»Soviel wir wissen, hat er keinerlei anderen Verwendungszweck«, sagte Smiley im gleichen lapidaren Ton wie vorher.
»Zum Beispiel - Propaganda, die Verkaufsförderung unter der Hand, Rabatte - diese Art Zahlungen? Nein?«
»Soviel wir wissen nein«, wiederholte Smiley.
»Ah, aber wieviel wissen Sie?« rief Wilbraham vom unteren Tischende. »War in der Vergangenheit nicht gerade besonders viel, wie?«
»Sie sehen, worauf ich hinauswill?« fragte Lacon. »Wir würden weit mehr Beweise benötigen«, sagte die Kolonialdame in Braun mit herzerquickendem Lächeln.
»Wir auch«, pflichtete Smiley milde bei. Ein paar Köpfe hoben sich überrascht. »Eben um weiteres Beweismaterial zu erhalten, bitten wir um Rechte und Genehmigungen.« Lacon ergriff erneut die Initiative.
»Nehmen wir Ihre These einmal als gegeben an. Ein geheimdienstlicher Fonds, alles so, wie Sie sagen.« Smiley nickte vage.
»Gibt es Anhaltspunkte dafür, daß Ko in der Kolonie Wühlarbeit leistet?«
»Nein.«
Lacon warf einen Blick auf seine Notizen. Guillam fand, daß er fleißig Hausaufgaben gemacht haben mußte.
»Er predigt zum Beispiel nicht den Rückzug ihrer Sterlingreserven aus London? Was uns weitere neunhundert Millionen Pfund in die roten Zahlen bringen würde?«
»Meines Wissens: nein.«
»Er sagt nicht, daß wir die Insel räumen sollen. Er zettelt keine Aufstände an oder drängt auf Verschmelzung mit dem Festland oder hält uns den elenden Vertrag unter die Nase?«
»Nicht daß wir wüßten.«
»Er ist kein Gleichmacher. Er fordert keine einflußreichen Gewerkschaften, oder freies Wahlrecht, oder Mindestlöhne, oder allgemeine Schulpflicht, oder Rassengleichheit, oder ein eigenes Parlament für die Chinesen anstelle ihrer zahmen Körperschaften oder wie immer sie heißen?«
»Legco und Exco«, schnappte Wilbraham. »Und sie sind nicht zahm.«
»Nein, das tut er nicht«, sagte Smiley.
»Was tut er dann?« unterbrach Wilbraham erregt. »Nichts. Das ist die Antwort. Sie sind völlig auf dem Holzweg. Jagen Hirngespinsten nach.«
»Ich darf noch bemerken«, fuhr Lacon fort, als hätte er nichts gehört, »daß er vermutlich ebensoviel zum Wohle der Kolonie tut wie jeder andere reiche und angesehene chinesische Geschäftsmann. Oder ebensowenig. Er diniert mit dem Gouverneur, aber ich glaube nicht, daß er schon einmal den Safe geplündert hat. Er ist in der Tat nach außen hin so etwas wie ein Prototyp in Hongkong: Steward des Jockey Club, unterstützt karitative Einrichtungen, ist eine Säule der integrierten Gesellschaft, erfolgreich, wohltätig, besitzt den Reichtum eines Krösus und die Geschäftsmoral eines Bordells.«
»Hören Sie, das ist ein bißchen stark!« protestierte Wilbraham. »Langsam Oliver. Denken Sie doch an die neuen Sozialbauten.« Wiederum schenkte Lacon ihm keine Beachtung: »Abgesehen vom Victoriakreuz, einer Kriegsinvalidenrente und dem Baronstitel ist es daher schwer vorstellbar, wie er ein noch weniger geeignetes Ziel für die Verfolgung durch einen britischen oder die Anwerbung durch einen russischen Geheimdienst sein könnte.«
»In meiner Welt nennen wir das gute Legende«, sagte Smiley.
»Touche, Oliver«, sagte Enderby voll Genugtuung.
»Ach, heutzutage ist alles Legende«, sagte Wilbraham düster, aber das zog Lacon auch nicht aus der Affäre.
Runde eins an Smiley, dachte Guillam hocherfreut und erinnerte sich an das gräßliche Dinner in Ascot: Hitti-pitti an der Wand, und bums, da macht es Plumps, trällerte er im stillen mit gebührender Anerkennung für seine Gastgeberin.
»Hammer?« sagte Enderby, und das Schatzamt durfte sich kurz Luft machen und Smiley wegen seiner Abrechnungen die Leviten lesen, aber niemand außer dem Schatzamt schien Smileys Verfehlungen wichtig zu nehmen.
»Das entspricht nicht dem Zweck, für den Ihnen ein Überbrückungsfonds zugestanden wurde«, beharrte Hammer in zunehmender Entrüstung. »Das waren ausschließlich Post-mortem-Zahlungen -.«
»Schön, schön, Georgie ist also ein ganz böser Junge«, unterbrach Enderby schließlich und stopfte Hammer den Mund. »Hat er sein Geld ins Klo gespült oder hat er's beiseite geschafft? Das ist die Frage. Chris, höchste Zeit, daß das Empire mal wieder was zu sagen hat.«
Auf diese direkte Aufforderung hin ergriff Wilbraham in aller Form das Wort, moralisch unterstützt von seiner Dame in Braun und seinem rothaarigen Assistenten, dessen junges Gesicht bereits grimmige Entschlossenheit ausdrückte, seinen Gebieter zu beschützen.
Wilbraham gehörte zu den Leuten, die gar nicht bemerken, wie lange sie zum Denken brauchen. »Ja«, begann er nach einer Ewigkeit. »Ja. Ja, well, ich möchte zunächst noch bei dem Geld bleiben, wenn Sie gestatten, so wie Lacon.« Es war bereits klar, daß er die Eingabe als einen Übergriff auf sein Terrain betrachtete. »Schließlich ist dieses Geld alles, woran wir uns halten können«, bemerkte er treffend und blätterte eine Seite in seinem Hefter zurück. »Ja.« Worauf eine weitere endlose Unterbrechung folgte. »Sie schreiben hier, das Geld sei ursprünglich aus Paris über Vientiane gekommen.« Pause. »Dann schalteten die Russen auf ein anderes System um, sozusagen, und es wurde durch einen völlig anderen Kanal geleitet. Eine Hamburg-Wien-Hongkong-Route. Endlose Verwicklungen, Winkelzüge, und so weiter - wir setzen voraus, daß Ihre Version stimmt, - ja? Gleiches Karnickel, anderer Zylinder, sozusagen. Gut. Und warum, glauben Sie, haben sie das getan, sozusagen?«
Sozusagen, registrierte Guillam, der ein sehr scharfes Gehör für sprachliche Eigenarten hatte.
»Es ist eine wohldurchdachte Praxis, die Routine von Zeit zu Zeit zu wechseln«, erwiderte Smiley und wiederholte damit die Erklärung, die er bereits in der Eingabe geliefert hatte. »Verfahrenstechnik, Chris«, warf Enderby ein, der immer gern sein bißchen Fachjargon leuchten ließ, und Martindale, noch immer piano, warf ihm eine bewundernden, Blick zu. Wiederum brachte sich Wilbraham langsam in Gang. »Wir müssen uns davon leiten lassen, was Ko tut«, erklärte Wilbraham in verständnislosem Eifer und ließ die Fingerknöchel auf dem Filzbelag trommeln. »Nicht von dem, was er bekommt. Dabei bleibe ich. Schließlich, ich meine, zum Donnerwetter, das Geld gehört doch nicht Ko, oder? Dem Gesetz nach hat es nichts mit ihm zu tun.« Das Argument verursachte kurzes verwirrtes Schweigen. »Seite zwei, oben. Das ganze Geld ist auf einem Treuhandkonto.« Großes Geraschel, als alle, mit Ausnahme von Smiley und Guillam, nach ihren Heftern griffen. »Ich meine, es wird nicht nur nichts davon ausgegeben - was an sich schon reichlich sonderbar ist, ich komme gleich darauf -, es ist einfach nicht Kos Geld. Es wird treuhänderisch verwaltet, und wenn der Verfügungsberechtigte sich einstellt, wer immer er oder sie sein mag, dann gehört es dem Verfügungsberechtigten. Bis dahin bleibt es auf dem Konto. Sozusagen. Also, ich meine, was hat Ko Unrechtes getan? Ein Treuhandkonto eröffnet? Gibt kein Gesetz dagegen. Wird alle Tage gemacht. Besonders in Hongkong. Der Verfügungsberechtigte - oh, der könnte überall sein! In Moskau, in Timbuktu oder . . . « Es schien ihm kein dritter Ort mehr einzufallen, also gab er es auf, zum Mißbehagen seines feuerköpfigen Assistenten, der Guillam finster anstarrte, als wolle er ihn herausfordern. »Sache ist die: was liegt gegen Ko vor?« Enderby hatte ein Streichholz in den Mund gesteckt und rollte es zwischen den Vorderzähnen. Vielleicht im Bewußtsein dessen, daß sein Gegenspieler ein gutes Argument schlecht vorgebracht hatte - während seine eigene Spezialität im umgekehrten Verfahren lag -, nahm er das Streichholz heraus und betrachtete das angesabberte Ende.
»Was zum Teufel soll dieser ganze Schiet über Daumenabdrücke, George?« fragte er, vielleicht in dem Bestreben, Wilbrahams Erfolg zu schmälern. »Klingt wie aus Phillips Oppenheim.« Belgravia Cockney, dachte Guillam: das letzte Stadium sprachlichen Niedergangs.
Smileys Antwort klang ungefähr so leidenschaftlich wie die Zeitansage:
»Der Gebrauch von Daumenabdrücken ist bei den Banken an der chinesischen Küste eine altehrwürdige Praxis. Sie stammt aus den Tagen des weit verbreiteten Analphabetentums. Viele Überseechinesen bedienen sich lieber britischer Banken als ihrer eigenen, und die Struktur dieses Kontos ist keineswegs ungewöhnlich. Der Verfügungsberechtigte weist sich durch visuelle Mittel aus, zum Beispiel durch die Hälfte einer durchgerissenen Banknote, oder in diesem Fall durch den Abdruck seines Daumens, des linken, da angenommen wird, er sei weniger durch schwere Arbeit abgenutzt als der rechte. Die Bank wird kaum mit der Wimper zucken, vorausgesetzt, daß der Eröffner des Treuhandkontos sie von jeder Verantwortung im Fall einer irrtümlichen oder widerrechtlichen Auszahlung entbunden hat.«
»Vielen Dank«, sagte Enderby, und das Streichholz verschwand wieder zwischen seinen Zähnen. »Könnte zum Beispiel auch Kos eigener Daumenabdruck sein«, gab er zu bedenken. »Gibt nichts, was ihn hindern könnte, oder? Dann würde es eindeutig sein Geld sein. Wenn er Treuhänder und Verfügungsberechtigter in einer Person ist, dann ist es natürlich sein eigenes verdammtes Geld.« Für Guillam hatte die Diskussion bereits eine lächerlich falsche Wendung genommen.
»Das ist bloße Annahme«, sagte Wilbraham nach dem üblichen zweiminütigen Schweigen. »Angenommen, Ko tut einem alten Freund einen Gefallen. Nur mal angenommen. Und dieser alte Freund hat eine krumme Tour gedreht oder macht von Zeit zu Zeit Geschäfte mit den Russen. Eure Chinesen lieben Verschwörungen. Sind mit allen Wassern gewaschen, auch die nettesten. Ko ist keine Ausnahme, da möchte ich wetten.« Zum erstenmal meldete sich der rothaarige Junge zu Wort und unternahm einen Entlastungsangriff.
»Die Eingabe fußt auf einem Trugschluß«, erklärte er unverblümt und wandte sich zunächst mehr an Guillam als an Smiley. Puritanischer Primaner, dachte Guillam: ist überzeugt, daß Sex entkräftend wirkt und Spionieren unmoralisch ist. »Sie sagen, Ko steht auf der russischen Gehaltsliste. Wir sagen, das ist nicht bewiesen. Wir sagen, das Konto kann russisches Geld enthalten, aber Ko und das Konto sind völlig getrennte Faktoren.« In seiner Entrüstung redete er viel zu lange weiter: »Sie sprechen von Vergehen. Während wir sagen, Ko hat sich nicht gegen das in Hongkong geltende Gesetz vergangen und sollte der ihm als Bürger einer Kolonie zustehenden Rechte teilhaftig sein.« Mehrere Stimmen donnerten gleichzeitig los. Lacon gewann. »Niemand spricht hier von Vergehen«, konterte er. »Von Vergehen ist überhaupt nicht die Rede. Wir sprechen über Sicherheit. Ausschließlich. Sicherheit, und die Frage, ob es wünschbar ist oder nicht, wegen einer augenscheinlichen Gefahr Untersuchungen anzustellen.«
Hammers Kollege vom Schatzamt war, wie sich herausstellte ein eiskalter Schotte, mit einem ebenso schmucklosen Stil wie der Primaner.
»Kein Mensch macht sich hier stark, Kos Rechte als Bürger der Kolonie zu beschneiden«, fauchte er. »Er hat keine. In den Gesetzen von Hongkong steht kein Wort, daß der Gouverneur nicht Mr. Kos Post öffnen oder Mr. Kos Telefon abhören darf oder sein Zimmermädchen bestechen oder in seinem Haus bis Ultimo Meisen kleben. Kein einziges Wort. Und es gibt noch einiges mehr, was der Gouverneur tun kann, wenn er es für richtig hält.«
»Auch rein spekulativ«, sagte Enderby mit einem Blick zu Smiley. »Der Circus verfügt dort nicht über den nötigen Apparat für solche Spaße, und unter den gegebenen Umständen wäre es auf jeden Fall unsicher.«
»Es wäre skandalös«, sagte der rothaarige Junge vorwitzig, und Enderbys Schlemmerauge, gelb von allen Mahlzeiten seines Lebens, hob sich zu ihm und merkte ihn vor zu späterer Behandlung.
So verlief das zweite erfolglose Scharmützel. Sie kabbelten sich herum bis zur Kaffeepause, kein Sieger, keine Leichen. Zweite Runde unentschieden, lautete Guillams Spruch. Er fragte sich bänglich, wie viele Runden es wohl geben werde. »Was ist denn los?« fragte er Smiley tuschelnd: »Sie können es doch nicht aus der Welt reden.«
»Sie müssen es auf ihr eigenes Format reduzieren«, erklärte Smiley ohne jede Kritik. Im übrigen schien er sich auf orientalische Selbstvergessenheit verlegt zu haben, und Guillams Sticheln würde ihn nicht daraus aufscheuchen. Enderby bestellte frische Aschenbecher. Der Parlamentarische Unterstaatssekretär sagte, man solle versuchen, weiterzukommen.
»Bedenken Sie, was es den Steuerzahler kostet, nur daß wir hier sitzen«, drängte er voll Stolz. Bis zum Lunch waren es noch zwei Stunden.
Enderby eröffnete die dritte Runde mit der kitzligen Frage, ob das Gouvernement in Hongkong von dem über Ko vorliegenden Nachrichtenmaterial in Kenntnis zu setzen sei. Was ziemlich hinterhältig von ihm war, fand Guillam, denn das Schattenkabinett des Colonial Office (wie Enderby seine handgewebten confreres zu nennen pflegte) stellte sich nach wie vor auf den Standpunkt, es gebe keine Krise und folglich auch nichts, wovon irgendwer in Kenntnis gesetzt werden könne. Doch der redliche Wilbraham, der die Falle nicht sah, tappte prompt hinein und sagte:
»Natürlich sollten wir Hongkong benachrichtigen. Sie haben Selbstverwaltung. Es gibt für uns keine Alternative.«
»Oliver?« sagte Enderby mit der Ruhe eines Mannes, der ein gutes Blatt in der Hand hat. Lacon blickte hoch, deutlich irritiert über diese direkte Einbeziehung. »Oliver?« wiederholte Enderby. »Ich bin versucht zu antworten, dies sei Smileys Fall und Wilbrahams Kolonie, und wir sollten es die beiden unter sich ausfechten lassen«, sagte er und hielt sich eisern draußen. Blieb also Smiley: »Oh, well, wenn es nur der Gouverneur wäre und sonst niemand, so könnte ich kaum dagegen sein«, sagte er. »Das heißt, wenn Sie der Ansicht sind, daß es nicht zuviel von ihm verlangt ist«, fügte er dunkel hinzu, und Guillam sah, wie der Rotkopf sich abermals zum Eingreifen anschickte.
»Warum zum Kuckuck sollte es vom Gouverneur zuviel verlangt sein?« fragte Wilbraham aufrichtig verblüfft. »Erfahrener Verwaltungsbeamter, gerissener Verhandlungspartner. Kommt mit allem zurecht. Warum ist es zuviel?«
Diesmal ließ Smiley erst eine Pause eintreten. »Er würde seine Telegramme natürlich eigenhändig codieren und decodieren müssen«, überlegte er laut, als setzte er sich in seiner Zerstreutheit erst jetzt mit allen unausbleiblichen Folgen auseinander. »Wir könnten selbstverständlich nicht zulassen, daß er seine Mitarbeiter einweihte. Es wäre von jedem Menschen zuviel verlangt. Persönliche Codebücher - nun ja, die könnten wir ihm allerdings zukommen lassen. Könnten seine Geschicklichkeit im Codieren aufpolieren, wenn nötig. Ich persönlich sehe noch das Problem, daß der Gouverneur praktisch in die Rolle des agent provocateur gezwungen wird, wenn er Ko auch weiterhin in seinem Haus empfängt - was er fraglos tun muß. Wir dürfen das Wild in diesem Stadium nicht kopfscheu machen. Würde ihm das unangenehm sein? Vielleicht nicht. Manche Menschen sind von Hause aus dazu veranlagt.« Er blickte zu Enderby hinüber. Wilbraham war bereits dabei, seiner Empörung Luft zu machen: »Aber du lieber Himmel, Mann, wenn Ko ein russischer Spion ist - was wir ohnehin verneinen -, und der Gouverneur lädt ihn zum Dinner ein und begeht im vertraulichen Gespräch, wie es nur natürlich wäre, irgendeine geringfügige Indiskretion - also, das ist verdammt unfair. Es könnte die Karriere des Mannes ruinieren. Ganz zu schweigen von dem, was es der Kolonie schaden könnte! Er muß informiert werden!« Smiley wirkte schläfriger denn je.
»Ja, natürlich, wenn er zu Indiskretionen neigt,« brabbelte er demütig, »dann könnte man allerdings ins Treffen führen, daß er ohnehin nicht der rechte Mann ist, dem man Informationen zukommen lassen sollte.«
In dem eisigen Schweigen nahm Enderby wiederum bedauernd das Streichholz aus dem Mund.
»Verdammt komisch wär's schon, oder, Chris«, rief er fröhlich über den Tisch Wilbraham zu, »wenn Peking eines Morgens auf dem Nachtkästchen die frohe Botschaft vorfände, der Gouverneur von Hongkong, Stellvertreter der Königin und was sonst noch, Oberster Befehlshaber der Truppen et cetera, habe es sich nicht nehmen lassen, Moskaus Superspion einmal monatlich bei sich zu Tisch zu sehen und ihm für seine Mühe einen Orden verliehen. Was hat er bis jetzt? Doch keinen Ritterschlag, oder? Von und zu?«
»Den O.B.E.«, sagte jemand sotto voce.
»Armer Kerl. Aber er wird's schon noch dazu bringen, nehme ich an. Wird sich hinaufarbeiten, wie wir alle.«
Enderby hatte zufällig schon seinen Ritterschlag, während Wilbraham, wegen der zunehmenden Knappheit an Kolonien, in den unteren Rängen steckengeblieben war.
»Es liegt kein konkreter Fall vor«, sagte Wilbraham standhaft und legte eine behaarte Hand flach auf den farbenfrohen Hefter vor ihm.
Es folgte eine allgemeine Aussprache, für Guillams Ohr ein Intermezzo, bei dem in stillschweigender Übereinkunft auch die minderen Stimmen gelegentlich mit belanglosen Fragen einfallen durften, um im Sitzungsprotokoll Erwähnung zu finden. Der Waliser Hammer wünschte hier und jetzt festgestellt zu wissen, was mit der halben Million Dollar aus dem Reptilienfonds der Moskauer Zentrale geschehen würde, wenn sie zum Beispiel in britische Hände fiele. Es könne nicht in Frage kommen, daß sie einfach durch den Circus wieder in Umlauf gesetzt würde, warnte er. Die Alleinrechte müßten beim Schatzamt liegen. Ob das klar sei?
Es sei klar, sagte Smiley.
Guillam erkannte, daß sich eine Spaltung anbahnte. Zwischen denen, die, wenn auch widerstrebend, akzeptierten, daß die Untersuchung ein fait accompli war, und denen, die ihr Nachhutgefecht gegen deren Abhaltung weiterführten. Hammer schien sich, wie Guillam überrascht feststellte, mit einer Untersuchung abgefunden zu haben.
Eine lange Reihe von Fragen über »legale« und »illegale« Residenturen war zwar ermüdend, diente indes dazu, die Furcht vor einer Roten Gefahr zu verankern. Luff, der Parlamentarier, verlangte, man solle ihm den Unterschied genau erklären. Smiley tat es geduldig. Ein »legaler« oder »oberirdischer« Resident, sagte er, sei ein Geheimdienstbeamter, der unter offiziellem oder halboffiziellem Schutz in dem betreffenden Land lebe. Da es das Gouvernement in Hongkong mit Rücksicht auf Pekings Animosität gegenüber Rußland für gut befunden habe, jede Art sowjetischer Repräsentation aus der Kolonie zu verbannen - Botschaft, Konsulat, TASS, Radio Moskau, Novosti, Aeroflot, Intourist und sämtliche sonstigen dienlichen Flaggen, unter denen die »Legalen« traditionsgemäß zu segeln pflegten -, sei es unvermeidlich, daß jede sowjetische Aktivität in der Kolonie durch einen illegalen oder unterirdischen Apparat erfolgen müsse. Eben diese Voraussetzung habe die Recherchen des Circus in jene Richtung gelenkt, die dazu führte, daß die Ersatz-Route für das Geld entdeckt wurde, sagte er, und vermied den Fachausdruck »Goldader«.
»Aha, dann haben wir also die Russen dazu gezwungen«, sagte Luff voll Genugtuung. »Wir haben es nur uns selbst zu verdanken. Wir schikanieren die Russen, sie beißen zurück. Wen kann das überraschen? Wir baden hier die Fehler der letzten Regierung aus, nicht unserer jetzigen. Wer die Russen reizt, bekommt, was er verdient. Klar. Wir ernten wieder einmal den Sturm, wie üblich.«
»Was hatten die Russen vordem in Hongkong gehabt?« fragte ein cleverer Jüngling aus dem Home Office. Mit einem Schlag kam Leben in die Kolonialisten. Wilbraham begann, fieberhaft eine Akte zu durchblättern, aber als er sah, wie sein rothaariger Assistent an der Leine zerrte, brummte er: »Sie übernehmen das, John, ja? Gut«, lehnte sich zurück und blickte grimmig drein. Die braune Dame lächelte wehmütig auf die Tischbespannung, als gedächte sie der Zeiten, da der grüne Filz noch heil war. Also unternahm der Primaner seinen zweiten unseligen Ausbruchsversuch:
»Es gibt hierfür unseres Erachtens in der Tat höchst lichtvolle Exempel«, begann er aggressiv. »Die früheren Versuche der Moskauer Zentrale, in der Kolonie Fuß zu fassen, waren sämtlich ohne Ausnahme fruchtlos und unergiebig.« Er leierte eine Anzahl langweiliger Beispiele herunter.
Vor fünf Jahren, sagte er, sei ein falscher russisch-orthodoxer Archimandrit aus Paris eingeflogen worden, der Verbindung mit der weißrussischen Gemeinde aufnehmen sollte: »Dieser Herr versuchte, einen älteren Restaurantbesitzer in die Dienste der Moskauer Zentrale zu nötigen und wurde prompt festgenommen. In jüngerer Zeit kam es vor, daß Besatzungsmitglieder russischer Frachter, die Hongkong zu Reparaturzwecken anliefen, dort an Land gingen. Sie unternahmen plumpe Versuche, Hafenarbeiter und Docker, die sie für linksgerichtet hielten, zu bestechen. Sie wurden arretiert, verhört, in der Presse lächerlich gemacht und durften, wie nur recht und billig, das Schiff für den Rest der Liegezeit nicht mehr verlassen.« Er lieferte noch weitere nichtige Beispiele, und alle wurden schläfrig und warteten auf den letzten Gang: »Wir verfahren jedesmal in genau der gleichen Weise. Sobald sie erwischt werden, auf der Stelle, werden die Schuldigen öffentlich bloßgestellt, Pressofotos? So viele Sie wollen, Gentlemen. Fernsehen? Kamera läuft. Ergebnis? Peking klopft uns freundschaftlich auf den Rücken, weil wir sowjetische Expansionisten abwehren.« In seiner maßlosen Übererregtheit hatte er den Nerv, sich direkt an Smiley zu wenden. »Sie sehen also, was Ihre illegalen Netze betrifft, so ziehen wir sie offen gestanden stark in Zweifel. Legal, illegal, ober- oder unterirdisch. Unsere Ansicht lautet, der Circus drückt hier ein bißchen auf die Tube, um wieder ins Spiel zu kommen!« Guillam öffnete bereits den Mund zu einem entsprechenden Rüffel, als er eine warnende Berührung am Ellbogen spürte, und schloß ihn wieder.
Es folgte ein langes Schweigen, während dessen Wilbraham noch verlegener aussah als alle anderen.
»Klingt mir eher nach blauem Dunst, Chris«, sagte Enderby nüchtern.
»Was soll das heißen?« fragte Wilbraham nervös.
»Antworte nur auf das Argument, das Ihr Prachtjunge für Sie vorgebracht hat, Chris. Blauer Dunst. Täuschung. Die Russen rasseln mit dem Säbel, dort, wo ihr sie sehen könnt, und während ihr alle brav dorthin schaut, machen sie in aller Ruhe ihre dreckige Arbeit auf der anderen Seite der Insel. Siehe Bruder Ko. Stimmt's, George?«
»Nun, dieser Ansicht sind wir, ja«, räumte Smiley ein. »Und ich sollte Sie wohl daran erinnern - es steht übrigens in der Eingabe -, daß Haydon seinerzeit immer besonders eifrig betonte, die Russen hätten in Hongkong nichts laufen.«
»Lunch« verkündete Martindale ohne viel Optimismus. Sie aßen droben, ein freudloses Mahl, das per Lieferwagen in Menagetellern aus Plastik gekommen war. Die einzelnen Vertiefungen waren zu flach, und Guillams Eiercreme schwappte in das Fleischgericht.
Also gestärkt nutzte Smiley die allgemeine nachmittägliche Trägheit, um das ins Spiel zu bringen, was Lacon als den Panik-Faktor bezeichnet hatte. Genauer gesagt, er versuchte, der Versammlung das Gefühl einzuflößen, daß eine sowjetische Präsenz in Hongkong eigentlich nur logisch sei, auch falls, wie er es formulierte, Ko nicht das Beispiel dafür lieferte: Hongkong als der größte Hafen Festland-Chinas, über den vierzig Prozent seines Außenhandels abgewickelt werden. Wie schätzungsweise jeder fünfte Einwohner Hongkongs alljährlich legal in China ein- und ausreise, wobei die Mehrfach-Reisen diesen Durchschnitt zweifellos noch anhöben. Wie China in Hongkong, sub rosa, aber mit voller Billigung der Behörden, Teams erstklassiger Unterhändler, Wirtschaftler und Techniker unterhalte, die über Pekings Interessen in Handel, Verkehr und Entwicklung wachten, und wie jeder einzelne dieser Männer ein natürliches Ziel für Geheimdienste zwecks »Verleitung oder anderer Formen einer geheimen Überredung«, wie er sich ausdrückte, darstelle.
Wie Hongkongs Fischerei- und Dschunkenflotte sich eines doppelten Heimatrechts erfreute, in Hongkong und entlang der chinesischen Küste, und ungehindert in chinesischen Gewässern ein- und auslaufe -.
Enderby unterbrach ihn mit einer hilfreichen Frage:
»Und Ko besitzt eine eigene Dschunkenflotte. Sagten Sie nicht, er sei einer der letzten Wackeren der Gilde?«
»Ja, ja, das stimmt.«
»Aber er sucht das Festland nicht persönlich auf?«
»Nein, nie. Das tut sein Assistent, aber nach unseren Ermittlungen Ko selbst niemals.«
»Assistent?«
»Er hat einen Freund und Manager namens Tiu. Die beiden sind schon seit zwanzig Jahren beisammen. Länger. Sie kommen aus dem gleichen Stall: Hakka, Schanghai und so weiter. Tiu ist in mehreren Firmen sein Strohmann.«
»Und Tiu sucht regelmäßig das Festland auf?«
»Mindest einmal im Jahr.«
»Größere Reisen?«
»Kanton, Peking und Schanghai sind aktenkundig. Aber die Akte ist nicht notwendigerweise vollständig.«
»Aber Ko bleibt zu Hause. Komisch.«
Da keine weiteren Fragen oder Kommentare hierzu kamen, fuhr Smiley in seiner Anpreisung der Reize Hongkongs als Spionagebasis fort. Hongkong sei einmalig, stellte er schlicht fest. Kein anderer Ort der Welt biete auch nur ein Zehntel der Voraussetzungen für ein Fußfassen in China.
» Voraussetzungen!« echote Wilbraham. »Versuchungen sollten Sie sagen.«
Smiley zuckte die Achseln. »Versuchungen, wenn Sie so wollen«, stimmte er zu. »Der sowjetische Geheimdienst ist nicht gerade berühmt für seine Widerstandskraft in dieser Hinsicht.« Und unter einigem wissenden Gelächter setzte er die Aufzählung dessen fort, was bisher an Vorstößen der Zentrale auf das chinesische Ziel als Ganzes bekannt war: ein kombinierter Abriß aus Connie und di Salis. Er schilderte die Bemühungen der Zentrale, einen Angriff von Norden her zu führen, mittels einer Groß-Anwerbung und Infiltration der eigenen Leute chinesischer Volkszugehörigkeit. Erfolglos, sagte er. Er schilderte ein gewaltiges Netz von Lauschposten entlang der viereinhalbtausend Meilen chinesisch-russischer Landgrenze: unproduktiv, sagte er, denn die Ausbeute sei militärischer Art, während die Gefahr politischer Natur sei. Er kolportierte die Gerüchte sowjetischer Annäherungsversuche an Taiwan, den Vorschlag, gemeinsame Sache gegen die chinesische Bedrohung zu machen durch kombinierte Operationen und geteilten Profit: abgelehnt, sagte er, und wahrscheinlich überhaupt nur als Störung geplant, um Peking zu ärgern, nicht zum vorgegebenen Zweck. Er gab Beispiele dafür, wie die Russen ihre Talentsucher auf Chinesengemeinden in London, Amsterdam, Vancouver und San Francisco ansetzten und streifte die verhüllten Vorschläge der Zentrale an die Vettern vor einigen Jahren, man solle einen »Nachrichten-Pool« schaffen, der den gemeinsamen Feinden Chinas zugänglich wäre. Fruchtlos, sagte er. Die Vettern zogen nicht. Und schließlich kam er noch auf die lange Geschichte wilder Verbrennungs- und Bestechungsoperationen der Zentrale gegen Amtsträger Pekings auf überseeischen Posten: Produkt unbestimmt, sagte er. Nachdem das gesagt war, lehnte er sich zurück und stellte nochmals die These auf, die an diesem ganzen Hin und Her schuld war.
»Früher oder später«, wiederholte er, »muß die Moskauer Zentrale in Hongkong auftauchen.«
Womit wiederum Ko an der Reihe war, und Roddy Martindale, der unter Enderbys Adlerauge den nächsten wirklichen Waffengang einleitete:
»Well, was glauben Sie, wofür das Geld ist, George? Ich meine, wir haben jetzt alles gehört, wofür es nicht ist, und wir haben gehört, daß es nicht ausgegeben wird. Aber wir sind keinen Schritt weiter, oder?, verdammt nochmal. Sieht nicht aus, als wüßten wir etwas. Es ist die gleiche alte Frage: wie wird das Geld verdient, wie wird es ausgegeben, was sollen wir tun?«
»Das sind drei Fragen«, sagte Enderby leise, aber hart.
»Eben weil wir nichts wissen«, sagte Smiley störrisch, »ersuchen wir um die Genehmigung, es festzustellen.«
Von den Schatzamtbänken her sagte jemand: »Ist eine halbe Million viel Geld?«
»Nach meiner Erfahrung beispiellos«, sagte Smiley. »Die Moskauer Zentrale« - er vermied pflichtschuldig den Namen Karla -»hat es schon immer gehaßt, Loyalität zu kaufen. Und ein Kaufpreis in dieser Höhe ist bei ihnen etwas Unerhörtes.«
»Aber wessen Loyalität wollen sie kaufen?« wehklagte jemand. Martindale der Gladiator warf sich erneut ins Getümmel: »Sie sagen uns nicht alles, George. Das weiß ich. Sie haben irgendeinen Tip, ganz klar. Also rücken Sie schon raus damit. Seien Sie nicht so spröde.«
»Ja, könnten Sie nicht doch ein paar Karten aufdecken?« lamentierte auch Lacon.
»Bestimmt können Sie doch ein bißchen mehr auspacken«, flehte Hammer.
Selbst unter diesem Dreifrontendruck wankte Smiley noch immer nicht. Der Panik-Faktor tat endlich seine Wirkung. Smiley selbst hatte ihn ausgelöst. Wie ängstliche Patienten bestürmten sie ihn um eine Diagnose. Und Smiley weigerte sich, eine solche zu stellen, mit der Begründung, daß ihm die Daten fehlten. »Glauben Sie mir, ich kann nichts weiter tun, als Ihnen die Fakten mitteilen, soweit sie feststehen. Wenn ich in diesem Stadium laute Spekulationen anstellte, wäre niemandem gedient.« Zum erstenmal seit Beginn der Sitzung tat die Kolonialdame den Mund auf und stellte eine Frage. Ihre Stimme war wohlklingend und intelligent.
»Um auf den Punkt Präzedenzfälle zurückzukommen, Mr. Smiley -« Smiley zog den Kopf ein und machte eine altmodische kleine Verbeugung -. »Gibt es Präzedenzfälle dafür, daß geheime russische Gelder an einen Treuhänder gezahlt wurden? Auf anderen Schauplätzen, zum Beispiel?«
Smiley antwortete nicht sofort. Guillam, der nur ein paar Zentimeter von ihm entfernt saß, hätte geschworen, eine plötzliche Spannung zu spüren, als hätte seinen Nachbarn ein jäher Energiestoß durchzuckt. Aber als er einen Blick auf das ungerührte Profil warf, konnte er an seinem Herrn und Meister nur zunehmende Schläfrigkeit und ein leichtes Absacken der müden Lider konstatieren.
»Es gab ein paar Fälle von dem, was wir als Alimente bezeichnen«, räumte er schließlich ein.
»Alimente, Mr. Smiley?« echote die Kolonialdame, während ihr rothaariger Gefährte noch fürchterlicher die Stirn runzelte, als gehörten auch Ehescheidungen zu den Dingen, die er mißbilligte. Smiley setzte die Schritte mit äußerster Behutsamkeit: »Es gibt selbstverständlich Agenten, die in feindlichen Ländern arbeiten - feindlich vom sowjetischen Standpunkt aus - und aus Gründen der Tarnung ihren Sold nicht nutzen können, solange sie im Einsatz sind.« Die braungewandete Dame nickte leicht, zum Zeichen, daß sie verstanden habe. »In derlei Fällen ist es üblich, das Geld in Moskau zu deponieren und dem Agenten zugänglich zu machen, sobald er in der Lage ist, es auszugeben. Ihm oder seinen Angehörigen, falls -«
»- falls es ihn erwischt hat«, ergänzte Martindale genießerisch. »Aber Hongkong ist nicht Moskau«, erinnerte ihn die Kolonialdame lächelnd.
Smiley hatte seine Ausführungen beinah abgeschlossen: »In seltenen Fällen, wenn das Motiv Geld ist und der Agent vielleicht keine spätere Rückkehr nach Rußland anstrebt, kam es vor, daß die Moskauer Zentrale, als Notlösung, sich zu einem ähnlichen Arrangement in, sagen wir, der Schweiz entschloß.«
»Aber nicht in Hongkong?« bohrte sie.
»Nein, das nicht. Und nach aller Erfahrung ist es unvorstellbar, daß Moskau sich zu einer Alimentenzahlung in dieser Größenordnung entschließen könnte. Allein schon, weil dies für den Agenten einen Anreiz böte, sich von seiner Tätigkeit zurückzuziehen.« Gelächter wurde laut, aber als es sich gelegt hatte, war die Dame in Braun schon mit ihren nächsten Fragen zur Hand. »Aber die Zahlungen fingen bescheiden an«, meinte sie mit höflicher Hartnäckigkeit. »Das steile Ansteigen ist erst verhältnismäßig neuen Datums?«
»Stimmt«, sagte Smiley.
Stimmt zu verdammt genau, dachte Guillam und fing an, sich ernsthaft zu beunruhigen.
»Mr. Smiley, wenn das betreffende Aufklärungsmaterial für die Russen entsprechend wertvoll wäre, glauben Sie, daß sie sich bereit finden würden, ihre Vorbehalte über Bord zu werfen und einen solchen Preis zu zahlen? Schließlich ist, absolut gesprochen, das Geld an und für sich unerheblich, verglichen mit dem Wert eines großen Informationsvorsprungs.«
Smiley hatte einfach aufgehört zu sprechen. Er drückte sich auch nicht durch bestimmte Gebärden aus. Er blieb höflich, rang sich sogar ein kleines Lächeln ab, aber er hatte eindeutig genug von Mutmaßungen. Enderby mußte mit seinem blasierten Näseln einspringen, um die Frage wegzuwischen. »Kinder, wenn wir nicht aufpassen, vertun wir den ganzen Tag mit Theoretisieren«, rief er mit einem Blick auf die Uhr. »Chris, wie ist das, lassen wir die Amerikaner mitspielen? Wenn wir dem Gouverneur nicht Mitteilung machen, wie steht's dann mit einer Mitteilung an unsere tapferen Alliierten?« Der Gong hat George gerettet, dachte Guillam. Bei der Erwähnung der Vettern legte Colo Wilbraham los wie ein gereizter Stier. Guillam vermutete, daß er diese Frage hatte kommen sehen und entschlossen war, sie abzuschießen, sobald sie nur den Kopf herausstreckte.
»Veto, bedaure«, schnappte er ohne eine Spur seiner sonstigen Anlauffrist. »Absolut. Jede Menge Gründe. Erstens Abgrenzung. Hongkong ist unser Revier. Die Amerikaner haben dort keine Fangrechte. Gar nichts. Zweitens ist Ko britischer Untertan und hat einigen Anspruch auf unseren Schutz. Ist vermutlich altmodisch von mir. Mir aber egal, offen gesagt. Die Amerikaner würden sofort loslegen. War schon mal da. Gott weiß, wo es enden würde. Drittens: kleiner Protokollpunkt.« Er meinte es ironisch. Er appellierte an den Instinkt eines Ex-Botschafters und versuchte, dessen Sympathie zu gewinnen. »Nur ein kleiner Punkt, Enderby. Die Amerikaner in Kenntnis setzen und den Gouverneur nicht - also, wenn ich der Gouverneur wäre und in diese Lage käme, ich würde meinen Hut nehmen. Mehr kann ich nicht sagen. Das würden Sie auch tun. Ich weiß es. Sie würden es tun. Ich auch.«
»Vorausgesetzt, daß Sie dahinterkämen«, korrigierte ihn Enderby.
»Keine Sorge. Ich würde dahinterkommen. Erstens würden sie, zehn Mann hoch, im ganzen Haus mit Mikrophonen herumkrauchen. Haben es schon ein paarmal in Afrika getan, wo wir sie reinließen. Katastrophe. Komplett.« Er warf die, gekreuzten Unterarme auf den Tisch und starrte wütend auf sie nieder. Ein heftiges Tuckern wie von einem Außenbordmotor meldete eine Panne in einem der elektronischen Abschirmgeräte, stockte, erholte sich wieder und surrte im Senkrechtstart außer Hörbereich.
»Müßte ein mutiger Mann sein, der's hinter Ihrem Rücken wagen würde«, murmelte Enderby mit breitem bewunderndem Grinsen in das gespannte Schweigen. »Richtig«, bellte Lacon aus heiterem Himmel. Sie wissen es, dachte Guillam nur. George hat sie geködert. Sie wissen, daß er mit Martello einen Handel geschlossen hat, und sie wissen, daß er es nicht sagen wird, weil er entschlossen ist, sich tot zu stellen. Aber Guillam sah an jenem Tag nichts klar. Während Schatzamt und Verteidigung vorsichtig in dem offenbar logischen Argument übereinstimmten - »Haltet die Amerikaner hier raus« -, schien Smiley seltsamerweise gar keine Neigung zu verspüren, diese Frage anzutippen.
»Aber es bleibt nach wie vor das Problem, was mit dem Rohmaterial geschehen soll«, sagte er. »Ich meine, falls Sie beschließen sollten, daß meine Dienststelle die Sache nicht weiter verfolgen darf«, fügte er, zur allgemeinen Verwirrung, nachdenklich hinzu.
Guillam war erleichtert, auch Enderby völlig verblüfft zu sehen. »Soll 'n das heißen?« fragte Enderby und schloß sich damit kürz der übrigen Meute an.
»Ko hat finanzielle Interessen in ganz Südostasien«, erinnerte Smiley sie. »Seite eins meiner Eingabe.« Geschäftigkeit, Geblätter. »Wie uns zum Beispiel bekannt ist, besitzt er auf dem Umweg über Mittelsleute und Strohmänner alles mögliche, zum Beispiel eine Nachtclubkette in Saigon, eine Fluggesellschaft mit Sitz in Vientiane, eine Tankerflotte in Thailand. Es wäre durchaus vorstellbar, daß einige dieser Unternehmen politische Obertöne hätten, die tief in die amerikanische Einflußsphäre hineinreichen. Ich würde natürlich Ihre schriftliche Anweisung in Händen haben müssen, wenn ich unsere Seite der bestehenden bilateralen Abkommen außer acht lassen sollte.«
»Sprechen Sie weiter«, befahl Enderby und fischte aus der vor ihm liegenden Schachtel ein frisches Zündholz. »Oh, ich glaube, ich habe alles gesagt, vielen Dank«, sagte Smiley höflich. »Die Sache ist in der Tat höchst einfach. Angenommen, wir machen nicht weiter, was, wie Lacon mir sagte, das Resultat der heutigen Sitzung sein dürfte, was habe ich dann zu tun? Das Material auf den Müll werfen? Oder es im Rahmen der bestehenden Austauschabmachung an unsere Alliierten weitergeben?«
»Alliierte«, rief Wilbraham erbittert. »Alliierte? Sie setzen uns die Pistole auf die Brust, Mann!«
Smileys eiserne Erwiderung war nach seiner bisherigen Lethargie um so bestürzender.
»Ich habe von diesem Ausschuß strikte Anweisung erhalten, unsere Verbindung mit den Amerikanern zu reparieren. In dem Vertrag, der mir von Ihnen ausgestellt wurde, heißt es wörtlich, daß ich alles nur Mögliche zu tun hätte, um diese besondere Beziehung zu pflegen und den Geist gegenseitigen Vertrauens wiederzuerwecken, der vor - vor Haydon existierte. >Um uns wieder an den Führungstisch zurückzubringen<, sagten Sie . . . « Er blickte Enderby direkt an.
»Führungstisch«, echote jemand - eine ganz neue Stimme. »Opferaltar, wenn Sie mich fragen. Wir haben bereits den Nahen Osten und halb Afrika darauf verbrannt. Alles der besonderen Beziehung zuliebe.«
Aber Smiley schien nicht zu hören. Er war erneut in die Haltung bekümmerter Widerborstigkeit zurückgefallen. Manchmal, so sagte seine traurige Miene, waren die Bürden seines Amts einfach zu schwer für ihn.
Ein neuerlicher Anfall von Nachtisch-Grämlichkeit setzte ein. Jemand beklagte sich über den Tabaksqualm. Ein Bote wurde herbeizitiert.
»Was - zum Teufel ist mit der Entlüftung los?« fragte Enderby mürrisch. »Wir ersticken.«
»Die Ersatzteile«, sagte der Bote. »Wir haben sie schon vor Monaten bestellt, Sir. Vor Weihnachten war das, Sir, also fast ein Jahr her. Trotzdem, gegen solche Verzögerungen kann man nichts machen, stimmt doch, Sir?«
»Herrje«, sagte Enderby.
Es wurde Tee bestellt. Er kam in Pappbechern an, die auf den Tischbelag leckten. Guillam ließ seine Gedanken zu Molly Meakins unvergleichlicher Figur schweifen. Es war fast vier Uhr, als Lacon sich herbeiließ, die Spitze der Armeen zu übernehmen, und Smiley aufforderte, er möge jetzt »genau sagen, was Sie, praktisch gesehen, von uns haben wollen, George, raus damit auf den Tisch des Hauses, und dann wollen wir versuchen, eine Antwort auszuhecken«.
Freudenbezeigung wäre tödlich gewesen. Smiley schien das zu begreifen.
»Erstens, wir benötigen Rechte und Genehmigung, um auf dem Südostasien-Schauplatz zu operieren - inoffiziell, so daß der Gouverneur seine Hände in Unschuld waschen kann« - ein Blick hinüber zum Unterstaatssekretär - »und unsere Herren hier ebenfalls; zweitens, um gewisse Recherchen im Inland durchzuführen.«
Köpfe fuhren in die Höhe. Das Innenministerium wurde plötzlich unruhig. Warum? Wer? Wie? Welche Recherchen? Wenn es sich um das Inland handle, müsse die Konkurrenz damit befaßt werden. Pretorius vom Staatssicherheitsdienst befand sich bereits in Gärung.
»Ko hat in London Jura studiert«, beharrte Smiley. »Er hat hier Verbindungen, gesellschaftlicher und geschäftlicher Art. Wir müßten sie selbstverständlich unter die Lupe nehmen.« Er blickte Pretorius an. »Wir würden der Konkurrenz unsere sämtlichen Ergebnisse zugänglich machen«, versprach er und fuhr in seinem Ansuchen fort.
»Nun zum Geld: meine Eingabe enthält eine vollständige Aufschlüsselung der Summe, die wir sofort benötigen, plus zusätzlicher Kostenvoranschläge für verschiedene Eventualitäten. Schließlich bitten wir, sowohl auf lokaler als auch auf Whitehall-Ebene, unsere Residentur in Hongkong wieder öffnen zu dürfen, um eine vorgeschobene Basis für die Operation zu haben.« Betroffenes Schweigen quittierte diesen letzten Punkt, und Guillam schloß sich dem allgemeinen Erstaunen an. Nirgendwo, weder bei einer der vorbereitenden Diskussionen im Circus noch bei Lacon hatte irgend jemand, auch Smiley nicht, die Frage angeschnitten, ob High Haven wieder eröffnet oder eine Nachfolgeeinrichtung geschaffen werden solle. Wiederum erhob sich großer Tumult.
»Andernfalls«, endete Smiley ungeachtet der Proteste, »das heißt, wenn wir unsere Residentur nicht bekommen, so fordern wir zumindest Blankovollmacht, um unsere eigenen unterirdischen Agenten in der Kolonie anzusetzen. Kein Einverständnis der dortigen Stellen, sondern die Billigung und den Schutz Londons. Alle existierenden Quellen sind nachträglich zu legitimieren. Schriftlich«, fügte er mit einem harten Blick auf Lacon hinzu und erhob sich.
Trübsinnig nahmen Guillam und Smiley erneut im Warteraum auf der gleichen lachsroten Bank Platz, auf der sie schon vor Beginn gesessen hatten, Seite an Seite, wie Reisende, die das gleiche Ziel haben.
»Warum?« murmelte Guillam einmal, aber George Smiley Fragen zu stellen, war an jenem Tag nicht nur ein Verstoß gegen den guten Geschmack, sondern ausdrücklich durch das Warnschild verboten, das über ihnen an der Wand hing. Noch dümmer hätte man nicht ausreizen können, dachte Guillam bedrückt. Du hast die Vorstellung geschmissen, dachte er. Armes altes Wrack: eben doch aus mit dir. Die einzige Operation, die uns wieder ins Spiel bringen könnte. Habgier, das war's. Die Habgier eines alten Spions, der's eilig hat. Ich halte zu ihm, dachte Guillam. Ich will mit dem sinkenden Schiff untergehn. Wir machen zusammen eine Hühnerfarm auf. Molly kann die Buchhaltung übernehmen, und Ann sich bukolischen Verquickungen mit den Landarbeitern überlassen. »Wie fühlen Sie sich?« fragte er. »Es handelt sich nicht ums Fühlen«, erwiderte Smiley. Besten Dank, dachte Guillam.
Zwanzig Minuten vergingen. Smiley hatte sich nicht bewegt. Sein Kinn war auf die Brust gesunken, die Augen hielt er geschlossen, er hätte in ein Gebet vertieft sein können. »Vielleicht sollten Sie einen Abend ausspannen«, sagte Guillam. Smiley runzelte nur die Stirn.
Ein Bote erschien und forderte sie auf, in den Saal zurückzukehren. Lacon nahm jetzt das Präsidium ein, sein Gebaren war das einer Aufsichtsperson. Enderby saß auf dem übernächsten Platz und unterhielt sich flüsternd mit dem Waliser Hammer. Pretorius blickte drohend wie eine Gewitterwolke, und seine namenlose Dame schürzte die Lippen zu einem unbewußten Feindeskuß.
Lacon raschelte ruheheischend mit seinen Notizen und begann, wie ein pedantischer Richter den detaillierten Wahrspruch des Ausschusses vorzulesen, ehe er das Urteil verkündete. Das Schatzamt hatte energischen Protest eingelegt, zu Protokoll genommen, wegen mißbräuchlicher Handhabung von Smileys Geschäftskonto. Smiley solle zudem eingedenk sein, daß alle Anträge auf Rechte und Genehmigungen im Inland im vorhinein mit dem Staatssicherheitsdienst abzusprechen seien und nicht »mitten in einer offiziellen Ausschußsitzung wie Kaninchen aus dem Hut zu zaubern«. Von einer Wiedereröffnung der Residentur Hongkong könne keinesfalls die Rede sein. Ein solcher Schritt sei allein schon aus zeitlichen Gründen unmöglich. Er ließ durchblicken, daß es sich in der Tat um einen schamlosen Vorschlag gehandelt habe. Hier gehe es um Prinzipielles, Konsultationen auf höchster Ebene würden vonnöten sein, und da Smiley sich bereits ausdrücklich gegen eine Weitergabe seines Materials an den Gouverneur ausgesprochen habe - womit Lacon Wilbraham seine Reverenz erwies -, würde sich die Wiedereinrichtung einer Residentur in vorhersehbarer Zukunft schwerlich verfechten lassen, zumal in Anbetracht der unglückseligen Publicity, die sich mit der Räumung von High Haven verbunden habe. »Ich muß diese Ansicht mit größtem Bedauern akzeptieren«, sagte Smiley ernst.
Um Himmels willen, dachte Guillam: wir wollen doch wenigstens kämpfend untergehen!
»Akzeptieren Sie sie, wie immer Sie wollen«, sagte Enderby - und Guillam hätte schwören können, sowohl in Enderbys Augen wie in denen des Waliser Hammers einen Schimmer von Triumph gesehen zu haben.
Dreckskerle, dachte er schlicht. Für euch gibt's keine Gratishühner. Im Geist sagte er bereits dieser ganzen Meute Adieu. »Alles übrige«, sagte Lacon, legte ein Blatt Papier beiseite und nahm ein anderes auf, »ist, unter gewissen einschränkenden Bedingungen und Sicherheitsbestimmungen bezüglich Zweckdienlichkeit, Finanzierung und Geltungsdauer der Sonderbefugnis, bewilligt.«
Der Park war menschenleer. Die unbedeutenderen Besucher hatten das Feld für die Profis geräumt. Einige Liebespaare lagen auf dem feuchten Gras wie Krieger nach der Schlacht. Ein paar Flamingos dösten. Neben Guillam, der euphorisch in Smileys Kielwasser dahinschlenderte, sang Roddy Martindale Smileys Lob: »Ich finde George einfach wundervoll. Nicht umzubringen. Und ein Durchsetzungsvermögen! Bewundernswert. Ist die menschliche Fähigkeit, die ich am meisten bewundere. George hat sie in rauhen Mengen. Diese Dinge sehen sich ganz anders an, wenn man aufgerückt ist. Man wächst erst in ihr Format hinein, unter uns gesagt. War Ihr Vater nicht Arabist?«
»Ja«, sagte Guillam, der sich in Gedanken schon wieder mit Molly und mit der Frage beschäftigte, ob wohl ein gemeinsames Dinner noch möglich sei.
»Und schrecklich Almanach de Gotha: War er eigentlich Spezialist für ante oder post?«
Guillam, der bereits zu einer hochgradig obszönen Erwiderung ansetzte, wurde gerade noch rechtzeitig gewahr, daß Martindale sich nach nichts Gewagterem als den wissenschaftlichen Neigungen seines Vaters erkundigte.
»Oh, ante, ante war das Panier. Am liebsten wäre er bis Adam und Eva zurückgegangen.«
»Kommen Sie zum Dinner.«
»Vielen Dank.«
»Den Tag sprechen wir noch ab. Wer ist ausnahmsweise mal amüsant? Wen mögen Sie?«
Von weiter vorn trug die taufeuchte Luft die affektierte Stimme Enderbys zu ihnen, der Smileys Sieg bejubelte. »Nette kleine Sitzung. Eine Menge geschafft. Nichts verschenkt. Blatt sehr nett ausgespielt. Ziehen Sie diesen Fisch an Land, und Sie können anbauen, meine ich. Und die Vettern werden spuren, wie?« bellte er, als befänden sie sich noch immer im abhörsicheren Konferenzraum. »Sie haben dort das Gelände sondiert? Die Vettern werden die Balljungen spielen und nicht versuchen, das Match an sich zu reißen? Bißchen riskant, das Ganze, aber Sie werden's schaffen. Und sagen Sie Martello, er soll Kreppsohlen tragen, wenn er welche hat, oder wir kriegen die größten Scherereien mit den Colonials, eh wir bis drei zählen. Schade um den alten Wilbraharn. Hätte Indien ordentlich verwaltet.« Noch ein Stück weiter vorn, beinah schon außer Sicht unter den Bäumen, gestikulierte der kleine Hammer energisch auf Lacon ein, der sich arrogant zu ihm niederbeugte, um seine Worte zu verstehen.
Auch eine nette kleine Verschwörung, dachte Guillam. Er blickte zurück und sah zu seiner Überraschung Fawn, den Babysitter, herbeirennen. Zuerst schien er noch eine ganze Strecke entfernt, Nebelfetzen verhüllten seine Beine. Nur die obere Hälfte ragte über den Dunstspiegel. Dann war er plötzlich viel näher, und Guillam vernahm das vertraute klagende Röhren, »Sir, Sir«, womit er Smileys Aufmerksamkeit erregen wollte. Guillam schob Martindale schleunigst außer Hörweite und marschierte auf Fawn zu.
»Was zum Teufel ist denn los? Warum blöken Sie denn so?«
»Sie haben ein Mädchen gefunden. Miss Sachs, Sir, sie schickt mich, damit ich es ihm eigens sage.« Seine Augen glänzten hell und ein bißchen irre. »>Sagen Sie dem Chef, das Mädchen ist gefunden<. Ihre eigenen Worte, persönlich an den Chef.«
»Wollen Sie sagen, daß Miß Sachs Sie hierhergeschickt hat?«
»Persönlich für den Chef, unverzüglich«, erwiderte Fawn ausweichend.
»Ich frage: >Hat sie Sie hierhergeschickt?<« Guillam kochte. »Antwort: >Nein, Sir, das hat sie nicht.< Sie verdammte Schmierentante, in Turnlatschen durch ganz London rennen! Total übergeschnappt.« Er entriß Fawn den zerknüllten Zettel und las ihn flüchtig. »Es ist nicht mal der gleiche Name. Verdammter hysterischer Blödsinn. Marsch zurück in Ihren Stall, verstanden? Der Chef wird sich um die Sache kümmern, sobald er zurück ist. Und Schluß mit dem Wirbelmachen, ein für allemal!«
»Wer war denn das?« erkundigte sich Martindale ganz atemlos vor Aufregung, als Guillam wieder bei ihm war. »Was für ein entzückendes Geschöpfchen! Sind alle Spione so niedlich? Nein, wie venezianisch. Ich werde mich sofort freiwillig melden.«
Noch am gleichen Abend wurde in der Rumpelkammer eine improvisierte Besprechung abgehalten, und die Euphorie - in Connies Fall alkoholischer Natur -, ausgelöst durch Smileys Triumph bei der Ausschußsitzung, trug noch zu ihrem ungewöhnlichen Charakter bei. Nach den Zwängen und Spannungen der letzten Monate war Connie nun außer Rand und Band. Das Mädchen! Das Mädchen war der Schlüssel! Connie hatte ihre sämtlichen intellektuellen Hemmungen abgeworfen. Schickt Toby Esterhase nach Hongkong, stellt sie, fotografiert sie, beschattet sie, durchsucht ihr Zimmer! Zieht sofort Sam Collins hinzu! di Salis zappelte, kicherte albern, suckelte an seiner Pfeife und schlenkerte mit den Füßen, war jedoch an diesem Abend völlig in Connies Bann. Einmal sprach er sogar von »einem natürlichen Zugang zum Herzen der Dinge« - womit er wiederum das geheimnisvolle Mädchen meinte. Kein Wunder, daß der kleine Fawn von ihrem Eifer angesteckt worden war. Guillam schämte sich fast wegen seines Ausbruchs im Park. Tatsächlich wäre an jenem Abend, wenn Smiley und Guillam nicht gebremst hätten, eine kollektive Wahnsinnstat möglich gewesen, und Gott weiß, wohin sie geführt hätte. In der Geheimwelt gibt es eine Fülle von Beispielen dafür, daß vernünftige Leute plötzlich aushaken. Guillam erlebte diese Krankheit hier zum erstenmal aus erster Hand.
Es wurde zehn Uhr oder noch später, bis eine kurze Instruktion für Craw verfaßt war, und halb elf, als Guillam völlig benommen auf dem Weg zum Lift mit Molly Meakin zusammenstieß. Als Folge dieses glücklichen Zufalls - oder hatte Molly das Zusammentreffen geplant?, er sollte es nie erfahren - erstrahlte in Guillams Leben ein Leuchtfeuer, das von Stund an nie mehr erlöschen sollte. Milde wie immer willigte Molly ein, von ihm nach Hause gefahren zu werden, obwohl sie in Highgate wohnte, ein meilenweiter Umweg, und als sie vor der Tür standen, lud sie ihn wie üblich noch rasch zu einem Täßchen Kaffee ein. In Voraussicht der vertrauten Abfuhr - »Nein-Peter-bitte-Peter-Lieber-tut-mir-leid« - war Guillam schon drauf und dran, dankend abzulehnen, als irgend etwas in ihrem Blick - eine gewisse ruhige Entschlossenheit, wie ihm schien - ihn zu einem Sinneswandel bewog. In der Wohnung schloß Molly hinter ihnen die Tür ab und legte die Kette vor. Dann führte sie Guillam mit niedergeschlagenen Augen in ihr Schlafzimmer, wo sie ihn mit einer fröhlichen und gepflegten Sinnlichkeit in Erstaunen versetzte.
Craws kleines Schiff
In Hongkong, achtundvierzig Stunden später. Sonntag abend. Craw schritt wachsam durch das schmale Gäßchen. Mit der frühen Dämmerung war der Nebel eingefallen, aber die Häuser standen zu nah aneinandergepfercht, um ihn einzulassen, und er hing vor den oberen Stockwerken mit der Wäsche und den Leitungskabeln und spuckte heiße verschmutzte Regentropfen, die Orangendüfte von den Obstständen aufsteigen ließen und auf der Krempe von Craws Strohhut tickten. Hier war er in China, auf Meereshöhe, in dem China, das er am meisten liebte, und China erwachte zum Festival der Nacht: singend, hupend, klagend, gongschlagend, feilschend, kochend, zwanzig verschiedenen Instrumenten ein Aufgebot blecherner Klänge entlockend: oder regungslos aus Türnischen beobachtend, wie vorsichtig sich der bizarr aufgeputzte fremde Teufel seinen Weg durch dieses China bahnte. Craw liebte das alles, aber seine zärtlichste Liebe galt seinen kleinen Schiffen, wie die Chinesen ihre geheimen Zwischenträger nennen, und von diesen wiederum war Miss Phoebe Wayfarer, zu der er nun unterwegs war, ein klassisches, wenn auch bescheidenes Exemplar.
Er atmete tief ein, genoß die vertrauten Wonnen. Der Ferne Osten hatte ihn nie enttäuscht: »Wir kolonisieren sie, Ehrwürdens, wir korrumpieren sie, wie beuten sie aus, wir bombardieren sie, plündern ihre Städte, verachten ihre Kultur und verwirren sie mit der unendlichen Vielfalt unserer religiösen Sekten. Wir sind scheußlich, nicht nur für ihre Augen, Monsignores, sondern auch für ihre Nasen - der Gestank des Rundauges ist ihnen ein Greuel, und wir sind zu dickfellig, um es zu bemerken. Und doch, wenn wir unser Schlimmstes getan haben, und mehr als unser Schlimmstes, geliebte Söhne, so haben wir das asiatische Lächeln kaum ein kleines bißchen angekratzt.«
Andere Rundaugen wären vielleicht nicht so ohne weiteres allein hierhergekommen. Die Peak-Mafia hätte nicht einmal gewußt, daß es diese Gegend gab. Die britischen Ehefrauen, die in ihren regierungseigenen Gettos in Happy Valley verschanzt lebten, hätten hier all das gefunden, was ihnen ihre Stationierung so verhaßt machte. Es war kein schlechter Stadtteil, aber er war auch nicht europäisch: das Europa der Central und Peddar Street, der elektrischen Türen, die den Seufzer mitliefern, wenn sie den Zugang zur klimatisierten Zone freigeben, war eine halbe Meile entfernt. Andere Rundaugen hätten in ihrer Ängstlichkeit vielleicht unwillkürlich deutliche Blicke um sich geworfen, und das war gefährlich. In Schanghai hatte Craw mehr als einen Mann gekannt, der an einem zufälligen falschen Blick starb. Während Craws Blick allezeit freundlich war. Er gab sich gefällig, trat bescheiden auf, und wenn er halt machte, um etwas einzukaufen, entbot er dem Händler respektvolle Grüße in schlechtem, derbem Kantonesisch. Und er bezahlte, ohne über den Aufschlag zu nörgeln, wie es seiner inferioren Rasse zukam. Er kaufte wie jeden Sonntag Orchideen und Lammleber, verteilte seine Käufergunst gerecht unter den rivalisierenden Händlern und verfiel - wenn ihm das Kantonesische ausging - in sein verschnörkeltes Privatenglisch.
Er drückte auf die Klingel. Phoebe hatte, wie Craw auch, eine Sprechanlage. Laut Anweisung des Head Office gehörte das zur Standardausrüstung. Sie hatte einen Strauß glückbringendes Heidekraut in ihren Briefkasten gestopft, als Signal, daß die Luft rein war.
»Hei«, quäkte eine Mädchenstimme aus dem Lautsprecher. Es konnte Amerikanisch oder Kantonesisch sein, dann folgte ein fragendes »Ja?«
»Larry nennt mich Pete«, sagte Craw. »Kommen Sie rauf, Larry ist gerade hier.« Das Treppenhaus war stockdunkel und stank nach Erbrochenem, und Craws Absätze klapperten auf den Steinstufen wie auf Blech. Er drückte auf den Knopf der Treppenhausbeleuchtung, aber es blieb dunkel, und er mußte sich drei Stockwerke hinauftasten. Es waren Bestrebungen im Gang gewesen, sie besser unterzubringen, aber mit Thesingers Verschwinden waren sie gestorben, und jetzt gab es keine Hoffnung mehr, und, in gewisser Hinsicht, auch keine Phoebe.
»Bill«, flüsterte sie, als sie die Tür hinter ihm schloß, und küßte ihn auf beide fleckige Wangen, wie hübsche Mädchen einen netten Onkel küssen mögen nur daß Phoebe nicht hübsch war. Craw gab ihr die Orchideen. Sein Benehmen war liebenswürdig und besorgt.
»Meine Liebe«, sagte er. »Meine Liebe.«
Sie zitterte. Das Apartment bestand aus einem Wohnschlafzimmer mit Kocher und Ausguß, dazu einem Waschraum mit Dusche. Das war alles. Er ging an ihr vorbei zum Ausguß, wickelte die Leber aus und gab sie der Katze.
»Oh, Sie verwöhnen sie, Bill«, sagte Phoebe und lächelte die Blumen an. Er hatte einen braunen Umschlag auf das Bett gelegt, aber keiner von beiden erwähnte ihn.
»Wie geht's William?«, fragte sie und flirtete mit dem Klang seines Namens.
Craw hatte Hut und Stock an die Tür gehängt und goß jetzt Whisky ein: pur für Phoebe, mit Soda für ihn. »Wie geht's Pheeb? Das ist viel wichtiger. Wie ging's hier draußen, die ganze kalte Woche lang? He, Pheeb?« Sie hatte das Bett zerwühlt und ein frivoles Nachthemd auf den Boden geworfen. Für den ganzen Wohnblock war Phoebe das Halbblut, das mit dem fetten fremden Teufel schlief. Über den zerdrückten Kissen hing ein Bild der Schweizer Alpen, ein Bild, das anscheinend jedes Chinesenmädchen besaß, und auf der Truhe neben dem Bett thronte die Fotografie ihres englischen Vaters, das einzige Bild, das sie jemals von ihm gesehen hatte: ein Handlungsgehilfe aus Dorking in Surrey, kurz nach seiner Ankunft auf der Insel: runder Kragen, Schnurrbart und starre, fast irre Augen. Craw fragte sich zuweilen, ob das Foto entstand, nachdem sie ihn erschossen hatten.
»Jetzt ist alles in Ordnung«, sagte Phoebe. »jetzt geht es mir gut, Bill.«
Sie stand neben ihm, goß Wasser in die Vase, wobei ihre Hände stark zitterten, wie gewöhnlich an Sonntagen. Sie trug Peking zu Ehren eine graue Tunika und das goldene Halskettchen, das sie zum Andenken an ihr erstes Dienstjahrzehnt yom Circus bekommen hatte. In einer lächerlichen Anwandlung von Ritterlichkeit hatte das Head Office beschlossen, es bei Asprey anfertigen und im Diplomatengepäck befördern zu lassen, zusammen mit einem persönlichen Brief an sie, unterzeichnet von Percy Alleline, George Smileys glücklosem Vorgänger. Den Brief hatte sie lesen, aber nicht behalten dürfen.
Nachdem sie die Vase gefüllt hatte, wollte sie sie mm Tisch balancieren, aber das Wasser schwappte über, und Craw nahm sie ihr ab:
»Hoppla. Immer mit der Ruhe.«
Eine Weile blieb sie stehen und lächelte ihn an, dann sank sie mit einem gedehnten, erlösenden Schluchzen auf einen Stuhl. Manchmal weinte sie, manchmal nieste sie oder benahm sich zu laut oder redete zu viel, aber immer hob sie ihre Gefühlsausbrüche für Craw auf.
»Bill, manchmal bekomme ich solche Angst.«
»Ich weiß, Liebes, ich weiß.« Er setzte sich neben sie und hielt ihre Hand.
»Dieser neue Junge im Feuilleton. Er starrt mich an, Bill, er beobachtet alles, was ich tue. Ich bin sicher, er arbeitet für jemanden. Bill, für wen arbeitet er?«
»Vielleicht ist er ein bißchen verliebt?« sagte Craw im sanftesten Ton, während er rhythmisch ihre Schulter tätschelte. »Sie sind eine attraktive Frau, Phoebe. Vergessen Sie das nicht, meine Liebe. Sie können faszinieren, ohne es selbst zu wissen.« Er heuchelte väterliche Strenge: »Haben Sie vielleicht mit ihm geflirtet? Auch so eine Sache. Eine Frau wie Sie kann flirten, ohne sich dessen bewußt zu sein. Ein Weltmann erkennt das. Er hat es schnell herausgefunden.«
Vergangene Woche war es der Pförtner im Erdgeschoß gewesen. Sie sagte, er notiere sich alles, wann sie komme und gehe. Letzte Woche fiel ihr ein Auto immer wieder auf, ein grüner Opel. Er mußte darauf bedacht sein, ihre Ängste auszuräumen, ohne daß ihre Wachsamkeit dadurch nachließe; denn - das durfte Craw nie vergessen - irgendwann würde sie recht haben. Sie förderte ein Bündel handgeschriebener Notizen vom Bett her zutage und begann mit ihrer Berichterstattung so übergangslos, daß Craw sich überrannt fühlte. Sie hatte ein blasses längliches Gesicht, das bei keiner Rasse als schön gegolten hätte. Ihr Oberkörper war lang, die Beine waren zu kurz und die Hände angelsächsisch-häßlich und kräftig. Als sie so auf der Bettkante saß, wirkte sie plötzlich matronenhaft. Zum Lesen hatte sie eine dicke Brille aufgesetzt. Kanton schicke am Dienstag einen Studentensprecher zum Führungskader, sagte sie, daher sei die Donnerstagsversammlung ausgefallen, und Ellen Tuo habe wieder einmal ihre Chance verpaßt, für einen Abend Schriftführerin zu sein. »Nun mal langsam«, rief Craw lachend. »Es brennt doch nicht, um Himmels willen!«
Er öffnete ein Notizbuch, legte es auf seine Knie und versuchte ihr zu folgen. Aber Phoebe war nicht zu bremsen, auch nicht von Bill Craw, von dem man ihr gesagt hatte, er sei in Wirklichkeit Oberst oder sogar ein noch höheres Tier. Sie wollte die ganze Beichte hinter sich bringen. Zu ihren Routineobjekten gehörte eine linksintellektuelle Gruppe von Universitätsstudenten und kommunistischen Journalisten, die Phoebe ein wenig am Rande geduldet hatten. Sie erstattete allwöchentlich Bericht, allerdings ohne nennenswerten Fortschritt. Jetzt war die Gruppe aus irgendeinem Grund jäh aktiv geworden. Billy Chan sei zu einer Sondersitzung nach Kuala Lumpur berufen worden, sagte sie, Johnny und Belinda Fong hätten Order erhalten, einen gut getarnten Unterschlupf ausfindig zu machen, in dem sich eine Druckpresse aufstellen läßt. Schnell rückte der Abend näher. Während Phoebe weiterlas, stand Craw leise auf und knipste die Lampen an, damit das grelle Licht sie nicht erschrecke, wenn der Tag vollends verdämmert sein würde.
Es sei die Rede von einem Zusammengehen mit den Fukienesen in North Point gewesen, sagte sie, aber die akademischen Genossen hätten wie üblich dagegen opponiert: »Sie opponieren gegen alles«, sagte Phoebe erbittert, »diese Snobs. Und überhaupt ist dieses dumme Stück Belinda mit ihren Beiträgen Monate im Rückstand; und wir sollten sie aus der Partei ausschließen, wenn sie nicht mit dem Glücksspiel aufhört.«
»Wäre nur recht und billig, meine Liebe«, sagte Craw beschwichtigend.
»Johnny Fong sagt, Belinda sei schwanger, aber nicht von ihm. Also ich hoffe, es stimmt. Dann wird sie die Klappe halten«, sagte Phoebe, und Craw dachte: dieses Problem hatten wir ein paarmal auch mit dir, wenn ich mich recht erinnere, aber du hast deshalb nicht die Klappe gehalten, oder?
Craw schrieb brav mit, obwohl er wußte, daß weder London noch irgend jemand sonst je ein Wort davon lesen würde. In den Tagen seines Wohlstands hatte der Circus Dutzende solcher Gruppen infiltrieren lassen, in der Hoffnung, beizeiten in den Kreis der idiotischerweise so genannten Peking-Hongkong-Pendler einzubrechen, und auf diese Weise auf dem Festland Fuß zu fassen. Die Sache verlief im Sand, und der Circus hatte keinen Auftrag, für die Sicherheit der Kolonie den Wachhund zu spielen; eine Rolle, die Special Branch sich eifersüchtig vorbehielt. Aber kleine Schiffe können nicht so leicht ihren Kurs ändern wie die Winde, die sie treiben, das wußte Craw sehr gut. Er ließ sie also weitermachen, warf die entsprechenden Fragen auf, prüfte Haupt- und Nebenquellen. Haben Sie das vom Hörensagen, Pheeb? Und woher hatte Billy Lee die Geschichte? War es möglich, daß Billy Lee, um sich mehr Gesicht zu geben, die ganze Story ein bißchen aufgezappelt hatte? Er bediente sich des Journalistenausdrucks, denn wie Jerry und Craw selber, war Phoebe nebenberuflich Journalistin, freie Mitarbeiterin, die die englischsprachigen Lokalblätter mit kleinen Leckerbissen über die Lebensgewohnheiten der örtlichen chinesischen Aristokratie belieferte.
Während er zuhörte, während er aufs Stichwort wartete, erzählte sich Craw im Geiste nochmals Phoebes Geschichte, so, wie er sie bei der Reserveübung in Sarratt vor fünf Jahren erzählt hatte, als er dort in den schwarzen Künsten den letzten Schliff erhielt. Er war der Höhepunkt des vierzehntätigen Kurses, hatten sie ihm später gesagt. Man hatte in weiser Voraussicht eine Plenarsitzung anberaumt. Sogar der Führungsstab hatte die Arbeit ruhen lassen und war erschienen, um ihm zuzuhören. Die Dienstfreien hatten um einen Sonderbus gebeten, der sie rechtzeitig vom Anwesen in Watford herbringen könnte, und das alles nur, um Old Craw zu hören, den alten Fernostfachmann, der in der zweckentfremdeten Bibliothek unter den Hirschgeweihen saß und über sein langes Leben in der Branche resümierte. Titel: Agenten, die sich selbst anwerben. Das Rednerpult auf dem Podium benutzte er nicht, statt dessen hockte er auf einem simplen Stuhl, ohne Jacke, mit hervorquellendem Bauch, gespreizten Knien und dunklen Schweißflecken auf dem Hemd, und er erzählte es ihnen, wie er es den Shanghai Bowlers an einem Taifun-Sonnabend in Hongkong erzählt hätte, wenn die Umstände danach gewesen wären. Agenten, die sich selbst anwerben, Ehrwürdens. Niemand kenne den Job besser, sagten sie zu ihm - und er glaubte es ihnen. Wenn der Ferne Osten Craws Heim war, dann waren die kleinen Schiffe seine Familie, und er verschwendete an sie alle Zärtlichkeit, für die ihm die offene Welt niemals ein Ventil geboten hatte. Er zog sie groß und unterwies sie mit einer Liebe, die einem Vater alle Ehre gemacht hätte; und es war der schlimmste Augenblick im Leben eines alten Mannes, als Tufty Thesinger bei Nacht und Nebel ohne Vorwarnung verschwand und Craws Leben zeitweise jeden Sinn verloren zu haben schien. »Manche Menschen sind geborene Agenten, Monsignores«, sagte er zu ihnen, »zu dieser Arbeit bestimmt vom Lauf der Geschichte, vom Standort, von ihren natürlichen Veranlagungen. In derlei Fällen besteht nur die Frage, wer zuerst an sie herankommt, Eminenzen: Ob wir's sind; ob's die Konkurrenz ist, oder ob's diese gottverdammten Missionare sind.«
Gelächter.
Es folgten die Fallstudien mit geänderten Namen und Standorten und darunter war kein anderer als der Codename Susan, ein kleines Schiff der weiblichen Spezies, Monsignores, Schauplatz Südostasien, geboren im Jahr des, Unheils 1941 als Mischblut. Er sprach von Phoebe Wayfarer.
»Vater ein mittelloser Handlungsgehilfe aus Dorking, Ehrwürdens. Trat drüben in einer der schottischen Firmen ein, die sechs Tage in der Woche die Küste plünderten und am siebenten zu Calvin beteten. Zu abgebrannt, um sich eine europäische Ehefrau zu leisten, Jungens, also nimmt er ein verbotenes Chinesenmädel und mietet sie für ein paar Pence ein, und das Resultat ist Codename Susan. Im gleichen Jahr betreten die Japaner die Bühne. Nennen Sie's Singapur, Hongkong oder Malaya, die Geschichte ist überall die gleiche, Monsignores. Sie erscheinen über Nacht. Um zu bleiben. In diesem Chaos tut Codenamen Susans Vater etwas sehr Edles: >Hol der Teufel die Vorsicht, Eminenzen<, sagt er. >Jetzt muß ein echter Mann Farbe bekennen.< Also heiratet er die Dame, Ehrwürdens, ein Vorgehen, zu dem ich normalerweise nicht raten würde, aber er tut's, und nachdem er sie geheiratet hat, tauft er seine Tochter Codenamen Susan und tritt bei den Freiwilligen ein, einer erlesenen Streitmacht heroischer Narren, die eine Art Heimwehr zur Verteidigung der Stadt vor den Horden Nippons gebildet hatten. Aber er war nicht zum Kriegsmann geboren, Ehrwürdens, und so kriegt er gleich am nächsten Tag von den Japsen eins auf den Pelz gebrannt und haucht prompt sein Leben aus. Amen. Möge der Held aus Dorking in Frieden ruhen, Ehrwürdens.«
Als Old Craw sich bekreuzt, bricht da und dort Gelächter aus. Craw lacht nicht mit, er spielt das schlichte Gemüt. In den beiden vorderen Reihen sind lauter neue Gesichter, ungeformte, unbeschriebene Fernsehgesichter; Craw vermutet, daß es Novizen sind, die zusammengetrommelt wurden, damit sie den Großen Alten Mann hören. Ihre Anwesenheit schärft seine Darbietung: von nun an hat er ein besonderes Auge auf die vorderen Reihen. »Codename Susan steckt noch in den Windeln, als ihr guter Vater von hinnen scheidet. Jungens, aber sie soll sich ihr ganzes Leben lang erinnern: wenn die Aktien fallen, stehen die Briten zu ihren unveräußerlichen Werten. Mit jedem Jahr, das vergeht, liebt sie den toten Helden ein bißchen mehr. Nachdem Krieg erinnert sich die Firma ihres Vaters ein paar Jahre lang an sie, vergißt sie dann aber bequemerweise. Egal. Mit fünfzehn hat sie es satt, ihre kranke Mutter zu ernähren und in den Tanzbars arbeiten zu müssen, um sich ihr Schulgeld zu verdienen. Egal. Ein Sozialarbeiter nimmt sich ihrer an, glücklicherweise ein Mitglied unserer ehrenwerten Bruderschaft, Hochwürdens, und er geleitet sie in unsere Richtung.« Craw wischt sich die Stirn. »Codenamen Susans Aufstieg zu Wohlstand und Gottgefälligkeit hat begonnen, Ehrwürdens«, erklärt er. »Als Journalistin getarnt bringen wir sie ins Spiel, geben ihr chinesische Zeitungen zu übersetzen, lassen sie kleine Besorgungen machen, binden sie an uns, vervollständigen ihre Ausbildung und trainieren sie in Nachtarbeit. Ein bißchen Geld, ein bißchen Schutz, ein bißchen Liebe, ein bißchen Geduld, und es dauert nicht lang, und unsere Susan kann sieben legale Reisen nach dem chinesischen Festland auf ihrem Konto verbuchen, darunter ein paar ausgesprochen haarige Sachen. Geschickt durchgeführt, Ehrwürdens. Sie hat Kurier gespielt und einen Überraschungsbesuch bei einem Onkel in Peking gemacht, der sich auszahlte. Das alles, Jungens, obwohl sie ein halber kweilo ist und die Chinesen ihr nicht über den Weg trauen.«
»Und was glaubte sie, wer der Circus war, diese ganze Zeit hindurch?« bellte Craw seine hypnotisierten Zuhörer an - »was glaubte sie, wer wir waren, Jungens?« Der alte Zauberer senkt die Stimme und hebt einen fetten Zeigefinger. »Ihr Vater«, sagt er in das Schweigen. »Wir sind der tote Buchhalter aus Dorking. Der heilige Georg sind wir. Säubern die überseeischen Chinesengemeinden von schädlichen Elementen, was zum Teufel sie auch sein mögen. Machen Schluß mit den Triaden, den Reiskartellen und den Opiumbanden und der Kinderprostitution. Sie sah in uns sogar, wenn es sein mußte, die geheimen Verbündeten Pekings, weil uns, dem Circus, das Interesse aller guten Chinesen am Herzen lag.« Craw ließ ein loderndes Auge über die Reihen der Kindergesichter schweifen, die so gern hart sein wollten. »Sehe Ich jemanden lächeln, Ehrwürdens?« fragte er mit Donnerstimme. Er sah niemanden.
»Wohlgemerkt, Junkers«, schloß Craw, »ein Teil ihrer Person wußte verdammt genau, daß das ganze kalter Kaffee war. Und hier beginnt Ihre Aufgabe. Hier muß der Außenmann immer auf dem Sprung sein. Ja! Wir sind die Hüter des Glaubens, Jungens. Wenn er wankt, wir stärken ihn. Wenn er strauchelt, unsere Arme sind ausgestreckt, ihn zu halten.« Er hatte den Zenith erreicht. Als Antiklimax ließ er die Stimme zu einem weichen Flüstern abfallen. »Sei der Glaube noch so hirnrissig, Euer Ehrwürdens, verachten Sie ihn nicht. Wir haben heutzutage weiß Gott wenig anderes zu bieten. Amen.«
Sein ganzes Leben lang sollte sich Old Craw in seiner ungenierten Sentimentalität an den Applaus erinnern.
Phoebe hatte ihren Bericht beendet und kauerte nun vorgebeugt da, die Unterarme auf den Knien, die Knöchel der großen Hände wie ein ermattetes Liebespaar lose Rücken an Rücken liegend: Craw erhob sich feierlich, nahm Phoebes Notizen vom Tisch und verbrannte sie auf dem Gasbrenner.
»Bravo, meine Liebe«, sagte er ruhig. »Eine prima Woche, wenn ich so sagen darf. Sonst noch etwas?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ich meine, zu verbrennen«, sagte er.
Sie schüttelte wieder den Kopf.
Craw musterte sie aufmerksam. »Pheeb, mein Herz«, verkündete er dann, als sei er zu einem plötzlichen Entschluß gelangt. »Lüpfen Sie Ihre vier Buchstaben. Zeit, daß ich Sie zum Essen ausführe.« Verwirrt blickte sie zu ihm auf. Der Alkohol war ihr rasch zu Kopf gestiegen, wie immer. »Ein freundschaftliches Dinner unter Kollegen von der Schreiberzunft, so dann und wann, ist nicht unvereinbar mit Ihrer Legende, wie ich zu behaupten wage. Wie wär's damit?«
Er mußte sich zur Wand drehen, während sie sich schön machte. Früher hatte sie einen Kolibri gehabt, aber er war gestorben. Craw brachte ihr einen neuen, aber der starb auch, und so entschieden beide, die Wohnung sei schlecht für Kolibris und ließen es dabei bewenden.
»Eines Tags nehme ich Sie zum Skifahren mit«, sagte er, als sie hinter ihnen die Wohnungstür abschloß. Es war ein alter Scherz zwischen den beiden, er hatte mit der Schneelandschaft über ihrem Bett zu tun.
»Nur für einen Tag?« erwiderte sie. Was gleichfalls ein Scherz war und die übliche Replik bildete.
In jenem Jahr des Unheils, wie Craw sagen würde, war es noch lohnend, auf einem Sampan in der Causeway Bay zu essen. Die Schickeria hatte den Ort noch nicht entdeckt, die Gerichte waren preiswert und unvergleichlich. Craw riskierte es also, und als sie zum Meer kamen, hatte der Nebel sich gelichtet, der Himmel war klar. Er wählte den Sampan, der am weitesten draußen lag, eingekeilt in eine Traube kleiner Dschunken. Der Koch hockte am Holzkohlenöfchen,- und seine Frau bediente. Über ihnen ragten drohend Rümpfe von Dschunken auf und verwischten die Sterne vom Himmel. Auf den Booten krabbelten Kinder von einem Deck zum andern, während ihre Eltern einen langsamen, sonderbaren katechetischen Singsang über das schwarze Wasser schickten. Craw und Phoebe kauerten auf hölzernen Hockern unter dem gerefften Baldachin zwei Fuß über dem Meeresspiegel und aßen Seebarben beim Lampenlicht. Jenseits der Wellenbrecher glitten Schiffe wie hellerleuchtete wandelnde Gebäude an ihnen vorüber, und in ihrem Kielwasser hoppelten die Dschunken. Landwärts wimmerte, lärmte und pulsierte die Insel, und die riesigen Slums glitzerten wie Schmuckschatullen, die sich der trügerischen Schönheit der Nacht geöffnet hatten. Hoch über ihnen konnten sie sekundenlang zwischen den wippenden Fingern der Masten den' schwarzen Peak thronen sehen, Victoria, ihr gedunsenes Gesicht, von mondlichten Strähnen verhüllt: die Göttin, die Freiheit, der Köder, dem alles wilde Streben im Tal galt. Sie sprachen über Kunst. Phoebe zieht ihre Kulturnummer ab, dachte Craw. Es war sehr langweilig. Eines Tages, sagte sie schläfrig, werde sie einen Film, vielleicht sogar zwei Filme über das wahre, das echte China drehen. Sie hatte unlängst eine historische Schnulze von Run Run Shaw gesehen, alles über die Palastintrigen. Sie fand das Ganze ausgezeichnet, wenn auch ein wenig zu - nun ja -, zu heroisch. Und jetzt zum Theater. Ob Craw schon die frohe Botschaft vernommen habe, daß die >Cambridge Players< im Dezember vielleicht eine neue Revue in die Kolonie bringen wollten? Zur Zeit sei es nur ein Gerücht, aber sie hoffte, es werde sich nächste Woche bestätigen. »Das wäre aber ein Spaß, Pheeb«, sagte Craw herzlich. »Es wird ganz und gar kein Spaß«, gab Phoebe streng zurück. »Die >Players< sind auf beißende Gesellschaftssatire spezialisiert.« Craw lächelte im Dunkeln und goß Phoebe Bier nach. Man lernt nie aus, sagte er sich, Monsignores, man lernt nie aus. Bis Phoebe, ohne eine Ermunterung, die ihr aufgefallen wäre, über ihre chinesischen Millionäre zu sprechen begann, genau das, worauf Craw den ganzen Abend gewartet hatte. In Phoebes Welt waren die Reichen Hongkongs königliche Hoheiten. Ihre Schwächen und Exzesse waren Allgemeingut, so wie anderswo die Lebensgeschichten von Schauspielerinnen oder Fußballstars. Phoebe kannte sie auswendig.
»Wer ist also diesmal das Schwein der Woche, Phoebe?« fragte Craw heiter.
Phoebe war nicht sicher. »Wen sollen wir erwählen?« sagte sie mit gespielter koketter Unentschlossenheit. Da war natürlich das Schwein P.K., achtundsechzigster Geburtstag am Dienstag, eine dritte Ehefrau, halb so alt wie er, und wie feiert P.K.? Geht in der Stadt aus, mit einer zwanzigjährigen Nutte. Ekelhaft, pflichtete Craw bei. »P.K.«, wiederholte er. »P.K., das war doch der mit den Türpfosten, wie?«
Einhunderttausend Hongkong-Dollar, sagte Phoebe. Drachen, neun Fuß hoch, aus Glasfaser und Plexiglas so gegossen, daß man sie von innen beleuchten konnte. Es käme aber auch das Schwein Y.Y. in Frage, überlegte sie sodann sachverständig. Y.Y. war zweifellos ein Titelanwärter. Y.Y. hatte vor genau einem Monat geheiratet, diese reizende Tochter von J.J. Haw, Firma Haw und Chan, die Tankerkönige, tausend Hummer auf der Hochzeitstafel. Vorgestern abend tauchte er bei einem Empfang mit einer brandneuen Mätresse auf, gekauft mit dem Geld seiner Frau, einer Null, abgesehen davon, daß er sie bei Saint-Laurent eingekleidet und mit einer vierreihigen Kette aus Mikimotot-Perlen herausgeputzt hatte, gemietet natürlich, nicht geschenkt. Unwillkürlich bebte Phoebes Stimme und wurde weich. »Bill«, hauchte sie, »die Kleine sah einfach phantastisch aus neben dem alten Frosch. Sie hätten sie sehen sollen.« Oder vielleicht Harold Tan, grübelte sie verträumt. Harold war besonders garstig gewesen. Harold hatte seine Kinder für das Festival aus ihren Schweizer Nobelinternaten heimgeholt, Erster-Klasse-Flug ab Genf. Um vier Uhr morgens tummelten sie sich alle nackt um den Swimming-pool, die Kinder und ihre Freunde, gossen Champagner ins Wasser, während Harold versuchte, die Szene zu filmen.
Craw wartete. In Gedanken hielt er die Tür weit für sie auf, aber sie zeigte noch immer keine Neigung, hindurchzugehen, und Craw war ein viel zu alter Hase, als daß er sie gedrängt hätte. Die Chiu Chow seien die Besten, sagte er launig. »Chiu Chow würden sich auf diesen ganzen Unsinn nicht einlassen. Was, Pheeb? Haben sehr tiefe Taschen, die Chiu Chow, und sehr kurze Arme«, belehrte er sie. »Ein Schotte müßte sich schämen vor diesen Chiu Chow, was Pheeb?«
Phoebe hatte keinen Sinn für Ironie: »Glauben Sie das nicht«, erwiderte sie ernsthaft. »Viele Chiu Chow sind sowohl großzügig wie edel.«
Er suggerierte ihr den Mann, wie ein Zauberkünstler jemandem eine Karte suggeriert, aber sie schwankte noch immer, wich aus, griff nach Alternativen. Sie erwähnte diesen und jenen, verlor den Faden, verlangte noch mehr Bier, und als er schon beinah aufgegeben hatte, bemerkte sie wie im Traum. »Und was Drake Ko angeht, der ist das reinste Lämmchen. Kein böses Wort über Drake Ko, wenn ich bitten darf.« Jetzt war Craw mit dem Ausweichen an der Reihe. Was Phoebe von der Scheidung des alten Andrew Kwok halte, fragte er. Herrje, das mußte einen Batzen gekostet haben! Es heißt, sie hätte ihm schon längst den Laufpaß geben aber warten wollen, bis er einen Haufen beisammen hatte und eine Scheidung sich wirklich lohnen würde. Ist da etwas Wahres dran, Pheeb? Und so weiter, drei, fünf Namen, ehe er sich gestattete, anzubeißen. »Haben Sie irgendwas gehört, daß der gute Drake Ko sich irgendwann eine europäische Mätresse hielt? Im Hong Kong Club wurde davon gesprochen, erst vor kurzem. Blondes Gift, angeblich ein Leckerbissen.«
Phoebe stellte sich Craw gern im Hong Kong Club vor. Es befriedigte alle ihre kolonialen Sehnsüchte. »Oh, jeder hat das gehört«, sagte sie müde, als wäre Craw wie üblich wieder einmal Lichtjahre hinter der Meute zurück. »Es gab mal eine Zeit, als alle die Jungens eine hatten - wußten Sie das nicht? P.K. hatte natürlich zwei. Harold Tan hatte eine, bis Eustace Chow sie ihm wegschnappte, und Charlie Wu versuchte sogar, die Seine zum Dinner beim Gouverneur mitzunehmen, aber seine tai tai ließ nicht zu, daß der Chauffeur sie abholte.«
»Wo kriegen sie diese Bienen bloß her, Herrgottnochmal?« fragte Craw lachend. »Von Lane Crawford?«
»Von den Fluggesellschaften, was dachten Sie?« erwiderte Phoebe schwerst mißbilligend. »Flug-Hostessen, die bei ihren Zwischenlandungen anschaffen gehen, fünfhundert US pro Nacht für eine weiße Hure. Und einschließlich der englischen Linien. Täuschen Sie sich bloß nicht, die Engländerinnen waren bei weitem die Schlimmsten. Dann fand Harold Tan an der Seinen so viel Gefallen, daß er ein festes Abkommen mit ihr traf, und im Handumdrehen zogen sie alle in Apartments und stolzierten durch die Läden wie Herzoginnen, so oft sie für vier Tage nach Hongkong kamen, es war zum Erbrechen. Aber Liese, wohlgemerkt, ist etwas ganz anderes. Liese ist klasse. Sie ist ausgesprochen aristokratisch, ihre Eltern besitzen sagenhafte Landsitze in Südfrankreich und sogar eine Randinsel der Bahamas, und sie weigert sich nur aus Gründen der moralischen Unabhängigkeit, ihren Reichtum zu teilen. Man muß bloß ihren Knochenbau ansehen.«
»Liese«, wiederholte Craw. »Liese? Kraut, wie? Hab's nicht mit den Krauts. Keine Rassenvorurteile, aber ich mach mir einfach nichts aus Krauts. Und ich frage mich, wie kommt ein netter Chiu-Chow-Junge wie Drake Ko zu einer hassenswerten Hunnin als Konkubine? Aber, das wissen Sie bestimmt besser, Pheeb. Sie sind die Expertin, es ist Ihre Domäne, meine Liebe, wer bin ich, daß ich mir ein Urteil erlauben dürfte.«
Sie hatten sich ins Heck des Sampan zurückgezogen und lagen nebeneinander in den Kissen.
»Machen Sie sich doch nicht lächerlich«, fuhr Phoebe ihn an. »Liese ist eine englische Aristokratin.«
»Tralala«, machte Craw und blickte eine Weile zu den Sternen auf. »Sie hat einen sehr positiven und veredelnden Einfluß auf ihn.«
»Wer?« sagte Craw, als hätte er den Faden verloren. Phoebe knirschte durch die Zähne. »Liese hat einen veredelnden Einfluß auf Drake Ko. Hören Sie, Bill. Schlafen Sie? Bill, ich glaube, Sie bringen mich jetzt besser nach Hause. Bringen Sie mich nach Hause, bitte.«
Craw stieß einen langgezogenen Seufzer aus. Diese kleinen Mißverständnisse unter Liebenden waren mindestens jedes halbe Jahr fällig und übten eine reinigende Wirkung auf ihre Beziehung aus.
»Meine Liebe. Phoebe. Hören Sie mir mal zu, ja? Bloß einen Augenblick, bitte? Keine junge Engländerin, hochgeboren, feinknochig oder mit Knubbelknien kann den Namen Liese bekommen haben, wenn da nicht irgendwo ein Kraut dazwischen steckt. So geht's schon mal an. Wie heißt sie sonst noch?«
»Worth.«
»Woolworth? Schon gut, war nur ein Witz. Schwamm drüber. Elizabeth, so heißt sie nämlich. Abgekürzt Lizzie. Oder Liza. Liza of Lambeth. Sie haben sich verhört. Das klingt nach Familie, wenn Sie so wollen: Miss Elizabeth Worth. Da kann ich den Knochenbau sehen. Aber nicht Liese, mein Herz. Lizzie.« Phoebe wurde unverblümt wütend.
»Sie brauchen mich nicht zu lehren, wie man irgend etwas ausspricht!« schleuderte sie ihm entgegen. »Sie heißt Liese, geschrieben L-i-e-s-e, weil ich sie gefragt und es mir aufgeschrieben habe, und ich habe diesen Namen gedruckt - Bill.« Ihre Stirn sank auf seine Schulter. »O Bill. Bringen Sie mich nach Hause.« Sie fing an zu weinen. Craw zog sie eng an sich und tätschelte sanft ihre Schulter.
»Na, na, Kopf hoch, Liebes, es war mein Fehler, nicht der Ihre. Ich hätte wissen müssen, daß sie mit Ihnen befreundet ist. Eine Dame der Gesellschaft wie Liese, eine schöne und begüterte Frau, die in Liebesbanden zu einem der neuen Ritter unserer Insel gefesselt liegt: wie könnte eine fleißige Reporterin wie Phoebe es da versäumen, mit ihr Freundschaft zu schließen? Ich muß blind gewesen sein. Verzeihen Sie mir.« Er ließ eine dezente Pause eintreten. »Was ist passiert?« fragte er nachsichtig. »Sie haben Liese interviewt, nicht wahr?«
Zum zweitenmal in dieser Nacht trocknete Phoebe sich die Augen mit Craws Taschentuch.
»Sie hat mich darum gebeten. Sie ist nicht meine Freundin. Sie ist viel zu großartig, um meine Freundin zu sein. Wie wäre das möglich? Sie bat mich, ihren Namen nicht zu schreiben. Sie ist inkognito hier. Ihr Leben hängt davon ab. Wenn ihre Eltern erführen, daß sie hier ist, würden sie sie auf der Stelle holen lassen. Sie sind sagenhaft einflußreich. Sie haben Privatflugzeuge, alles. Sobald sie erführen, daß Liese mit einem Chinesen lebt, würden sie die sagenhaftesten Druckmittel anwenden, nur um sie zurückzuholen. >Phoebe<, sagte sie, >von allen Menschen in Hongkong werden Sie am besten verstehen, was es bedeutet, unter dem Fluch der Intoleranz zu leben.< Sie bat mich darum. Ich habe es ihr versprochen.«
»Sehr richtig«, sagte Craw ungerührt. »Und brechen Sie Ihr Wort niemals, Pheeb. Ein Versprechen ist heilig.« Er ließ einen bewundernden Seufzer hören. »Die Seitengassen des Lebens, sage ich immer, sind uns stets fremder als des Lebens breite Wege. Wenn man das in die Zeitung setzen würde, bekäme man vom Chefredakteur zu hören, man hätte nicht alle Tassen im Schrank, wetten? Und doch stimmt es. Ein leuchtendes wundervolles Beispiel menschlicher Integrität um ihrer selbst willen.« Ihre Augen waren zugefallen, und er rüttelte sie, um sie wachzuhalten. »Jetzt frage ich mich bloß, wie kommt eine solche Verbindung zustande? Welcher gute Stern, welcher glückliche Zufall konnte zwei so dürstende Seelen zueinanderführen? Und noch dazu in Hongkong, Herrgottnochmal.«
»Es war Schicksal. Sie lebte nicht einmal hier. Sie hatte sich nach einer unglücklichen Liebesgeschichte völlig von der Welt zurückgezogen und beschlossen, den Rest ihres Lebens mit der Anfertigung erlesenen Schmucks zu verbringen, um der Welt in all ihren Leiden etwas Schönes zu schenken. Sie war nur für ein paar Tage hergeflogen, um Gold einzukaufen, und rein zufällig begegnete ihr, bei einem von Sally Cales sagenhaften Empfängen, Drake Ko, und das war's.«
»Und von Stund an nahm die wahre Liebe ihren süßen Lauf, wie?«
»Keineswegs. Sie begegnete ihm. Sie liebte ihn. Aber sie war entschlossen, keine Bindung einzugehen, und kehrte nach Hause zurück.«
»Nach Hause?« echote Craw blöde. »Wo ist eine Frau von ihrer Integrität zu Hause?«
Phoebe lachte. »Nicht nach Südfrankreich, Dummer. Nach Vientiane. In eine Stadt, die kein Mensch je aufsucht. Eine Stadt ohne Highlife, ohne eine Spur jenes Luxus, an den sie von Kind auf gewöhnt war. Das war der Ort ihrer Wahl. Ihre Insel. Sie hatte Freunde dort, sie interessierte sich für Buddhismus und Kunst und Antiquitäten.«
»Und wo haust sie jetzt? Immer noch in einer schlichten Kate, ja, getreu ihrem Ideal vom einfachen Leben? Oder hat Bruder Ko sie zu weniger frugalen Pfaden verleitet?«
»Sparen Sie sich Ihren Hohn. Drake hat ihr natürlich eine sehr schöne Wohnung eingerichtet.«
Hier war für Craw die Grenze: er wußte es sofort. Er überdeckte die Karte mit anderen, erzählte ihr Geschichten aus dem alten Schanghai. Aber er versuchte mit keinem Schritt, die entgleitende Liese Worth einzuholen, obgleich Phoebe ihm eine Menge Laufereien hätte ersparen können.
»Hinter jedem Maler«, sagte er gern, »und hinter jedem Außenagenten, Jungens, sollte ein Kollege mit einem Holzhammer in der Hand stehen und ihm eines über den Schädel hauen, wenn er weit genug gegangen ist.«
Im Taxi zu ihrer Wohnung war sie wieder ruhig, aber sie zitterte. Er brachte sie ritterlich zur Tür. Er hatte ihr alles verziehen. Auf der Schwelle wollte er sie küssen, aber sie schob ihn weg. »Bill. Bin ich wirklich zu etwas nutz? Sagen Sie's mir. Wenn ich zu nichts nutz bin, müssen Sie mich rauswerfen, ich verlange es. Heute abend war es nichts. Sie sind süß, Sie tun als ob. Ich versuche ja alles. Aber es war trotzdem nichts. Wenn es andere Arbeit für mich gibt, dann mach ich sie. Sonst müssen Sie mich abstoßen. Rücksichtslos.«
»Es ist nicht aller Nächte Abend«, beruhigte er sie, und erst dann ließ sie sich von ihm küssen. »Danke, Bill«, sagte sie.
»Ja, so war das, Ehrwürdens«, sann Craw glücklich, als er mit dem Taxi zum Hilton weiterfuhr. »Codename Susan spann und werkelte, und sie wurde mit jedem Tag ein bißchen weniger wert, denn jeder Agent kann immer nur so gut sein wie das Ziel, auf das er angesetzt ist, und das ist die reine Wahrheit. Und das eine Mal, als sie uns Gold lieferte, pures Gold, Monsignores« - im Geist hielt er wieder den fetten Zeigefinger hoch, eine Botschaft an die ungeprägten Jungen, die gebannt in den vorderen Reihen saßen -, »das eine Mal, da wußte sie nicht einmal, daß sie das getan hatte, und sie erfuhr es nie!«
Über die besten Witze in Hongkong, hatte Craw einmal geschrieben, wird selten gelacht, weil sie viel zu ernst sind. In diesem Jahr zum Beispiel ging man in das Pub im Tudorstil in dem unfertigen Hochhaus, wo echte, säuerlich blickende englische Landmädchen im Dekollete der Zeit echtes englisches Bier, zwanzig Grad unter der englischen Temperatur, servierten, während draußen in der Halle schwitzende Kulis mit gelben Helmen rund um die Uhr schufteten, um die Aufzüge betriebsfertig zu machen. Oder man kann in die italienische taverna gehen, wo eine gußeiserne Wendeltreppe zu Julias Balkon zu führen scheint und statt dessen in einem weißen Gipsplafond endet; oder in den schottischen Gasthof mit chinesischen Schotten im Kilt, die gelegentlich rebellierten, wenn die Hitze zu groß war oder die Fahrpreise auf der Star Ferry erhöht wurden. Craw hatte sogar einen Opiumsalon besucht, mit Klimaanlage und einer Musikbox, die Greensleeves orgelte. Aber das Ausgefallenste, das Widersinnigste, was für Craws Geld zu haben war, war diese Dachgartenbar hoch über dem Hafen mit ihrer chinesischen Vier-Mann-Kapelle, die Noel Coward spielte, und ihren glattgesichtigen chinesischen Barmännern mit Frack und Perücke, die aus dem Dunkel auftauchten und ihn in gutem Amerikanesisch fragten, was zu trinken beliebe. »Ein Bier«, knurrte Craws Gast und bediente sich mit einer Handvoll Salzmandeln. »Aber kalt. Verstanden? Sehl kalt. Und luck zuck.«
»Lächelt Euer Eminenz das Leben?« erkundigte sich Craw. »Hören Sie auf mit dem Krampf, ja? Geht mir auf den Wecker.« Das Eisenfressergesicht des Superintendent verfügte nur über einen einzigen Ausdruck: den des bodenlosen Zynismus. Wenn der Mensch die Wahl hätte zwischen gut und böse, besagte sein verbiestertes Glotzen, würde er jederzeit das Böse wählen: und die Welt war mitten durchgeschnitten, geteilt in solche, die das wußten und hinnahmen, und diese langhaarigen Bubis in Whitehall, die an den Weihnachtsmann glaubten. »Die Akte des Mädchens schon gefunden?«
»Nein.«
»Nennt sich Worth. Hat ein paar Silben abgelegt.«
»Ich weiß verdammt, wie sie sich nennt. Meinetwegen kann sie sich Mata Hari nennen, mir scheißegal. Es ist trotzdem keine Akte über sie da.«
»Aber es war eine da?«
»Richtig, Dicker, war« griente der Rocker wütend und ahmte Craws Akzent nach. » >Das war einmal, das ist nicht mehr<. Drücke ich mich klar genug aus, oder soll ich es für Sie mit unsichtbarer Tinte einer Brieftaube auf den Arsch malen, Sie gottverdammter Buschmann.«
Craw saß eine Weile nur still da und nippte mäßig, aber regelmäßig an seinem Drink. »Könnte Ko das getan haben?«
»Was getan?« fragte der Rocker absichtlich begriffsstutzig. »Ihre Akte verschwinden lassen.«
»Könnte er.«
»Die Aktenschwindsucht scheint sich auszubreiten«, kommentierte Craw nach einerweiteren Erfrischungspause. »London niest und Hongkong kriegt den Schnupfen. Mein kollegiales Mitgefühl, Monsignore. Mein brüderliches Beileid.« Er senkte die Stimme zu einem tonlosen Flüstern. »Sagt mir, Ehrwürden: ist der Name Sally Cale Musik für Eure Ohren?«
»Nie von ihr gehört.«
»Was für Geschäfte betreibt sie?«
»Tineff Antik GmbH Kaulun. Geplünderte Kunstschätze, erstklassige Fälschungen, Abbilder von Lord Buddha.«
»Woher?«
»Das echte Zeug kommt aus Burma, über Vientiane. Fälschungen sind einheimisches Produkt. Sechzig, altes Mannweib«, fügte er säuerlich hinzu und nahm vorsichtig ein weiteres Bier in Angriff.
»Hält deutsche Schäferhunde und Schimpansen. Gleich in Ihrer Straße.«
»Vorstrafen?«
»Sie machen Witze.«
»Die Cale hat das Mädchen angeblich mit Ko bekannt gemacht.«
»Na und? Die Cale verkuppelt die Euronutten. Die Chinesen mögen sie deshalb, und ich auch. Hab' mal gesagt, sie soll mir eine besorgen. Sagte, sie hätte nichts, was klein genug wäre, die freche Sau.«
»Unsere zarte Schöne war angeblich auf einen Sprung hier zum Goldkaufen. Paßt das ins Bild?«
Der Rocker blickte Craw mit neuem Abscheu- an, und Craw fixierte den Rocker, und es war ein Zusammenstoß zweier unbeweglicher Objekte.
»Klar paßt es ins Scheißbild«, sagte der Rocker verächtlich. »Die Cale war Aufkäuferin von Schmuggelgold aus Macao, oder?«
»Und wo kommt Ko ins Spiel?«
»Ach, schleichen Sie doch nicht um den heißen Brei. Die Cale war der Strohmann. Das Ganze war Kos Geschäft. Und sein fetter Bulldog da hat ihren Partner gemimt.«
»Tiu?«
Der Rocker war wieder in seinen Biertran verfallen, aber Craw ließ nicht locker. Er neigte den scheckigen Kopf ganz nah an das Blumenkohlohr des Rockers.
»Mein Onkel George wird jede nur mögliche Auskunft über besagte Cale sehr zu schätzen wissen. Klar? Er wird sie reich belohnen. Er interessiert sich besonders für die Cale jenes entscheidenden Augenblicks, als sie meine kleine Lady ihrem chinesischen Beschützer zuführte, und danach alles bis zum heutigen Tag. Namen, Daten, Lebenslauf, was immer Sie auf Eis liegen haben. Hören Sie?«
»Sagen Sie Ihrem Onkel George, er wird mir fünf verdammte Jahre im Knast von Stanley verschaffen.«
»Wo Sie sich in bester Gesellschaft befinden würden, was, Junker?« sagte Craw anzüglich.
Es war eine unzarte Anspielung auf jüngste traurige Ereignisse in der Welt des Rockers. Zwei seiner vorgesetzten Kollegen waren für jeweils mehrere Jahre dorthin geschickt worden, und weitere warteten trübselig darauf, ihnen nachzufolgen. »Korruption«, brummte der Rocker angeekelt. »Als nächstes entdecken sie noch, daß die Erde rund ist. Kotzen mich an, diese Pfadfinder.«
Craw hatte das alles schon gehört, aber jetzt hörte er es sich nochmals an, denn er hatte die goldene Gabe des Zuhörens, die in Sarratt weit höher veranschlagt wird als Mitteilsamkeit. »Dreißigtausend verdammte Europäer und vier Millionen verdammte Gelbe, zweierlei verdammte Moral, ein paar der bestorganisierten verdammten Verbrechersyndikate der Welt. Was erwartet man von mir? Abstellen können wir das Verbrechen nicht, also, wie halten wir's im Zaum? Wir knöpfen uns die großen Fische vor und schließen einen Handel mit ihnen, klar tun wir das: Herhören, Jungens. Kein unkontrolliertes Verbrechen, keine Gebietsverletzungen, alles sauber und dezent, meine Tochter muß zu jeder Tages- und Nachtzeit auf der Straße sicher sein. Ich möchte haufenweise Verhaftungen, damit die Richter zufrieden sind und ich mir meine armselige Pension verdiene, und Gott sei jedem gnädig, der die Regeln bricht oder die Obrigkeit mißachtete Ja, ja, sie schwitzen ein paar Kröten aus. Nennen Sie mir einen Menschen auf dieser ganzen finsteren Insel, der nicht so oder so ein paar Kröten ausschwitzt. Wenn es Leute gibt, die zahlen, dann gibt es auch Leute, die kassieren. Klarer Fall. Und wenn es Leute gibt, die kassieren . . . Außerdem«, sagte der Rocker, der plötzlich von seinen eigenen Reden genug hatte, »Ihr Onkel George weiß das längst.«
Craws Löwenkopf hob sich langsam, bis sein furchtbares Auge fest auf das abgewandte Gesicht des Rockers geheftet war.
»George weiß was, wenn ich fragen darf?«
»Diese Sally Scheiß-Cale. Wir haben sie für euch doch schon vor Jahren um- und -umgedreht. Hat geplant, das verdammte Pfund Sterling zu ruinieren oder irgend sowas Blödes. Dumping der Goldpreise in Zürich, hat man noch Worte. Ein Haufen alter Flickschuster, wie üblich, wenn Sie mich fragen.«
Es verging nochmals eine halbe Stunde, ehe sich der alte Australier müde aufrappelte und dem Rocker ein langes Leben und zehntausendfaches Glück wünschte.
»Und halten Sie Ihren Arsch fleißig gen Sonnenuntergang«, knurrte der Rocker.
Craw ging in dieser Nacht nicht nach Hause. Er hatte Freunde, einen Anwalt aus Yale und dessen Frau, denen eines der zweihundert alten Privathäuser Hongkongs gehörte, ein älteres unregelmäßig angelegtes Bauwerk am Pollock's Path hoch droben auf dem Peak, und sie hatten ihm einen Schlüssel gegeben. Ein Konsulatswagen stand in der Auffahrt, aber Craws Freunde waren bekannt dafür, daß sie sich gern in Diplomatenkreisen bewegten. Als Craw sein Zimmer betrat, schien er keineswegs überrascht, dort einen höflichen jungen Amerikaner vorzufinden, der im Korbsessel saß und einen dickleibigen Roman las: ein blonder adretter Junge mit einem korrekten Anzug im Diplomatenstil. Craw begrüßte ihn nicht, nahm auch sonst keinerlei Notiz von der Anwesenheit seines Besuchers, sondern setzte sich an den Schreibtisch mit Glasplatte und fing an, nach bester Tradition seines päpstlichen Mentors Smiley, eine Botschaft in Blockschrift zu verfassen, an Seine Heiligkeit persönlich, Ketzer Hände weg. Danach schrieb er auf ein zweites Blatt den dazugehörigen Schlüssel. Als er fertig war, übergab er beides dem Jungen, der die Blätter ehrfürchtig in die Tasche steckte und rasch und wortlos verschwand. Als er wieder allein war, wartete Craw, bis er die Limousine wegschnurren hörte, dann erst öffnete und las er die Mitteilung, die der Junge ihm hinterlassen hatte. Anschließend verbrannte er den Zettel und spülte die Asche ins Waschbecken, ehe er sich dankbar auf dem Bett ausstreckte. Der Tag war hart, aber ich kann sie doch noch überraschen, dachte er. Er war müde. Mein Gott, war er müde. Er sah die dicht gedrängten Gesichter der Sarratt-Kinder vor sich. Aber wir kommen weiter, Ehrwürdens. Wir kommen unaufhaltsam weiter. Wenn auch im Blindenschritt, tapp-tapp im Dunkeln. Zeit, daß ich ein bißchen Opium rauche, dachte er. Zeit, daß ich ein nettes kleines Mädel zum Aufheitern hätte. Mein Gott, war er müde.
Smiley war vielleicht genauso müde, aber Craws Botschaft, die er eine Stunde später in Händen hielt, machte ihn bemerkenswert munter: um so mehr, als die Akte über Miss Cale, Sally, letzte bekannte Adresse Hongkong, Kunstfälscherin, Goldschieberin und gelegentlich Heroinhändlerin, sich ausnahmsweise lebendig und gesund und wohlbehalten in den Archiven des Circus fand. Nicht nur das. Der Deckname, den Sam Collins in seiner Eigenschaft als unterirdischer Resident des Circus in Vientiane getragen hatte, flammte ihm daraus entgegen, wie das Fanal eines lang ersehnten Sieges.
Tee und Sympathie
Seitdem der Vorhang über dem Unternehmen Delphin gefallen war, hatte Smiley mehr als einmal den Vorwurf hören müssen, dies wäre für George der Augenblick gewesen, auf Sam Collins zurückzugreifen und ihm einen harten und direkten Schlag zu verpassen, genau dorthin, wo es am wehesten tat. George hätte damit das Verfahren beträchtlich abkürzen können, sagen die Wissenden; er hätte lebenswichtige Zeit einsparen können. Sie schwatzten einfach Unsinn.
Erstens spielte Zeit keine Rolle. Die russische Goldader und die Operation, die damit finanziert wurde, was immer es sein mochte, waren seit Jahren im Fluß und wären es vermutlich, hätte es keine Störung gegeben, noch lange geblieben. Die einzigen, die nach Taten lechzten, waren die Whitehall-Barone, der Circus selber und, indirekt, Jerry Westerby, der sich noch ein paar Wochen länger fast zu Tode langweilen mußte, während Smiley pedantisch seinen nächsten Schachzug vorbereitete. Zudem rückte Weihnachten näher, was alle Welt ungeduldig macht. Ko und die große Sache, deren Fäden er möglicherweise in der Hand hielt, zeigten keinerlei Anzeichen irgendeiner Entwicklung. »Ko und sein russisches Geld standen wie ein Gebirge vor uns«, schrieb Smiley später über das Unternehmen Delphin in seinem Abschlußbericht. »Wir konnten in den Fall hineinleuchten, wann immer wir das wünschten, aber wir konnten ihn nicht von der Stelle bewegen. Es ging nicht darum, daß wir selbst tätig wurden, sondern wie wir Ko dazu bewegen konnten, dort tätig zu werden, wo wir an ihn herankonnten.«
Woraus klar hervorgeht: lang vor allen anderen, ausgenommen vielleicht Connie Sachs, hatte Smiley das Mädchen als potentiellen Hebel und somit als die wichtigste Einzelfigur im ganzen Ensemble erkannt - weit wichtiger zum Beispiel als Jerry Westerby, der jederzeit zu ersetzen war. Dies war nur einer von vielen triftigen Gründen, die Smiley bewogen, so nah an sie heranzukommen, wie es die Wahrung der Sicherheit irgend zuließ.
Ein weiterer Grund war, daß die ganze Art der Beziehung zwischen Sam Collins und dem Mädchen noch immer im ungewissen schwebte. Es ist so einfach, sich heute hinzustellen und zu sagen »sonnenklar«, aber damals war die Frage alles andere als erledigt und abgetan. Die Akte Cale lieferte einen Hinweis. Smileys intuitives Erfühlen von Sams Schrittmuster half, ein paar Lücken auszufüllen; hastige Rückpeilungen seitens der Registratur lieferten Anhaltspunkte und den üblichen Stoß analoger Fälle; die Sammlung von Sams Einsatzberichten war erhellend. Bleibt noch zu erwähnen, daß Smiley, je länger er Sam fernhielt, desto näher einem objektiven Verständnis der Beziehungen zwischen dem Mädchen und Ko, zwischen dem Mädchen und Sam kam: daß er eine entsprechend stärkere Verhandlungsposition hatte, als er und Sam einander wieder gegenübersaßen. Und wer konnte wirklich wissen, wie Sam unter Druck reagiert hätte? Die Inquisitoren konnten viele Erfolge verbuchen, gewiß, aber auch Fehlschläge. Sam war eine sehr harte Nuß. Für Smiley zählte noch eine weitere Überlegung, auch wenn er zu zurückhaltend ist, um sie in seinem Schreiben zu erwähnen. In jenen Tagen nach dem Sündenfall gingen eine Menge Gespenster um, und eines davon war die Angst, es könne irgendwo im Circus Bill Haydons erwählter Nachfolger vergraben liegen: Bill hätte ihn ausgesucht, angeworben und auf den Tag hin getrimmt, an dem er selber, auf die eine oder andere Art, von der Bühne abtreten würde. Sam war ursprünglich einer von Haydons Kandidaten gewesen. Seine spätere Preisgabe durch Haydon konnte leicht ein abgekartetes Spiel gewesen sein. Wervermochte in dieser Periode allgemeiner Nervosität sicher zu sein, daß nicht Sam Collins, der alle Hebel für seine Reaktivierung in Bewegung setzte, der Kronprinz des Verräters Haydon war? Diese Gedanken spukten in George Smiley herum, als er seinen Regenmantel überzog und sich auf den Weg machte. Nicht einmal ungern, denn im Herzen war er noch immer ein Frontkämpfer. Sogar seine Widersacher geben das zu.
In der Gegend des alten Barnsbury, im Londoner Stadtteil Islington, machte der Regen an jenem Tag, als Smiley dort endlich einen diskreten Besuch abstattete, eine Vormittagspause. Auf den Schieferdächern viktorianischer Cottages hockten die triefenden Schornsteine wie durchnäßte Vögel zwischen den Fernsehantennen. Dahinter ragte, von einem Gerüst zusammengehalten, das Gerippe eines Wohnblocks, dessen Bau wegen fehlender Mittel eingestellt wurde. »Mister-?«
»Standfast«, erwiderte Smiley höflich unter seinem Regenschirm hervor.
Ehrenmänner erkennen einander instinktiv. Mr. Peter Worthington brauchte nur seine Wohnungstür zu öffnen, einen Blick auf die rundliche, regentriefende Gestalt auf seiner Schwelle zu werfen - die schwarze Aktentasche, auf deren ausgebeultem Deckel die Buchstaben EHR eingeprägt waren, die schüchterne und ein wenig schäbige Erscheinung -, und schon erhellte ein Ausdruck gastlichen Willkommens sein freundliches Gesicht. »Ja, stimmt. Riesig nett, daß Sie kommen. Das Foreign Office ist doch zur Zeit in der Downing Street, wie? Was haben Sie gemacht? U-Bahn ab Charing Cross genommen, vermutlich. Kommen Sie rein, trinken sie ein Täßchen.« Er kam von einer Public School, unterrichtete aber jetzt an einer staatlichen Schule, weil es mehr einbrachte. Seine Stimme war milde, tröstend und loyal. Sogar seine Kleidung sprach von Treue, wie Smiley feststellte, als er ihm durch den engen Korridor folgte. Mochte Peter Worthington auch erst vierunddreißig sein, der schwere Tweedanzug würde so lange modern - oder unmodern - bleiben, wie sein Besitzer es für richtig hielt. Es gab keinen Garten. Das nach hinten gelegene Arbeitszimmer ging direkt auf einen betonierten Spielplatz. Ein derbes Gitter schützte das Fenster, und der Spielplatz wurde durch einen hohen Drahtzaun abgeteilt. Dahinter stand das Schulhaus, ein verschnörkelter edwardianischer Bau, nicht unähnlich dem Circus, nur daß man hineinsehen konnte. Im Erdgeschoß sah Smiley Kindermalereien an den Wänden hängen. Weiter oben standen Reagenzgläser in Gestellen. Es war Spielstunde, und auf ihrer Hälfte des Platzes rannten Mädchen in Turnanzügen hinter einem Handball her. Auf der anderen Seite des Drahtzaunes dagegen standen die Buben in schweigenden Gruppen, wie Streikposten vor einem Fabriktor, Schwarze und Weiße getrennt. Auf dem Boden des Arbeitszimmers lagen Schulhefte bis in Kniehöhe. Eine illustrierte Übersichtstafel über die englischen Könige und Königinnen baumelte am Kaminvorsprung. Dunkle Wolken hingen am Himmel und verliehen der Schule ein rostiges Aussehen. »Hoffentlich stört Sie der Lärm nicht«, rief Peter Worthington aus der Küche. »Ich höre ihn nämlich schon nicht mehr. Zucker?«
»Nein, nein. Keinen Zucker, danke«, sagte Smiley mit bekennendem Grinsen. »Kalorien sparen?«
»Na ja, ein bißchen, ein bißchen.« Er spielte sich selber, aber besser als sonst, wie sie in Sarratt sagen. Ein bißchen hausbackener, ein bißchen resignierter: der brave treue Beamte, der mit vierzig seine Steighöhe erreicht hatte und seitdem dort verharrte. »Zitrone ist auch da, wenn Sie wollen!« rief Peter Worthington aus der Küche, wo er ungeschickt mit Tassen und Tellern herumklapperte.
»O nein, vielen Dank. Nur Milch.«
Auf dem abgetretenen Boden des Arbeitszimmers türmten sich die Indizien eines anderen, kleineren Kindes: Bauklötze und ein Schreibheft mit endlosen hingekrakelten As und Ds. Von der Lampe baumelte ein Weihnachtsstern aus Pappe. An den Wänden sah man die Heiligen Drei Könige und Schlitten und weiße Watte. Peter Worthington kam mit einem Tablett herein. Er war groß und robust, mit drahtigem, früh angegrautem braunem Haar. Die Tassen waren trotz allen Herumklapperns noch immer nicht sehr sauber.
»Gut gemacht, daß Sie in meiner Freizeit kommen«, sagte er und wies mit dem Kopf auf die Schulhefte. »Wenn man von Freizeit sprechen kann bei diesem Haufen Korrekturen.«
»Ich finde immer, Ihr Beruf wird sehr unterschätzt«, sagte Smiley und schüttelte milde den Kopf. »Ich habe selbst Freunde im Lehrfach. Sie sitzen halbe Nächte über den Korrekturen, wie sie mir versichern, und ich habe keinen Grund, an ihrem Wort zu zweifeln.«
»Dann gehören sie zu den Gewissenhaften.«
»Ich darf Sie bestimmt auch zu dieser Kategorie zählen.«
Peter Worthington lächelte, er war sehr geschmeichelt. »Leider ja. Was überhaupt lohnt, das lohnt auch die Mühe«, sagte er und half Smiley aus dem Regenmantel.
»Offen gestanden wünsche ich mir häufig, diese Ansicht wäre ein bißchen weiter verbreitet.«
»An Ihnen ist auch ein Lehrer verlorengegangen«, sagte Peter Worthington, und sie lachten beide.
»Was machen Sie mit Ihrem kleinen Jungen?« sagte Smiley und setzte sich.
»Ian? Oh, der geht zu den Großeltern. Meinen Eltern, nicht ihren«, fügte er hinzu, während er Tee eingoß. Er reichte Smiley eine Tasse. »Sind Sie verheiratet?« fragte er.
»Ja, ja, bin ich, und sehr glücklich noch dazu, wenn ich das sagen darf.«
»Kinder?«
Smiley schüttelte den Kopf und gestattete sich eine kleine enttäuschte Grimasse. »Leider«, sagte er.
»Dort tut's am wehesten«, sagte Peter Worthington sehr nüchtern.
»Das glaube ich Ihnen. Trotzdem, wir hätten gern gewußt, wie's ist. In unserem Alter empfindet man es mehr.«
»Sie sagten am Telefon, es gebe Nachricht über Elizabeth«, sagte Peter Worthington. »Ich wäre Ihnen schrecklich dankbar, wenn Sie mir's erzählten.«
»Es ist aber nichts Aufregendes«, sagte Smiley vorsichtig. »Aber es macht Hoffnung. Ohne Hoffnung geht es nicht.« Smiley bückte sich zu der amtlichen schwarzen Plastikmappe und öffnete den billigen Verschluß.
»Zuerst muß ich Sie um einen Gefallen bitten«, sagte er. »Nicht daß ich nicht offen sein wollte, aber wir gehen immer gern ganz sicher. Ich bin selber sehr gründlich, das gebe ich ohne weiteres zu. Bei Todesfällen von Ausländern machen wir's genauso. Legen uns nie fest, ehe wir absolut sicher sind. Vornamen, Familienname, genaue Adresse, Geburtsdatum wenn wir es feststellen können, keine Mühe ist uns zuviel. Nur um uns abzusichern. Nicht rechtsgültig, natürlich, wir geben keine rechtsgültigen Bestätigungen ab, das ist Sache der zuständigen Behörden.«
»Schießen Sie los«, sagte Peter Worthington munter. Smiley, der die Übertreibung in seinem Tonfall bemerkte, blickte schnell auf, aber Peter Worthingtons ehrliches Gesicht war zur Seite gewandt, er schien einen Stapel alter Notenhalter zu betrachten, der in der Ecke lag.
Smiley leckte sich den Daumen, schlug umständlich eine Akte auf seinen Knien auf und blätterte darin. Es war die Akte des Foreign Office mit der Aufschrift »Vermißte Personen« und durch Lacon unter einem Vorwand von Enderby entliehen. »Wäre es zu viel verlangt, wenn ich die Einzelheiten von Anfang an mit Ihnen durchginge? Natürlich nur die hervorstechenden, und nur, was Sie mir gern sagen, das muß ich nicht eigens betonen, wie? Der Haken für mich ist, müssen Sie wissen, ich bin eigentlich mit dieser Arbeit normalerweise nicht befaßt. Mein Kollege Wendover, den Sie kennen, ist krank, und - na ja, man will nicht unbedingt immer alles zu Papier bringen, nicht wahr. Er ist ein fabelhafter Bursche, aber in puncto Berichteschreiben finde ich ihn ein bißchen bündig. Nicht nachlässig, weit entfernt, aber manchmal ein bißchen dürftig, was den menschlichen Aspekt angeht.«
»Ich bin immer vollständig aufrichtig. Immer«, sagte Peter Worthington ziemlich ungeduldig zu den Notenständern. »Ich glaube an Aufrichtigkeit.«
»Und was uns betrifft, so kann ich Ihnen versichern, wir im Foreign Office respektieren eine vertrauliche Mitteilung.« Irgend etwas fehlte plötzlich. Smiley hatte bis zu diesem Augenblick nicht gewußt, daß Kindergeschrei die Nerven beruhigen konnte; als es jedoch aufhörte und der Spielplatz sich leerte, hatte er ein Gefühl der Verstörtheit, und es dauerte ein paar Sekunden, ehe er es überwand. »Pausenschluß«, sagte Peter Worthington lächelnd. »Wie bitte?«
»Pause. Milch und Brötchen. Wofür Sie Ihre Steuern bezahlen.«
»Also, erstens ist nicht davon die Rede, entsprechend der Notizen meines Kollegen Wendover - dem ich um Gottes willen nichts am Zeug flicken möchte -, daß Mrs. Worthington Sie unter irgendeiner Art von Zwang verließ . . . Moment noch. Lassen Sie mich erst erklären, was ich damit sagen will. Bitte. Sie ging freiwillig. Sie ging allein fort. Sie wurde nicht in unzulässiger Weise dazu genötigt, verlockt oder auf irgendeine Art Opfer einer gesetzwidrigen Pression. Einer Pression zum Beispiel, die, sagen wir einmal, früher oder später Gegenstand einer gerichtlichen Klage, angestrengt von Ihnen selbst oder von anderen gegen eine dritte, bisher noch nicht genannte Partei sein könnte?« Langatmigkeit erzeugt, wie Smiley wußte, bei den Betroffenen einen fast unerträglichen Drang zum Sprechen. Wenn sie nicht direkt unterbrechen, so kontern sie zumindest mit aufgestauter Energie: und als Schulmeister war Peter Worthington ohnehin nicht gerade der geborene Zuhörer.
»Sie ging allein fort, ganz allein, und ich stehe und stand immer auf dem Standpunkt, daß es ihr gutes Recht war. Wenn sie nicht allein fortgegangen wäre, wenn noch jemand im Spiel gewesen wäre, Männer - wir sind weiß Gott alle nur Menschen -, so hätte das keinen Unterschied gemacht. Beantwortet das Ihre Frage? Kinder haben ein Recht auf beide Eltern«, schloß er lehrhaft. Smiley schrieb fleißig, aber sehr langsam. Peter Worthington trommelte mit den Fingern auf die Knie, dann ließ er sie in den Gelenken knacken, einen nach dem anderen, eine rasche, ungeduldige Salve.
»Und in der Zwischenzeit, Mr. Worthington, können Sie mir bitte sagen, wurde jemals eine polizeiliche Suche beantragt in bezug auf -«
»Wir wußten immer, daß sie nicht seßhaft bleiben würde. Das war ausgemachte Sache. Sie nannte mich >Mein Anker<. Entweder das oder >Schulmeister<. Hatte nichts dagegen. Es war nicht bös gemeint. Es war nur, sie konnte einfach nicht Peter sagen. Sie liebte mich als Idee. Nicht als ein bestimmtes Lebewesen, einen Körper, einen Geist, eine Persönlichkeit, nicht einmal als Partner. Als Idee, als notwendige Zutat zu ihrer persönlichen, menschlichen Vollständigkeit. Sie hatte das Bedürfnis, zu gefallen, ich verstehe das, es entsprang ihrer Unsicherheit, sie sehnte sich nach Bewunderung. Wenn sie ein Kompliment machte, dann nur, weil sie als Gegengabe auch eines wollte.«
»Verstehe«, sagte Smiley und schrieb wieder, als wolle er diese Ansicht buchstäblich unterschreiben.
»Ich meine, niemand kann ein Mädchen wie Elizabeth heiraten und erwarten, sie für sich allein zu haben. Es war nicht natürlich. Damit habe ich mich jetzt abgefunden. Sogar unser kleiner Ian mußte Elizabeth zu ihr sagen. Auch das verstehe ich. Die Ketten einer »Mammi« waren ihr zu schwer. Ein Kind, das hinter ihr herläuft und »Mammi« ruft. Zu viel für sie. Geht in Ordnung, ich verstehe das auch. Ich kann mir vorstellen, daß es für Sie als kinderlosen Mann schwer verständlich ist, wie eine Frau, egal welchen Schlags, eine Mutter, geachtet, geliebt und behütet, die nicht einmal Geld verdienen mußte, ihren eigenen Sohn buchstäblich sitzenlassen und ihm bis heute nicht einmal eine Postkarte schreiben kann. Sie finden es vielleicht unfaßbar oder sogar abscheulich. Ich bin da anderer Ansicht. Als es passierte, glauben Sie mir, ja, da war es schwer.« Er blickte hinaus auf den eingezäunten Spielplatz. Er sprach ruhig, ohne eine Spur von Selbstmitleid. Er hätte zu einem Schüler sprechen können. »Wir versuchen hier, die Menschen Freiheit zu lehren. Freiheit innerhalb bürgerlicher Ordnung. Sie sollen ihre Individualität entwickeln. Wie konnte ich denn ihr vorschreiben, wer sie war? Ich wollte nur da sein, sonst nichts. Elizabeths Freund sein. Ihr Schlußmann. So nannte sie mich unter anderem auch. Ihren Schlußmann. Worauf ich hinauswill: sie mußte nicht fortgehen. Sie hätte auch hier tun können, was sie wollte. Bei mir. Frauen brauchen eine Stütze, wissen Sie. Ohne einen festen Halt -«
»Und Sie haben bis heute keine direkte Nachricht von ihr?« erkundigte sich Smiley sanft. »Keinen Brief, nicht einmal die Postkarte an Ian, gar nichts?«
»Nicht die Bohne.«
Smiley schrieb. »Mr. Worthington, hat Ihre Frau Ihres Wissens jemals einen anderen Namen benutzt?« Aus irgendeinem Grund drohte diese Frage Peter Worthingtonin Harnisch zu bringen. Er fuhr hoch, als hätte seine Schulklasse sich eine Frechheit erlaubt, und seine Hand schoß vor, um Schweigen zu gebieten. Aber Smiley redete schon weiter: »Zum Beispiel ihren Mädchennamen? Oder vielleicht eine Abkürzung des Ehenamens, der in einem nicht englisch sprechenden Land bei den Einheimischen auf Schwierigkeiten stoßen könnte -«
»Nie. Nie, nie. Man muß etwas von den Anfangsgründen der menschlichen Verhaltenspsychologie verstehen. Elizabeth war hier ein Schulbeispiel. Sie konnte es gar nicht erwarten, ihren Vaternamen abzulegen. Einer der sehr guten Gründe, warum sie mich heiratete, war der, weil sie einen neuen Vater und einen neuen Namen wollte. Sie hat ihn bekommen, warum sollte sie ihn wieder aufgeben? Genauso war es mit ihrem Drang zu romantisieren, ihrem wilden, wilden Fabulieren. Sie wollte ihrer Umgebung entfliehen. Nachdem ihr das gelungen war, nachdem sie mich gefunden hatte und die Beständigkeit, die ich repräsentiere, sehnte sie sich natürlich nicht mehr danach, jemand anderer zu sein. Sie war jemand anderer. Sie hatte Erfüllung gefunden. Also warum ging sie fort?«
Wieder ließ Smiley sich Zeit. Er sah Peter Worthington scheinbar unsicher an, blickte in seine Akte, blätterte bis zur letzten Eintragung, rückte die Brille auf die Nasenspitze und las den Eintrag, offensichtlich keineswegs zum erstenmal. »Mr. Worthington, wenn unsere Information korrekt ist, und wir haben guten Grund, das anzunehmen - ich würde sagen, vorsichtig geschätzt dürfen wir zu achtzig Prozent sicher sein -, so benutzt Ihre Frau zur Zeit den Namen Worth. Und sie benutzt einen Vornamen deutscher Schreibweise, sehr seltsam, nämlich L-i-e-s-e. Es würde mich interessieren, ob Sie diese Information in irgendeiner Weise bestätigen oder entkräften können, desgleichen die Information, wonach sie aktiv an einem Juwelengeschäft im Fernen Osten mit Verbindungen bis nach Hongkong und anderen Zentren beteiligt ist. Sie scheint einen luxuriösen Lebensstil und gehobenen gesellschaftlichen Status zu genießen, sich in ziemlich exklusiven Kreisen zu bewegen.«
Peter Worthington begriff von alledem offenbar nur wenig. Er hatte sich auf dem Boden niedergelassen und die Knie hochgezogen. Er ließ abermals die Fingergelenke knacken, starrte ungehalten die Notenständer an, die wie Skelette in die Zimmerecke gepfercht waren, und konnte es kaum erwarten, bis Smiley zu Ende war.
»Hören Sie. Ich verlange nur eins. Daß jeder, der mit ihr in Verbindung tritt, das kapiert. Ich will keine leidenschaftlichen Appelle, keine Appelle an das Gewissen. Das kommt nicht in Frage. Nur eine nüchterne Erklärung, was geboten wird, und daß sie willkommen ist. Sonst nichts.« Smiley flüchtete sich wieder in die Akte. »Nun, bevor wir zu diesem Punkt kommen, könnten wir vielleicht doch noch die Fakten vollends durchgehen, Mr. Worthington -«
»Es gibt keine Fakten«, sagte Peter Worthington, aufs neue höchlichst gereizt. »Es gibt nur zwei Menschen. Drei, mit Ian. In einer solchen Sache gibt es keine Fakten. In keiner Ehe. Das lehrt uns das Leben. Menschliche Beziehungen sind völlig subjektiv. Ich sitze auf dem Fußboden. Das ist ein Faktum. Sie schreiben. Das ist ein Faktum. Elizabeths Mutter steckte dahinter. Das ist ein Faktum. Verstehen Sie? Elizabeths Vater ist ein größenwahnsinniger, krimineller Irrer. Das ist ein Faktum. Lizzie ist nicht die Tochter der Königin von Saba und nicht die natürliche Enkelin von Lloyd George. Was immer sie auch behaupten mag. Sie hat nicht in Sanskrit promoviert, wie sie der Direktorin vorzumachen beliebte, die es noch heute glaubt. >Wann werden wir Ihre reizende Orientalistengattin wiedersehen?< Elizabeth versteht von Juwelen nicht mehr als ich. Das ist ein Faktum.«
»Daten und Ortsangaben«, murmelte Smiley in die Akte. »Wenn ich das zunächst einmal nachprüfen dürfte.«
»Durchaus«, sagte Peter Worthington gefällig und füllte Smileys Tasse aus der grünen Blechkanne nach. Tafelkreide hatte sich an den breiten Fingerkuppen abgesetzt. Sie war wie das Grau in seinem Haar.
»Die Mutter war tatsächlich ihr Unglück, ja«, fuhr er im gleichen völlig sachlichen Ton fort: »Das ganze Getue, daß sie zur Bühne sollte, dann zum Ballett, dann ein Versuch, sie ins Fernsehen zu lancieren. Die Mutter wollte, daß Elizabeth bewundert würde. Als Ersatz für sich selber natürlich. Psychologisch völlig klar. Lesen Sie Berne. Lesen Sie, wen Sie wollen. Das ist eben ihre Art, ihr Selbstverständnis zu definieren. Durch ihre Tochter. Man muß hinnehmen, daß es solche Dinge gibt. Ich verstehe das jetzt. Sie ist okay, ich bin okay, die Welt ist okay, Ian ist okay, und dann ist sie plötzlich weg.«
»Wissen Sie zufällig, ob sie sich gelegentlich mit ihrer Mutter in Verbindung setzt?«
Peter Worthington schüttelte den Kopf.
»Bestimmt nicht. Als Elizabeth fortging, war sie mit ihrer Mutter fertig. Hatte völlig mit ihr gebrochen. Über diese Hürde habe ich ihr hinweggeholfen, das darf ich mit Sicherheit behaupten. Mein einziger Beitrag zu ihrem Glück -«
»Ich glaube nicht, daß wir die Adresse der Mutter hier haben«, sagte Smiley und blätterte verbissen in der Akte. »Sie haben nicht -«
Peter Worthington gab ihm die Adresse mit lauter Stimme im Diktiertempo zum Mitschreiben an.
»Und jetzt die Daten und Ortsangaben«, wiederholte Smiley. »Bitte.«
Sie hatte ihn vor zwei Jahren verlassen. Peter Worthington gab nicht nur den Tag an, sondern die Stunde. Es war keine Szene vorausgegangen - Peter Worthington hielt nichts von Szenen, Elizabeth hatte zu viele mit ihrer Mutter gehabt, - sie hatten einen glücklichen Abend verbracht, einen besonders glücklichen sogar. Er hatte sie zur Abwechslung in das Kebab-Restaurant geführt. »Haben Sie vielleicht gesehen, als Sie herkamen? - Heißt das Knossos, gleich neben dem Express-Dairy.« Sie hatten Wein getrunken und tüchtig geschmaust, und Andrew Wiltshire, der neue Englischlehrer, war als Dritter im Bunde mitgekommen. Elizabeth hatte diesen Andrew erst vor ein paar Wochen in die Yoga-Lehre eingeführt. Sie waren gemeinsam zum Unterricht ins Sobell Centre gegangen und dicke Freunde geworden.
»Sie ist vom Yoga tief durchdrungen«, sagte er und nickte billigend mit dem graugesprenkelten Kopf. »Hätte echtes Interesse. Andrew war genau die Sorte Mann, um sie anzuregen. Extrovertiert, unreflektiert, körperbetont . . . genau das Richtige für sie«, sagte er entschieden. Sie waren alle drei um zehn Uhr heimgegangen, wegen des Babysitters, sagte er: er selber, Andrew und Elizabeth. Er hatte Kaffee gekocht, sie hörten Musik, und so um elf herum gab Elizabeth jedem einen Kuß und sagte, sie wolle noch hinübergehen und nach ihrer Mutter sehen.
»Ich dachte, sie hätte mit ihrer Mutter gebrochen«, wandte Smiley milde ein, aber Peter Worthington tat, als hörte er nicht. »Natürlich bedeuten Küsse nichts bei ihr«, erläuterte Peter Worthington rein informativ. »Sie küßt jeden, die Schüler, ihre Freundinnen - sie würde den Müllmann küssen, irgendwen. Sie ist sehr spontan. Sie kann eben keinen in Ruhe lassen. Ich meine, jede Beziehung muß eine Eroberung sein. Ob es ihr Kind ist oder der Kellner im Restaurant . . . und wenn sie sie erobert hat, langweilen sie sie. Natürlich. Sie ging nach oben, sah nach lan und hat sicherlich diesen Augenblick genutzt, um ihren Paß und das Haushaltsgeld aus dem Schlafzimmer zu holen. Sie hinterließ einen Zettel, auf dem >Tut mir leid<, draufstand, und seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen. Und Ian auch nicht«, sagte Peter Worthington.
»Ähem, hat Andrew von ihr gehört?« erkundigte sich Smiley und kippte wiederum seine Brille herunter. »Warum sollte er?«
»Sie sagten, die beiden seien Freunde gewesen, Mr. Worthington. Manchmal werden Dritte zu Mittlern bei solchen Affären.« Bei dem Wort Affären sah er auf und fand sich direkt in Peter Worthingtons ehrliche, verzweifelte Augen blicken: und eine Sekunde lang glitten beide Masken gleichzeitig ab. War Smiley der Beobachter? Oder wurde er beobachtet? Vielleicht war es nur seine angeschlagene Phantasie - oder spürte er in sich und in diesem schwachen Jungen, der ihm gegenübersaß, die Regung einer verlegenen Verwandtschaft? >Es sollte einen Verein für betrogene Ehemänner geben, die sich selber bemitleiden. Ihr habt alle die gleiche, nervtötende, gräßliche Vergebermasche !<, hatte Ann ihm einmal ins Gesicht geschleudert. Du hast deine Elizabeth nie gekannt, dachte Smiley, während er noch immer Peter Worthington anstarrte: und ich nicht meine Ann.
»Das ist wirklich alles, woran ich mich erinnere«, sagte Peter Worthington. »Danach nur noch ein blinder Fleck.«
»Ja«, sagte Smiley. »Ja«, - und er übernahm unwillkürlich Worthingtons Lieblingswendung -, »ich verstehe.«
Er stand auf und wollte gehen. Unter der Tür stand ein kleiner Junge. Er hatte einen ausweichenden, feindselig-starren Blick.
Eine mütterliche, schwere Frau stand hinter ihm und hielt seine beiden Handgelenke über seinem Kopf fest, so daß er an ihr zu hängen schien, obwohl er auf seinen eigenen Füßen stand.
»Schau, da ist Daddy «, sagte die Frau und blickte Worthington aus braunen, besitzergreifenden Augen an.
»Jenny, hei. Das ist Mr. Standfast vom Foreign Office.«
»Sehr angenehm«, sagte Smiley höflich, und nach ein paar Minuten unverbindlichen Geplauders und dem Versprechen, baldmöglichst Weiteres hören zu lassen, falls es noch Weiteres gäbe, verabschiedete er sich.
»Oh, und fröhliche Weihnachten«, rief Worthington von der Treppe.
»Ach ja. Ja, natürlich. Wünsche ich Ihnen auch. Ihnen allen recht fröhliche Weihnachten.«
In der Raststätte taten sie einem gleich Zucker hinein, wenn man nicht ausdrücklich abwinkte, und sooft die Inderin eine Tasse zubereitete, füllte sich die winzige Küche mit Dampf. Zu zweien oder dreien aßen schweigende Männer ihr Frühstück, Abendbrot oder ihren Lunch, je nachdem, wie weit sie in ihrem jeweiligen Tagesprogramm gekommen waren. Auch hier rückte Weihnachten heran. Sechs schmierige bunte Glaskugeln baumelten stimmungsvoll über der Theke, daneben ein Netzstrumpf, der um Hilfe für spastisch gelähmte Kinder bat. Smiley starrte in eine Abendzeitung, ohne sie zu lesen. In einer Ecke, keine zwölf Fuß von ihm entfernt, hatte der kleine Fawn die typische Position des Babysitters bezogen. Seine dunklen Augen lächelten freundlich die Gäste und die Tür an. Er hob die Tasse mit der linken Hand, während die rechte sich auf Brusthöhe hielt. Ob Karla wohl so dasaß, überlegte Smiley. Flüchtete Karla sich zu den Arglosen? Control hatte es getan. Control hatte sich ein komplettes zweites, drittes oder viertes Leben in einer Zweizimmer-Etagenwohnung gleich am Westlichen Ring eingerichtet, unter dem schlichten Namen Matthews, der nicht als Alias in den Akten der Housekeepers erschien. Nun, »komplettes« Leben war übertrieben. Aber er hatte Kleidung dort gehabt und eine Frau, gleichfalls namens Matthews, sogar eine Katze. Und jeden Donnerstag frühmorgens in einem Handwerkerclub Golfunterricht genommen, während er von seinem Schreibtisch im Circus aus seine Verachtung für die Großen Ungewaschenen, für Golf und für die Liebe kundtat, und für jedes andere nichtsnutzige menschliche Streben, das ihn insgeheim gelockt haben mochte. Er hatte sogar einen Schrebergarten gepachtet, erinnerte sich Smiley, drunten an einem Rangiergleis. Mrs. Matthews hatte es sich nicht nehmen lassen, Smiley in ihrem blitzenden Morris dorthinzufahren, an dem Tag, an dem er ihr die Trauerbotschaft überbrachte. Es war der gleiche Verhau, wie alle anderen Schrebergärten: Einheitsrosen, Wintergemüse, das sie nicht verwendet hatten, ein Geräteschuppen mit Gartenschlauch und einer Unmenge Samentüten. Mrs. Matthews war Witwe, fügsam, aber tüchtig. »Ich möchte nur eins wissen«, hatte sie gesagt, nachdem sie die Zahl auf dem Scheck gelesen hatte. »Ich möchte nur eins mit Bestimmtheit wissen, Mr. Standfast: ist er wirklich tot oder ist er wieder zurück zu seiner Frau?«
»Er ist wirklich tot«, versicherte ihr Smiley, und sie glaubte ihm dankbar. Er unterließ es, hinzuzufügen, daß Controls Frau schon vor elf Jahren von hinnen geschieden war, in dem festen Glauben, ihr Mann sei irgend etwas bei der Energie-Aufsichtsbehörde. Ob Karla in Ausschüssen Hokuspokus machen mußte? Sich mit Kabalen herumschlagen, die Dummen hinters Licht führen, den Schlauen schmeicheln, sich in Zerrspiegeln á la Peter Worthington erblicken, gehörte das alles zu seinem Job? Er blickte auf die Uhr, dann hinüber zu Fawn. Neben der WC-Tür war ein Münzfernsprecher. Aber als Smiley den Wirt um Kleingeld bat, lehnte er ab, er habe keine Zeit. »Rück's raus, du mieser Flegel!« schrie ein ganz in Leder gekleideter Fernfahrer. Der Wirt gehorchte schleunigst. »Glück gehabt?« fragte Guillam, der den Anruf auf dem direkten Apparat im Circus entgegennahm.
»Nicht schlecht für den Anfang«, sagte Smiley.
»Hurra«, sagte Guillam.
Ein weiterer Vorwurf, der später gegen Smiley erhoben wurde, lautete, er habe Zeit für untergeordnete Erledigungen verschwendet, anstatt sie seinen Untergebenen zu übertragen.
In der Nähe des Town-and-Country-Golfplatzes am nördlichen Stadtrand von London gibt es Wohnblöcke, die den Aufbauten ständig im Sinken begriffener Schiffe ähneln. Sie liegen hinter langen Rasenstreifen, wo die Blüten niemals so richtig angehen, die Ehemänner stürzen jeden Morgen gegen halb neun in höchster Panik zu den Rettungsbooten, und die Frauen und Kinder halten sich den Tag hindurch über Wasser, bis ihre Mannsleute wiederkommen, zu müde, um noch irgendwohin zu segeln. Diese Häuser wurden in den dreißiger Jahren erbaut und haben seitdem ein schmutziges Weiß beibehalten. Ihre länglichen stahlgerahmten Fenster blickten auf die saftiggrünen Wellen der Golfplätze hinaus, wo wochentags Frauen mit Augenschirmen wie Schiffbrüchige umherirren. Einer der Blocks nennt sich Arcady Mansions, und die Pellings wohnten dort in Nummer sieben, von wo man unter einigem Halsverrenken das neunte Grün sehen konnte, solange die Buchen kein Laub trugen. Als Smiley geklingelt hatte, hörte er nach dem dünnen elektrischen Bimmeln nichts mehr: keine Schritte, keinen Hund, keine Musik. Die Tür ging auf, und aus dem Dunkeln sagte eine krächzende Männerstimme »Ja?«, aber die Stimme gehörte einer Frau. Sie war groß und gebückt. In der Hand hielt sie eine Zigarette.
»Mein Name ist Oares«, sagte Smiley und hielt ihr einen großen grünen Ausweis in einer Zellophanhülle hin. Zu einer anderen Legende gehört ein anderer Name.
»Oh, Sie sind das, wie? Kommen Sie rein. Zum Essen, zur Fernsehshow. Am Telefon haben Sie jünger geklungen« schrie sie mit schriller Stimme, die um eine feinere Tonart rang. »Er ist dort drinnen. Hält Sie für einen Spion«, sagte sie und blinzelte den grünen Ausweis an. »Aber das sind Sie nicht, oder?«
»Nein«, sagte Smiley. »Leider nicht. Bloß ein Schnüffler.« Die Wohnung bestand vorwiegend aus Korridoren. Die Frau ging voraus und zog eine Ginfahne hinter sich her. Ein Bein schleifte sie beim Gehen nach, und ihr rechter Arm war steif. Smiley nahm an, sie müsse einen Schlaganfall gehabt haben. Sie war gekleidet, als hätte nie jemand ihre Gestalt oder ihren Sex bewundert. Und als wäre es ihr auch egal. Sie trug flache Schuhe und einen Männerpullover mit Gürtel, der sie bullig machte.
»Er sagt, er hat nie von Ihnen gehört. Er sagt, er hat Sie im Telefonbuch nachgeschlagen und es gibt Sie gar nicht«, sagte Smiley.
»Wir wahren gern die Diskretion«, sagte Smiley.
Sie stieß eine Tür auf. »Es gibt ihn doch«, meldete sie laut, noch ehe sie das Zimmer betrat. »Und er ist kein Spion, er ist ein Schnüffler.«
Am anderen Ende des Zimmers saß ein Mann auf einem Stuhl und las den Daily Telegraph, den er so vors Gesicht hielt, daß Smiley nur den kahlen Schädel und den Schlafrock und die kurzen übergeschlagenen Beine, die in ledernen Hausschuhen endeten, sehen konnte, aber irgendwie wußte er sofort, daß Mr. Pelling zu jenen kleinen Männern gehörte, die unweigerlich große Frauen heirateten. Das Zimmer enthielt alles, was er zum alleinigen Überleben nötig haben könnte. Seinen Fernsehapparat, sein Gas, einen Eßtisch und eine Staffelei zum Ausmalen vorgezeichneter Bilder. An der Wand hing in schreienden Farben das Porträtfoto eines sehr schönen Mädchens, mit einer Widmung schräg in eine Ecke gekritzelt, so wie Filmstars sie den Unberühmtheiten zukommen lassen. Smiley erkannte Elizabeth Worthington. Er hatte schon eine Menge Fotos von ihr gesehen. »Mister Oates, das ist Nunc«, sagte die Frau und schien nahe daran, zu knicksen.
Der Daily Telegraph senkte sich langsam wie eine Garnisonsfahne und enthüllte ein aggressives, glänzendes kleines Gesicht mit dichten Brauen und Managerbrille.
»Ja. Und wer sind Sie nun wirklich?« sagte Mr. Pelling. »Sind Sie vom Secret Service oder nicht? Keine langen Faxen, raus damit und Schwamm drüber. Für Schnüffelei hab ich nichts übrig. Was ist das?« fragte er.
»Seine Karte«, sagte Mrs. Pelling und hielt sie hoch. »Grün getönt.«
»Oh, wir tauschen unsere Karten, wie? Dann brauche ich auch eine, Cess, wie? Laß doch gleich welche drucken, meine Liebe. Hüpf mal runter zu Smith, ja?«
»Trinken Sie gern Tee?« fragte Mrs. Pelling und linste mit schräg gehaltenem Kopf auf ihn herab.
»Wozu willst du ihm Tee geben?« fragte Mr. Pelling als er sah, daß sie sich am Kocher zu schaffen machte. »Er braucht keinen Tee. Er ist kein Gast. Er ist nicht mal vom Geheimdienst. Ich hab' ihn nicht hergebeten. Bleiben Sie die Woche über«, sagte er zu Smiley. »Ziehen Sie zu uns, wenn Sie wollen. Sie können ihr Bett haben. Bullion Universal, Sicherheitsberatung oder was beißt mich.«
»Er möchte über Lizzie sprechen, darling«, sagte Mrs. Pelling und richtete ein Tablett für ihren Mann her. »Jetzt sei ausnahmsweise einmal ein Vater.«
»In ihrem Bett würden Sie jede Menge Spaß haben, glauben Sie mir«, sagte Mr. Pelling und nahm seinen Telegraph wieder auf. »Danke für die Blumen«, sagte Mrs. Pelling und lachte. Das Lachen bestand aus zwei Tönen, wie ein Vogelruf, und war nicht lustig gemeint. Ein lastendes Schweigen folgte. Mrs. Pelling reichte Smiley eine Tasse Tee. Er nahm sie und richtete seine Worte an die Rückseite von Mr. Pellings Zeitung. »Sir, Ihre Tochter Elizabeth wird für einen wichtigen Posten bei einer großen Überseefirma in Erwägung gezogen. Meine Organisation ist vertraulich damit beauftragt - heutzutage eine normale, aber höchst notwendige Formalität -, sich mit Bekannten und Verwandten hierorts in Verbindung zu setzen und Leumundszeugnisse einzuholen.«
»Das sind wir, Lieber«, erklärte Mrs. Pelling, falls ihr Mann nicht begriffen hätte.
Die Zeitung senkte sich klatschend.
»Wollen Sie andeuten, meine Tochter sei charakterlich nicht in Ordnung? Sitzen Sie deshalb hier und trinken meinen Tee, um solche Andeutungen zu machen?«
»Nein, Sir«, sagte Smiley.
»Nein, Sir«, assistierte Mrs. Pelling nutzlos.
Ein langes Schweigen folgte, um dessen Beendigung Smiley sich nicht besonders bemühte.
»Mr. Pelling«, sagte er schließlich in festem und geduldigem Ton.
»Soviel ich weiß, waren Sie viele Jahre im Postdienst beschäftigt und brachten es zu einem hohen Posten.«
»Viele, viele Jahre«, pflichtete Mrs. Pelling bei.
»Ich habe gearbeitet«, sagte Mr. Pelling, jetzt wieder hinter seiner Zeitung hervor. »Es wird viel zuviel geschwatzt auf der Welt und viel zu wenig gearbeitet, sage ich immer.«
»Haben Sie in ihrer Abteilung Kriminelle eingestellt?« Die Zeitung raschelte, dann war sie wieder still. »Oder Kommunisten?« sagte Smiley unentwegt freundlich. »Wenn ja, dann wären sie verdammt schnell wieder draußen«, sagte Mr. Pelling, und diesmal blieb die Zeitung unten. Mrs. Pelling schnalzte mit den Fingern. »So!« sagte sie. »Mr. Pelling«, fuhr Smiley wie ein gütiger Hausarzt fort, »der Posten, für den Ihre Tochter in Frage käme, ist bei einer der bedeutenden Fernost-Firmen. Sie würde vorwiegend mit Luftspedition zu tun haben, und aufgrund ihrer Tätigkeit im voraus Kenntnis von erheblichen Goldtransporten in dieses betreffende Land und zurück haben, sowie von Sondersendungen per Post und diplomatischen Kurieren. Die Bezahlung ist außerordentlich hoch. Ich halte es nicht für übertrieben - und Sie gewiß auch nicht -, wenn Ihre Tochter den gleichen Prozeduren unterworfen wird, wie jeder andere Kandidat für eine so verantwortungsvolle - und erstrebenswerte - Stellung.«
»Wer hat Sie angestellt«, bellte Mr. Pelling, »das möchte ich wissen. Wer sagt, das Sie zuverlässig sind?«
»Nunc«, flehte Mrs. Pelling. »Wer behauptet das von irgendwem?«
»Halt die Klappe! Gib ihm noch Tee. Du bist die Hausfrau, oder?, dann tu deine Pflicht. Höchste Zeit, daß Lizzie belohnt wird, und ich bin sehr verärgert, daß es nicht früher geschehen ist, wenn man bedenkt, was sie ihr schulden.«
Mr. Pelling nahm die Lektüre von Smileys imponierender grüner Karte wieder auf: »>Agenturen in Asien, den USA und in Nahost.< Knastbrüder, würde ich sagen. Hauptbüro South Molton Street. Anfragen unter Telefon bla-bla-bla. Wen krieg ich dann an die Strippe? Ihren Spießgesellen vermutlich.«
»Wenn es South Molton Street ist, muß er in Ordnung sein«, sagte Mrs. Pelling.
»Autorität ohne Verantwortung«, sagte Mr. Pelling und wählte die Nummer. Er sprach, als hielte ihm jemand die Nase zu. »Dafür hab' ich leider gar nichts übrig.«
»Mit Verantwortung«, verbesserte Smiley. »Unsere Firma ist gehalten, ihre Klienten für jede Unredlichkeit einer von uns empfohlenen Kraft zu entschädigen. Wir sind entsprechend versichert.«
Am anderen Ende klingelte es fünfmal, ehe sich die Vermittlung des Circus meldete, und Smiley hoffte zu Gott, es möchte klappen. »Geben Sie mir den Geschäftsführer«, befahl Mr. Pelling. »Mir macht's nichts aus, ob er in einer Sitzung ist! Hat er auch einen Namen? Und der wäre? Dann sagen Sie Mr. Andrew Forbes-Lisle, daß Mr. Humphrey Pelling ihn in einer persönlichen Angelegenheit zu sprechen wünscht. Sofort.« Lange Pause. Gut gemacht, dachte Smiley. Goldrichtig. »Hier Pelling. Bei mir in der Wohnung sitzt ein Mann, der sich Oates nennt. Kurz, fett und ängstlich. Was soll ich mit ihm anfangen?« Im Hintergrund hörte Smiley Peter Guillams volltönendes, militärisch klingendes Organ, das Mr. Pelling geradezu nahelegte, gefälligst strammzustehen, wenn er mit Mr. Forbes-Lisle spreche. Besänftigt legte Mr. Pelling den Hörer auf. »Weiß Lizzie, das Sie mit uns Sprechen?« fragte er. »Sie würde sich krank lachen, wenn sie es wüßte«, sagte seine Frau.
»Sie weiß vielleicht nicht einmal, daß sie für den Posten in Erwägung gezogen ist«, sagte Smiley. »Heutzutage geht die Tendenz mehr und mehr dahin, sich mit dem Betreffenden erst nach Feststellung der Unbedenklichkeit in Verbindung zu setzen.«
»Es ist doch für Lizzie, Nunc«, erinnerte ihn Mrs. Pelling. »Du liebst sie doch, auch wenn wir seit einem Jahr nichts von ihr gehört haben.«
»Korrespondieren Sie überhaupt nicht mir ihr?« fragte Smiley mitfühlend.
»Sie wünscht es nicht«, sagte Mrs. Pelling mit einem raschen Blick zu ihrem Mann.
Ein kaum hörbarer Grunzlaut entfloh Smileys Lippen. Es hätte Bedauern sein können, aber in Wirklichkeit war es Erleichterung. »Gib ihm noch Tee«, befahl ihr Mann. »Er hat seinen Humpen schon wieder leer.«
Aber er glotzte Smiley aufs neue verschlagen an. »Ich bin noch immer nicht überzeugt, daß er kein Geheimdienstagent ist, auch jetzt noch nicht«, sagte er. »Ist zwar scheint's keine Leuchte, aber das könnte Absicht sein.«
Smiley hatte Formulare mitgebracht. Der Drucker im Circus hatte sie am vergangenen Abend auf bräunlichem Papier abgezogen - ein Glück, denn in Mr. Pellings Welt waren Formulare die Legitimation für alles, und bräunlich war die vertrauenerweckende Farbe. Und so arbeiteten die beiden Männer mit vereinten Kräften, wie zwei Freunde, die gemeinsam ein Kreuzworträtsel lösen, Smiley hockte auf seinem Stuhl, Mr. Pelling verrichtete die Schreibarbeit, während seine Frau rauchend dasaß, durch die grauen Netzgardinen starrte und unaufhörlich ihren Ehering am Finger drehte. Sie waren bei Geburtsdatum und -ort. »Hier in unserer Straße, im Alexandra Nursing Home. Ist jetzt abgerissen worden, nicht wahr, Cess? Steht jetzt einer von diesen Eiscremeblocks dort.« Sie kamen zu Schulbildung, und Mr. Pelling äußerte seine Meinung zu diesem Thema.
»Ich hab' sie nie zu lang in ein und derselben Schule gelassen, wie, Cess? Hält den Geist wach. Läßt keine Routine aufkommen. Eine Veränderung ist soviel wie ein Urlaub, habe ich gesagt. Stimmt's Cess?«
»Er liest Bücher über Erziehung«, sagte Mrs. Pelling. »Wir haben spät geheiratet«, sagte er, als wolle er ihr Vorhandensein erklären.
»Wir wollten, daß sie zur Bühne geht«, sagte sie. »Er wollte ihren Manager machen, unter anderem.«
Er machte weitere Angaben. Nannte eine Schauspielschule und einen Sekretärinnenkurs.
»Schliff«, sagte Mr. Pelling. »Lebensklugheit, nicht Fachausbildung, das halte ich für das Richtige. Ihr von allem ein bißchen zukommen lassen. Damit sie Weltgewandtheit kriegt. Sicheres Auftreten.«
»Oh, das Auftreten hat sie«, stimmte Mrs. Pelling zu, schnalzte mit der Zunge und stieß eine Wolke von Zigarettenrauch aus. »Und die Weltgewandtheit dazu.«
»Aber sie hat die Sekretärinnenschule nie beendet?« fragte Smiley und wies auf das Formblatt, »oder den Schauspielkursus?«
»War nicht nötig«, sagte Mr. Pelling.
Sie kamen zu »frühere Arbeitgeber«. Mr. Pelling führte ein halbes Dutzend im Einzugsgebiet von London an, jeweils im Abstand von höchstens achtzehn Monaten.