausen Skalp oder nuckelte an der Zigarette, wie eine sportliche Ausgabe von di Salis. Er lächelt nie, dachte Guillam abgelenkt: er hat vergessen, wie man das macht. Martello fuhr fort: »Ricardos Tod wird in unseren Akten formell als am oder um den einundzwanzigsten August eingetreten verzeichnet, George. Richtig?«

»Richtig«, sagte Smiley.

Martello holte Atem und neigte den Kopf nach der anderen Seite, während er seine Notizen verlas. »Aber, im September, äh, am zweiten - etwa vierzehn Tage nach seinem Tod, richtig? -, scheint Ricardo, äh, persönlichen Kontakt mit jemandem vom Drogendezernat im asiatischen Raum aufgenommen zu haben, damals als BNDD bekannt, aber ursprünglich die gleiche Firma, okay? Sol würde, äh, lieber nicht erwähnt haben, welche Stelle es genau war, und ich respektiere das.« Die Manie mit dem Äh, überlegte Guillam, war Martellos Masche, im Sprachfluß zu bleiben, während er nachdachte. »Ricardo bot dieser Stelle gegen Bezahlung Informationen bezüglich eines, äh, Opiumauftrags an, den er, wie er behauptete, erhalten habe: er sollte über die Grenze fliegen, nach, äh, Rotchina.«

Eine kalte Hand schien in diesem Augenblick nach Guillams Magen zu greifen und dort zu bleiben. Die Enthüllung wirkte um so drastischer auf ihn, als sie der langweiligen Einleitung aus so vielen nebensächlichen Einzelheiten folgte. Er sagte später zu Molly, es sei gewesen, als hätten sich »alle Fäden des Falls plötzlich zu einem einzigen Strang verflochten«. Aber das war in der Rückschau, und er übertrieb ein bißchen. Dennoch, der Schock - nach all der Geheimnistuerei und den Spekulationen und den Schnitzeljagden -, der durch nichts abgemilderte Schock, fast körperlich auf das chinesische Festland geschleudert zu werden, der war ganz bestimmt real und bedurfte keiner Übertreibung. Martello schlüpfte wieder in die Rolle des würdigen Anwalts. »George, ich muß hier für Sie noch einiges vom, äh, Familienbackground nachtragen. Während der Sache in Laos verwendete unsere Firma einige der nördlichen Bergstämme für kriegerische Zwecke, Sie wissen das vielleicht. Gleich droben in Burma, kennen Sie diesen Teil, die Shan-Staaten? Freiwillige, Sie verstehen? Eine Menge dieser Stämme waren Dörfer mit Ein-Frucht-Anbau, äh, Opiumdörfer, und im Interesse des dort herrschenden Krieges mußte unsere Firma - äh, well, ein Auge zudrücken bei etwas, das wir ohnehin nicht ändern konnten, Sie verstehen? Diese guten Leutchen mußten leben, und viele kannten gar nichts anderes und sahen auch nichts Böses darin, als diese, äh, Frucht anzubauen. Sie verstehen?«

»Herrgott«, sagte Sol leise. »Hast du gehört, Cy?«

»Hab's gehört, Sol.«

Smiley sagte, daß er verstehe.

»Dieses Verhalten der, äh, unserer Firma verursachte eine sehr kurze, sehr vorübergehende Verstimmung zwischen unserer Firma einerseits und den, äh, Rauschgiftfachleuten hier andererseits, vormals Bureau of Narcotics genannt. Weil, well, während Sols Jungens sich draußen herumschlugen, um den Drogenmißbrauch abzustellen, was absolut richtig ist, und um die Transporte, äh, abzufangen, was ihr Job ist, George, und ihre Pflicht, erforderte das Interesse unserer Firma - das heißt, das Interesse des Krieges - zu diesem Zeitpunkt, Sie verstehen, George, daß wir, well, äh, ein Auge zudrückten.«

»Die Firma hat für die Bergstämme den guten Onkel gespielt«, knurrte Sol. »Männer waren alle weg, kämpften im Krieg, die Leute von der Firma flogen hinauf zu den Dörfern, kassierten ihren Mohn, vögelten ihre Weiber und flogen mit ihrem Stoff davon.«

Martello war nicht so leicht aus dem Sattel zu heben: »Well, wir meinen, das stellt die Dinge ein bißchen zu kraß dar, Sol, aber die, äh, Verstimmung war in der Tat da, und das ist der Punkt, der unseren Freund George betrifft. Ricardo, der ist ein harter Brocken. Er flog eine Menge Einsätze für die Firma in Laos, und als der Krieg zu Ende war, zahlte unsere Firma ihn aus, machte Winke-Winke und zog die Leiter hoch. Niemand will solche Burschen auf dem Hals haben, wenn es keinen Krieg mehr für sie gibt. So wurde, äh, vielleicht zu diesem Zeitpunkt aus dem, äh, Wildhüter Ricardo der, äh, Wilderer Ricardo, wenn Sie mich verstehen.«

»Nicht vollständig«, gestand Smiley zahm. Sol hatte keine derartigen Skrupel in bezug auf bittere Wahrheiten. »Solang der Krieg dauerte, hat Ricardo die Drogenflüge für die Firma gemacht, damit oben in den Bergdörfern der Ofen nicht ausging. Nach dem Krieg flog er auf eigene Rechnung. Er hatte die Verbindungen, und er wußte, wo die Leichen im Keller lagen. Er machte sich selbständig, da? ist alles.«

»Vielen Dank«, sagte Smiley, und Sol fing wieder an, seinen Bürstenkopf zu kratzen.

Zum zweitenmal ging Martello zu der Geschichte von Ricardos verdrießlicher Auferstehung über.

Sie müssen es untereinander abgesprochen haben, dachte Guillam. Martello führt das Wort. »Smiley ist unser Kontaktmann«, hatte Martello vermutlich gesagt. »Wir drillen ihn nach unserer Fasson.«

Am zweiten September dreiundsiebzig, sagte Martello, habe ein namentlich nicht genannter Agent der Rauschgiftabteilung im südostasiatischen Raum, wie Martello den Mann beharrlich bezeichnete, »ein junger Mensch, ganz neu in der Branche, George«, in seiner Wohnung einen nächtlichen Telefonanruf von einem, wie der Anrufer sich nannte, Captain Tiny Ricardo erhalten, einem Mann, der bis dato für tot galt, früherem Laos-Söldner unter Captain Rocky. Ricardo bot eine ansehnliche Menge Rohopium zum ortsüblichen Ankaufspreis. Neben dem Opium jedoch hatte er heiße Informationen anzubieten, wofür er einen, wie er sagte, Schleuderpreis forderte. Im Klartext: fünfzigtausend US-Dollar in kleinen Scheinen und einen westdeutschen Paß mit einmaligem Ausreisevisum, Der namentlich nicht genannte Agent traf sich noch in der gleichen Nacht mit Ricardo auf einem Parkplatz, und sie wurden wegen des Opiumverkaufs rasch handelseins.

»Wollen Sie sagen, Ihr Agent hat dieses Opium gekauft?« fragte Smiley höchst erstaunt.

»Sol sagt mir, es gebe einen, äh, festen Tarif für solche Geschäfte - stimmt's Sol? -, der allen Beteiligten bekannt ist und soundsoviel Prozent des, äh, Schwarzmarktwerts der Ware beträgt, stimmt's?« Sol knurrte bestätigend. »Der, äh, namentlich nicht genannte Agent war befugt, zu diesem Tarif einzukaufen, und er machte von der Befugnis Gebrauch. Kein Problem. Der Agent erklärte sich auch, äh, einverstanden - vorbehaltlich der Genehmigung von oben -, Ricardo Papiere mit beschränkter Gültigkeitsdauer zu verschaffen, George« - er meinte, wie sich später herausstellte, einen nur für wenige Tage gültigen westdeutschen Reisepaß -, »wenn sich - was noch nicht feststeht, verstehen Sie, George - Ricardos Information als entsprechend wertvoll erweisen sollte, denn es gehört zur Arbeitsmethode, Informanten um jeden Preis zu ermutigen. Aber der Agent machte Ricardo klar, daß der ganze Handel - Paß und Bezahlung für die Information - erst der Ratifizierung durch Sols Leute zu Hause im Hauptquartier bedürfe. Er kaufte also das Opium, aber noch nicht die Information. Stimmt's, Sol?«

»Trifft's genau«, knurrte Sol.

»Sol, äh, vielleicht sollten Sie jetzt weitermachen«, sagte Martello.

Als Sol redete, hielt er ausnahmsweise völlig still. Nur der Mund bewegte sich.

»Unser Agent verlangte- von Ricardo eine Kostprobe, damit der Wert der Information zu Hause festgestellt werden könnte. Ricardo erzählte nun unserem Agenten, er habe Anweisung erhalten, den Stoff über die Grenze nach Rotchina zu fliegen und als Bezahlung eine nicht näher bezeichnete Fracht zurückzubringen. Das hat er gesagt. Das war die Kostprobe. Er sagte, er kenne den Mann, der hinter dem Geschäft stecke, er sagte, er kenne den Mister Big aller Mister Bigs, das sagen sie alle. Er sagte, er kenne die ganze Geschichte, aber auch das sagen sie alle. Er sagte, er habe also das Festland angeflogen und zack wieder abgedreht, über Laos im Tiefflug, um unter den Radarschirmen wegzutauchen. Mehr hat er nicht gesagt. Sagte nicht, von wo er startete. Sagte, er stehe bei den Leuten, die ihm den Auftrag gaben, in der Schuld, und wenn sie ihn jemals fänden, würden sie ihm die Schnauze polieren. So steht es im Protokoll, Wort für Wort. Die Schnauze polieren. Er habe es also eilig, daher der Spottpreis von fünfzig Riesen. Er sagte nicht, wer diese Leute sind, er lieferte nicht die Spur einer Zusatz-Information, außer dem Opium, aber er sagte, das Flugzeug habe er noch, er habe es versteckt, eine Beechcraft, und er bot unserem Agenten an, ihm dieses Flugzeug zu zeigen, sobald sie sich wieder trafen. Vorausgesetzt, daß höheren Orts ernsthaftes Interesse bestehe. Das ist alles, was wir haben«, sagte Sol und widmete sich wieder seiner Zigarette. »Die Opiummenge belief sich auf mehrere hundert Kilo. Gute Ware.« Martello brachte sich geschickt wieder in Ballbesitz: »Der namentlich nicht genannte Rauschgiftagent machte also seinen Bericht, George. Und er tat, was wir alle getan hätten. Er notierte die Kostprobe und schickte sie ins Hauptquartier und schärfte Ricardo ein, sich ganz still zu verhalten, bis von seinen Leuten Bescheid käme. Wir sehen uns dann in zehn Tagen, vielleicht vierzehn. Hier ist das Geld für's Opium. Mit dem Rest für die Information müssen Sie noch ein bißchen warten. Vorschriften. Verstehen Sie, George?«

Smiley nickte mitfühlend, und Martello nickte zurück, während er weitersprach.

»Hier also liegt der Haken. Hier haben wir das menschliche Versagen, stimmt's? Es könnte noch schlimmer sein, aber nicht viel. Bei unserem Spiel gibt es zweierlei Auffassungen: Verrat oder Versagen. Hier haben wir's mit Versagen zu tun, gar kein Zweifel. Sols Vorgänger Ed, zur Zeit erkrankt, prüfte das Material, und nach Lage der Dinge - also, Sie kennen ihn, George, Ed Ristow, ein guter, verständiger Mann -, und nach Lage der Dinge, wie sie sich ihm darstellten, beschloß Ed, was verständlich, aber verkehrt war, nicht weiterzumachen. Ricardo wollte fünfzig Riesen. Nun, für eine große Sache ist das gar nichts, soviel ich höre. Aber Ricardo wollte das Geld sofort auf den Tisch. Kassieren und abhauen. Und Ed - well, Ed hatte große Verantwortung zu tragen und eine Menge häusliche Schwierigkeiten, und Ed sah einfach keine Möglichkeit, eine solche Summe öffentlicher amerikanischer Gelder in eine Type wie Ricardo zu investieren, ohne daß ein großer Fang garantiert war, in Ricardo, der alle Tricks kennt, alle Schliche und sich vielleicht nur großtut, um Eds Außenagenten, der ja erst ein Anfänger ist, aufs Kreuz zu legen. Also hat Ed die Sache abgeblasen. Keine weitere Aktion. Ablegen und vergessen. Erledigt.«

Vielleicht war es wirklich ein Infarkt, überlegte Guillam unsicher.

Aber im Innersten wußte er genau, daß es ihm selber auch hätte passieren können und sogar passiert war: ein Zuträger will Die Große Sache verhökern, und man läßt sie sich durch die Lappen gehen.

Ohne Zeit mit Anschuldigungen zu verschwenden, war Smiley gelassen zu den noch verbliebenen Möglichkeiten übergegangen. »Wo ist Ricardo jetzt, Marty?« fragte er. »Nicht bekannt.«

Seine nächste Frage ließ viel länger auf sich warten und war weniger eine Frage, als vielmehr ein laut angestelltes Überlegen. »Und als Bezahlung eine nicht näher bezeichnete Fracht zurückzubringen«, zitierte er. »Gibt es irgendwelche Theorien darüber, um welche Art Fracht es sich gehandelt haben mochte?«

»Wir nahmen an, Gold. Wir haben auch kein zweites Gesicht, so wenig wie Sie«, sagte Sol grob.

Hier stellte Smiley einfach jede Teilnahme an den Vorgängen für eine Weile ein. Seine Züge erstarrten, die Miene wurde ängstlich und für jeden, der ihn kannte, verschlossen, und plötzlich sah Guillam sich vor die Aufgabe gestellt, das Gespräch in Gang zu halten. Zu diesem Zweck wandte er sich, wie Smiley, an Martello: »Ricardo machte keine Andeutung darüber, wo er seine Rückfracht abliefern sollte?«

»Ich hab's Ihnen gesagt, Pete: das ist alles, was wir haben.« Smiley hielt sich weiterhin dem Kampf fern. Er saß da und starrte betrübt auf seine gefalteten Hände. Guillam ließ sich eine weitere Frage einfallen:

»Und auch keine Andeutung über das voraussichtliche Gewicht der Rückfracht?«

»Herrgott«, sagte Sol, und da er Smileys Haltung mißdeutete, schüttelte er verständnislos den Kopf über diese Flaschen, die man ihm da als Gesprächspartner zumutete.

»Aber Sie sind ganz sicher, daß der Mann, der an Ihren Agenten herantrat, Ricardo war?« fragte Guillam, der sich verzweifelt über die Runden boxte.

»Hundertprozentig«, sagte Sol.

»Sol«, schlug Martello vor und beugte sich zu ihm hinüber. »Sol, wie wäre es, wenn Sie George einfach eine blinde Kopie des originalen Agentenberichts gäben? Dann hat er alles, was wir auch haben.«

Sol zögerte, blickte seinen Gefährten an, zuckte die Achseln und entnahm schließlich einem neben ihm auf den Tisch liegenden Hefter ein Blatt Durchschlagpapier, von dem er feierlich die Unterschrift abtrennte.

»Darf nicht ins Protokoll«, knurrte er, und in diesem Moment erwachte Smiley jäh wieder zum Leben, nahm aus Sols Hand den Bericht in Empfang und studierte eine Weile beide Seiten schweigend.

»Und wo, bitte, ist der namentlich nicht genannte Agent der Rauschgiftabteilung, der dieses Dokument abfaßte?« erkundigte er sich schließlich, wobei er zuerst Martello ansah, dann Sol. Sol kratzte sich den Skalp, Cy schüttelte mißbilligend den Kopf, während Martellos schweigende Männer keinerlei Neugier bekundeten. Bleichgesicht Murphy las in seinen Notizen weiter, und sein Kollege starrte ausdruckslos auf den Ex-Präsidenten. »In einer Hippie-Kommune nördlich von Katmandu untergekrochen«, knurrte Sol durch einen Schwall Zigarettenrauch. »Das Schwein ist ins andere Lager übergewechselt.« Martellos brillantes Schlußwort war wundervoll nichtssagend: »Das ist also, äh, der Grund, George, warum unser Computer Ricardo als tot und begraben führt, George, während der umfassende Bericht - der bei unseren Freunden vom Rauschgift zur Wiedervorlage gelangt ist - keine Handhabe bietet für eine derartige, äh, Annahme.«

Bis hierher hatte Guillam den Eindruck gehabt, daß Martello das Heft in der Hand hatte. Sols Jungens hatten Blödsinn gemacht, sagte er, aber die Vettern sind ungemein großzügig und willens, den Versöhnungskuß zu bieten und wieder gut zu sein. In der postkoitalen Ruhe, die auf Martellos Enthüllungen folgte, konnte dieser irrige Eindruck sich noch eine Weile halten. »Also, äh, George, ich würde sagen, daß wir in Zukunft - Sie, wir und Sol - auf uneingeschränkte Zusammenarbeit aller unserer Dienststellen zählen dürfen. Ich möchte sagen, daß die Sache eine durchaus positive Seite hatte. Stimmt's, George? Konstruktiv.« Aber Smiley, der wiederum völlig entrückt war, hob nur die Brauen und schürzte die Lippen.

»Noch was auf dem Herzen, George?« fragte Martello. »Ich sagte: haben Sie noch was auf dem Herzen?«

»Oh, vielen Dank. Beechcraft«, sagte Smiley. »Ist das ein einmotoriges Flugzeug?«

»Ach du grüne Neune«, murmelte Sol.

»Zweimotorig, George, zweimotorig«, sagte Martello. »So eine Art Managervogel.«

»Und das Gewicht der Opiumladung war vierhundert Kilo, besagt der Bericht.«

»Knapp eine halbe Tonne, George«, sagte Martello gütiger denn je. »Eine metrische Tonne«, fügte er vorsichtshalber hinzu, als er Smileys verdüsterte Züge sah. »Natürlich nicht Ihre englische Tonne, George. Metrische Tonne.«

»Und wo sollte es befördert werden - das Opium, meine ich?«

»Kabine«, sagte Sol. »Dürften wohl die übrigen Sessel ausgebaut haben. Beechcrafts haben verschiedene Modelle. Wir wissen nicht, um welches es sich hier handelt, weil wir es nie zu sehen kriegten.«

Smiley linste wieder auf die Kopie, die er noch immer fest in seinen Patschhänden hielt. »Ja«, murmelte er. »Ja, ich nehme an, das haben sie gemacht.« Und er malte mit einem goldenen Bleistift eine kleine Hieroglyphe an den Rand, ehe er wieder in seine Träumerei verfiel.

»So«, sagte Martello strahlend. »Jetzt sollten wir Arbeitsbienen vielleicht wieder zurück in unsere Stöcke und sehen, wohin uns das bringt, stimmt's, Pete?«

Guillam war gerade am Aufstehen, als Sol sprach. Sol besaß die seltene und ziemlich schreckliche Gabe natürlicher Grobheit. Nichts an ihm hatte sich verändert. Er war keineswegs außer sich. Es war einfach seine Art zu sprechen, seine Art zu arbeiten, und jede andere Art langweilte ihn ganz offenkundig: »Herrgott, Martello, was für ein Affentheater geht denn hier vor? Dies ist die Große Sache, ja? Wir haben den Finger auf das vielleicht bedeutendste Einzelziel in puncto Rauschgift im ganzen südostasiatischen Raum gelegt. Okay, also Gemeinschaftsarbeit. Die Firma ist endlich mit Rauschgift ins Bett gegangen, weil sie uns für die Sache mit den Bergstämmen entschädigen muß. Glauben Sie bloß nicht, daß mich das von Sinnen bringt. Okay, wir haben also mit den Briten ein Stillhalteabkommen betreffs Hongkong. Aber Thailand gehört uns, dito die Philippinen, dito Taiwan, dito der ganze verdammte Sektor, dito der Krieg, und die Briten sitzen auf ihren Ärschen. Vor vier Monaten tauchten die Briten auf und machten ihr Angebot. Großartig, überlassen wir's den Briten. Und was tun sie die ganze Zeit? Schlagen Schaum für ihre rosigen Backen. Wann fangen sie endlich mit dem Rasieren an, um Gottes willen? Wir haben Geld in dieser Sache stecken. Wir haben einen ganzen Apparat Gewehr bei Fuß stehen, der bereit ist, Kos Verbindungen auf der ganzen Hemisphäre zu zerschlagen. Wir suchen seit Jahren nach einem Burschen wie dem da. Und wir können ihn festnageln. Wir haben genügend rechtliche Handhabe - und was haben wir für Handhaben! -, um ihm zwischen zehn und dreißig Jahren zu verschaffen und jede Menge mehr! Wir haben ihn wegen Drogen, wir haben ihn wegen Waffen, wegen Schmuggelware, wir haben die verdammt fetteste Fuhre an rotem Gold, die wir Moskau in unserem ganzen Leber jemals einem einzelnen Mann haben aushändigen sahen, und wir haben den allerersten Beweis - wenn dieser Ricardo eine wahre Geschichte erzählt - für ein von Moskau finanziertes Drogen-Subversionsprogramm, das in der Lage und willens ist, den Kampf nach Rotchina hineinzutragen in der Hoffnung, ihnen das gleiche anzutun, was sie bereits uns antun.«

Der Ausbruch hatte Smiley aufgeschreckt wie eine kalte Dusche. Er richtete sich an der Sesselkante auf, den Bericht des Rauschgift-Agenten in der Hand zerknüllt, und starrte entgeistert zuerst Sol an, dann Martello.

»Marty«, murmelte er. »O mein Gott. Nein.«

Guillam zeigte größere Geistesgegenwart, Zumindest machte er einen Einwand:

»Sie müßten eine halbe Tonne schon schrecklich dünn ausstreuen, wie, Sol, wenn achthundert Millionen Chinesen davon süchtig werden sollen?«

Aber Sol hatte keinen Sinn für Humor und auch keinen für Einwände, und schon gar nicht, wenn sie von einem rosigen Briten kamen.

»Und packen wir ihn an der Gurgel?« fragte er unbeirrbar. »Einen Dreck. Wir schleichen um den Brei. Wir halten uns abseits. »Behutsam vorgehen. Es ist ein britisches Spiel. Ihr Territorium, ihr Mann, ihre Veranstaltung.« Wir treten also auf der Stelle, tänzeln rum. Wir taumeln wie die Schmetterlinge und stechen auch so. Herrje, wenn wir diese Sache gekriegt hätten, das Schwein wäre schon vor Monaten über ein Faß geschnallt worden.« Er hieb mit der flachen Hand auf den Tisch und benutzte dann den rhetorischen Trick, das Gesagte mit anderen Worten zu wiederholen. »Zum erstenmal im Leben haben wir einen hochkarätigen kommunistischen Schädling im Fadenkreuz, der mit Rauschgift schiebt und die ganze Gegend unsicher macht und russisches Geld nimmt, und wir können es beweisen!« Der ganze Wortschwall war an Martello gerichtet: Smiley und Guillam hätten genausogut nicht anwesend sein können. »Und bedenken Sie gefälligst noch eins«, riet er Martello abschließend: »Ein paar große Leute bei uns wollen hier Ergebnisse sehen. Ungeduldige Leute. Einflußreiche. Leute, die sehr ungehalten sind über die zweifelhafte Rolle, die Ihre Firma indirekt bei der Beschaffung von Drogen und dem Verhökern an unsere Jungens in Vietnam gespielt hat, was der Grund ist, daß Sie uns überhaupt hier mittun lassen. Sie sollten also vielleicht Ihren Luxus-Liberalen drüben in Langley, Virginia, ausrichten, es ist höchste Zeit, daß sie scheißen oder vom Topf aufstehen.«

Smiley war so blaß geworden, daß Guillam sich ernstlich um ihn Sorgen machte. Er überlegte, ob er einen Herzanfall erlitten habe oder in Ohnmacht fallen würde. Von Guillam aus gesehen waren Smileys Teint und Wangen plötzlich die eines alten Mannes, und in seinen Augen glomm, als auch er sich ausschließlich an Martello wandte, greisenhaftes Feuer.

»Dennoch, es besteht ein Abkommen. Und solange es gilt, verlasse ich mich darauf, daß Sie es einhalten. Wir haben von Ihnen die uneingeschränkte Erklärung, daß Sie sich aller Operationen im britischen Bereich enthalten, sofern nicht unsere Genehmigung ausdrücklich erteilt wurde. Wir haben ferner Ihre spezielle Zusicherung, daß Sie die gesamte Entwicklung dieses Falles uns überlassen, ohne jede Kontrolle oder Weisung irgendwelcher Art, gleichgültig, wohin diese Entwicklung führt. Das war der Vertrag. Völlig freie Hand und als Gegenleistung völlige Einsicht in das Ergebnis. Ich fasse das so auf: keinerlei Aktion von Seiten Langleys und keinerlei Aktion von Seiten irgendeiner anderen amerikanischen Dienststelle. Ich gehe davon aus, daß dies Ihr unverbrüchliches Wort ist. Und ich gehe davon aus, daß Ihr Wort noch immer gilt, und ich betrachte diese Übereinkunft als unwiderruflich.«

»Sagen Sie's ihm«, sagte Sol und marschierte hinaus, gefolgt von seinem bläßlichen Begleit-Mormonen. An der Tür drehte ersieh um und deutete mit einem Finger auf Smiley. »Sie fahren in unserem Wagen, und wir sagen Ihnen, wann Sie aussteigen können und wann Sie an Deck bleiben«, sagte er.

Der Mormone nickte: »Klarer Fall« und lächelte Guillam wie einladend an. Auf ein Nicken Martellos hin verließen Murphy und sein stummer Genosse hinter den beiden anderen den Raum.

Martello goß Drinks ein. Die Wände seines Büros waren auch aus Rosenholz - imitiertem Rosenholzfurnier, wie Guillam feststellte -, und als Martello ah einem Griff zog, legte er einen Eis-Automaten frei, der einen ständigen Hagel von Kugeln in der Art von Rugby-Bällen ausspie. Er goß drei Whiskys ein, ohne die beiden zu fragen, was sie wollten. Smiley sah völlig fertig aus. Die pummeligen Hände umklammerten noch immer die Lehnen des Flugzeugsessels, aber er saß zurückgelehnt wie ein ausgepumpter Boxer zwischen den Runden und starrte zum Plafond, der mit blinzelnden Lichtern bestückt war. Martello stellte die Gläser auf den Tisch.

»Vielen Dank, Sir«, sagte Guillam. Martello hörte ein »Sir« immer gern.

»Aber bitte«, sagte Martello.

»Wem hat Ihr Hauptquartier sonst noch Mitteilung davon gemacht?« sagte Smiley zu den Sternen. »Der Steuer? Dem Zoll? Dem Bürgermeister von Chicago? Ihren zwölf besten Freunden? Ist Ihnen klar, daß nicht einmal meine Vorgesetzten von unserer Zusammenarbeit mit Ihnen wissen? Gott im Himmel!«

»Ach, nun kommen Sie schon, George. Wir müssen Politik machen, genau wie Sie. Wir müssen Zusagen einhalten. Stimmen kaufen. Rauschgift lechzt nach unserem Blut. Diese Drogengeschichte hat im Capitol eine Menge Sendezeit gekriegt. Senatoren, die Unterausschüsse, der ganze Quatsch. Junge kommt als toller Fixer aus dem Krieg zurück. Das erste, was sein Papa tut, ist, an den Abgeordneten schreiben. Unsere Firma reißt sich nicht um alle diese üblen Gerüchte. Sie' hat ihre Freunde gern auf der eigenen Seite. Das ist Showbusiness, George.«

»Dürfte ich bitte nur erfahren, wie der Handel lautet?« fragte Smiley. »Könnte ich es wenigstens in klaren Worten erfahren?«

»Aber, aber, es gibt keinen Handel, George. Langley kann nicht mit etwas handeln, was es nicht besitzt, und dies hier ist Ihr Fall, Ihr Eigentum, Ihr . . . Wir angeln nach ihm -, Sie ebenfalls, mit einem bißchen Nachhilfe von unserer Seite, mag sein -, wir tun unser Möglichstes und dann, wenn wir, äh, keine Resultate aufweisen können, nun, dann wird Rauschgift auch ein bißchen mitmischen und, auf sehr freundschaftliche und zurückhaltende Art, sein Glück versuchen.«

»Womit die Jagd allgemein eröffnet wäre«, sagte Smiley. »Lieber Himmel, was für eine Methode, einen Fall zu verfolgen.« Im Beschwichtigen war Martello wirklich eine Kanone: »George, George. Angenommen, sie nageln Ko fest. Angenommen, sie packen ihn aus heiterem Himmel, wenn er das nächstemal die Kolonie verläßt. Wenn Ko dann in Sing-Sing schmachtet, mit zehn bis dreißig Jahren auf dem Buckel, na, dann können wir in aller Ruhe alles aus ihm rausholen. Ist das mit einemmal so furchtbar schlimm?«

Ja, das ist es, verdammt nochmal, dachte Guillam. Bis ihm plötzlich mit recht boshafter Freude einfiel, daß Martello keine Ahnung von Bruder Nelson hatte und daß George seine beste Karte im Ärmel behielt.

Smiley saß noch immer vorgebeugt da. Das Eis fn seinem Whisky hatte die Außenseite des Glases beschlagen, und eine Zeitlang starrte er darauf und beobachtete, wie die Tränen bis auf den Rosenholztisch herabrannen.

»W'e lange haben wir also für unseren Alleingang Zeit?« fragte Smiley. »Wieviel Vorgabe haben wir, ehe die Rauschgiftleute hereinplatzen?«

»Wir sind nicht unbeweglich, George. Das auf keinen Fall. Es ist eine Frage der Parameter, wie Cy sagte.«

»Drei Monate?«

»Das ist reichlich, ein bißchen reichlich.«

»Weniger als drei Monate?«

»Drei Monate, innerhalb von drei Monaten, zehn bis zwölf Wochen - so in dieser Spanne, George. Bleiben wir elastisch. Eine Sache unter Freunden. Drei Monate höchstens, würde ich sagen.« Smiley atmete mit einem langen Seufzer aus. »Gestern hatten wir noch endlos viel Zeit.«

Martello ließ den Schleier ein paar Zoll weit fallen. »Sol ist nicht so völlig im Verständnis, George«, sagte er, diesmal im besten Circus-Jargon, »äh, Sol hat weiße Flecken«, sagte er, wie als halbes Zugeständnis. »Wir werfen ihm einfach nicht die ganze Strecke vor, wissen Sie, was ich meine?«

Martello schwieg eine Weile und sagte dann:

»Sol reicht bis Stufe eins. Nicht weiter. Glauben Sie mir.«

»Und was bedeutet Stufe eins?«

»Er weiß, daß Ko von Moskau kassiert. Weiß, daß er Opium schiebt. Das ist alles.«

»Weiß er von dem Mädchen?«

»Also, sie ist ein typisches Beispiel, George. Das Mädchen. Dieses Mädchen flog mit ihm nach Bangkok. Erinnern Sie sich, wie Murphys Bericht die Reise nach Bangkok schilderte? Sie wohnte bei ihm in der Hotelsuite. Sie flog mit ihm weiter nach Manila. Ich sah, wie Sie mich an dieser Stelle anblickten. Fing Ihren Blick auf. Aber wir hatten Murphy angewiesen, diesen Teil des Berichts zu streichen. Sols wegen.« Ganz sachte schien Smiley aufzuatmen. »Der Handel steht, George«, versicherte Martello ihm leutselig. »Nichts hinzugefügt, nichts abgezogen. Sie drillen den Fisch, wir helfen Ihnen, ihn aufzuessen. Und inzwischen jede Hilfe, einfach grünes Telefon abheben und ins Horn stoßen.« Er ging so weit, eine tröstende Hand auf Smileys Schulter zu legen, nahm sie aber schleunigst wieder weg, da er fühlte, daß diese Geste unwillkommen war. »Aber, falls Sie uns jemals doch die Ruder überlassen wollten, dann würden wir die Abmachung ganz einfach umkehren und -«

»- uns die Trümpfe aus der Hand nehmen und euch zu allem Überfluß aus der Kolonie- rauswerfen lassen«, ergänzte Smiley den Satz für ihn. »Ich möchte noch eines klargestellt wissen. Ich möchte es schriftlich haben. Ich möchte, daß es Gegenstand einer Korrespondenz zwischen uns beiden ist.«

»Ihre Jagdpartie, Sie suchen das Wild aus«, sagte Martello überschwenglich.

»Meine Dienststelle wird den Fisch drillen«, beharrte Smiley in gleichbleibend direktem Ton. »Wir werden ihn auch an Land ziehen, wenn das der korrekte Anglerausdruck ist. Ich bin leider kein Sportsmann.«

»An Land ziehen, auf den Strand setzen, durchhaken, klar.« Für Guillams argwöhnisches Auge begann Martellos guter Wille an den Kanten leicht abzustoßen.

»Ich bestehe darauf, daß es unsere Operation ist. Unser Mann. Ich bestehe auf weiteren Rechten. Ihn festzuhalten und zu behalten, bis uns der Zeitpunkt gekommen scheint, ihn weiterzugeben.«

»Kein Problem, George, überhaupt kein Problem. Sie nehmen ihn an Bord, er gehört Ihnen. Sobald Sie ihn teilen wollen, rufen Sie uns an. Alles ganz einfach.«

»Ich schicke morgen vormittag eine schriftliche Bestätigung herüber.«

»Ach, machen Sie sich damit keine Mühe, George. Wir haben genügend Leute. Wir lassen sie bei Ihnen abholen.«

»Ich schicke sie herüber«, sagte Smiley. Martello stand auf:

»George, Sie haben einen guten Vertrag abgeschlossen.«

»Ich hatte schon einen«, sagte Smiley. »Langley hat ihn gebrochen.«

Sie- schüttelten einander die Hände.

In der Geschichte dieses Falles kommt ein solcher Augenblick kein zweitesmal vor. Er läuft in der Branche unter verschiedenen smarten Bezeichnungen. »Der Tag, an dem George den Spieß umdrehte«, ist eine davon - obwohl es ihn gut eine Woche kostete und Martellos Termin entsprechend näherrückte. Für Guillam bedeutete der Vorgang etwas viel Imposanteres, etwas viel Schöneres als ein rein technisches Vertauschen der Vorzeichen. Während er allmählich Smileys Absicht begriff, während er fasziniert zusah, wie Smiley mit peinlichster Genauigkeit seine Angelschnüre auslegte, diesen oder jenen Mitarbeiter zu sich rief, hier einen Haken herausnahm, dort eine Klampe einsetzte, hatte Guillam das Gefühl, einem Ozeanriesen beim Wenden zuzusehen, der gelockt, gestoppt, bugsiert wird, bis er sich hundertachzig Grad um die eigene Achse gedreht hat.

Was, wie gesagt, zur Folge hatte, daß der ganze Fall auf den Kopf gestellt, der Spieß umgedreht wurde.

Sie kehrten zum Circus zurück, ohne ein Wort zu wechseln. Smiley stieg den letzten Treppenabsatz so langsam hinauf, daß Guillams Sorgen um die Gesundheit seines Chefs erneut erwachten und er bei nächster Gelegenheit den Arzt des Circus anrief, um ihm die Symptome zu schildern, wie er sie sah; nur um zu erfahren, daß Smiley den Arzt vor ein paar Tagen aus anderen Gründen konsultiert hatte und sich allem Anschein nach als unverwüstlich erwies. Die Tür des Thronsaals schloß sich, und Fawn, der Babysitter, hatte seinen geliebten Chef wieder einmal ganz für sich. Smileys Wünschen, soweit sie durchsickerten, haftete ein Ruch von Alchimie an. Beechcraft-Flugzeuge: er verlangte Pläne und Kataloge, und außerdem - vorausgesetzt, daß sie anonym zu beschaffen wären - alles über Besitzer, Käufe und Verkäufe dieser Maschinen in ganz Südostasien. Toby Esterhase tauchte pflichtschuldigst in das finstere Dickicht des Flugzeuggeschäfts, und bald darauf wurde Molly Meakin von Fawn ein entmutigender Stapel alter Nummern einer Zeitschrift ausgehändigt, die sich Transport World nannte, zusammen mit handschriftlichen Anweisungen von Smiley in der traditionell grünen Tinte seines Büros, wonach sie alle Inserate von Beechcraft-Flugzeugen heraussuchen sollte, die während der sechs Monate vor dem geplatzten Opiumtransport des Piloten Ricardo nach Rotchina das Auge eines potentiellen Käufers auf sich gezogen haben mochten.

Ebenfalls auf Smileys schriftlichen Befehl hin suchte Guillam einige von di Salis' Wühlmäusen auf und stellte ohne Wissen ihres temperamentvollen Vorgesetzten fest, daß sie noch immer weit davon entfernt waren, den Finger auf Nelson Ko zu legen. Ein älterer Knabe ging so weit, anzudeuten, daß Drake Ko bei seiner letzten Begegnung mit dem alten Hibbert nichts Geringeres als die Wahrheit gesprochen habe: nämlich, daß Bruder Nelson tatsächlich tot sei. Aber als Guillam diese Nachricht Smiley vortrug, schüttelte der nur ungeduldig den Kopf und gab ihm ein Telegramm zur Weiterleitung an Craw, worin dieser ersucht wurde, bei seiner dortigen Polizeiquelle und wenn möglich unter irgendeinem Vorwand alle amtsbekannten Einzelheiten über Reisen von Kos Manager Tiu nach und von Festland-China zu erfragen.

Craws ausführliche Antwort lag achtundvierzig Stunden später auf Smileys Schreibtisch und schien ihm einen seiner seltenen freudigen Augenblicke zu bereiten. Er ließ den Dienstwagen vorfahren und sich nach Hampstead kutschieren, wo er eine Stunde lang allein im sonnenhellen Frost durch die Heide wanderte, und laut Fawn die rotbraunen Eichhörnchen anglotzte, ehe er wieder in den Thronsaal zurückkehrte. »Aber sehen Sie denn nicht?« schalt er Guillam an diesem Abend in einer seiner ebenfalls seltenen Anwandlungen von Erregung. »Verstehen Sie denn nicht, Peter?« Und er schob ihm Craws Angaben unter die Nase und tippte sogar mit den Finger auf einen Eintrag: »Tiu ging sechs Wochen vor Ricardos Auftrag nach Schanghai. Wie lang blieb er dort? Achtundvierzig Stunden. Ach, Sie sind ein Dummkopf!«

»Ich bin nichts dergleichen«, protestierte Guillam. »Ich habe nur zufällig keinen direkten Draht zum lieben Gott, das ist alles.« In den Kellern spielte Smiley, in Klausur mit Millie McCraig, der Oberhorcherin, die Monologe des alten Hibbert nochmals ab und runzelte gelegentlich - sagte Millie - über di Salis' plumpes Drängen die Stirn. Im übrigen las er, schlich herum und sprach in kurzen intensiven Ausbrüchen mit Sam Collins. Diese Begegnungen kosteten Smiley, wie Guillam bemerkte, eine Menge Kraft, und seine Anwandlungen von Mißmut - die weiß Gott selten genug waren für einen Mann mit Smileys Belastungen - traten regelmäßig nach Sams Weggang auf. Und noch wenn sie abgeklungen waren, sah er angespannter und einsamer denn je aus, bis er wieder einen seiner langen nächtlichen Spaziergänge unternommen hatte.

Dann, etwa am vierten Tag, der in Guillams Leben aus irgendeinem Grund ein kritischer Tag war - wahrscheinlich wegen des Streits mit dem Schatzamt, das Craw keinen Bonus auszahlen wollte -, gelang es Toby Esterhase, durch die Netze Fawns und Guillams zu schlüpfen und unentdeckt in den Thronsaal zu gelangen, wo er Smiley ein Bündel fotokopierter Verkaufsverträge über eine brandneue viersitzige Beechcraft an die Firma Aerosuis & Co, eingetragen in Zürich, Einzelheiten anbei, vorlegte. Smiley war besonders erfreut über die Tatsache, daß die Maschine vier Sitze hatte. Die beiden rückwärtigen waren herausnehmbar, nur die Sitze des Piloten und Copiloten waren fest montiert. Das genaue Verkaufsdatum des Flugzeugs war der 20. Juli gewesen: also knapp einen Monat bevor der verrückte Ricardo zur Verletzung des rotchinesischen Luftraums gestartet war und es sich dann anders überlegt hatte. »Sogar Peter kann hier Zusammenhänge erkennen«, erklärte Smiley mit unbeholfener Neckerei. »Jetzt mal logisch, Peter, logisch.«

»Das Flugzeug wurde zwei Wochen nach Tius Rückkehr aus Schanghai verkauft«, erwiderte Guillam zögernd.

»Und weiter?« drängte Smiley. »Und weiter? Was folgt für uns daraus?«

»Wir fragen uns, wem die Firma Aerosuis gehört«, fauchte Guillam, der jetzt ausgesprochen reizbar wurde. »Genau. Vielen Dank«, sagte Smiley in gespielter Erleichterung. »Sie haben mir den Glauben an Ihre Fähigkeiten wiedergegeben, Peter. Und nun: was glauben Sie, wen wir an der Spitze von Aerosuis erblicken? Den Vertreter in Bangkok, keinen Geringeren.«

Guillam linste auf die Notizen auf Smileys Schreibtisch, aber Smiley war zu schnell für ihn und klappte die Hände darüber. »Tiu«, sagte Guillam und errötete prompt. »Hurra! Ja. Tiu. Gut gemacht.«

Aber als Smiley an diesem Abend Sam Collins holen ließ, hatten sich die Schatten wieder über seine hängenden Züge gesenkt.

Doch die Leinen waren ausgeworfen. Nach seinem Erfolg in der Luftfahrtindustrie wurde Toby Esterhase auf den Spirituosenhandel angesetzt und flog in der Maske eines Mehrwertsteuerinspektors zu den westschottischen Inseln, wo er drei Tage mit Stichproben in den Büchern einer auf den Terminverkauf von unabgelagerten Fässern spezialisierten Whiskybrennerei zubrachte. Er kehrte feixend wie ein erfolgreicher Bigamist zurück - um Connie zu zitieren.

Der Höhepunkt, in den dies alles einmündete, war ein außerordentlich langes Telegramm an Craw im Anschluß an eine feierliche Sitzung des Einsatz-Direktoriums - der Golden Oldies, um wiederum Connie zu zitieren, unter Hinzuziehung von Sam Collins. Diese Sitzung folgte einer ausgedehnten Lagebesprechung mit den Vettern, bei der Smiley sich jeglicher Erwähnung des abgängigen Nelson Ko enthielt, dafür jedoch gewisse weitere Überwachungs- und Kommunikationsmöglichkeiten vor Ort anforderte. Seinen Mitarbeitern erklärte Smiley seine Pläne folgendermaßen.

Bisher beschränkte sich die Operation auf das Sammeln von Informationen über Ko und die Verzweigungen der sowjetischen Goldader. Es war alles getan worden, um zu verhindern, daß Ko vom Interesse des Circus an seiner Person Wind bekäme. Dann faßte er zusammen, was sie bisher erzielt hatten: Nelson, Ricardo, Tiu, die Beechcraft, die Daten, die Verbindungslinien, die in der Schweiz eingetragene Luftfahrtgesellschaft - die, wie sich jetzt herausstellte, weder Geschäftsräume noch weitere Maschinen besaß. Er würde lieber, sagte er, auf die positive Identifizierung Nelsons warten, aber jede Operation sei ein Kompromiß, und die Zeit werde, unter anderem dank den Vettern, schon recht knapp.

Das Mädchen erwähnte er mit keinem Wort, und nicht ein einziges Mal während seiner Ausführungen blickte er Sam Collins an.

Dann kam er zu dem, was er schlicht als die nächste Phase bezeichnete.

»Unsere nächste Aufgabe wird sein, aus dem Patt herauszukommen. Es gibt Unternehmen, bei denen es besser ist, wenn sie nicht zur Lösung gelangen. Und es gibt solche, die wertlos sind, ehe sie zu einer Lösung gelangen, und »Unternehmen Delphin« gehört zu diesen letzteren.« Er runzelte nachdenklich die Stirn, zwinkerte, riß dann die Brille von der Nase und begann, zu jedermanns geheimen Entzücken, sie tatsächlich mit dem breiten Ende seiner Krawatte zu putzen. »Um dieses Ziel zu erreichen, schlage ich vor, daß wir unsere Taktik radikal ändern. Mit anderen Worten, daß wir Ko unser Interesse an seinen Angelegenheiten kund und zu wissen tun.«

Wie immer war Connie diejenige, die dem verblüfften Schweigen ein Ende machte. Ihr Lächeln war auch das erste - und das wissendste.

»Er räuchert ihn aus«, flüsterte sie den anderen ekstatisch zu. »Genau wie er es mit Bill gemacht hat, dieser schlaue Jagdhund! Sie zünden vor seiner Tür ein Feuer an, wie, darling, und sehen zu, in welche Richtung er rennt. Oh George, Sie lieber, lieber Mann, Sie allerbester von allen meinen Jungens, Ehrenwort!« Smileys Telegramm an Craw beschrieb den Plan mittels einer anderen Metapher: einer, die den Außenagenten geläufig ist. Er sprach davon, man müsse Kos Bäumchen schütteln, und aus dem restlichen Text ging klar hervor, daß Craw sich zu diesem Zweck, trotz der damit verbundenen beträchtlichen Risiken, Jerry Westerbys breiten Rückens bedienen sollte.

Hierzu noch eine Anmerkung: ein paar Tage später verschwand Sam Collins. Jeder freute sich darüber. Er kam nicht mehr, und Smiley erwähnte ihn mit keinem Wort. In Sams Büro fand sich, als Guillam heimlich hineinschlüpfte, um es zu inspizieren, keinerlei persönliche Habe, abgesehen von ein paar unangebrochenen Päckchen Spielkarten und einigen piekfeinen Streichholzbriefchen, die für einen Nachtclub im West End warben. Als er die Housekeepers heraustrommelte, war man dort ausnehmend entgegenkommend. Sams Lohn, sagten sie, sei ein Abschiedsbonus und das Versprechen, man wolle seine Pensionsansprüche nochmals überprüfen. Er habe im Grunde nicht viel zu verkaufen gehabt. Eine Niete, sagten sie. Geh mit Gott, aber geh! Trotz allem konnte Guillam sich eines gewissen Unbehagens in bezug auf Sam nicht erwehren, wie er Molly Meakin im Lauf der folgenden Wochen häufig anvertraute. Es kam nicht nur daher, daß er in Lacons Büro mit ihm zusammengetroffen war. Er machte sich Gedanken über die Sache mit Smileys Korrespondenz mit Martello, worin die mündliche Absprache bestätigt wurde. Damit die Vettern Smileys Schreiben nicht abholen ließen - was das Anrauschen einer Limousine nebst Motorradeskorte am Cambridge Circus bedeutet hätte -, hatte Smiley Guillam angewiesen, es zum Grosvenor Square zu bringen und Fawn, den Babysitter, . mitzunehmen. Aber Guillam steckte bis zum Hals in Arbeit, alles kam zusammen, und Sam hatte, wie üblich, nichts zu tun. Als daher Sam sich anbot, ihm den Auftrag abzunehmen, ließ Guillam ihn den Brief befördern und wünschte danach zu Gott, er hätte es nicht getan. Er wünscht es noch immer und von ganzem Herzen. Denn anstatt Georges Brief Murphy oder dessen blassem Ersatzmann auszuhändigen, sagte Fawn, habe Sam darauf bestanden, zu Martello persönlich vorgelassen zu werden. Und er habe mehr als eine Stunde mit ihm allein in seinem Büro verbracht.

Zweiter Teil


Der Baum wird geschüttelt


Liese


Star Heights war der neueste und mächtigste Wohnblock in den Midlevels, ein Rundbau, der bei Nacht wie ein riesiger erleuchteter Bleistift ins sanfte Dunkel des Peak stach. Eine gewundene Zufahrt führte dort hinauf; der Gehsteig bestand jedoch aus einem nur sechs Zoll breiten Randstreifen zwischen der Fahrstraße und der Klippe; denn in Star Heights waren Fußgänger geächtet. Es war früher Abend, und die gesellschaftliche rush hour näherte sich ihrem Höhepunkt. Als Jerry am Straßenrand entlangbalancierte, fegten Mercedes und Rolls-Royces in ihrer Hast, abzuliefern und einzusammeln, dicht an ihm vorüber. Er trug einen Orchideenstrauß in Seidenpapier gehüllt: größer als der Strauß, den Craw Phoebe Wayfarer überreicht hatte, kleiner als der, den Drake Ko dem toten kleinen Nelson brachte. Diese Orchideen waren niemandem zugeeignet. »Wer so groß ist wie ich, altes Haus, der muß für alles, was er tut, einen verdammt guten Grund haben.« Er empfand Spannung, aber auch Erleichterung darüber, daß das lange, lange Warten endlich vorbei war.

Ganz schlicht mit der Turins Haus fallen, Ehrwürden, hatte Craw ihn bei der gestrigen ausgedehnten Vergatterung angewiesen. Reindrängen und loslegen und nicht mehr aufhören, bis Sie drüben wieder rauskommen. Mit einem Bein, dachte Jerry.

Eine gestreifte Markise führte zur Eingangshalle, und das Parfüm der Frauen lag in der Luft wie ein Vorgeschmack seiner Aufgabe. Lind denken Sie daran, daß der ganze Schuppen Ko gehört, hatte Craw säuerlich als Abschiedsgeschenk hinzugefügt. Die Innendekoration war noch nicht ganz fertig. Rings um die Briefkästen fehlten noch Marmorplatten. Ein gläserner Fisch sollte Wasser in einen Terrazzo-Brunnen speien, aber die Röhren waren noch nicht angeschlossen, und im Becken stapelten sich Zementsäcke. An einer Glaskabine stand »Empfang«, und der chinesische Portier beobachtete ihn von drinnen. Jerry sah nur seine verschwommenen Umrisse. Er hatte gelesen, als Jerry hereinkam, aber jetzt starrte er ihn an, unentschlossen, ob er ihn anrufen sollte, aber halbwegs beschwichtigt durch die Orchideen. Ein paar amerikanische Matronen in voller Kriegsbemalung kamen an und nahmen neben ihm Aufstellung.

»Toller Flor«, sagten sie und stachen in das Seidenpapier. »Super, wie? Hier, nehmen Sie. Geschenk! Los! Schöne Frau. Nackt ohne Blumen!«

Gelächter. Diese Engländer sind eine Rasse für sich. Der Portier wandte sich wieder seiner Lektüre zu. Jerry war vertrauenswürdig. Ein Lift kam. Eine Herde Diplomaten, Geschäftsleute mit ihren Squaws, mürrischen, juwelenbeladenen Wesen, schlurften in die Halle. Jerry komplimentierte die Amerikanerinnen vor sich her. Zigarrenrauch vermischte sich mit dem Parfüm, Konservenmusik summte vergessene Weisen. Die Matronen drückten auf den Knopf für die zwölfte Etage.

»Wollen Sie auch zu den Hammersteins?«fragten sie und blickten immer noch auf die Orchideen.

Auf der fünfzehnten lief Jerry zur Feuertreppe. Sie stank nach Katzen und dem Abfall aus dem Müllschlucker. Im Hinuntergehen begegnete er einer Amah mit Windeleimer. Sie glotzte ihn finster an, bis er sie grüßte, dann lachte sie brüllend. Er ging weiter bis zum achten Stock, wo er in die Üppigkeit des Herrschaftstrakts zurückkehrte. Er stand am Ende eines Korridors. Eine kleine Rotunde führte zu zwei vergoldeten Lifttüren. Hier lagen vier Wohnungen, jede ein Quadrant des kreisrunden Baus und jede mit ihrem eigenen Korridor. Er postierte sich in Korridor B, mit den Blumen als einziger Deckung. Er beobachtete die Rotunde, seine Aufmerksamkeit galt dem mit C bezeichneten Korridor. Das Seidenpapier um die Orchideen war feucht, wo er es zu fest umklammert hielt.

»Es ist eine regelmäßige wöchentliche Verabredung«, hatte Craw ihm versichert. »Jeden Montag, Blumenstecken im American Club. Regelmäßig wie ein Uhrwerk. Sie trifft sich dort mit einer Freundin, Nellie Tan, die für Airsea arbeitet. Sie machen ihr Ikebana und bleiben dann zum Dinner.«

»Und wo ist Ko inzwischen?«

»Bangkok. In Geschäften.«

»Dann können wir bloß verdammt hoffen, daß er dort bleibt.«

»Amen, Sir, Amen«, sagte Craw fromm. Unter dem Quietschen nicht geölter neuer Angeln flog die Tür neben seinem Ohr auf, und ein schlanker junger Amerikaner im Smoking trat in den Korridor, blieb wie angewurzelt stehen und starrte Jerry und seine Orchideen an. Er hatte blaue, stetige Augen und trug eine Aktenmappe.

»Möchten Sie mit diesen Dingern da zu mir?« erkundigte er sich im Tonfall der Bostoner Society. Er sah reich und selbstsicher aus. Jerry tippte auf diplomatischen Dienst oder gehobene Banklaufbahn.

»Offen gestanden, ich glaube eigentlich nicht«, bekannte Jerry und spielte den dämlichen Engländer. »Cavendish«, sagte er. Über die Schulter des Amerikaners hinweg sah Jerry, wie die Tür sich lautlos vor einem vollgepackten Bücherregal schloß. »Freund hat mich gebeten, das bei einer Miss Cavendish in 9 D abzuliefern. Walzt hinüber nach Manila, ich stehe da mit den Orchideen, könnte man sagen.«

»Falscher Stock«, sagte der Amerikaner, während er zum Lift schlenderte. »Sie müssen eins höher. Und falscher Korridor. D ist drüben auf der anderen Seite. Dort drüben.« Jerry stellte sich neben ihn, als wartete er auf einen Lift nach oben. Der Abwärts-Lift kam zuerst, der junge Amerikaner trat elastisch hinein, und Jerry kehrte auf seinen Posten zurück. Die Tür C ging auf, er sah sie herauskommen und sich umdrehen, um zweimal abzuschließen. Sie hatte sich nicht eigens schön gemacht. Ihr Haar war aschblond und lang, aber sie hatte es im Nacken zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie trug ein schlichtes rückenfreies Kleid und Sandalen, und obwohl Jerry ihr Gesicht nicht sehen konnte, wußte er sofort, daß sie schön war. Sie ging zum Lift, sah ihn noch immer nicht, und Jerry hatte den Eindruck, als spähte er von der Straße her durchs Fenster auf sie. Es gibt Frauen, fand Jerry, die ihren Körper tragen, als sei er eine Zitadelle, die nur der Tapferste erstürmen könne, und Jerry hatte mehrere solcher Frauen geheiratet; oder vielleicht waren sie unter seinem Einfluß so geworden. Es gibt Frauen, die entschlossen scheinen, sich selber nicht zu mögen, die Schultern hochziehen und die Hüften zurückschieben. Und es gibt Frauen, die nur auf ihn zuzugehen brauchten, um ihm damit ein Geschenk zu . machen. Das waren die seltenen, und in diesem Moment führte sie für Jerry die Meute an. Sie war vor den goldenen Türen stehengeblieben und beobachtete die aufleuchtenden Zahlen. Er war neben ihr, als der Lift ankam, und noch immer hatte sie ihn nicht bemerkt. Der Lift war voll besetzt, wie er gehofft hatte. Er drückte sich rücklings hinein, besorgt um seine Orchideen, entschuldigte sich, grinste, und hielt den Strauß demonstrativ über den Kopf. Sie stand mit dem Rücken zu ihm, er dicht an ihrer Schulter. Es war eine kräftige Schulter und zu beiden Seiten der Träger nackt, und Jerry konnte kleine Sommersprossen sehen und einen Flaum winziger goldener Härchen, die sich ihr Rückgrat entlangzogen. Ihr Gesicht war im Profil und ein Stück unter ihm. Er linste sie an.

»Lizzie?« sagte er unsicher. »Heh, Lizzie. Ich bin's Jerry.« Sie fuhr jäh herum und starrte zu ihm auf. Er wäre gern einen Schritt zurückgetreten, denn er wußte, daß ihre erste Reaktion körperliche Furcht vor seiner Größe sein würde, und das stimmte auch. Er sah diese Furcht kurz in ihren grauen Augen, die aufflackerten, ehe sie ihn mit ihrem Starren festhielten. »Lizzie Worthington!« erklärte er nun sicherer. »Was macht der Whisky, kennen Sie mich nicht mehr? Einer Ihrer stolzen Anleger. Jerry, Kumpel von Tiny Ricardo. Ein Fünfzig-Gallonen-Faß mit meinem Namen auf dem Etikett. Alles bezahlt und eingelagert.«

Er hatte leise gesprochen, in der Annahme, er könne eine Vergangenheit aufrühren, von der sie nichts mehr wissen wollte. Er hätte so leise gesprochen, daß die übrigen Passagiere entweder »Raindrops keep falling on my head« aus dem Lautsprecher hörten oder das Murren eines ältlichen Griechen, der behauptete, jemand habe ihn gestoßen.

»Ach natürlich«, sagte sie und ließ ein strahlendes Stewardessenlächeln aufleuchten. »Jerry!« Ihre Stimme erstarb, als sie so tat, als liege der Name ihr auf der Zunge: »Jerry - ähem -«. Sie runzelte die Stirn und blickte nach oben wie eine Schauspielschülerin, die Vergeßlichkeit mimt. Der Lift hielt im sechsten Stock. »Westerby«, kam er ihr prompt zu Hilfe. »Von der Journaille. Sie haben mich in der Constellation-Bar geangelt. Wollte ein bißchen liebevollen Trost, und alles, was ich kriegte, war ein Faß Whisky.« Jemand neben ihm lachte.

»Natürlich! Jerry, darling! Wie konnte ich nur ... Ich meine, was machen Sie in Hongkong, mein Gott!«

»Das übliche. Feuersbrunst und Pestilenz, Hungersnot. Und Sie?

Im Ruhestand würde ich sagen, bei Ihren Verkaufsmethoden. Bin nie im Leben so gründlich übers Ohr gehauen worden.« Sie lachte entzückt. Die Türen hatten sich in der dritten Etage geöffnet. Eine alte Frau auf zwei Stöcken schlurfte herein. Lizzie Worthington verkaufte alles in allem schlanke fünfundfünfzig Fässer von diesem schändlichen Musentrank, Ehrwürden, hatte Craw gesagt, Jedes einzelne an einen männlichen Kunden, und eine stattliche Anzahl, wie meine Ratgeber melden, mit voller Bedienung obendrein. Verleiht dem Ausdruck »Dienst am Kunden« einen neuen Aspekt, möchte ich sagen.« Sie waren im Erdgeschoß angelangt. Sie stieg zuerst aus, und er ging neben ihr her. Durch die Eingangstüren sah er ihren roten Sportwagen mit zurückgeklapptem Verdeck zwischen den funkelnden Limousinen in der Parkbucht warten. Sie mußte hinuntertelefoniert und befohlen haben, ihn vorzufahren, dachte er: wenn Ko der Eigentümer dieses Hauses ist, dann wird er wohl dafür sorgen, daß sie fürstlich behandelt wird. Sie hielt auf. das Fenster des Portiers zu. Während sie die Halle durchquerten, plauderte sie weiter, drehte sich im Sprechen ihm zu, einen Arm weit ausgestreckt, Handfläche nach oben, wie ein Mannequin. Er mußte sie gefragt haben, wie ihr Hongkong gefalle, obwohl er sich nicht daran erinnerte:

»Ich finde es hinreißend, Jerry, einfach hinreißend. Vientiane scheint, ach, Jahrhunderte entfernt. Wissen Sie, daß Rictot ist?« Sie warf es heldenhaft ins Gespräch, als wären sie und der Tod einander nicht mehr fremd. »Nach Ric dachte ich, mir würde es nie mehr irgendwo gefallen. Wie habe ich mich getäuscht, Jerry! Hongkong muß die amüsanteste Stadt der Welt sein. Lawrence, darling, ich segle in meinem roten Unterseeboot. Heute ist Hennenabend im Club.«

Lawrence war der Portier, und der Schlüssel zu ihrem Wagen baumelte von einem großen silbernen Hufeisen, was Jerry an die Rennen in Happy Valley erinnerte.

»Vielen Dank, Lawrence«, sagte sie süß und schenkte ihm ein Lächeln, das ihm für die ganze Nacht reichen würde. »Die Menschen hier sind so wundervoll, Jerry«, vertraute sie ihm im Bühnenflüstern an, als sie sich zum Haupteingang bewegten. »Wenn ich denke, was wir in Laos über die Chinesen gesagt haben! Und hier sind sie einfach die wundervollsten und herzlichsten und originellsten Menschen, die man sich vorstellen kann.« Sie war in einen staatenlosen ausländischen Akzent geschlüpft, stellte Jerry fest. Mußte ihn von Ricardo angenommen und als besonders schick beibehalten haben. »Die Leute denken immer: »Hongkong - sagenhaft zum Einkaufen - zollfreie Kameras - Restaurants -<, aber ehrlich, Jerry, wenn man wirklich eindringt und das wahre Hongkong kennenlernt und die Menschen - es ist alles da, was man sich im Leben irgend wünschen kann. Finden Sie meinen neuen Wagen nicht hinreißend?«

»So geben Sie also den Whiskyrebbach aus.« Er streckte die geöffnete Hand hin, und sie ließ die Schlüssel hineinfallen, damit er ihr die Tür aufschließen konnte. In stummem Gebärdenspiel gab er ihr die Orchideen zu halten. Hinter dem schwarzen Peak glomm der noch nicht aufgegangene Vollmond wie ein Waldbrand. Sie stieg ein, er reichte ihr die Schlüssel, und diesmal fühlte er die Berührung ihrer Hand und mußte wieder an Happy Valley denken und an Kos Kuß, als sie abfuhren.

»Darf ich auf dem Rücksitz mitfahren?« fragte er.

Sie lachte und öffnete ihm die Beifahrertür: »Wohin wollen Sie überhaupt mit diesen prächtigen Orchideen?«

Sie ließ den Motor an, aber Jerry stellte ihn sanft wieder ab, so daß sie ihn erstaunt anstarrte.

»Altes Haus«, sagte er ruhig. »Ich kann nicht lügen. Ich bin eine Natter an Ihrem Busen, und ehe Sie mich irgendwohin fahren, sollten Sie sich anschnallen und die leidige Wahrheit hören.« Er hatte den Augenblick sorgfältig gewählt, weil er nicht wollte, daß sie sich bedroht fühlte. Sie saß am Steuer ihres eigenen Wagens, unter der beleuchteten Markise ihres eigenen Wohnblocks, nur sechzig Fuß von Lawrence, dem Portier, entfernt, und er spielte den reuigen Sünder, damit sie sich um so sicherer fühlen sollte.

»Unsere zufällige Begegnung war kein reiner Zufall. Das ist Punkt eins. Punkt zwei, um es gleich ganz ehrlich zu sagen: meine Zeitung hat mich beauftragt, Sie ausfindig zu machen und Sie mit zahlreichen neugierigen Fragen über Ihren verstorbenen Kumpel Ricardo zu bestürmen.«

Sie beobachtete ihn noch immer, wartete noch immer. An der Kinnspitze hatte sie zwei kleine parallellaufende Narben wie ziemlich tiefe Krallenspuren. Er fragte sich, wer sie ihr beigebracht hatte und womit.

»Aber Ricardo ist tot«, sagte sie viel zu früh.

»Klar«, sagte Jerry beruhigend. »Unstreitig. Aber die Zeitung hat etwas, was sie gern als heißen Tip bezeichnet, daß er doch noch lebt, und es ist mein Job, ihr den Willen zu tun.«

»Aber das ist vollkommen absurd!«

»Genau. Total. Die sind verrückt geworden. Der Trostpreis sind zwei Dutzend gut durchgeknetete Orchideen und das beste Dinner in der Stadt.«

Sie wandte sich von ihm ab und blickte durch die Windschutzscheibe, so daß ihr Gesicht im vollen Strahl der Lampe war, und Jerry überlegte, wie es sein mochte, in einem so wunderschönen Körper zu wohnen, ihm vierundzwanzig Stunden am Tag Ehre zu machen. Ihre grauen Augen öffneten sich ein wenig weiter, und ihn überkam die boshafte Ahnung, er solle die aufsteigenden Tränen zur Kenntnis nehmen und die Art, wie ihre Hände sich haltsuchend an das Steuerrad klammerten. »Entschuldigen Sie«, flüsterte sie. »Es ist nur - wenn man einen Mann liebt - alles für ihn aufgibt, und er stirbt - und dann, eines Abends, aus heiterem Himmel -«

»Klar«, sagte Jerry. »Tut mir leid.«

Sie ließ den Motor an. »Warum sollte es Ihnen leid tun? Wenn er lebt, um so besser. Wenn er tot ist, bleibt alles, wie es ist. Es steht ein Pfund zu gar nichts.« Sie lachte. »Ric sagte immer, er sei unverwüstlich.«

Es ist, als würde man einen blinden Bettler bestehlen, dachte er. Sie dürfte nicht allein herumlaufen.

Sie fuhr gut, aber verkrampft, und er schloß daraus, daß sie erst vor kurzem ihre Fahrprüfung abgelegt hatte und daß der Wagen die Belohnung dafür war. Es war die ruhigste Nacht der Welt. Als sie zur Innenstadt hinunterglitten, lag der Hafen wie ein makelloser Spiegel in der Mitte der Schmuckschatulle. Sie sprachen über Lokale. Jerry schlug das Peninsula vor, aber sie schüttelte den Kopf.

»Okay. Dann gehen wir zunächst mal auf einen Drink«, sagte er.

»Los, wir wollen tüchtig auf den Zünder hauen!«

Zu seiner Überraschung faßte sie nach seiner Hand und drückte sie. Dann fiel ihm Craw ein. Das mache sie mit jedem so, hatte er gesagt.


Sie war für eine Nacht von der Kette: das war sein überwältigender Eindruck. Er erinnerte sich, wie er einmal seine Tochter Cat, als sie noch klein war, aus der Schule geholt hatte und wie sie eine ganze Menge verschiedener Dinge unternehmen mußten, um den Nachmittag zu dehnen. In einer dunklen Diskothek in Kaulun tranken sie Remy Martin mit Eis und Soda. Er vermutete, es sei Kos Lieblingsdrink, und sie hatte ihn sich angewöhnt, um Ko Gesellschaft zu leisten. Es war noch früh, und im Lokal waren vielleicht ein Dutzend Leute, mehr nicht. Die Musik war laut und sie mußten schreien, um sich zu verständigen, aber Lizzie erwähnte Ricardo mit keinem Wort. Sie hielt sich an die Musik, der sie mit zurückgeneigtem Kopf lauschte. Manchmal hielt sie seine Hand, und einmal legte sie den Kopf an seine Schulter, und einmal küßte sie ihn flüchtig und schwebte dann zum Parkett, um einen langsamen einsamen Tanz mit geschlossenen Augen und leisem Lächeln zu zelebrieren. Die Männer vergaßen ihre eigenen Mädchen und zogen Lizzie mit ihren Blicken aus. Die chinesischen Kellner brachten alle drei Minuten frische Aschenbecher, als Vorwand, um ihr in den Ausschnitt zu linsen. Nach zwei Drinks und einer halben Stunde bekundete sie eine Leidenschaft für den Duke und den Big-Band-Sound, und sie rasten zurück zur Insel und zu einem Lokal, das Jerry kannte und wo eine lebende Philippino-Kapelle recht ordentlich Ellington spielte. Cat Andersen sei das Beste, sagte sie, was es außer geschnittenem Brot gebe. Ob er einmal Armstrong und Ellington zusammen gehört habe? Waren sie nicht einfach die Größten? Wiederum Remy Martin, während sie ihm >Mood Indigo< vorsang. »Hat Ricardo getanzt?« fragte Jerry.

»Hat er getanzt?« sagte sie leise dagegen, während sie mit dem Fuß den Takt schlug und dazu leicht mit den Fingern schnalzte.

»Dachte, Ricardo hätte gehinkt?« warf Jerry ein.

»Das hat ihn nie gehindert«, sagte sie, noch immer ganz in die Musik vertieft. »Ich werde nie zu ihm zurückgehen, verstehen Sie.

Niemals. Dieses Kapitel ist abgeschlossen. Und wie.«

»Wo hatte er's her?«

»Das Tanzen?«

»Das Hinken.«

Sie krümmte den Finger um einen imaginären Abzug und feuerte einen Schuß in die Luft ab.

»Es war entweder der Krieg oder ein aufgebrachter Ehemann«, sagte sie. Er ließ es sich wiederholen, und diesmal waren ihre Lippen dicht an seinem Ohr.

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