NACHWORT

IN GAR KEINEM LAND

I

«Wo bin ich?» fragt der Luftschiffer in A Murder, a Mystery, and a Marriage, als er nach der Havarie seines Fesselballons auf einem schneebedeckten Feld zu sich kommt. Im amerikanischen Originaltext tut er dies zunächst auf Französisch und dann auf Deutsch. «Du bist in einer Erzählung Mark Twains!» möchte ihm der heutige Leser hilfsbereit antworten. Aber eine solche Wechselrede erlaubt die Literatur nicht. Und so versucht der polyglotte Ballonfahrer sein Glück in stolzen fünf europäischen Zungen vergeblich, bis er das grimmige Gemurmel des Farmers, der ihn auf seinem winterlichen Acker gefunden hat, als eine Art Englisch identifiziert und den Alten in dieser Sprache anredet.

Der aber antwortet auf die Frage, in welchem Land man sich befinde, mit einem Fluch und der mürrischen Behauptung, man sei in gar keinem Land: «What country?» - «Why, dern it all, you ain ’t in any country.»

Dann erst, mit dem nächsten Satz, wird der Franzose endlich erfahren, was der Leser der Erzählung schon von der ersten Zeile an weiß: Wir sind in Missouri, in den Vereinigten Staaten von Amerika.

Der Zusammenprall zweier Kulturen, den der Autor in die fast abstrakte Szenerie einer verschneiten Landschaft verlegt hat, scheint arg zu Ungunsten des Amerikaners auszugehen. Sein Gegenüber, der Europäer, eben erst aus tiefer

Bewußtlosigkeit erwacht und kurz vor einem heftigen Fieberanfall, brilliert in sechs verschiedenen Sprachen und führt in einer erworbenen, in erstklassigem Englisch, die Klärung der Lage herbei. Der Amerikaner hingegen gibt den tölpelhaften Hinterwäldler, der sein ländliches Idiom für die einzig mögliche Verkehrsform hält. Kurz neigt er sogar dazu, dem verunglückten Fremden, nur weil der nicht genauso spricht wie er selbst, das Mensch-Sein überhaupt abzusprechen.

Mark Twain wußte wahrlich, was ein Hinterwäldler ist. Er kannte die hoffnungslose Verlorenheit der amerikanischen Provinz, weil er ihr entkommen war. Weitläufigkeit war ihm, der seine Kindheit und Jugend im ländlichen Missouri verbrachte, nicht unbedingt an der Wiege gesungen worden. Leicht hätte auch seine Autorschaft enden können, wie sie begonnen hat: in der Redaktionsstube irgendeines Kleinstadtblattes. Twain hat diese Orte journalistischer Verdammung, wo der Autor auch Redakteur, Setzer und Drucker war und die immergleichen Sensationen des ländlichen Daseins mit Hilfe vorsintflutlicher Maschinen aufs Papier brachte, oft mit finsterem Sarkasmus beschrieben.

II

Wahrlich finster sind auch die Verhältnisse in Deer Lick, dem Kaff, in dem Twain Europa und die USA aufeinanderprallen läßt. Die erste große Dynamik der US-amerikanischen Geschichte, die Landnahme, der Zug nach Westen, scheint hier nicht einmal mehr als ein Gerücht präsent. Der Boden, der doch erst wenige Generationen zuvor unter Einsatz des Lebens erobert und urbar gemacht worden ist, liefert zwar den nötigen materiellen Ertrag, aber ideell ist er unfruchtbar geworden.

John Gray, Twains exemplarischer Farmer, liebt sein Land nicht. Im Gegenteil, seine kleine Farm hat ihm in den dreißig Jahren, die er sie bewirtschaft, gnadenlos die Grenzen seiner existentiellen Möglichkeiten aufgezeigt. Die Bitternis dieser Erfahrung ist in der Figur, wie sie uns Twain entgegentreten läßt, nicht - nicht einmal mehr kausal - von der offensichtlichen Härte und der latenten Grausamkeit Grays zu trennen.

Man ist nicht glücklich in Deer Lick, Missouri. Und das große amerikanische Versprechen, daß jeder, der sein Glück wirklich wolle, dieses Glück unter dem Sternenbanner auch machen könne, hat im Alltag dieser Provinz einen höhnischen, einen bauernfängerischen Beigeschmack bekommen. Allenfalls die Jungen ahnen in ihrer Naivität noch nicht, wie wenig das Leben in Wirklichkeit für sie bereithält. So hängt über dem kleinen Ort bereits der Geruch von Betrug, bevor der Betrüger, als Hauptfigur der Handlung, vom Himmel fällt.

Dem, der als Leser von Twains großen Romanen zu dieser wiederentdeckten Erzählung kommt, wird auch die Abwesenheit des Mississippi auffallen. Der große Verkehrsstrom, der den Bundesstaat Missouri im Osten begrenzt, und seine moderne Dampfschiffahrt sind für die Bewohner von Deer Lick im südwestlichen Winkel dieses Staates genauso unerreichbar fern wie die anderen Dinge der großen weiten Welt, wie die Eisenbahn, die Telegrafen oder die Zeitungen.

Damit spart Mark Twain den zweiten großen Aufbruch des jungen Amerika fast gewaltsam aus. Kein Wort über die Auswirkungen der technischen und ökonomischen Revolution, über die ungeheure Dynamik, die der Kapitalismus seit dem Ende des Bürgerkriegs in den USA entfesselt hat. Twain, der die euphorischen Aufschwünge und Katastrophen dieser Jahrzehnte hautnah miterlebt, der selbst zum Unternehmer werden, wagemutig spekulieren und einen spektakulären Schuldenberg aufhäufen wird, bringt nichts von dieser Aufbruchsaura in seine Geschichte ein. Aber er braucht es auch nicht. Deer Lick, in dem man noch keine Lokomotive fauchen, keinen Telegrafendraht singen und noch keine Aktie knistern gehört hat, ist doch auf eine allgemeinere Weise von der neuen Zeit erreicht worden. Auch durch das verschlafene Nest und durch die Hirne seiner Bewohner wispert der Rumor der Zeitgenossenschaft: die Versprechungen des großen Geldes.

Das Sich-Nähren von der Scholle und die Sicherheit der begrenzten Verhältnisse, das Dasein als Farmer bringt John Gray nicht in Einklang mit der Welt. Sein letzter Lebenstraum, gerade in seiner Unerfüllbarkeit schmerzlich süß, gilt einem echten Vermögen, einer großen Menge jederzeit verfügbaren Geldes. Der Erzähler Mark Twain hat ein untrügliches Gespür dafür, wie sich diese Sehnsucht nach viel Geld in einen schändlichen Zusammenhang setzen läßt. Im Fall Grays verwendet er einen Einfall, auf den er wiederholt zurückgegriffen hat.

Gleich die erste Szene zeigt die alten Grays im Ehebett. Im ersten Dialog des Textes erwägt das Paar die Chancen ihrer Tochter Mary, durch Erbschaft oder Heirat an eine größere Summe zu kommen. Damit ist der innerste soziale Kreis des amerikanischen Lebens, die Familie, und als deren intimster Ort das Bett, in dem die nächste Generation gezeugt wird, vom Geld und von der Gier nach ihm erobert.

Die letzte große Versuchung aber muß, wie so oft in Mark Twains Geschichten, von außen kommen. Sein erzählerisches Kalkül, das von dem Wissen zeugt, wie man die Schraube des Plots mit einer überraschenden Drehung noch tiefer in die Phantasie des Lesers treibt, läßt die entscheidende Figur, den teuflischen Versucher, dieses Mal sogar aus den Wolken stürzen. Aber warum muß es ausgerechnet ein Europäer und partout ein Franzose sein?

III

Von Twain ist das Bonmot überliefert, es sei schon wahr, daß der moderne Amerikaner oft nicht wisse, wer sein Großvater gewesen sei. Aber damit habe man es in den USA immer noch besser als in Frankreich, wo keiner ganz sicher sei, ob er seinen Vater zum Vater habe. Auch in Eine Bluttat, ein Betrug und ein Bund fürs Leben spekuliert Twain mit diesem Vorurteil von den moralisch fragwürdigen Franzosen. So grell sind die kultivierte Falschspielerei des Fremden vor den Dörflern und seine galante Verlogenheit gegenüber Mary gezeichnet, daß den heutigen Leser nur noch die Persiflage des Vorurteils amüsieren mag.

Twains Zeitgenossen jedoch hätten dies gewiß anders empfunden, wäre die Geschichte in Druck gegangen. Ein Blick auf die Prospekte, mit denen für die Subskription von Twains Büchern geworben wurde, zeigt, wie sehr der Autor und sein Humor damals allen true Americans ans patriotische Herz gelegt wurde. Er, dessen manchmal geistreiche, oft schamlos rüde und nicht selten plump klischeehafte Attacken gegen die Europäer und ihre angeblichen Nationalcharaktere Legion sind, wurde schon zu Lebzeiten als amerikanische Integrationsfigur vermarktet, und er hat das damit verbundene publizistische Spiel immer wieder gekonnt ausgereizt.

Die Zeit war günstig für einen, der das Zeug dazu hatte: der als Vortragsredner mit seinen schauspielerischen und rhetorischen Fähigkeiten und als Journalist mit seinem polemischen Talent glänzen konnte. In der Mitte des 19.

Jahrhunderts beginnt die junge nordamerikanische Nation Europa als ein bildliches Gegenüber, als ihren Widerpart zu begreifen. Wohlhabende Amerikaner gehen auf Europa-Tour. Und Reiseberichte aus dem auf neue Weise entdeckten alten Kontinent füllen die großen amerikanischen Blätter. Die Gesichter Europas sollen helfen, das eigene Konterfei zu erfassen. Dabei geht es nicht darum, die Herkunft der jungen amerikanischen Kultur zu verstehen. Man will die eigene Identität nicht geschichtlich begründen, sondern deren Eigenart ahistorisch durch schlichte Abgrenzung gegen Andersartiges als etwas fast naturhaft Eigentümliches bestimmen.

IV

Twains erstes Buch, sein erster nachhaltiger Erfolg als Autor, The Innocents Abroad, faßt den

journalistischen Ertrag einer Fahrt über den Atlantik zusammen und dient diesem Zweck. Und auf seinen ausgedehnten, gut bezahlten Vortragsreisen, die ihn Abend für Abend vor ein Publikum führten, das es in freier Rede zu gewinnen galt, war die europäische Karte ein Trumpf in seinem Ärmel. Wahrscheinlich hat der für seinen zupackenden, notfalls derben Witz berühmte Alleinunterhalter die Schranken eines fundierten und ausgewogenen Urteils, die er schon in seinen Texten selten wahrt, bereitwillig durchbrochen, wenn es galt, gut über die Rampe zu kommen und dem Affen des humorigen Einverständnisses Zucker zu geben. Twain hat sich nie gescheut, seinen Landsleuten, deren Fehler er gnadenlos geißeln konnte, als Publikum ebenso erbarmungslos zu schmeicheln. Der Franzose, der in unserer Geschichte drei verschiedene Namen führt, ist nicht nur ein Betrüger, sondern er wird sogar zum Mörder. Und daß ihm die personifizierte amerikanische Unschuld, die naive Mary, und deren Erbe dann in letzter Sekunde doch nicht in die Hände fallen, ist einer so haarsträubend jähen und unglaubwürdigen Wendung des Plots zu verdanken, daß man aus heutiger Sicht geneigt ist, eine tiefere Ironie des Autors am Werke zu sehen. Ausgerechnet der Dörfler, der bei der Mordtat Schmiere gestanden hat, läßt sich von der drohenden Hinrichtung des unschuldigen Hugh rühren und gesteht seine Mittäterschaft. So viel Mitgefühl und Gewissen paßt eigentlich nicht in das Bild, das die Erzählung zuvor von der emotionalen und moralischen Verfassung der Dorfgemüter gegeben hat Eher ist diese Wendung zum Guten ein greller Witz, wie ihn Twain nicht selten auf Kosten der Wahrscheinlichkeit reißt, oder das Happy-End ist schlichter Berechnung zu verdanken. Es liefert, was die Zeitschriftenherausgeber und wohl auch der Autor für die Erwartung der Leser halten.

V

Wie mit den meisten seiner Arbeiten verfolgte Twain auch mit dieser Geschichte ein klares publizistisches Interesse. A Murder, a Mystery, and a Marriage ist seine Version einer «blindfold novelette», die er 1876 für die Zeitschrift Atlantic Monthly konzipierte. Nach einem Plot-Schema, das die wesentlichen Elemente der Handlung vorgab, sollten eine Reihe von bekannten Autoren Geschichten schreiben. Dabei blieb es jedem überlassen, mit seinen erzählerischen Möglichkeiten der skelettartigen Vorgabe einen charakteristischen Textkörper und als dessen Krönung ein überzeugendes Ende zu geben. Das Projekt, das Twain fast ein Jahr lang beschäftigte, scheiterte am Zaudern der Kollegen. Keiner der angesprochenen Schriftsteller war letztlich bereit, mit Twain in den Ring des direkten Vergleichs zu klettern. Und sogar Twains Ausführung der eigenen Vorlage blieb unveröffentlicht und darf nun mit hundertfünfundzwanzig Jahren Verspätung das Licht einer weltweiten Öffentlichkeit erblicken.

Die Briefe, die Twain in jenem Jahr schreibt und in denen die Erzählung als Projekt auftaucht, zeigen ihn als den rührigen Literaturunternehmer, der er über Jahrzehnte hinweg mit schwankendem Erfolg war. Nicht nur der Niederschrift, sondern dem gesamten weiteren Weg seiner Texte gehört sein Augenmerk. Twain bedenkt, auf welchen Bühnen und Märkten er als Autorenfigur ins Licht tritt. Er kümmert sich um Rechte, Werbung und Vertrieb. Er ist der erste Schriftsteller, von dem man weiß, daß er einen Zeitungsausschnittsdienst beauftragte, alle Meldungen, in denen sein Name auftaucht, zu sammeln.

Die heutzutage vielbeschworene Ökonomie der Aufmerksamkeit ist bei ihm nicht beziehungslose Theorie, sondern Organisationsform seiner Erfahrung und Voraussetzung seiner publizistischen Praxis. Mehr als einmal hat er geäußert, daß er mit seinem Schreiben die Massen gewinnen wolle. Und der angepeilte average reader hat für Twain bereits den Status eines modernen Konsumenten, den man im Lärm der Konkurrenz erreichen, umwerben, notfalls auch zur Lektüre überlisten muß. Twains wieder entdeckte Erzählung gehört wie andere seiner Prosatexte aus dieser Zeit zu seinen Versuchen, auf dem wachsenden Markt für Mystery, für Spannungsliteratur mit Kriminalsujets, Fuß zu fassen.

VI

Twain ist modern. Und auf eine verwirrende Weise modern tritt uns, der verspäteten Öffentlichkeit von Eine Bluttat, ein Betrug und ein Bund fürs Leben auch die allerletzte Wendung der Geschichte entgegen. Eigentlich ist das Wesentliche bereits geschehen. Der unschuldige Jüngling Hugh, der schon den Kopf in der Schlinge hatte, ist vom Galgen gerettet, die amerikanische Jungfrau ist der Schändung durch den ruchlosen Franzosen entgangen, den bösen Buben hat die lokale Obrigkeit in ihre Obhut genommen, und die Triebe jugendlicher Liebe sind in das Beet einer christlichen Ehe gepflanzt worden. In einem zuletzt fast grotesken Galopp scheint Twain seinen Plot erledigt zu haben, als er mit «Die Beichte des Grafen» ein abschließendes Kapitel aus dem Hut zaubert.

Vordergründig dient dieser Epilog noch dazu, einige fehlende Erklärungen nachzutragen. Wenn man die kausale Folge der Ereignisse in einer realistischen Erzählung mit einem menschlichen Gebiß vergleichen darf, dann geht es darum, letzte Zahnlücken in diesen Kiefern, in ihrem RealismusKonzept, zu schließen. Aber effektvoller und wichtiger ist eine bizarre Enthüllung, die im bisherigen Verlauf der Geschichte durch nichts angedeutet war und die auch nicht als Pointe nötig wäre. Als einen seltsamen Überschuß, als Pointe der Pointe, erfährt man: Der böse Franzose war vormals der Assistent des berühmten Schriftstellers Jules Verne.

«Wo bin ich?» möchte da, gleich dem abgestürzten Luftschiffer, der heutige Leser fragen. Denn wenn der flotte Durchmarsch durch die vorangegangene Handlung unser Ballonflug mit Mark Twain war, dann sind wir jetzt mit ihm aus dem sicheren Rund des Korbs gefallen. Und vielleicht würde Twain, könnte er unsere Frage hören, gleich seinem griesgrämigen Farmer erst einmal mit einem Fluch antworten. Zumindest ist der Ingrimm, mit dem dieses letzte Kapitel geschrieben wurde, nur notdürftig mit Ironie kaschiert. Wie immer, wenn ihm etwas wirklich wichtig ist, kann das Feigenblatt des satirischen Witzes die Blöße von Twains Wut nicht decken.

VII

Einen französischen Idioten, unter dem die Welt schon viel gelitten habe, hat Twain seinen Zeitgenossen Jules Verne in einem Brief einmal genannt. Aber das ist nur ein Urteil im Schutzraum der privaten Korrespondenz. Mit unserer Erzählung holt Twain nun auf dem Feld der Literatur zum Schlag gegen den Kollegen aus, und nur das seltsame Schicksal des Textes hat verhindert, daß seine Attacke zu Lebzeiten öffentliche Resonanz fand. Im selben Jahr, in dem Twain den französischen Bestsellerautor zu einer literarischen Figur macht, hatte sich dieser eine Jacht gekauft und begonnen, durch südliche Gefilde zu segeln. Der sieben Jahre ältere Jules Verne ist genau das geworden, was Twain anstrebt: ein weltberühmter Autor, der die Massen erreicht und dauerhaft vom Ertrag seiner Bücher lebt.

In seiner Geschichte wirft Twain dem Bestsellerautor vor, Romane über Erfahrungen zu schreiben, die nicht die seinen seien. Jener Fremde, der so viel Unheil in Deer Lick angerichtet hat, ist in der nun noch enthüllten Vorgeschichte selbst ein armes Opfer. Der skrupelloser Erfolgsschriftsteller Jules Verne hat ihn auf gefährliche Fahrten geschickt, um dann die Erlebnisse seines Stellvertreters nicht nur nachzuerzählen, sondern auch noch zu verfälschen und maßlos zu übertreiben.

Twain weiß, wovon er hier spricht. Denn das, was er dem verhaßten Kollegen unterstellt, hat er fünf Jahre zuvor selbst geplant. Ein amerikanischer Journalist sollte an seiner Statt nach Südafrika reisen, um Material über das dortige Diamantenfieber zu sammeln. Wie der Jules Verne seiner Geschichte wollte Mark Twain dann die Erfahrungen eines anderen unter seinem gut eingeführten Namen publizistisch vermarkten.

Im Epilog von Twains Geschichte geht es also um das Eigene: Tiefer, als dem Verfasser wohl bewußt war, sind seine Leser im Herzen eines amerikanischen Autors angekommen. Finster sieht es dort aus. Und vieles, was uns durch Twains Erzähl- und Dialogkunst an den Bewohnern von Deer Lick deutlich wird, scheint auch für ihn zu gelten. Ihre Sehnsucht nach dem schnellen Reichtum war auch lebenslang die seine. Und ähnlich wie die Hinterwäldler von Missouri kann er das Geld der modernen Kapitalwirtschaft, diese wichtigste Abstraktion männlichen Denkens, nicht als das erste umfassende Medium der Wertumwandlung verstehen und gelten lassen. In einem fast sektiererisch strengen Sinne bleibt es für ihn mit der Todsünde der Gier verbunden. Sein heißer Wunsch nach Teilhabe an der Dynamik der großen Geschäfte gerät schnell in Konflikt mit jener Moral, die religiös Verfolgte aus Europa nach Amerika mitgebracht haben und die jeden leidenschaftlichen Umgang mit Besitz verurteilt. Man hat Geld, man erwirbt und mehrt es, aber man schämt sich klammheimlich für die Gefühle, die mit diesem Verkehr verbunden sind.

VIII

Den schamlosen Genuß ihrer Unmoral aber hat Twain den Franzosen, deren ethische Defizite er immer wieder geschmäht hat, vielleicht am meisten vorgeworfen. Und so ist es naheliegend, daß er den französischen Bösewicht, der schon eine schwülstig verlogene Ansprache an Mary halten durfte, nun auch noch ein keckes Geständnis, frei von Schuldbewußtsein und Reue, verfassen läßt. Aber diese freche Beichte verrät durch ihre Sprache, durch die Kraft ihrer Bilder und ihre rhetorischen Zuspitzungen, wer hier vor den Lesern den zynisch lästernden Franzosen gibt.

Aus dem Schluß der Erzählung hören wir den Mark Twain der Notizbücher und der Briefe, jenen Twain, der kein Blatt vor den Mund nehmen muß. Durch die Larve des Franzosen spricht der Autor, der ansonsten die Werke, die er für seine radikalsten hielt und die seine bittersten sind, wohlweislich nur anonym ins Licht der amerikanischen Aufmerksamkeit treten ließ. Die Charaktere der Provinz, denen der Erzähler anfangs noch Rudimente von Mitgefühl, zumindest die Empathie der Beschreibung und des Hinhörens gönnte, diese Durchschnittsamerikaner werden im Epilog des Textes nur mit verächtlicher Ignoranz an den Rand der Betrachtung geschoben.

Schlimmer noch als die Verachtung, mit der die Dörfler bedacht werden, ist jedoch die Empfindung, die am Schluß der Erzählung um die Figur des Autors aufsteigt. Autorschaft scheint überhaupt der nur notdürftig verborgene Anlaß und der emotionale Brennpunkt dieser merkwürdigen Beichte zu sein. Gleich drei Autoren werden kenntlich. Zwei davon sind Europäer. Jules Verne wird als fahrlässiger Serienschreiber und skrupelloser Textunternehmer gezeichnet. Und einen

Autor der ärmsten Art gibt der Erzähler. Er ist der von Verne ausgebeutete Geschichtenlieferant, der mit seiner «Beichte» zum ersten Mal einen Bericht mit eigenem Namen zeichnen darf. Beide sind des Todes: Der Gehilfe Vernes schreibt vor seiner Hinrichtung, und der Jules Verne des Textes ist zu diesem Zeitpunkt bereits aus der Gondel des Ballons in die Tiefe gestürzt worden.

Die Mordlust aber, eine böse Freude am Untergang der Kollegen, muß dem Konto des dritten Autors gutgeschrieben werden. Mark Twain ist es, der die beiden europäischen Textfabrikanten sterben läßt. Und wer das letzte Kapitel unter der Perspektive moderner Autorschaft liest, sieht, wie geschickt Twain auf die beiden Franzosen die qualvollen Nöte und die sehnsüchtigen Wünsche des modernen Autors verteilt hat. Der Gehilfe Vernes erleidet nichts anderes als das, was Twain seit seinen ersten Anfängen als Schriftsteller betreiben mußte: die gnadenlose Ausbeutung der eigenen Erfahrung im Dienst nahezu pausenloser Produktion.

IX

Als Journalist, als Reiseschriftsteller, als Vortragsredner und sogar als Romancier zehrt Twain in einem Ausmaß vom Fleisch des Erlebten, wie es erst die modernen Verhältnisse der Textverwertung erzwungen haben. Was er in den wilden Jahrzehnten der werdenden USA und auf Reisen mitgemacht hat, mußte in rascher Folge zu einem verwertbaren Produkt werden. Twain konnte meist keine Rücksicht darauf nehmen, daß Erlebtes Zeit braucht, um zu Erfahrung zu gerinnen. Ja, manchmal waren die Erfahrungen schon verkauft, bevor sie gemacht werden konnten. Und wer nur ein Dutzend von Twains Gelegenheitsarbeiten gelesen hat, weiß, wie tief dieser

Autor trotz seiner Ansprüche sinken konnte, wenn der Augenblick oder ein Auftraggeber kurzfristig etwas von ihm verlangte.

Kann, wenn die Erfahrungen nicht im richtigen Tempo nachwachsen, die Phantasie aushelfen? Der Schluß von Eine Bluttat, ein Betrug und ein Bund fürs Leben, wo er Jules Vernes phantastische Romane lächerlich macht, ist auch ein wütender, fast grobschlächtiger Angriff auf ein Phantasieren, das nicht durch Erfahrung gedeckt ist. Dabei durchbricht Twain den rigiden, an einer angeblich objektiven Wirklichkeit orientierten Realismus, den er gerne gegen andere Autoren verficht, in seinen besten Erzählungen regelmäßig selbst. Was wäre der Plot unserer Geschichte ohne seine haarsträubend unwahrscheinlichen Wendungen, wie sehr zehrt die Erzählung von ihrer phantastischen Vorgeschichte, vom Flug, vom Absturz und von der Auffindung des verunglückten Ballonfahrers. Es rettet den bekennenden Realisten Twain nicht, daß er diesen Einfall, auf dem Umweg der satirischen Anspielung, zuletzt dem europäischen Kollegen in die Schuhe zu schieben versucht.

Glückliches Europa, das noch derart als Spiegel und Konkurrent dienen konnte! Kaum vorstellbar, daß ein gegenwärtiger amerikanischer Großschriftsteller sich einen zeitgenössischen europäischen Kollegen in dieser Weise zum Bild seiner Nöte und geheimen Wünsche machen könnte. Heute muß es uns rühren, wie Twain in halb mörderischer, halb selbstmörderischer Absicht seinem transatlantischen Alter ego an die Gurgel geht. Dieses Europa gibt es im Selbstverständnis der heutigen USA nicht mehr. Es muß irgendwann aus dem Ballon des amerikanischen Höhenflugs gefallen sein.

X

Im Jahr 1900, noch zu Lebzeiten Twains, erscheint ein amerikanischer Prosatext, in dem wie bei Twain und Verne phantastische Ballonfahrten eine wichtige Rolle spielen. Ein amerikanischer Luftschiffer gerät durch einen langen Irrflug in ein märchenhaftes Land, das ganz von der modernen Welt abgeschnitten ist und von zwergenhaften, liebenswert schrulligen Menschen bewohnt wird. Der Amerikaner versteht es, sich mit Lug und Trug zu ihrem Herrscher aufzuschwingen. Als angeblicher Zauberer herrscht er, der in Wahrheit nur ein geschickter Bauchredner ist, über ein Reich, das in vielem einem seltsam verklärten und auf Puppenweltgröße geschrumpften Alteuropa gleicht. In The Wonderful Wizard of Oz von Lyman Frank Baum ist Europa ganz Bestandteil der amerikanischen Phantasie geworden. Man erreicht es unversehens wie im Traum und verläßt es ebenso unwillkürlich. Am Ende der Geschichte wird der betrügerische Bauchredner von Dorothy, einem kleinen Mädchen aus Kansas, gezwungen, in die einzige Wirklichkeit, die es gibt, in die USA heimzukehren. Auch Dorothy macht sich ganz zuletzt auf den Heimweg, in ein Kansas, das öd, grau und verbrannt ist, das das Missouri von Twain noch an Trostlosigkeit übertrifft. «Wo in aller Welt bist du gewesen?» wird sie gefragt. Und Dorothys knappe Antwort «Im Lande Oz» ist hilflos und selbstbewußt zugleich, als wäre sich das Mädchen auf eine altkluge Art sicher, daß sich sonst nichts über das Verhältnis dieses Reiches zu ihrer Heimat sagen ließe.

Bei Twain aber ist das Europäische noch nicht restlos in jenem großen Selbstgespräch aufgegangen, das die amerikanische Kultur seither mit sich führt. Zwar ahnt er die alles umschließende Roheit der amerikanischen Gegenwart.

Aber in A Murder, a Mystery, and a Marriage lehnt er sich noch einmal dagegen auf. Und so fragt der Schlußsatz der Erzählung in einer allerletzten rhetorischen Wendung, wo Jules Verne nach seinem Sturz wohl gelandet sei. Es ist eine seltsam unsinnige Frage, denn der Erzähler, der betrügerische Franzose, war sich zuvor ganz sicher, daß Verne, bald nach dem Start des Ballons, zu Tode gestürzt ist, und daß er ihn im Niemandsland der Hölle wiedersehen wird.

Die Antwort, die wir dem zu Tode Verurteilten geben könnten, lautet: Irgendwo in Europa! Und es ist wahrlich nobel von Twain, daß er uns, seinen verspäteten europäischen Lesern, Raum für diese Antwort läßt. Fast möchte ich ihn, den rücksichtslosen Verspotter nicht nur französischer, sondern auch deutscher Verhältnisse, dafür, über ein Jahrhundert hinweg, zum Ehreneuropäer ernennen.

Ja, wenn wir Twain lesen, spüren wir, wo wir noch anders als die USA und damit wirklich sind, und wir ahnen, wie sein Amerika auf eine schaurig mörderische Weise zum globalen Niemandsland, zum «Gar-kein-Land» der Gegenwart werden konnte.

Georg Klein

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